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Die Kunst des Dialogs

Gedenkschrift für Michael Fischer

von Stephan Kirste (Band-Herausgeber:in) Hanna Maria Kreuzbauer (Band-Herausgeber:in) Ingeborg Schrems (Band-Herausgeber:in) Michaela Strasser (Band-Herausgeber:in) Silvia Traunwieser (Band-Herausgeber:in)
©2017 Andere 414 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch ist dem am 1. Juni 2014 verstorbenen Salzburger Rechts- und Sozialphilosophen Michael Fischer gewidmet. Die Beiträge würdigen die Person und Bedeutung Michael Fischers und bilden seine wichtigsten Interessensgebiete schwerpunktartig ab. Die Autorinnen und Autoren behandeln dabei ein breites Themenspektrum, das sich von Mozart-Opern über Humanität und Moral bis zu wirtschaftlichen, politischen und rechtsphilosophischen Fragen spannt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalte
  • Vorwort
  • Biographische Skizze Michael Fischer
  • Über Michael Fischer (Ingeborg Schrems)
  • Einleitende Worte
  • Michael Fischer zum Gedenken (Helga Rabl-Stadler)
  • Vom Wert des Dialogs. Freundschaft als politische und soziale Kategorie (Johannes Hahn)
  • Kultur und Kunst
  • Einführende Gedanken (Johannes Honsig-Erlenburg)
  • Plötzlich angesprochen! Überlegungen zum theatralen Dialog mit dem Publikum (Ortrud Gutjahr)
  • Kreuzen gegen den Sturm der Zeit: Europa denken! Einheit durch Verschiedenheit. Gegen Einheit aus Verschiedenheit (Bazon Brock)
  • Kulturkritik und Persönlichkeitsrecht (Peter Ruzicka)
  • Welt und Wirklichkeit – Das Zentrum des Theaters (Ingrid Hentschel)
  • Mozart – Über allem Zauber Liebe (Dieter Borchmeyer)
  • Festspiel-Dialoge 2014 – Don Giovanni (Ulrich Leisinger)
  • Don Juan zwischen Madrid und Prag (Gerhard Katschnig)
  • Philosophie und Wissenschaft
  • Selbstdenken (Volker Gerhardt)
  • Sinnlichkeit – Unvernunft – Melancholie? Mutmaßungen über die „Nachtseite der Vernunft“ (Birgit Recki)
  • „…WEIL EIN GESPRÄCH WIR SIND…“ Der hermeneutische Dialog in der Zweiten Dialektik der Aufklärung (Walther Ch. Zimmerli)
  • Der Andere im Dialog (Helmut Kohlenberger)
  • Lieber mit Montaigne und Camus irren als mit Heidegger und Thomas von Aquin die Wahrheit behaupten: Ein Dialog zwischen Lebenden, Toten und Erfundenen (Peter Daniel Moser)
  • Humanität als Floskel? Zur Erinnerung an ein Anliegen von Michael Fischer (Reinhold Knoll)
  • Ist ein fruchtbarer Dialog zwischen empirischer und normativer Ethik möglich? Eine Untersuchung am Beispiel der Debatte zwischen Greene und Berker (Norbert Paulo)
  • Hegemon und Wissenschaft (Hendrik Jan Ankersmit / Helmut Hofbauer)
  • Die Analyse eines Dialogs – Fortpflanzungsmedizin in Österreich (Silvia Traunwieser)
  • Die Organisation, der blinde Fleck der Ethik Organisationsethische Methodik am Beispiel eines Krankenhauses (Jürgen Wallner)
  • Anerkennung und Autonomie in Wissenschaft und Kunst (Manfred Gabriel)
  • Recht, Politik und Wirtschaft
  • Die Kunst des Dialogs im Recht (Kurt Seelmann)
  • Recht als Kultur (Stephan Kirste)
  • Legitimationsmuster terroristischer Gewalt (Michaela Strasser)
  • Die EU und Russland – Die Kunst des Dialogs (Michael Geistlinger)
  • Post-demokratische Politiksimulation – Politische Quasi-Diskurse und non-evidence based Policy (Nikolaus Dimmel)
  • Dialogproblem Sozialstaat. Seine ideelle Genese und das Organisationsproblem Gesundheit (Wilhelm Donner)
  • Die Kunst des Dialogs: Arbeitsverfassung und Sozialpartnerschaft (Rudolf Mosler)
  • Der Wunsch nach Wachstum: Empirische Evidenz und wirtschaftspolitische Perspektiven (Johannes Hofstätter / Walter Scherrer / Hannes Winner)
  • Fremd sein: Psychosoziologische Gedanken zu Integration und Assimilierung (Raimund Jakob)
  • Sehr kurze Geschichte europäischer Grundwerte (Hanna Maria Kreuzbauer)
  • Die Herausgeber/-innen
  • Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Biographische Skizze Michael Fischer

Univ.-Prof. DDr. Michael Fischer wurde am 25. März 1945 in Prag geboren und kam mit seinen Eltern im Februar 1946 nach Salzburg. Dort besuchte er von 1951–1955 die Volksschule, danach von 1955–1963 das Humanistische (heute Akademische) Gymnasium, das er 1963 mit der Matura abschloss.

1963–1969 absolvierte Michael Fischer das Studium der Rechtswissenschaften an den Universitäten Wien und Salzburg. 1969 erfolgte die Promotion zum Dr. iur. an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Salzburg. Ebenfalls 1969 begann er das Studium der Politikwissenschaften, Soziologie und Philosophie an der Universität Salzburg.

Von 1969–1973 war er Universitätsassistent an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät Salzburg von Univ.-Prof. Dr. René Marcic am Institut für Rechtsphilosophie, Allgemeine Staatslehre und Politikwissenschaften und nach dessen Tod von 1973–1982 bei Univ.-Prof. Dr. Ilmar Tammelo.

1972 erfolgte die Promotion mit Auszeichnung zum Dr. phil. an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Salzburg. Das Thema der Dissertation behandelte „Das Hegelbild des Materialismus“.

Von 1972–1974 war Michael Fischer nebenberuflich wissenschaftlicher Lektor des Rombach Verlages in Freiburg im Breisgau. Von 1973–1976 war er an der Universität Salzburg karenziert und Dozent (Assistent mit Lehrauftrag) am Philosophischen Seminar der Universität Zürich bei Prof. Dr. Dr. h.c. Hermann Lübbe.

1975 begann Michael Fischer mit seiner Habilitationsschrift unter dem Arbeitstitel „Die Rolle der Geheimbünde in Wissenschaft und Politik“. 1976 kehrte er an die Universität Salzburg zurück, und zwar an das mittlerweile umbenannte Institut für Rechtsphilosophie, Allgemeine Staatslehre und Methodologie der Rechtswissenschaften. 1979 erfolgte die Habilitation für „Rechtsphilosophie sowie Politikwissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Politischen Theorie“ an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Salzburg.

1980 war er für ein Semester Gastdozent an der Universität Innsbruck am Institut für Rechtsphilosophie und Öffentliches Recht unter Leitung von Univ.-Prof. Dr. Hans R. Klecatsky. 1982 wurde er Universitätsprofessor für Rechtsphilosophie und Politikwissenschaften unter besonderer Berücksichtigung der Politischen Theorie.

Von 1983–1999 war er Vorstand des Instituts für Rechtsphilosophie, Allgemeine Staatslehre und Methodologie der Rechtswissenschaften an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Salzburg und dort ab ← 11 | 12 → 1. Oktober 1984 Leiter der Abteilung für Sozialphilosophie, Politikwissenschaft und Grundlagenforschung.

1987 folgte eine Gastprofessur für ein Semester an der Universität Graz am Institut für Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie unter Leitung von Univ.-Prof. DDr. Dr. h.c. Ota Weinberger und 1988 eine Gastprofessur ebenfalls für ein Semester an der Universität Tübingen am Soziologischen Seminar unter Leitung von Prof. DDr. Johannes Neumann.

Von 1991–1992 hatte Michael Fischer eine Gastprofessur am Philosophischen Seminar der Universität Zürich inne und vertrat den vakanten Lehrstuhl für Politische Philosophie von Prof. Dr. Dr. h.c. Hermann Lübbe. 1993 lehnte er den Ruf auf diesen Lehrstuhl aus familiären Gründen ab.

Von 1999–2004 war Michael Fischer Vorstand des neu gegründeten Instituts für Grundlagenwissenschaften (Zusammenschluss der Institute für Rechtsphilosophie sowie Rechtssoziologie) an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Salzburg und danach von 1. Oktober 2004–2009 Fachbereichsleiter des wiederum neu gegründeten und erweiterten Fachbereichs Sozial- und Wirtschaftswissenschaften an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Salzburg, in dem die Institute für Grundlagenwissenschaften und Rechtsgeschichte (sozialwissenschaftliche, philosophische und historische Grundlagen) sowie für Wirtschaftswissenschaften (Betriebs- und Volkswirtschaftslehre) zusammengeführt wurden. 2004 hatte er eine Gastprofessur für Kulturwissenschaften an der Universität Klagenfurt inne mit anschließender Tätigkeit als Lektor. 2007 wurde er Honorarprofessor für Kulturwissenschaften an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Klagenfurt. Im Zentrum stand hier die Vermittlung der internationalen Dimensionen der Kulturarbeit an junge Menschen verbunden mit Exkursionen an die großen Opernhäuser Europas und Treffen mit international renommierten Kulturpraktikern wie Gerard Mortier oder Peter Ruzicka.

Seit 2009 bis zuletzt war Michael Fischer Mitglied der Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt. Seine Berufung in diese Kommission ging mit der Ausbildung des Forschungsschwerpunkts „Ethik transdisziplinär“ einher.

Seit 1994 bis zuletzt war er Leiter der Salzburger Festspiel-Dialoge, die er gemeinsam mit Gerard Mortier, dem ehemaligen Intendanten der Salzburger Festspiele (1991–2001), begründet hatte. Konzeption und Organisation dieser wissenschaftlichen Gesprächsreihe, in deren Zentrum die jeweiligen Opern-Neuinszenierungen der Salzburger Festspiele standen, stammten ebenfalls von ihm.

1996 war er Wissenschaftlicher Leiter des European Art Forums in Salzburg, gegründet von Land Salzburg in Zusammenarbeit mit der Europäischen Union, der Republik Österreich und den Salzburger Festspielen als Plattform für kritisch kommentierte und kontroversielle Beiträge zur ← 12 | 13 → Erarbeitung konkreter Vorschläge für eine EU-Kulturpolitik abseits rein theoretischer Analysen.

2006 zeichnete Michael Fischer für die wissenschaftliche und konzeptionelle Ausrichtung des Festspiel-Eröffnungs-Symposions „Die Festspiele – Visionen, Wünsche, Wirklichkeit“ verantwortlich sowie 2010 für das Festspiel-Symposion „Der ‚andere‘ Gott“. 2012 und 2014 folgten Festspiel-Symposien zur „Zukunft der Salzburger Festspiele“.

Ende September 2010 trat er an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät in den Ruhestand und wurde mit 1. Oktober 2010 vom Rektor der Universität Salzburg, Univ. Prof. Dr. Heinrich Schmidinger, mit der Leitung des Programmbereichs Arts & Festival Culture am Schwerpunkt Wissenschaft und Kunst der Universität Salzburg / Universität Mozarteum beauftragt. Zentrales Anliegen war hier die Vermittlung einschlägiger Kompetenzen und Methoden am Beispiel von Kunst- und Kulturinstitutionen als Grundlage für die Auseinandersetzung mit den aktuellen Problemen der zeitgenössischen Bühnenkünste in ihrem sozialen Kontext. Diese Funktion übte er bis zuletzt aus.

Im Herbst 2010 etablierte Michael Fischer am Salzburger Landestheater gemeinsam mit Intendant Carl Philip von Maldeghem die Gesprächsreihe Stage-Talk, in der sich Theatermenschen und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im ästhetischen und gesellschaftlichen Dialog programmatisch zu jeweiligen Produktionen begegneten. Die Reihe wird ab der aktuellen Spielzeit 2016/17 in Erinnerung an Michael Fischer fortgeführt.

Im Herbst 2011 begann Michael Fischer mit der Konzeption und Organisation der Symposionsreihe „Europa NEU denken“, die unter Schirmherrschaft von EU-Kommissar Dr. Johannes Hahn steht. Internationale Symposien fanden 2012 und 2013 in Triest/Italien sowie 2014 in Piran/Slowenien statt. Ausgangspunkt war die Überlegung, Kultur in der Politik der lokalen und regionalen Entwicklung durchgängiger zu berücksichtigen, da Kreativität, Innovation und Unternehmergeist wichtige Wirtschaftsfaktoren sind, die daneben aber genauso für Lebensqualität, Wohlbefinden und kulturelle Vielfalt sorgen. Diese Reihe wird als „Michael Fischer Symposion“ von Ilse Fischer mit einem Beratungsteam weitergeführt (2015 in Dubrovnik/Kroatien und 2016 in Syrakus/Italien).

Am 1. Juni 2014 ist Michael Fischer verstorben.

Forschungsschwerpunkte

Seit 1969: Neben den Schwerpunkten des Studiums, Auseinandersetzung mit „Hegel und dem Linkshegelianismus“ (bis 1978) und „Geschichte der Aufklärung sowie Rolle der Aufklärung heute“ verstärkte Auseinandersetzung mit Kunsttheorie und Kunstsoziologie. ← 13 | 14 →

1974: „Die Rolle der Geheimbünde von der Frühaufklärung bis zur Romantik“ (bis 1988) sowie Herausbildung der „Ethik“ als durchgehender Schwerpunkt.

1982: „Wissenschaftssoziologie und Wissenschaftsethik“ (Toleranz und Gewaltforschung).

1984: „Die philosophische und soziologische Dimension von Gesetzgebungstheorien“ sowie „Antike Ethik und Sozialphilosophie“.

1989: „Politische Theorie des Nationalsozialismus und aktueller Rechtsextremismus“ (bis 2004).

1992: „Die gesellschaftliche Funktion von Kunst“.

1996: „Empirische Wertewandelforschung“ (Trendforschung) sowie „Ethik transdisziplinär“ (Ethik als Schnittstelle zur Ästhetik, Humanforschung, Trend- und Gewaltforschung).

2002: „Kunst als politisches Programm“ sowie „Kunst als Sinnorientierung“.

2004: Beginn des Projekts „Der aktuelle Stand der Ethik in den Wissenschaften in Österreich. Auswirkungen, Perspektiven und Maßnahmen: State-of-the-art-Studie“ im Auftrag des Bundesministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst (BMWFK) im Rahmen von „Ethik transdisziplinär“. 2007: Abschlussbericht des Ethik-Forschungsprojekts sowie 2007–2008: Folgeprojekte des Ethik-Forschungsprojekts.

2007: Beginn des Forschungsprojekts „Subjekt und Kulturalität“ (in Zusammenarbeit mit dem Studium Generale der Universität Mainz, Prof. Dr. Andreas Cesana, sowie dem Lehrstuhl für Rechtsphilosophie und Strafrecht der Universität Basel, Prof. Dr. Dr. h.c. Kurt Seelmann): Der Kern des interkulturellen Forschungsansatzes besteht in der Einsicht, dass es unmöglich ist, die eigene Identität zu bestimmen, ohne sich mit anderen (Fremdidentitäten) zu konfrontieren.

Ab 2010: „Europäische Opern- und Festivalkultur“: Aufbau und Herstellung einer transdisziplinären und multiperspektivischen Arbeits- und Diskussionskultur zwischen den europäischen Kulturinstitutionen mit neuen Lösungsansätzen aktueller Frage- und Problemstellungen.

Ab 2011: „Kunst, Kulturalität und Menschenbild“ (Fortführung von „Subjekt und Kulturalität“): Forschungsansatz: Es soll der Nachweis erbracht werden, dass und in welchem Ausmaß Selbstwahrnehmung und Selbsterfahrung kulturell konstruiert sind.

Ab 2011: „Europa NEU denken“ (unter Schirmherrschaft von EU-Kommissar Dr. Johannes Hahn): Forschungsansatz: Die Vielfalt der regionalen Kulturen ist zur zentralen Bedingung eines künftigen europäischen Zivilisationsverständnisses geworden.

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Ingeborg Schrems

Über Michael Fischer

Die Menschheit pumpt pro Minute durch ihre Herzen 53,4 Milliarden Liter Blut, und dieser rote Fluß befremdet uns nicht, muß er doch fließen, um das Leben aufrechtzuerhalten. In derselben Zeit sondern die männlichen Genitalien 43 Tonnen Samen ab, und der Haken steckt darin, daß zwar jede Ejakulation auch ein gewöhnlicher physiologischer Akt, aber für den einzelnen Menschen ein unregelmäßiger, intimer, nicht allzu häufiger, ja nicht einmal ein unbedingt notwendiger Akt ist. Gibt es doch Millionen Greise, Kinder, Menschen, die in einem freiwilligen oder erzwungenen Zölibat leben, Kranke usw. Und doch fließt dieser weiße Strom mit derselben Beständigkeit wie jener rote. Die Unregelmäßigkeit verschwindet nämlich, wenn die Statistik die ganze Erde erfaßt, und das ruft Erstaunen hervor. Die Menschen setzen sich an gedeckte Tische, suchen nach Abfällen in Müllhaufen, beten in Gotteshäusern, Moscheen, Kirchen, fliegen in Flugzeugen, fahren in Autos, stecken in mit Atomraketen bestückten U-Booten, debattieren in Parlamenten, Milliarden Menschen schlafen, Leichenzüge gehen durch Friedhöfe, Bomben explodieren, Ärzte beugen sich über Operationstische, Tausende Professoren und Dozenten besteigen gleichzeitig ihre Katheder, Theatervorhänge gehen auf und nieder, Überschwemmungen ergießen sich über Felder und Häuser, Kriege werden geführt, Traktoren stoßen auf den Schlachtfeldern uniformierte Leichen in Gräben hinab, es donnert, es blitzt, es ist Tag, es ist Nacht, es dämmert am Morgen und am Abend – was auch immer geschieht, der befruchtende Strom von 43 Tonnen Sperma fließt pausenlos und das Gesetz der großen Zahlen garantiert, daß er ebenso beständig bleibt wie die Menge der auf die Erde fallenden Sonnenenergie.1

Dieses Zitat von Stanisław Lem aus einer fiktiven Rezension brachte Michael Fischer unter anderem in meinem ersten Zusammentreffen mit ihm, als ich als Studentin im zweiten Semester Politikwissenschaft an seinem Seminar „Texte über Politik“ teilnahm. Michael Fischers Herangehensweise an einen Text, und was man aus diesem herausholen oder auch nicht herausholen konnte, war für mich Neuland. Seine Art, wie er verschiedene Texte oder Werke präsentierte, wie er über diese sprach, war eine für mich bis dahin unbekannte Art der Vermittlung bisher nicht angedachter oder auch ungewohnter Einblicke. Durch seine persönliche Begeisterung für einen Text gelang es ihm, das Auditorium auf seine Gedankenreisen mitzunehmen und das weiterzugeben, was seiner Meinung nach einen Text so besonders machte, oder warum es sich lohnte, sich mit diesem oder jenem Buch unbedingt auseinanderzusetzen. Michael ← 15 | 16 → Fischer war ein Magier in dieser Beziehung, denn er hatte die Fähigkeit, seine Leidenschaft für etwas an andere derart weiterzugeben, dass man selbst auch all das unbedingt näher kennenlernen musste, von dem er so mitreißend gesprochen hatte. Es gab damals auch einen „hermeneutischen“ Zirkel von mehreren, meist höhersemestrigen Studierenden, die sich mit Michael Fischer auch nach den Seminaren trafen und mit ihm weiter diskutierten. Zu diesem Kreis gehörte ich allerdings nicht dazu.

Ich traf auf Michael Fischer wieder, als ich eine Stelle als Karenzvertretung an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Salzburg antrat und mich in der Folge am damaligen Institut für Rechtsphilosophie, Methodologie der Rechtswissenschaften und Allgemeine Staatslehre um die ausgeschriebene Stelle einer Referentin bewarb. Michael Fischer war Institutsvorstand und nach einem ersten Gespräch hatte er sich bereits entschieden, dass ich künftig seine Mitarbeiterin sein sollte. So begann im Juli 1992 unsere Zusammenarbeit. Zahlreiche Studierende absolvierten in dieser Zeit als eine der ersten rechtswissenschaftlichen Prüfungen das Grundlagenfach Soziologie für Juristen oder kurz vor Ende des Diplomstudiums das Wahlfach Politikwissenschaft bei Michael Fischer. Seine Lehrveranstaltungen dazu gestaltete er durchaus im Frontalvortrag mit praktischen Beispielen, Fragen jederzeit erwünscht. Die Studierenden sollten sich den Stoff keinesfalls durch Auswendiglernen aneignen, wichtig war das Begreifen der viel weiteren Zusammenhänge, die Anwendung im praktischen Leben. Das Bewusstsein sollte erweitert und geöffnet werden für eine andere Sicht der Dinge weit über die Fachgrenzen hinaus, das war Michael Fischers zentrales Anliegen. Vielen sind heute noch die Skripten „Politikwissenschaft/Politische Soziologie“, „Nationalsozialismus“ oder „Neonazismus“ ein Begriff.

Wer sich darauf einließ, Michael Fischers Gedankenwelt zu folgen, zog großen Gewinn daraus. Nicht alle aber konnten das, weil er durchaus nicht immer strikt linear nach Schema vorging. Vielmehr folgte er im Vortrag oder im Gespräch auch Gedankensträngen, die gleich über mehrere Sprünge weiterführten, ohne dass er das genau aussprach, weil es für ihn so klar und unmissverständlich war. In seinem Denken vollzog er aber sehr wohl diese Etappen. Michael Fischer wusste immer ganz genau, woraufhin er hinauswollte. Dass er dabei so manchen Zwischenschritt oder Gedanken nicht explizit erwähnte, erleichterte es manchen nicht, seinen Ausführungen zur Gänze zu folgen. Ließ man sich aber auf Michael Fischers Denkweise ein, war es ganz wunderbar, welche anderen Wege und Richtungen sich erschlossen, die man vorher nie angedacht hätte. Auch für mich war das ein großer Lernprozess. Allerdings hatte ich bald verstanden, was ihm wichtig war, worauf er Wert legte und was er erreichen wollte. Deswegen war unsere Zusammenarbeit wohl auch so gut, weil ich seine Anliegen an andere gut weitergeben und transportieren konnte. Natürlich spielte die Erfahrung der jahrelangen Zusammenarbeit dabei eine große Rolle. ← 16 | 17 →

Ab 1994 durfte ich Michael Fischer und die von ihm gemeinsam mit dem ebenfalls 2014 verstorbenen Gerard Mortier begründeten und bis zuletzt jährlich stattfindenden „Festspiel-Dialoge“2 begleiten. Im ersten Programm „Warum brauchen wir Utopien, die scheitern?“, schrieb er:

Kunst ist ein Bestandteil öffentlicher ldeenproduktion und nicht nur Nimbus des Luxuriösen und Exklusiven. Ins Politische gewendet, kann Kunst Wert- und Begeisterungsbedürfnisse steigern, aber auch Furcht- und Zwangsvorstellungen mobilisieren. In einer Welt, die durch eine Gegenutopie zunehmender Gewaltbereitschaft gekennzeichnet ist, hat Kunst auf ihr Recht zu bestehen, nämlich, daß Kunst Utopie ist, befreit von der Lüge, stets Wahrheit zu sagen. Gerade darum ist Kunst Aufforderung zum Dialog.

Das war eine der Grundthesen, die Michael Fischer dieser Gesprächsreihe zugrunde legte und die intellektuell begleitend speziell zu den Opernaufführungen der Salzburger Festspiele stattfand. Die „Festspiel-Dialoge“ wurden zu einer Herzensangelegenheit Michael Fischers. Sobald Ende August das Festspielprogramm des nächsten Jahres bekannt war, begann er, eine Konzeption zu erarbeiten und anhand dieser geeignete Rednerinnen und Redner einzuladen, einen speziellen Aspekt vorzutragen. Er hatte immer eine genaue Vorstellung davon, welches Spektrum ein Vortrag abdecken sollte. Das alles bereitete er mit schier unendlicher Akribie vor, erarbeitete umfangreiche Arbeitsskripten, Moderations- und Diskussionsunterlagen. Er war im Vorfeld gegen alle Eventualitäten gewappnet, und das alles zusätzlich zu seinem ohnedies vorhandenen breiten Wissen. Er überließ im Vorfeld nichts dem Zufall. Das ist wohl auch einer der Gründe, warum diese Gespräche so erfolgreich waren. Michael Fischers Moderation, seine ergänzenden Ausführungen waren stets getragen von einer Leichtigkeit und Mühelosigkeit. Dahinter steckte jedoch harte Arbeit, vor allem aber die unheimlich große Freude, die ihm diese Arbeit bereitete.

Gute Vorbereitung war generell ein Merkmal von Michael Fisches Arbeitsstil. Egal ob es sich um einen Vortrag, eine Projektkonzeption oder -antrag, ein Strategiepapier für den Fachbereich oder die Vorbereitung einer Lehrveranstaltung handelte. War sie doch unabdingbare Voraussetzung für einen erfolgreichen Abschluss. Das wusste er genau. Wenn er zu mir ins Büro kam, sich einen Sessel neben mich vor den Computer heranzog und die Tür zumachte, wussten die anderen Kolleginnen und Kollegen, dass da nun gearbeitet wurde und Unterbrechungen höchst unerwünscht waren. Da konnte Michael Fischer schon auch einmal die Geduld verlieren, wenn es an der Tür klopfte oder das ← 17 | 18 → Telefon zum wiederholten Male läutete – Geduld zählte sicherlich nicht zu seinen Stärken.

Im Mittelpunkt stand für Michael Fischer stets seine Arbeit. Auch in Zeiten, in denen er gesundheitlich schwer angeschlagen war – er verheimlichte nie, dass dieser Zustand durch übermäßigen Zigarettenkonsum rein selbst verschuldet war – verfasste er Manuskripte zur Bearbeitung oder sprach Texte auf Bänder zum Abtippen. Nie gab es Stillstand. Das Private und Berufliche verzahnte sich dabei völlig. In jeder Situation fiel Michael Fischer wieder etwas ein, wie strategisch klug in einer Sache weiter vorzugehen, in welche Richtung zu schreiten und was noch alles miteinzubeziehen wäre. Niemals war er diesbezüglich außer Dienst. Privatleben und Beruf bildeten eine Einheit. Es gab hier keine klare Grenze. Als Beispiel darf ich nur die berühmten Essenseinladungen bei sich zuhause in Anif anführen. Der Esstisch war für ihn und seine Frau Ilse stets Forum für neue Ideen, Freundschaften und Projekte. Hier arrangierte er neue Begegnungen und initiierte Gespräche bei einem guten Glas Wein und gutem Essen. Das war ihm stets eine Herzensangelegenheit.

Nach seiner Pensionierung am Fachbereich Sozial- und Wirtschaftswissenschaften an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät übernahm Michael Fischer im Oktober 2010 mit Sonderauftrag des Rektors die Leitung des neu errichteten Programmbereichs „Arts & Festival Culture“ am Schwerpunkt Wissenschaft und Kunst der Universität Salzburg/Universität Mozarteum. Von ihm konzipiert sollte dieser neue Programmbereich eine Schnittstelle bilden zwischen philosophischen (visionären), soziologischen und wirtschaftlichen Fragestellungen und Problemfeldern von Festivals. Ausgehend von den „Festspiel-Dialogen“ intensivierte Michael Fischer ab nun maßgebend mit seinen profunden und vielseitigen akademischen Fähigkeiten die engere Verbindung zwischen Universität und Salzburger Festivalkultur. Aus seinen zahllosen Netzwerken in den Bereichen Kultur und Wissenschaft, Politik und Gesellschaft schöpfend, konzipierte er die großartigen Festspiel-Symposien zur „Zukunft der Salzburger Festspiele“ (2012 und 2014) und etablierte die Gesprächsreihe „Stage Talk“ am Salzburger Landestheater.

Im Studienbereich installierte er die neue Vorlesungsreihe „Zyklus der Mozartopern“ in Zusammenarbeit mit der Stiftung Mozarteum sowie internationale Symposien mit angeschlossenen Forschungsseminaren am Teatro Real Madrid und unter der Schirmherrschaft von EU-Kommissar Johannes Hahn die Symposionsreihe „Europa NEU denken“3. Leidenschaftliches Anliegen war ihm dabei neben der Vermittlung von Basiswissen vor allem das Verstehen der Notwendigkeit ständigen Hinterfragens, Recherchierens und Erforschens sowie Anregung zum Nachdenken zu stiften. Im Zentrum stand stets der lebendige Diskurs, die Aufforderung, eine eigene Lesart zu entwickeln. ← 18 | 19 →

So bereitete er Studierenden, angehenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, dem Festspiel-Dialoge-Publikum oder Veranstaltungsbesucherinnen und -besuchern unermüdlich den Weg, selbst zu einer kritischen Instanz zu werden. Im Herausgreifen pointierter Themen führte er mit scharfsinniger Analyse seine Zuhörerschaft weit über die Grenzen der Disziplinen, erschloss völlig neue Gedankenfelder. Die Leichtigkeit, mit der er diese Verbindungen herstellte und nahebrachte, seine mitreißende Begeisterungsfähigkeit, das zeichnete den Menschen Michael Fischer vor allem aus und machte ihn so einzigartig. Sein Geist und sein Denken leben weiter in den zahlreich hinterlassenen Schriften, in den „Stage Talks“, die ab Herbst 2016 in seinem Sinne und in Erinnerung an ihn am Salzburger Landestheater fortgeführt werden, sowie in der Weiterführung von „Europa NEU denken“ als „Michael Fischer Symposion“ (2016 in Syrakus).

Quellenverzeichnis

Europa NEU denken, retrieved 8.5.2016, from www.europa-neu-denken.com.

Festspiel-Dialoge, retrieved 8.5.2016, from www.w-k.sbg.ac.at/archiv/arts-festival-culture/festspiel-dialoge.

Lem, Stanisław: Eine Minute der Menschheit. Aus d. Poln. v. Edda Werfel. Suhrkamp: Frankfurt a.M. 1983.


1 Lem, Stanisław: Eine Minute der Menschheit. Aus d. Poln. v. Edda Werfel. Suhrkamp: Frankfurt a.M. 1983, S. 41–43.

Details

Seiten
414
Jahr
2017
ISBN (ePUB)
9783631699744
ISBN (PDF)
9783653058352
ISBN (MOBI)
9783631699751
ISBN (Hardcover)
9783631663790
DOI
10.3726/b10651
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (März)
Schlagworte
Rechtsphilosophie Kunst Kultur Philosophie Politik Sozialtheorie
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 414 S., 2 s/w Tab.

Biographische Angaben

Stephan Kirste (Band-Herausgeber:in) Hanna Maria Kreuzbauer (Band-Herausgeber:in) Ingeborg Schrems (Band-Herausgeber:in) Michaela Strasser (Band-Herausgeber:in) Silvia Traunwieser (Band-Herausgeber:in)

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