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Hans Henny Jahnns musikalisches Erzählen in «Fluss ohne Ufer»

Polyphonie und Kontrapunkt als Elemente einer dissonanten Utopie

von Sebastian Otto (Autor:in)
©2016 Dissertation 307 Seiten

Zusammenfassung

Der Autor geht der Frage nach, ob Hans Henny Jahnn in seinem Komponistenroman «Fluss ohne Ufer» musikalische Erzähltechniken verwendete. Ausgehend von Jahnns Rede «Die Aufgabe des Dichters in dieser Zeit» erfolgt eine Skizzierung der Grundlinien der Ästhetik, der Baukunst und Musik, die der Autor dann per Analogie auf die Dichtung überträgt. Zum Verständnis der Harmonik und des musikalischen Erzählens zieht er u.a. Kepler und Leibniz heran. Der zweite Teil der Arbeit deutet «Fluss ohne Ufer» mit Hilfe musikalischer Kompositionstechniken wie Fuge, Polyphonie und Kontrapunkt als dissonante Utopie. Den Schlusspunkt bildet eine vergleichende Erörterung der «Ideen» Herders und des «unklassischen» Humanismus Jahnns.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • I. Teil
  • I.1 Hans Henny Jahnn: Die Aufgabe des Dichters in dieser Zeit
  • I.1.1 Kritik an der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft
  • I.1.2 Ästhetische Grundlinien: Baukunst, Musik und Dichtkunst
  • I.1.3 Die Aufgabe des Dichters in dieser Zeit
  • I.2 Ugrino, Harmonik und musikalische Utopie
  • I.2.1 Institutionalisierung harmonikaler Erlebniswahrnehmung: Ugrino und das Ugrino-Verlagssymbol
  • I.2.2 ‚Semantik Alteuropas‘: Jahnns Selbstbeschreibung als Harmoniker
  • I.2.3 Musikalische Utopie
  • I.2.3.1 Diethelm Zuckmantel: Tradition und Utopie (2004)
  • I.2.3.2 Marion Bönnighausen: Musik und Utopie (1997)
  • I.2.3.3 Musikalischer Utopie-Begriff
  • I.3 Analogie als Strukturproblem der universellen Harmonik und der polyphonen Musik und Dichtung
  • II. Teil
  • II.1 Weiblichkeit und Harmonikalität der ›Lais‹
  • II.1.1 Elemente der musikalischen Periodik im Holzschiff
  • II.2 Niederschrift des Gustav Anias Horn
  • II.2.1 Elemente der musikalischen Periodik in der Niederschrift
  • II.3 Polyphone, kontrapunktische Erzählelemente in Fluss ohne Ufer
  • II.3.1 Polyphone Momente im Holzschiff
  • II.3.2 Kontrapunktik und Polyphonie in der Niederschrift
  • II.3.2.1 Raum und Zeit als polyphone und polyrhythmische Verschränkung in der Niederschrift
  • II.3.2.2 Subjektbezogen-polyphone Stimmen in der Niederschrift
  • II.3.2.2.1 Motivisch-thematische Arbeit, Imitation und Engführung in den Winterkapiteln
  • II.3.2.2.2 „Ich sehe immer nur Wiederholungen“ – die Freundschaft Gustav Anias Horns und Alfred Tuteins
  • II.3.2.2.3 Weitere subjektbezogene Stimmen: der Widersacher und Ajax von Uchri, Olivia und Ilok
  • II.3.3 Schlussbemerkungen zum zweiten Teil
  • III. Teil
  • III.1 Rekapitulation und utopische Elemente in der Niederschrift
  • III.2 Analyse des Auszugs aus der Ode-Symphonie
  • III.3 Herders Ideen und Jahnns ››unklassischer Humanismus‹‹
  • IV. Literaturverzeichnis

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I.  Teil

I.1   Hans Henny Jahnn: Die Aufgabe des Dichters in dieser Zeit1

Die Rede zur Aufgabe des Dichters hielt Jahnn zwei Mal. Zunächst sprach Jahnn anlässlich des Todestages Goethes in Hamburg 1932 und drei Jahre später am 25.2.1935 in Bergen zu diesem Thema. In den Grundzügen stimmt die Gedankenführung beider Vorträge überein, nur dass Jahnn für seinen Vortrag in Bergen beabsichtigte, wie er in den Bornholmer Aufzeichnungen vermerkt, seine Gedanken breiter zu gestalten und einige „herzhafte Beispiele“ einzufügen.2

Jahnn fasst die moderne Gesellschaft als historisch gewordenes, funktional ausdifferenziertes System auf. Die teils kritische Analyse, teils polemische Beschreibung der Systemoperationen konzentriert sich auf dessen primäre, autonome Funktionssysteme: Politik und Bürokratie, Wissenschaft und Technik, Religion, Erziehung, Rechtssystem und Kunst. Der Vortrag ist im Sinne Niklas Luhmanns eine Selbstbeschreibung der Moderne.

Weil Jahnn den primären Funktionssystemen vollständiges ethisches Versagen vorwirft aber zugleich die Faktizität seines Standpunktes als Beobachter der ← 7 | 8 → Moderne und damit als moderner Mensch nicht leugnen kann, ist nachvollziehbar, dass Jahnn nicht nur im Allgemeinen über die Aufgabe des Dichters spricht, sondern über die Aufgabe des Dichters in dieser Zeit. Das Neue der Aufgabe der Dichtung als buchstäbliche Wortführerin der Künste besteht für Jahnn sowohl darin, die funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft als Strukturwandel zu beobachten wie auch Erkenntnisse, die in einer so verfassten Gesellschaft in den Funktionssystemen gewonnen werden, in die Operationen der Kunst und in die Reflexionstheorie der Kunst, die Ästhetik, einzubinden. Für die Spannung der Rede bedeutet dies ferner, dass Jahnn die funktional ausdifferenzierte Gesellschaft nicht wie Luhmann als evolutionäres, endgültiges Ergebnis begreift, sondern diese als ››Harmoniker‹‹, als den er sich bezeichnet, im Gegenteil in ein ontologisches Weltdeutungsmuster zu reintegrieren beabsichtigt. Dies unternimmt Jahnn mit seinem Programm des ››neuen unklassischen Humanismus‘‹‹.

I.1.1  Kritik an der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft

Jahnn beobachtet die Gesellschaft in seiner Rede Die Aufgabe des Dichters in dieser Zeit als funktional ausdifferenziert.3 Als wichtiges Kriterium einer solchen benennt Jahnn nicht nur die Teilsysteme, also etwa Politik, Wirtschaft und ← 8 | 9 → Wissenschaft. Sondern er versteht die Bürokratie als Inbegriff des modernen Staates: „Das papierene Zeitalter ist unser Teil.“4

Die Schwerpunktverlagerung von der Maschinentechnik zur Bürokratie, ausgelöst wohl auch durch persönliche Erfahrung5, ist der wesentliche Unterschied zu jener Rede zur Aufgabe des Dichters, die Jahnn anlässlich der Goethe-Feier in Hamburg hielt. Diese Abweichung ist jedoch kein Bruch in der Gedankenführung Jahnns. Denn das Erfahrungsurteil, zu dem Jahnn seine Beobachtungen zusammenfasst, ist eine zusätzliche begriffliche Differenzierung bzw. eine zusätzliche Systembeobachtung, nach Luhmann die Operation des ››re-entry‹‹6, wodurch jedoch die bereits vollzogenen begrifflichen Unterscheidungen der Gesellschaft nicht außer Kraft gesetzt werden. Es ist im Gegenteil eine notwendige Unterscheidung, welche die Anschlussfähigkeit der folgenden Erörterungen Jahnns zur gegenwärtigen Lage der Gesellschaft sicherstellt.

Die Nähe der Feststellung Jahnns, dass die Bürokratie „unser Teil“ sei, zu Max Webers Analyse der bürokratischen Herrschaft ist unverkennbar7. Für Weber ist die bürokratische Herrschaft ein Strukturmoment moderner Staaten, die einhergeht mit der rationalen Ausbildung und Fortentwicklung von Großstaaten (Aufbau von Behörden)8, Massenparteien und Massendemokratie9, der kapitalistischen Wirtschaftsordnung (Kontor)10 und der Führung maschineller Kriege11. Das Vordringen der Bürokratie begründet Weber mit der technischen ← 9 | 10 → Überlegenheit ihres Apparats, den er mit der maschinellen Erzeugung von Konsumgütern gleichsetzt.12

Jahnn vollzieht eine zu Weber vergleichbare systemische und begriffliche Verklammerung von Masse, Technik und Bürokratie. Stellt Jahnn doch schon zu Beginn seiner Rede fest, dass er in einem Massenzeitalter lebt: Der Mensch ist „an der Vermehrung zur Masse geworden“13. Bedenkt man Jahnns Idiosynkrasie gegenüber moderner Maschinentechnik, so liegt der Gedanke nahe, dass Jahnn an der Operationsweise der Bürokratie die Nähe zur Maschine bzw. zum Maschinenhaften spürte.

Als Prinzipien der Bürokratie führt Weber Demokratisierung und Nivellierung des Individuums („ohne Ansehen der Person“, Aktenführung)14, Sachlichkeit und Präzision durch spezialisierte Fachschulung (Rechtskunde, Verwaltungslehre, Kontorwissenschaft)15 und Sekretierung („Amtsgeheimnis“)16 an. Am typischen Beamten bilde sich durch Schulung auf „präzisen Gehorsam“17 das monokratische Herrschaftsprinzip am deutlichsten aus, was sich am „gehorsamen Sichfügen in Ordnungen“18 äußere.

Die Bürokratie ist schließlich im Sinne Niklas Luhmanns nicht nur Teil der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft, sondern aufgrund ihres Charakters des „rational geordneten Gesellschaftshandelns“19 eine evolutionäre Errungenschaft20, die „im öffentlichen wie privaten Betrieb zunehmend ← 10 | 11 → die Grundlage aller Ordnung“21 bilde. Diese Überlegung geht mit der obigen Schlussfolgerung Webers konform, denn sei der bürokratische Apparat einmal eingerichtet, so Weber, könne die Gesellschaft ihn weder entbehren noch ersetzen22. Für Weber zählt „[e]ine einmal voll durchgeführte Bürokratie zu den am schwersten zu zertrümmernden sozialen Gebilden“23.

Da die Bürokratie, wie jedes gesellschaftliche System, durch operative Schließung24 autonom operiert25, ist die Operationsweise des bürokratischen Systems für Jahnn nur über eine metaphorische Charakteristik greifbar. Sie ist für ihn nicht nur staatliches Herrschaftsinstrument oder technischer Apparat, den Jahnn in allen Teilsystemen vorfindet, sondern die Bürokratie ist gleichsam ein mythologisches Tier, eine Kreuzung bestehend aus einer Hydra und einer Riesenkrake, das zwar jeden ergreife und vor dem es kein Entkommen gäbe, selbst aber „unrührbar“ und „unverwundbar“ sei.26 Und die Bürokratie ist nicht nur technischer Apparat bzw. Herrschaftsinstrument und mythologisches Tier, sondern bestimmt, wie bei Weber, zudem die vorherrschende Gesinnung. Für diese stehen in Jahnns Rede eine Reihe von Synonymen, etwa wenn er vom „papierne[n] Gebäude der Durchschnittsbildung“27, von „papierene[r] Gelehrsamkeit“28, von der „Durchschnittsmoral“29 oder von „[u]nklugen Zweckverbänden und Zwecksysteme[n]“30 spricht. Genauer trifft jedoch ein biblisches ← 11 | 12 → Wort die Gesinnung, die seelisch-geistige Haltung, die vorwiegend in der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft herrscht: das „verstockte Herz“31.

Die ››Zwecksysteme‹‹, so stellt es Jahnn dar, sind das evolutionäre Ergebnis „der Lehre vom Zweckmäßigen und Nützlichen“32. Die operative Schließung der Teilsysteme33, ihre Autopoiesis, mit deren Hilfe das Funktionssystem durch innersystemische Kommunikation seine „Spezialisierung“34 gegen andere Funktionssysteme, d.h. gegenüber der Umwelt, erzeugt, erhält seine Strukturen und Funktion dadurch, dass es sich systemimmanenter Operationen bedient. Hierdurch erst gewinnt das gesellschaftliche Funktionssystem seine Autonomie. Ethik als Reflexionstheorie der Moral tritt bloß systemintern, funktionalisiert, in Luhmanns Sinne ››autopoietisch‹‹, auf, d.h. durch innersystemische Rekursion auf die Systemstrukturen.

Besonders diese operative Schließung der Funktionssysteme bewertet Jahnn kritisch, da sie, ihre systeminterne Autopoiesis ausgenommen, keinen gesellschaftlich verbindlichen Ethos mehr kennen:

Verengen, einschachteln, behindern, moralisieren, postulieren, begrenzen, Spannungen erzeugen und Freude abwürgen, das sind die Ausflüsse im Scheitern begriffener Systeme.35 ← 12 | 13 →

Jahnn beobachtet dies an den primären Funktionssystemen der Gesellschaft: An der Wissenschaft, der er vorwirft, nicht nur „zu spezialisieren, zu zerlegen, zu zergliedern“36, sondern auch an der Herstellung von Massenvernichtungswaffen beteiligt zu sein, welche die Menschheit als Ganzes bedrohen würden; an Politik und kapitalistische Wirtschaft richtet Jahnn den Vorwurf der Gewinnmaximierung auf Kosten der Bevölkerung37; Journalismus nimmt Jahnn als „tägliche Sturmflut“38 von Meinungen wahr. Es überrascht nicht, dass Wissenschaft und Journalismus aus der Sicht Jahnns zu kaum mehr als einer „dünnen Aufklärung“39 taugen, denn:

Mit ihrer Hilfe kann alles bewiesen, alles zerwiesen werden. Unrecht können sie in Weisheit und Staatskunst verwandeln. Unmenschlichkeit mit Heldentum bekleiden. Die Weisheit der Lächerlichkeit preisgeben. Fluch den Maschinen können sie brüllen und Segnungen technischer Ordnungen und Disziplinen verkünden.40

Die Analyse der Gegenwart vor dem Hintergrund der Erfahrung des Ersten Weltkrieges41 führt Jahnn zu der düsteren Prognose, dass dem „europäischen Menschen“42 eine Zeit bevorstehe, die über seinen Untergang oder seine Rettung entscheide. Von der „ungeheure[n] Steigerung aller menschlichen Maschinengedanken“43 und vom allgemeinen Hang des Menschen, sie in militärische Technik oder bürokratische Apparaturen umzusetzen, gehe, im Unterschied zur Gegenwart 50 bis 100 Jahre zuvor, das Potential aus, die Menschheit als Ganzes zu bedrohen. Der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft spricht Jahnn die Fähigkeit ab, diese existenzielle Bedrohung der Gesellschaft durch Rückgriff auf systemeigene Operationen abzuwehren:

Die Hoffnung, daß etwa Verträge, Konventionen, kurz die Bürokratieen (sic!) den Untergang verhindern könnten, ist leider eitel. Es ist keine Hoffnung bei Wirtschaft, Staat, Partei, nicht bei den Großindustriellen und den Bankern, nicht bei den Diplomaten und den religiösen Sektierern. Und die Wissenschaft war unberaten genug, immer nur zu spezialisieren, zu zerlegen, zu zergliedern. Und das Zusammenfassen dem Zufall anheimzugeben.44 ← 13 | 14 →

Nach dieser kurzen Darstellung der Situation, in der Jahnn den „europäischen Menschen“ stehen sieht, soll im Folgenden im Mittelpunkt stehen, auf welche Weise Jahnn dem von ihm befürchteten drohenden Untergang der Menschheit begegnen will. Von der Rede zur Aufgabe des Dichters ausgehend, werden die Grundlinien der Jahnnschen Ästhetik skizziert, denn sie gibt nicht nur erste Hinweise über sein Selbstverständnis als ››Harmoniker‹‹, sondern es findet sich in ihr die harmonikale Struktur des Kosmos exemplarisch dargestellt. Dies bedeutet, dass auf weitere Aufsätze Jahnns, zur Baukunst und zur Musik, zurückgegriffen wird, denn die Äußerungen Jahnns zur Baukunst und Musik in der Rede zur Aufgabe des Dichters geben nicht hinreichend Aufschluss über die ihnen zugrunde liegenden Prinzipien. Die Erörterungen münden anschließend in eine vorläufige Betrachtung der Komponenten des Begriffs eines ››neuen unklassischen Humanismus‘‹‹, zu dem Jahnn auch die Dichtung zählt.

I.1.2  Ästhetische Grundlinien: Baukunst, Musik und Dichtkunst

Klar ist, dass Jahnn die funktional ausdifferenzierte Gesellschaft als disfunktional beobachtet. Grund dafür ist die operative Schließung der Systeme, die Jahnn mit Hilfe von Bildern wie „philiströse Verknöcherung im Stadium des Vortodes“45, „Unbeweglichkeit der Bürokratien“46 oder „Häufung der Unfruchtbarkeit“47 beschreibt. Eine solche Annäherung der Gesellschaft ans Leblose muss dem „Schöpfungsstrom“, der auf den „sich widersprechenden Triebkräften“, d.h. „Formwille und Variantenbedürfnis“48, beruht, entgegenstehen. Stattdessen hätte sich ein „papierene[s] Gebäude der Durchschnittsbildung“ etabliert,49 welche ← 14 | 15 → sowohl die wissenschaftliche Erforschung als auch die ästhetische Erfahrung der harmonikalen Gesetze des Schöpfungsstromes verhindert.

Der Wissenschaft, welche sich der Untersuchung der Gesetzmäßigkeiten des Schöpfungsstromes zuwenden müsste, wirft Jahnn vor, unter Zuhilfenahme arbiträrer Kriterien bloße Dihairese zu sein, was als Anspielung auf die ‚Zergliederungen‘ der Botanik, etwa im botanischen System Linnés, verstanden werden kann.50 Noch weiter vom Objekt entfernt sich Ernst Cassirer im dritten Band seiner Philosophie der symbolischen Formen, erschienen 1929, die mit Blick auf die revolutionären Theorien der Experimentalphysik fordert, dass das „ontisch-reale Verhältnis“ der Wissenschaft, womit bei Cassirer das übliche Rubrizieren eines Gegenstandes unter einen wissenschaftlichen Begriff gemeint ist, zugunsten einer „symbolischen Relation“ aufgegeben werden müsse.51 Die symbolische ← 15 | 16 → Relation als Zusammenhang der empirischen Gegenstände drücke sich entgegen dem ontisch-realen Verhältnis durch das kontinuierliche Verwerfen und durch die anschließende erneute ››Rekonkreszierung‹‹ naturwissenschaftlicher Formeln aus.

Doch weder ein ontisch-reales noch das von Cassirer vorgeschlagene symbolisches Verhältnis ist für Jahnn akzeptabel. Statt dieser ist für Jahnn das harmonikale Verhältnis des Leblosen und Lebenden entscheidend.52 Auf diesem harmonikalen Fundament ruht Jahnns Idee einer an der Harmonik (Schöpfungsstrom, Zahl, Rhythmus) orientierten Kunst:

Je mehr Jahre sich an mir absetzen, desto sicherer werde ich in der Überzeugung, daß der Ursinn aller Kunst harmonikale Fundamente hat, also in das Reich des Rhythmus, der Zahl, des uneindämmbaren Schöpfungsstromes hinabreicht. Daß aber in ihrem Wirken genau wie in dem der Zeugung der Anfang alles Beginnens nachtönt, dessen Kraftrichtung man einen Zwitter zwischen Rhythmus und Variantenbedürfnis nennen könnte.53

Die Beschäftigung Jahnns mit harmonikal-ästhetischen Fragen geht bis zu seinem Aufenthalt in Norwegen während des Ersten Weltkrieges zurück. Autodidaktisch eignete er sich nicht nur profunde Kenntnisse über die Grundlagen des Orgelbaus an, sondern sein Selbstunterricht erstreckte sich gleichermaßen auf das Gebiet der Architektur. Auf den Erkenntnissen dieser Zeit in Norwegen aufbauend, gründete Jahnn 1920 mit Georg Friedrich Harms und Franz Buse die Ugrino-Gemeinschaft.54

Wird erneut das Begriffsinstrumentarium Niklas Luhmanns für die folgenden Überlegungen zu Jahnns ästhetischen Aufsätzen zugrunde gelegt, so sind diese eine Beobachtung bzw. Selbstbeschreibung dritter Ordnung innerhalb des Kunstsystems.55 ← 16 | 17 →

Als Beobachter Jahnns werden hauptsächlich Beobachtungen erster und zweiter Ordnung vorgenommen, Beobachtungen zweierlei Art, und zwar zum einen, was Jahnn beobachtet und zum anderen wie, also mit welchen Prämissen er arbeitet bzw. beobachtet, und zwar in seinen Aufsätzen zur Baukunst Einige Elementarsätze der monumentalen Baukunst bzw. Schöpfungen der Baumeister TEIL I (1921) und Die ästhetische, rhythmische und materialbedingte Theorie des Gewölbes TEIL II (1921–1926 unveröffentlicht)56 sowie für die Musik der Aufsatz Bemerkungen zur kultischen Musik57. Als Kommunikationsangebote58 innerhalb des Kunstsystems sind diese nicht nur als Beiträge zu dessen Selbstreferenz bzw. zur Autopoiesis der Kunst zu verstehen, sondern auch bezüglich des Gesamtwerks Jahnns.

Was Jahnn in seinen Aufsätzen beobachtet, sind zunächst in Schöpfungen der Baumeister TEIL I ägyptische Sakral- und Sepulkralbauten, romanische Kirchen und schließlich Bauwerke, die während der Zeit der von Jahnn sogenannten ››spätgotischen Umkehr‹‹ errichtet worden sind. Er beobachtet diese unter dem Neigungswinkel des rhythmisch (harmonikal) gegliederten Massebaus. Im zweiten Aufsatz konzentriert Jahnn seine Beschreibung – mit denselben Voraussetzungen der monumentalen Baukunst – auf architekturgeschichtliche Entwicklungen des Gewölbebaus.

Während Luhmann die Entwicklung und Ausdifferenzierung der Kunst evolutionär versteht59, gibt es für Jahnn nur in gewisser Hinsicht einen solchen ← 17 | 18 → evolutionären ››Fortschritt‹‹. Zwar kennen beide den Begriff ››Variation‹‹, doch hier besteht der wesentliche Unterschied zwischen beiden darin, dass Jahnn auf dem Gebiet der Bau- und Tonkunst keine Originalität oder Neuheit, die Luhmann mit dem Begriff der Variation verbindet, anerkennen will. Dies begründet sich damit, dass mit der Schöpfung zugleich die ästhetischen Prinzipien, auf denen das Universum beruht, originär, ewig und unabänderlich verfügbar respektive für den Menschen erleb- und erkennbar geworden sind. Für die Musik und Baukunst sind dies Intervallverhältnisse oder Proportionalitätsverhältnisse. Allerdings ist es kunstgeschichtlich geschehen möglich, dass diese ewigen Gesetze vergessen, verschüttet oder aus ‚Anmaßung‘ verworfen werden.

Die kunstgeschichtliche Erscheinung des ››Genies‹‹, von dem Luhmann schreibt, dass es nicht Ursache von Evolution, sondern ihr Produkt sei60, besitzt für Jahnn in gewissem Sinn eher konservative denn progressive Qualitäten. Für die ››Genieästhetik‹‹ des achtzehnten Jahrhunderts und, mit ihr verknüpft, ››Originalität‹‹, die, nach Ansicht Luhmanns, über ››Geschmack‹‹ selektiert werden würde61, existiert bei Jahnn kein ästhetiktheoretischer Ort. Die Bedeutung des Genies für die Kunstgeschichte besteht darin, dass es die fundamentalen harmonikalen Gesetze erkennt und auf ihrer Grundlage monumentale Bauwerke oder polyphone Tonkunstwerke, als Zeugnisse der Ewigkeit der ästhetischen Gesetze, stiftet.

Jahnns Überlegungen zur Theorie der Architektur beschränken sich auf Sakral- und Sepulkralbauten, deren Fundament der harmonikale ››Massebau‹‹ ist. Es ist eine materialgebundene, das heißt eine auf der Wirkung des Steins beruhende Bauweise. ← 18 | 19 →

Der Begriff des Monumentalbaus lässt sich grob mit zwei Komponenten erfassen62: Zum einen die auf Gott bezogene transzendente (‚Antrag an Gott‘), zum anderen die auf das Elementar-Leibliche bezogene Komponente, die beide durch das, harmonikalen Gesetzmäßigkeiten folgende, Verbauen großer Steinmassen im Monumentalbau umgesetzt werden.63 Die Untrennbarkeit der elementar-leiblichen und transzendenten Komponente des Monumental- oder Massebaus beruht also darauf, dass sie auf denselben harmonikalen Gesetzen beruhen. Die gleichzeitig transzendente wie elementar-leibliche Wirkung des Massebaus wird durch Beachtung harmonikaler Gesetzmäßigkeiten erzielt. Gesichert liegen diese in „den Elementen des zahlengebundenen Rhythmus“64 vor. Die auf ihnen basierenden Bauten werden nach ››Takten‹‹ angelegt. Als Urbaurhythmus gilt Jahnn der Takt 1:1. Alle anderen Taktvarianten, etwa 1:2, 1:3 usw., werden „möglicherweise […] spontan erfunden worden sein.“65 ← 19 | 20 →

Von der transzendenten Komponente aus gesehen, sind monumentale Bauwerke ein „Antrag an Gott“66. Die Vergeblichkeit des Antrags an Gott wird zur Voraussetzung kultureller Gebilde, sei es die monumentale Baukunst, sei es die polyphone Musik. Trotz dieser Vergeblichkeit drücken Bauwerke der monumentalen Baukunst das metaphysische Bedürfnis nach diesem Antrag an Gott aus. Zugleich verwirklicht sich in der Massebauweise ein physisches Bedürfnis, und zwar das nach dem Schutz des Leibes (absolute Statik und davon abgeleitet das Gefühl der absoluten Sicherheit).

Mit Gott ist jedoch nicht ‚ER‘, also keineswegs ein persönlicher Gott, gemeint, sondern ein nach harmonikalen Gesetzen operierender Gott.67 Der Zweck der Sakralbauten, die der Baumeister stiftet, ist demzufolge nicht, wie etwa im Alten Testament oder in Martin Heideggers Der Ursprung des Kunstwerks68, das ››Anwesen‹‹ (eines) Gottes zu ermöglichen, sondern sie dienen als Antrag an die harmonikale Schöpfung der Versöhnung des Endlichen und Transzendenten:

Details

Seiten
307
Jahr
2016
ISBN (ePUB)
9783631699485
ISBN (PDF)
9783653069242
ISBN (MOBI)
9783631699492
ISBN (Hardcover)
9783631676028
DOI
10.3726/978-3-653-06924-2
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Oktober)
Schlagworte
Humanismus Weltharmonik musikalisch-dichterische Erzähltheorie Soziologie Luhmann Philosophie des Mitleids Komponistenroman
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2016. 307 S.

Biographische Angaben

Sebastian Otto (Autor:in)

Sebastian Otto studierte Neuere deutsche Literatur, Linguistik sowie Informatik an der Freien Universität Berlin und wurde an der Universität Duisburg-Essen promoviert.

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Titel: Hans Henny Jahnns musikalisches Erzählen in «Fluss ohne Ufer»
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