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Das Reichsministerium für Wiederaufbau 1919 bis 1924

Die Abwicklung des Ersten Weltkrieges: Reparationen, Kriegsschäden-Beseitigung, Opferentschädigung und der Wiederaufbau der deutschen Handelsflotte

von Dirk Hainbuch (Autor:in)
©2016 Dissertation 572 Seiten

Zusammenfassung

Das Reichsministerium für Wiederaufbau mit den zugehörigen Reichsbehörden steht im Mittelpunkt dieser Studie. Seine Aufgaben bestanden sowohl in der Ausführung der wirtschaftlichen Reparationen gemäß Versailler Friedensvertrag als auch in der Unterstützung des inneren Wiederaufbaus; sie umfassten außenpolitisch u.a. die Wiederherstellung der vom Stellungskrieg verwüsteten Gebiete, die wirtschaftliche Wiedergutmachung mit Hilfe der Reparationen und das Ausgleichsverfahren zur Belebung des internationalen Zahlungsverkehrs. Zu den Aufgaben des Reichsministeriums im Deutschen Reich zählten der Wiederaufbau der deutschen Handelsmarine und die finanzielle Unterstützung der Integration der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Abstract
  • Résumé
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • I. Einleitung
  • I.1 Fragestellung
  • I.2 Forschungsstand
  • I.3 Quellensituation
  • I.4 Der Stellungskrieg auf dem westlichen Kriegsschauplatz
  • I.5 Internationale Gegensätze in der Frage des Wiederaufbaus
  • II. Zwischen Entschädigung, Wirtschaftskrieg und Wiederaufbau: Ursprünge während des Ersten Weltkrieges
  • II.1 Die Reichsentschädigungskommission
  • II.2 Der Reichskommissar für die Liquidation ausländischer Unternehmungen
  • II.3 Der Treuhänder für das feindliche Vermögen
  • II.4 Der Reichsausschuss für den Wiederaufbau der Handelsflotte
  • II.5 Die Waffenstillstandsverwaltungsstellen 1918 bis 1919/20
  • III. Die Ausgestaltung der deutschen Wiederaufbauverwaltung
  • III.1 Der Koenemann-Entwurf zur Organisation der Reparationssachlieferungen
  • III.2 Perspektiven zur Ausführung der wirtschaftlichen Bestimmungen des Versailler Vertrages in anderen obersten Reichsbehörden
  • III.3 Das Reichskommissariat zur Ausführung von Aufbauarbeiten in den zerstörten Gebieten
  • III.4 Das Reichsministerium für Wiederaufbau
  • IV. Die Entwicklung der ressortierenden Ausführungsbehörden nach der Gründung des Reichsministeriums für Wiederaufbau
  • IV.1 Die Reichsrücklieferungskommission
  • IV.2 Der Kommissar zur Rückführung von Eisenbahnmaterial
  • IV.3 Die Deutsche Kohlenkommission in Essen
  • IV.4 Das Reichsausgleichsamt
  • IV.5 Der Reichs- und Staatskommissar zur Ermittlung von Aufruhrschäden in Oberschlesien
  • IV.6 Die Entwicklung der Entschädigungsverwaltung
  • IV.7 Der Reichskommissar für Auslandsschäden
  • IV.8 Das Reichsentschädigungsamt für Kriegsschäden
  • V. Schlussbetrachtungen
  • VI. Anhang
  • VII. Quellenverzeichnis und Bibliographie
  • Namensregister

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Abkürzungsverzeichnis

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I.   Einleitung

This introduction offers the reader a short insight in the topic of this study. The question of research, current state of research and the used sources are presented. At the end of this chapter brief introductions in the static warfare and reconstruction policies of France and Great Britain after 1918 are annexed.

„Leb’ wohl nun Ministerium,
Wir scheiden mit Bedauern,
Manch ‚fleissig‘ Jahr ging uns herum
In deinen stillen Mauern.“

Diese Zeilen waren Teil eines Liedes, das am 8. Mai 1924 im Kreis von leitenden Reichsbeamten anlässlich der Auflösung ihrer Behörde gesungen wurde.1 Das Klagelied spiegelt über sieben Strophen in Auszügen die Geschichte jener Institution wider, die Gegenstand dieser Forschungsarbeit ist: des Reichsministeriums für Wiederaufbau.2

Diese oberste Reichsbehörde bestand vom 7. November 1919 bis zum 8. Mai 1924.3 Die ihr übertragenen Aufgaben waren eng mit der Ausführung der finanziellen und wirtschaftlichen Bedingungen des Versailler Vertrages verknüpft.4 Außenwirtschaftspolitisch zählte dazu die allgemeine ← 17 | 18 → wirtschaftliche Wiedergutmachung von Kriegsschäden, der Wiederaufbau der zerstörten Gebiete in Belgien, Frankreich und Italien sowie die Ausgleichung von Forderungen und Schulden im internationalen Zahlungsverkehr. Innenpolitisch war das RMfW mit dem Wiederaufbau der verlorenen deutschen Handelsflotte und den Entschädigungen von hunderttausenden deutschen Flüchtlingen und Vertriebenen beauftragt. Entsprechend beeinflussten die dort getroffenen Entscheidungen, Erfolge und Fehlleistungen in Zusammenhang mit der Erfüllung der Friedensbedingungen direkt die deutsche Außen-, Innen- und Wirtschaftspolitik.

Der Bearbeitungszeitraum der vorliegenden Untersuchung von 1919 bis 1924 orientiert sich an dem Zeitraum, zu dem das Ministerium während der frühen Krisenjahre der Weimarer Republik bestand. In diese fünf Jahre fielen wichtige Kontroversen um die deutschen Reparationen. Dazu zählen, um nur die wichtigsten zu nennen, das Abkommen von Spa im Jahr 1920, der Londoner Zahlungsplan und das Wiesbadener Abkommen 1921, der Rapallo-Vertrag 1922, die Ruhrkrise 1923 und der Dawes-Plan 1924. Diese Abkommen und Ereignisse übten einen prägenden Einfluss auf die politische Gestaltung Europas aus.5 Daher ist es umso erstaunlicher, dass eine umfassende Untersuchung des RMfW bisher nicht durchgeführt wurde. Dies hing möglicherweise mit dem ungewöhnlichen Aufbau des ← 18 | 19 → Ministeriums zusammen. Tatsächlich ist eine Untersuchung des RMfW, zumindest wenn es primärer Forschungsgegenstand sein soll, ohne eine eingehende Erforschung der angeschlossenen Reichsbehörden und Dienststellen nicht praktikabel. Letztere nehmen dadurch den Status von sekundären Forschungsgegenständen ein.

Das Wiederaufbauministerium und die ihm nachgeordneten Stellen waren in einer symbiotisch anmutenden Art miteinander verbunden. Dafür spricht auch die Struktur des Ministeriums. In den einzelnen Abteilungen des RMfW wurde die Tätigkeit jeder nachgeordneten Reichsbehörde oder Dienststelle koordiniert und vereinheitlicht. Die an diesen Schnittstellen eingesetzten höheren Reichsbeamten nahmen direkten Einfluss auf die innere Ausgestaltung der ihnen zur Bearbeitung zugewiesenen Behörden. Wegen der sich ständig ändernden Richtlinien und Vorschriften war es in hohem Maße erforderlich, dass die Experten aus dem Ministerium als vielseitig einsetzbare „Springer“ an Brennpunkten der angeschlossenen Verwaltungsstellen verwendet werden konnten.

Diese Vorgehensweise war erforderlich, weil sich die Aufgabengebiete der unterschiedlichen angeschlossenen Dienststellen häufig überschnitten. Entsprechend musste auf die Einhaltung einer einheitlichen Entscheidungspraxis in allen Verwaltungsstellen geachtet werden – immerhin wurden insgesamt über einhundert Außenstellen im ganzen Reichsgebiet und teilweise im Ausland unterhalten. Schon eine nicht erkannte Fehlentscheidung barg die Gefahr eines Präzedenzfalles in sich, die zu umfangreichen juristischen Auseinandersetzungen hätte führen können. Fehlentwicklungen mussten daher schnellstmöglich erkannt und notfalls mit Hilfe der übergeordneten Experten des RMfW beseitigt werden. In der Praxis war dieses System der „springenden“ Experten, nachdem an einer unnachgiebigen Behörde ein Exempel statuiert worden war, durchaus erfolgreich.

Die Entwicklung des RMfW sowie der angeschlossenen Reichsbehörden und Dienststellen hing eng mit dem Führungspersonal zusammen. Dieses rekrutierte sich aus zwei unterschiedlichen Gruppierungen: Politikern und Reichsbeamten. Hier kam besonders zum Tragen, dass das RMfW während der turbulenten Anfangsjahre der Weimarer Republik bestand. Charakteristisch für diese Phase waren die sich schnell ablösenden Regierungskabinette und die dadurch notwendigen parteipolitischen Neubesetzungen. Kaum hatte sich ein Minister in seine Reichsbehörde eingelebt, wurde er ← 19 | 20 → nach wenigen Monaten durch einen anderen ersetzt. Das RMfW stellte bei dieser Personalrochade eine Besonderheit dar: Während etwa der Hälfte seiner Existenz wurde kein Minister für Wiederaufbau ernannt. Dennoch bestand die vergleichsweise kurze Liste der Amtsträger aus bekannten Persönlichkeiten.

Erster Reichsminister wurde Otto Geßler, der später als Reichswehrminister mit der längsten Dienstzeit zu Bekanntheit gelangte. Nach dem auch für das RMfW turbulenten Kapp-Lüttwitz-Putsch im März 1920 wurde Geßler abberufen, aber kein Nachfolger ernannt. Im Kabinett Fehrenbach wurde erstmalig kein Wiederaufbauminister eingesetzt, und eine erste Vakanz trat ein. Während des ersten Kabinetts Wirth 1921 diente schließlich Walther Rathenau als Amtsträger, auch wenn seine Biografen diese Periode gerne ignorieren. Stärker im Fokus stand dagegen seine Amtszeit als Außenminister im direkt anschließenden zweiten Kabinett Wirth.

Auf Rathenau folgte eine über einjährige Vakanz, bis Heinrich Albert im März 1923 als Reichsminister für Wiederaufbau im Kabinett Cuno vereidigt wurde. Der neue Amtsträger hatte eine Karriere als gescheiterter Spion, Staatsekretär der Reichskanzlei und letzter Reichsschatzminister vorzuweisen. Robert Schmidt, ein erfahrener SPD-Politiker und zu dieser Zeit gleichzeitig Vizekanzler, war schließlich der letzte Reichsminister für Wiederaufbau während der beiden Kabinette Stresemanns. Er schied aber ein halbes Jahr vor der Auflösung der Reichsbehörde aus dem Amt.

Augenscheinlich wird an diesem einleitenden Abriss die häufige, für ein Reichsministerium der Weimarer Republik zudem sehr ungewöhnliche Vakanz an der Spitze des RMfW. Während der gesamten Bestandsdauer des RMfW hatte dagegen eine einzelne Person kontinuierlich die Position des stellvertretenden Reichsministers inne: Staatssekretär Gustav Müller.6 Blieb die Ministeriumsspitze unbesetzt, übernahm er als amtierender Reichsminister die Amtsgeschäfte. Das bedeutete, dass während der kritischen Phasen der deutschen Reparationspolitik das organisch zuständige Wiederaufbauministerium nicht von einem parlamentarisch verantwortlichen Politiker geführt wurde, sondern ein Staatsdiener die Amtsgeschäfte führte. ← 20 | 21 →

Dies ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, welche Machtfülle in diesem Reichsministerium schlummerte. In den Händen eines willensstarken Ministers hätte ein Umbau der gesamten deutschen Wirtschaft stattfinden können, sofern es der Ausführung des Versailler Vertrages gedient hätte. Immerhin schloss Rathenau während seiner kurzen Amtszeit als Wiederaufbauminister mit seinem Pendant in Paris, dem französischen Minister Loucheur, binnen weniger Wochen einen bahnbrechenden bilateralen Vertrag ab. Das Abkommen war geeignet, die beiden „Erbfeinde“ einander näherzubringen. Der Rücktritt Rathenaus verhinderte womöglich eine weitere Annäherung in den folgenden Jahren.

Die Auflösung des RMfW fiel in eine Phase des Umbruchs, in der als unumstößlich geltende Grundsätze verworfen wurden. Hunderttausende Angestellte und Beamte wurden binnen weniger Monate aus dem öffentlichen Dienst des Reiches und der Länder entlassen. Zu Gunsten der deutschen Haushaltsstabilisierung im Rahmen der Währungssanierung 1923 bis 1924 wurde der Primat der Politik hinter den Einsparungszwang zurückgestellt. Als passender Abschluss dieser kurzen Einleitung in den primären Forschungsgegenstand noch einmal der eingangs zitierte Laiendichter:

„So sah der Wiederaufbau aus,
Dem wir in schweren Zeiten,
Gedient mit Ernst im alten Haus,
Den Aufstieg zu bereiten.
Des Sparens Kommissar erscheint,
Er trennt jetzt die, die treu vereint,
Des Amtes Lasten trugen
Und schwere Schlachten schlugen.“

Bedenkt man die Bedeutung des Ministeriums in den ersten Jahren der Weimarer Republik, ist es umso erstaunlicher, dass das RMfW in der Geschichtswissenschaft so lange fast gänzlich unbeachtet geblieben ist. Ein Grund könnte die dezentrale Struktur dieser obersten Reichsbehörde gewesen sein, denn das Ministerium bildete die übergeordnete Dachinstitution für eine Reihe von angeschlossenen mittleren Reichsbehörden. Charakteristisch für die Aufgabenverteilung war, dass die übergeordneten Entscheidungs-, Richtlinien- und Überwachungskompetenzen beim Ministerium lagen. Dazu wurden die erwähnten Fachabteilungen für alle Geschäftsbereiche eingerichtet. Die praktische Ausführung war dann bei den ← 21 | 22 → angeschlossenen mittleren Reichsbehörden angesiedelt, die entsprechende Vorgaben des RMfW erhielten.7 Der folgende Überblick über die Zuständigkeiten, wie sie sich im Hinblick auf den Versailler Vertrag und im Zusammenhang mit der jeweils zuständigen angeschlossenen Verwaltungsstelle ergaben, mag einen hilfreichen Eindruck vermitteln. Die Reihenfolge ergibt sich dabei aus der Behandlung der verschiedenen thematischen Abschnitte im Versailler Vertrag.8

Die Regelungen zu Elsass-Lothringen legitimierten Rechtsakte, die bereits bei Friedensschluss am 28. Juni 1919 teilweise abgeschlossen worden waren. Dazu zählte die so genannte „Verdrängung“ der nicht autochthonen deutschen Bevölkerung aus dem ehemaligen Reichsland. Diese ethnische Säuberung begann nach der im Waffenstillstand von Compiègne am 11. November 1918 festgesetzten militärischen Räumung von Elsass-Lothringen. Die vertriebenen Menschen durften nur geringe Mengen an Handgepäck mit sich führen. In den Artikeln 53 und 74 FV wurde die Liquidation des gesamten zurückgelassenen Besitzes der – im damaligen deutschen Sprachgebrauch auch als „Elsass-Lothringer“ bezeichneten – verdrängten Deutschen durch französische Behörden legitimiert.9 Zusätzlich schrieb Art. 74 FV die Entschädigungspflicht des deutschen Staates gegenüber seinen Angehörigen, in diesem Fall der Elsass-Lothringer und anderer deutscher Geschädigter, für Schäden fest, die durch die Liquidation und den Übertritt Elsass-Lothringens an Frankreich entstanden.10

Eine weitere Gruppe von Verdrängten waren die „Kolonialdeutschen“. Hierbei handelte es sich um ethnische Deutsche aus den Kolonien und Schutzgebieten, die auf der Grundlage des deutschen Verzichts auf seine überseeischen Besitzungen gemäß Art. 118 und 119 FV dem deutschen Besitz entzogen wurden. Deutsche Reichsangehörige konnten nach Art. 122 ← 22 | 23 → FV ausgewiesen werden, wenn die zuständige Regierung dies für erforderlich hielt.11 Mit Ausnahme des ehemaligen Deutsch-Südwestafrikas kam es zur rigorosen Ausweisung deutscher Reichsangehöriger, nachdem ein Großteil der Militärs und Zivilisten vorher für die Dauer des Krieges in Lagern interniert gewesen war.

Diese Gefangennahme und Festsetzung von Deutschen fand während des Krieges nicht nur in den Kolonien statt, sondern wurde von allen am Krieg beteiligten Mächten in unterschiedlicher Ausprägung praktiziert. Die Betroffenen wurden nach Kriegsende in der Regel, unter Zurücklassung ihres Besitzes, nach Deutschland ausgewiesen. Davon betroffen waren auch Menschen, die nie deutschen Boden betreten und in vielen Fällen seit Generationen im Ausland gelebt hatten. Die Elsass-Lothringer, die Kolonialdeutschen und die aus anderen Regionen der Erde vertriebenen Reichsangehörigen bildeten in Deutschland die Gruppe der „Auslandsdeutschen“.12

Die Entschädigung dieser Menschen war ein hochkomplexer Prozess, dessen Bewältigung die deutsche Verwaltung vor eine langwierige Aufgabe stellte. In vielerlei Hinsicht mussten ganz neue Rechtsvorschriften für die vielschichtigen Arten von Schädigungen ausgearbeitet werden, die eine Person infolge des Krieges und des Friedensvertrages erlitten hatte. Die Ausarbeitung und Durchführung der Verfahren zog sich über Jahre hin und wurde im Rahmen des RMfW von verschiedenen Behörden bearbeitet.

Bei Kriegsende war es die Reichsentschädigungskommission, die mit der Einrichtung des Vorentschädigungsverfahrens betraut und nach der Gründung des RMfW diesem angeschlossen wurde. Später wurden diese Aufgaben dem Reichskommissar für Auslandsschäden und schließlich zur Einleitung des Endentschädigungsverfahrens dem Reichsentschädigungsamt für Kriegsschäden übergeben. Auch diese Behörden waren dem RMfW angeschlossen.

Unabhängig davon entwickelte sich zunächst die Entschädigung der Gruppe der Oberschlesier. Dies hing auch mit dem besonderen politischen Status Oberschlesiens zwischen 1920 und 1922 zusammen. Der Versailler Vertrag sah für dieses Gebiet eine Volksabstimmung vor, in der über die zukünftige territorial Zugehörigkeit zu Deutschland oder Polen entschieden ← 23 | 24 → werden sollte.13 Bis zur letztendlichen Teilung Oberschlesiens infolge der Stimmenverteilung nach dem Referendum sah sich das Gebiet wiederholt von Unruhen erschüttert. Als deutsche Hilfs- und Propagandamaßnahme wurde ein Reichs- und Staatskommissar zur Ermittlung von Aufruhrschäden in Oberschlesien eingesetzt. Die Bezeichnung der Behörde verdeutlicht, dass sowohl das Reich als auch Preußen hier Zuständigkeiten geltend machten. Eine Reihe von Ministerien versuchte auf den RKOS Einfluss zu nehmen, letztendlich wurde die Behörde dann aber dem RMfW unterstellt, das für die übrigen Entschädigungsfragen für Auslandsdeutsche zuständig war.

Angesichts der schleppenden Bearbeitung der gesamten Vorentschädigung, die nicht zuletzt auf die rasch wechselnden Behörden zurückzuführen war, machte sich unter den hunderttausenden Betroffenen eine wachsende Unzufriedenheit breit. Noch im Jahr 1924 vermerkte der eingangs zitierte Dichter:

„Im Vaterland herrscht schwere Not,
Die Auslandsdeutschen klagen:
Nur Steine reicht man uns statt Brot
In diesen Unglückstagen.
Herrn Lothholz’ Mühen waren umsunst,
Vergeblich war hier alle Kunst,
Und mit dem besten Willen
Der Jammer nicht zu stillen.“

Nicht nur in Deutschland erregten Entschädigungsfragen die Gemüter der Menschen. Während des Ersten Weltkrieges waren in allen von den Kriegshandlungen heimgesuchten Gebieten zivile Schäden entstanden, deren Wiederherstellung im Versailler Vertrag der Abschnitt zu den Wiedergutmachungen – die Art. 231 bis 244 nebst Anlage – gewidmet war.14 Besonders von Verwüstungen betroffen waren Belgien, Frankreich, Russland und Serbien. Der Stellungskrieg auf dem westlichen Kriegsschauplatz hatte umfangreiche Verwüstungen nach sich gezogen, ganze Landstriche waren zerstört worden. Auch in Osteuropa und auf dem Balkan gab es großflächige Gebiete, die Opfer der Zerstörungen des Krieges geworden waren. Erste Regelungen für die Entschädigungen für Kriegszerstörungen enthielt schon ← 24 | 25 → der Waffenstillstand von Compiègne. Der Art. 231 FV – der so genannten „Kriegsschuldartikel“ – schrieb dann Deutschland aus formaljuristischen Gründen als für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges und die resultierenden Schäden allein verantwortlich fest.15

Dieser Artikel bildete die Grundlage, auf welcher Art. 232 FV eine vollständige Wiedergutmachung aller zivilen Schäden der alliierten und assoziierten Nationen durch Deutschland festlegte. Dazu zählten auf britischen Druck hin auch die Pensionszahlungen der Kriegsversehrten, Kriegswaisen und Kriegerwitwen. Die daraus resultierenden Forderungen waren nur schwer zu errechnen, weshalb eine vollständige Wiedergutmachungsschuld erst Anfang Mai 1921 genannt werden sollte. Der bis dahin erarbeitete Londoner Zahlungsplan vom 27. April 1921 umfasste Reparationszahlungen im Umfang von 132 Milliarden Goldmark, die in jährlichen Zahlungen von 2 Milliarden Goldmark und 26 Prozent des deutschen Ausfuhrwertes beglichen werden sollten.

Bis dahin verlangte Art. 235 FV von Deutschland die Zahlung von 20 Milliarden Mark „in Gold, Waren, Schiffen, Wertpapieren oder anderswie“, die demnach sowohl in Barzahlungen als auch Sachwerten geleistet werden konnte.16 Deutschland machte mehrheitlich Gebrauch von den Sachlieferungen. Der Wiederaufbau in Belgien und Frankreich wurde vom Reichskommissar zur Ausführung von Aufbauarbeiten in den zerstörten Gebieten bearbeitet. Wie der Name der Behörde nahelegt, sollte dies mit deutscher Beteiligung bewerkstelligt werden. Im Rahmen der Wiederherstellung der ehemals von den deutschen Streitkräften besetzen nunmehrigen „régions libérées“ forderte Frankreich von Deutschland die Lieferung einer Vielzahl unterschiedlicher Waren. Im Rahmen komplexer Verfahren wurden hunderttausende unterschiedlichster Produkte – z. B. Automobile, Bestecke, Dachpfannen, Grassamen, Hunde, Katzen, Maschinen, Nachttöpfe, Schiffe, Wachhäuschen, Waschbecken, Ziegelsteine und vieles mehr – als Reparationssachlieferungen bei der Reichsregierung bzw. dem RMfW nachgefragt. Die Forschung hat vielfach übersehen, dass die Vorgehensweise, Barzahlungen durch Sachlieferungen zu ersetzen, auch nach dem Londoner Zahlungsplan 1921 fester Bestandteil der deutschen Reparationsleistungen ← 25 | 26 → blieb. Diese Nichtbeachtung hängt möglicherweise damit zusammen, dass im Rahmen der so genannten „Erfüllungspolitik“ die deutsche Regierung unter größeren Schwierigkeiten vergleichsweise geringe Barzahlungen leistete, die sie aber zeitweilig im Aus- und Inland propagandistisch überhöht darstellte.17

Ein Teil der ersten Tranche von 20 Milliarden Goldmark umfasste die Ablieferung fast der gesamten deutschen Handelsflotte sowie bedeutender Teile der Binnen- und Fischereischiffe.18 Im Ersten Weltkrieg war etwa die Hälfte der Handelsschiffe verloren gegangen, weshalb die Reichsleitung im Jahr 1917 einen Reichsausschuss für den Wiederaufbau der Handelsflotte einsetzte. Damals hatte noch niemand erwartet, dass der Name einmal Programm werden würde, denn bis Kriegsende ankerten noch hunderte zivile Handelsschiffe in deutschen und neutralen Häfen.19 Infolge der Waffenstillstände waren diese Schiffe zunächst, wenn auch unter Zwang, an die Alliierten verchartert worden. Gemäß Anlage III FV musste Deutschland schließlich alle zivilen Handelsschiffe ab 1.600 BRT und die Hälfte aller Schiffe mit 1.000 bis 1.600 BRT an die Alliierten übertragen. Zusätzlich war ein Viertel aller deutschen Fischereifahrzeuge abzuliefern.20 Damit verfügte das Deutsche Reich bei Friedensschluss nur noch über verschwindend geringe Transportkapazitäten für den Seehandel. Dies führte zu Engpässen im Warentransport nach dem Friedensschluss.

Die ungleiche Verteilung von Kohle als primärem Energieträger in Europa war ein Kernstück der europäischen Nachkriegsprobleme. Frankreich hatte aufgrund von Kriegseinwirkungen kurz- und mittelfristig einen Großteil seiner Kohlevorkommen eingebüßt. Gleichzeitig waren mit der Schwerindustrie von Elsass-Lothringen weitere Nachfrager nach Kohle auf dem französischen Markt hinzugekommen. Die entstandene Versorgungslücke sollte mit deutschen Kohlelieferungen gefüllt werden. Entsprechende Vorschriften ← 26 | 27 → waren in Anlage V §§ 1–10 FV formuliert.21 Zentrale Organisations- und Vermittlungsstelle der Kohlelieferungen war die Deutsche Kohlenkommission in Essen. In dieser Dienststelle kulminierten die verschiedenen deutschen Interessen aus Politik, Produzenten, Verwaltung und Konsumenten, die mit der Kohle und den aus ihr hergestellten Produkten zusammenhingen. In den Jahren 1919 bis 1923 fanden in festen Intervallen von wenigen Tagen Besprechungen zwischen Deutschland und den Empfängerstaaten über Stand und Entwicklung der deutschen Kohleförderung, -produktion und -transport statt. Diese Koordinationstreffen leitete auf deutscher Seite der Vorsitzenden der DKE. Versorgungsprobleme sollten frühzeitig erkannt und im Dialog beseitigt werden. Dadurch waren die Alliierten bis zum Ruhreinbruch 1923 über die Entwicklung der deutschen Kohlelieferungen genau informiert.

Während des Ersten Weltkrieges errichteten die Alliierten, allen voran Großbritannien, eine Seeblockade gegen die Mittelmächte und schnitten sie weitgehend vom Weltmarkt ab. Dadurch entstanden Versorgungslücken, die durch eine zunehmende Requisitionstätigkeit in den besetzten Gebieten kompensiert werden sollte. Millionen Tonnen von Lebensmitteln, Maschinen, Rohstoffen, Schrott usw. wurden enteignet und ins Reichsgebiet transportiert und verbraucht. Im Waffenstillstand von Compiègne ging Deutschland die Verpflichtung ein, zumindest Maschinen und Material zu restituieren. In den zahlreichen Fällen, in denen die verlangten Objekte nicht mehr verfügbar waren, musste es Substitutionen anbieten. Darunter fiel auch die Rückgabe von Kultur- und Kunstgegenständen sowie anderen Werten. Diese Auflagen wurden im Versailler Vertrag in Art. 238, 239 und 247 bestätigt.22

Für die Erfassung der requirierten Sachwerte war während des Krieges die deutsche Reichsentschädigungskommission gegründet worden. Die Rückgabe der Sachwerte nach Kriegsende erfolgte dann aber im Rahmen verschiedener Behörden, bis die Kompetenzen in der Reichsrücklieferungskommission gebündelt wurden. Aufgrund der vielfältigen Erfahrungen ihres Personals bei Entschädigungsfragen für Requisitionen war die REK prädestiniert, die erwähnte Entschädigung der Auslandsdeutschen zu bearbeiten. ← 27 | 28 →

Zum Komplex der Entschädigungen sowie der Aus- bzw. Rücklieferungen ist die Ablieferung des Eisenbahnmaterials zu zählen. Im Waffenstillstand von Compiègne musste sich Deutschland zur Ablieferung von 5.000 Lokomotiven und 150.000 Eisenbahnwaggons verpflichten. Die Ausführung oblag zunächst der Militärgeneraldirektion der Feldbahnen in Brüssel, die später in der Position des Kommissars für die Rückgabe von Eisenbahnmaterial aufging. Mithin hatte diese Verwaltungsstelle ihren Ursprung in der Militäradministration und ging damit aus einem Ressort des Preußischen Kriegsministeriums hervor. Auch diese Behörde unterstand, obwohl sie im Grunde keine Reichsbehörde war, dem RMfW.

Der uns nun schon bekannte eingangs zitierte Lieddichter zieht auch mit Blick auf die Wiedergutmachungen eine düstere Bilanz:

„Und was wir schaffen früh und spat,
Es soll für uns nicht lohnen,
Dem Feinde reift die deutsche Saat,
Er scheffelt die Millionen,
Wo irgendwas noch existiert,
Es wird re- und substituiert.
Herr Cuntze muss sich fügen,
Macht’s ihm auch kein Vergnügen.“

Der Erste Weltkrieg wird im geschichtswissenschaftlichen Diskurs auch als „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet.23 Der Kriegsausbruch hinterließ eine Zäsur in einem Weltsystem, das ausgeprägte Globalisierungstendenzen entwickelt hatte. Das weltwirtschaftliche Handelsgeflecht wurde binnen kürzester Zeit zerrissen und sollte bis in die 1970er Jahre nicht wieder eine solche Ausprägung erlangen.24 Der daraus resultierende Ausgleich von Forderungen und Schulden war nach dem Ersten Weltkrieg ein besonderes Hindernis beim Wiederaufbau der internationalen ← 28 | 29 → Handelsbeziehungen.25 Während des Krieges waren die Finanzbeziehungen zwischen den kriegführenden Staaten rasch eingeschränkt und schließlich gänzlich unterbunden worden. Wegen des raschen Kriegsausbruchs konnten viele Finanzbeziehungen nicht mehr rechtzeitig geregelt werden. Gläubiger und Schuldner vermochten selbst bei gutem Willen ihre Verbindlichkeiten nicht auszugleichen. Im feindlichen Ausland entstandene Gebühren, Steuern usw. konnten nicht entrichtet werden, was eine Vielzahl von wirtschaftlichen Existenzen vernichtete. Als Resultat drohte nach dem Friedensschluss eine Prozesslawine, die eine Erholung der Handelsbeziehungen bis zur Klärung der jeweiligen nationalen Rechtslage behindert hätte.

Um dieser Entwicklung vorzubeugen, führte der Versailler Vertrag in Art. 296 nebst Anlage ein Ausgleichsverfahren ein, in dem Forderungen und Schulden gegeneinander aufgerechnet bzw. verrechnet wurden.26 Dazu richteten alle am Verfahren beteiligten Staaten Ausgleichsämter ein. In Deutschland, dessen Teilnahme obligatorisch war, führte dies zur Gründung des Reichsausgleichsamt. Für die Weimarer Republik entwickelte sich das Ausgleichsverfahren indes zu einer großen finanziellen Belastung, so dass im Jahr 1922 erhebliche Konflikte mit den Alliierten auftraten. Auch die deutschen Gläubiger, deren Endentschädigung während der Hyperinflation ausgezahlt wurde, verloren häufig einen Großteil ihrer Forderungen. Der Lieddichter merkte auch hier resignierend an:

Details

Seiten
572
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783631698488
ISBN (ePUB)
9783631698495
ISBN (MOBI)
9783631698501
ISBN (Hardcover)
9783631698471
DOI
10.3726/978-3-631-69848-8
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (November)
Schlagworte
Versailler Vertrag Weimarer Republik Reichsverwaltung Flucht & Vertreibung
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 572 S.

Biographische Angaben

Dirk Hainbuch (Autor:in)

Dirk Hainbuch studierte Geschichte und Politikwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg. Die Schwerpunkte seiner Forschung bilden deutsche Verwaltungsgeschichte, die Weimarer Republik und die Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland.

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