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Geschichtsphilosophische Implikationen im historischen Roman des frühen 20. Jahrhunderts

von Ulrike Häfner (Autor:in)
©2016 Dissertation 294 Seiten

Zusammenfassung

Diversen historischen Romanen des frühen 20. Jahrhunderts sind unterschiedliche Geschichtskonzepte inhärent, die sich mit den geschichtsphilosophischen Ideen seit der Spätaufklärung konstruktiv auseinandersetzen und diese produktiv weiterentwickeln. Die Autorin zeigt auf, wie die Texte gleichzeitig einen Rahmen für die politische oder soziale Ideologie oder den Kunstbegriff des jeweiligen Autors bilden. Sie geht so den neuen Schreibformen im Genre des historischen Romans nach, die durch die Orientierung an der Geschichtsphilosophie statt an der Geschichtswissenschaft entstanden sind. Auf Grundlage eines eigens entwickelten Kategorienmodells, das geschichtsphilosophische Konzepte von der Spätaufklärung bis zum Untersuchungszeitraum ordnet, umfasst die Untersuchung Texte von A. Döblin, L. Feuchtwanger, H. Mann, E. Mitterer, W. von Molo, A. Kuckhoff und I. Seidel.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorbemerkung
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung
  • 1.1 Vorgehensweise und Gliederung
  • 1.2 Forschungsüberblick
  • 1.2.1 Geschichtsphilosophie
  • 1.2.2 Ordnungsmodelle für die Betrachtung von Vergangenem
  • 1.2.3 Historischer Roman
  • 2. Kategorien geschichtsphilosophischer Konzepte
  • 2.1 Das Movens I
  • 2.1.1 Objektive Urheberschaft
  • 2.1.2 Subjektive Urheberschaft
  • 2.2 Das Movens II
  • 2.2.1 Subjektiver Antagonismus
  • 2.2.2 Materieller Antagonismus
  • 2.3 Das Agens
  • 2.3.1 Unselbstständiges Agens
  • 2.3.2 Selbstständiges Agens
  • 2.4 Das Tempus
  • 2.4.1 Kontinuität
  • 2.4.2 Parallelität
  • 2.4.3 Diskontinuität
  • 2.5 Der Charakter
  • 2.5.1 Optimistische Wertung
  • 2.5.2 Neutralität
  • 2.5.3 Pessimistische Wertung
  • 2.6 Zwischenfazit
  • 3. Textanalysen
  • 3.1 Alfred Döblin: Wallenstein (1920)
  • 3.1.1 Urheber einer neuen Zeit
  • 3.1.2 Dynamisierung: Krieg und Naturdarstellung
  • 3.1.3 Individuen als Marionetten der neuen Ordnung
  • 3.1.4 Geschichtspessimismus: Chaos und Endzeitstimmung
  • 3.1.5 Fazit
  • 3.2 Lion Feuchtwanger: Jud Süß (1925)
  • 3.2.1 Gesellschaft ohne Moral
  • 3.2.2 Fortschritt in der Stagnation oder ewige Wiederkehr
  • 3.2.3 Süß Oppenheimers Weg
  • 3.2.4 Die Veränderung der Gesellschaft
  • 3.2.5 Fazit
  • 3.3 Ina Seidel: Das Wunschkind (1930)
  • 3.3.1 Die Mutter als Urheberin der Geschichte?
  • 3.3.2 Antagonismen innerhalb der Familie und der materiellen Welt
  • 3.3.3 Das Agens oder Christophs historische Verantwortung
  • 3.3.4 Die Bewertung von Geschichte
  • 3.3.5 Fazit
  • 3.4 Adam Kuckhoff: Der Deutsche von Bayencourt (1937)
  • 3.4.1 Historisches Wirken in der Natur
  • 3.4.2 Historische Dynamisierung durch Menschen und Masse
  • 3.4.3 Sommers Schuldfrage
  • 3.4.4 Historischer Materialismus als Exkurs
  • 3.4.5 Die Erbsünde
  • 3.4.6 Fazit
  • 3.5 Erika Mitterer: Der Fürst der Welt (1940)
  • 3.5.1 Das narrative Kompositionsprinzip
  • 3.5.1.1 Der Aufbau einzelner Handlungsstränge
  • 3.5.1.2 Die Figurenpsychologie
  • 3.5.2 Die Zeitenwende
  • 3.5.3 Die Bewertung von Geschichte
  • 3.5.4 Fazit
  • 3.6 Walter von Molo: Der Roman meines Volkes (1918–1921)
  • 3.6.1 Fridericus
  • 3.6.2 Luise
  • 3.6.3 Das Volk
  • 3.6.4 Fazit
  • 3.7 Heinrich Mann: Die Jugend des Königs Henri Quatre (1935) und Die Vollendung des Königs Henri Quatre (1938)
  • 3.7.1 Toleranz und religiöse Spannungen als Auslöser für historische Bewegung
  • 3.7.2 Das Zeitkonzept im Henri Quatre
  • 3.7.3 Henri IV als historische Größe
  • 3.7.4 Heinrich Manns Bewertung der Geschichte
  • 3.7.5 Fazit
  • 4. Schluss
  • Literaturverzeichnis

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1.  Einleitung

Wenn Alfred Döblin 1936 in seinem Essay Der Historische Roman und wir schreibt, dass der historische Roman „erstens Roman und zweitens keine Historie [ist]“,1 dann richtet sich seine Kritik vor allem an die Autoren, die den Roman nicht als Schnittstelle der beiden Disziplinen Literatur und Geschichtswissenschaft sehen, sondern die Romanform als Medium für die Wiedergabe historischer Fakten interpretieren. Sieht man auf die gesamte Gattungsgeschichte, angefangen bei Walter Scott, so wird schnell klar, dass sich der historische Roman stets in einem Spannungsfeld zwischen Historie und Epik bewegt. Die thematische Nähe zwischen den beiden Textsorten – historiographischen Sachtexten und historischem Roman – ist nicht zuletzt auf ihre relativ parallele Entstehung im 19. Jahrhundert zurückzuführen: Hier entwickelt sich die Geschichtswissenschaft,2 während der Roman scottscher Ausprägung adaptiert und weiterentwickelt wird.3 Die Etablierung beider Textsorten steht zunächst in ← 11 | 12 → einer engen Wechselbeziehung. Erst mit der größeren Eigenständigkeit sowohl der Geschichtswissenschaft als auch des historischen Romans als ästhetischem Konstrukt lösen sich die Textsorten stärker voneinander ab.

Bei den frühen Romanen Walter Scotts war der Bezug zur Historizität noch von größerer Relevanz als der ästhetische Gehalt. Zwar erfindet Scott die Gattung durch die Figur des „mittleren Helden“ neu – vorher unterschied sich der historische Roman kaum von einer historischen Chronik, die Geschichte wiedergibt, aber nicht erzählt. Funktion des „mittleren Helden“ war es deshalb vor allem, die außersprachlichen Referenzen, also die historischen Ereignisse, für den Leser erfahrbar zu machen.4 ← 12 | 13 →

In den deutschen historischen Romanen des späten 19. Jahrhunderts tritt der ästhetische Gehalt der Romane noch weiter zurück hinter die Verifizierung des Textes durch historische Fakten. Diese Entwicklung, wie sie z. B. bei den Professorenromanen Felix Dahns und Georg Moritz Ebers’ zu sehen ist,5 ist dem ← 13 | 14 → Historismus geschuldet, der Wissenschaft von Geschichte, die sich vor allem mit der Erforschung historischer Quellen beschäftigt.6 Im Zuge der hiermit einhergehenden Quellenkunde werden aber auch den historischen Romanen die historischen Quellen, auf denen der Text beruht, in Fußnoten beigefügt. Die Grundzüge des Historismus – eine Verifizierung historischer Ereignisse durch Quellen und eine möglichst authentische Wiedergabe der Fakten – finden sich im Professorenroman des späten 19. Jahrhunderts wieder.7 Hier ging es aber auch darum, die Bedürfnisse einer deutschen Leserschaft zu befriedigen, die sich gerade erst selbst als eine Nation zu begreifen begann und daher ein verstärktes Interesse an Heldengeschichten aus der eigenen ethnischen Vergangenheit entwickelte.8 ← 14 | 15 →

Im frühen 20. Jahrhundert wird Geschichte, also vergangenes Geschehen, als geschlossenes Konzept in Frage gestellt. Was Friedrich Nietzsche in seiner Schrift Vom Nutzen und Nachtheil der Geschichte erstmals direkt relativiert – den Objektivitätsanspruch historischer Fakten –, wird von Theodor Lessing radikalisiert zu der These, dass der Geschichte kein Sinn innewohne, sondern dieser ihr aufgesetzt sei. Wohin historisches Geschehen verläuft und ob es überhaupt fortlaufend ist, wird in Zweifel gezogen. Walter Benjamin zeigt dies in seinen Geschichtsphilosophischen Thesen mit dem Bild des Engels der Geschichte, der rückwärts gewandt einer unbekannten Zukunft entgegengewirbelt wird:

Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann.9

Ausgehend von den neuen Perspektiven auf das Konstrukt Geschichte seit dem frühen 20. Jahrhundert ändert sich auch der Umgang mit ihr im historischen Roman. Anstatt dass historische Figuren und Begebenheiten dargestellt werden, um Geschichte begreifbar und nachvollziehbar zu machen, wird das ← 15 | 16 → Konzept von Geschichte selbst zum Gegenstand des Textes.10 Die Geschichtsphilosophie, also die Betrachtung des Vergangenem als einheitlichem gesetzlichen Ablauf, und der historische Roman des frühen 20. Jahrhunderts stehen in einem ähnlichen Verhältnis zueinander wie der Historismus und der Professorenroman. Sowohl die Geschichtswissenschaftler, die vergangenes Geschehens erforschen, als auch die Autoren der historischen Romane des 19. Jahrhunderts beschäftigen sich mit historischer Faktizität. Die Geschichtsphilosophen und die Autoren der historischen Romane im frühen 20. Jahrhundert beschäftigen sich dagegen mit der Geschichte im Sinne der Betrachtung von Vergangenem als Gegenstand. Der Diskurs philosophischer Auseinandersetzung mit Geschichte, der seit der Spätaufklärung geführt wird, setzt sich jetzt in der Literatur als neuem Medium fort. Dadurch erhält das Genre historischer Roman eine inhaltliche Neuausrichtung: Statt wie im Professorenroman historische Fakten durch den Text zu präsentieren, stehen in einer Vielzahl historischer Romane des frühen 20. Jahrhunderts geschichtsphilosophische Implikationen im Zentrum der Texte. Bemerkenswert an dieser neuen Herangehensweise an Geschichtsphilosophie ist die gleichzeitige produktive Auseinandersetzung und literarische Umsetzung: Bestehende geschichtsphilosophische Konzepte werden neu durchdacht und im Roman ästhetisch erfahrbar gemacht.

Meine These ist, dass der Vielzahl historischer Romane des frühen 20. Jahrhunderts unterschiedliche Geschichtskonzepte inhärent sind, die sich mit den geschichtsphilosophischen Ideen seit der Spätaufklärung konstruktiv auseinandersetzen und diese produktiv weiterentwickeln. Dabei kann der Verfasser geschichtsphilosophische Implikationen oder ganze Geschichtsbilder in den Text ← 16 | 17 → einarbeiten und auf diese Weise seine eigene Perspektive auf Geschichte und/oder Gegenwart an den Leser transportieren. Diese doppelte Funktion des historischen Romans einerseits als neues Medium für die Weiterentwicklung geschichtsphilosophischer Thesen und andererseits als Sprachrohr für politische und soziale Ideologien gilt nicht nur für Romane der sogenannten Höhenkamm-Literatur aus dem linksbürgerlichen Milieu um Heinrich Mann und Alfred Döblin, sondern auch für qualitativ und thematisch einfachere Texte, wie Ina Seidels Das Wunschkind, die von einer breiten Masse gelesen wurden. Deshalb habe ich für mein Textkorpus solche Romane ausgewählt, die sowohl zeitlich als auch niveau- und themenbezogen ein breites Spektrum des historischen Romans im frühen 20. Jahrhundert abbilden: Ich will zeigen, dass die von mir behauptete Neuausrichtung des historischen Romans gerade nicht nur für einen Teil der Gattung, wie z. B. den historischen Roman des Exils gilt. Vielmehr ist es in der vorliegenden Arbeit mein Ziel zu zeigen, dass der historische Roman des frühen 20. Jahrhunderts gerade auch solche Autoren durch die textimmanente Auseinandersetzung mit und Funktionalisierung von Geschichte ästhetisch zusammenführt, deren politische und soziale Perspektive stark divergieren. Man kann für den historischen Roman des frühen 20. Jahrhunderts nach der Neuausrichtung durch Walter Scott, der historische Begebenheiten für den Leser erfahrbar macht, und in dessen Folge letztlich auch die Professorenromane stehen, von einer zweiten großen Neuausrichtung ausgehen, die Geschichte selbst für den Leser zum Gegenstand der Reflexion macht.

1.1  Vorgehensweise und Gliederung

Zunächst werde ich in einem Theorieteil die sich seit der Spätaufklärung entwickelnden philosophischen Grundfragen zur Geschichte untersuchen und ordnen. Statt mich chronologisch an relevanten geschichtsphilosophischen Texten zu orientieren, stelle ich fünf für die Geschichtsphilosophie maßgebliche thematische Kategorien auf und arbeite ihre Entwicklungslinien von der Spätaufklärung bis zum frühen 20. Jahrhundert heraus.

Danach werde ich ausgewählte historische Romane aus der Weimarer Republik, dem Exil, der sogenannten inneren Emigration und aus der völkisch-nationalen Dichtung auf diese Grundfragen hin untersuchen. Die Textauswahl soll ein möglichst großes Panorama der unterschiedlichen Ausgestaltungen des historischen Romans im Untersuchungszeitraum abbilden.

In meinem ausführlichen Theorieteil Kategorien geschichtsphilosophischer Konzepte zeige ich die Grundstruktur und den Wandel der geschichtsphilosophischen Konzepte, also unterschiedlicher Betrachtungen von Vergangenem als ← 17 | 18 → einheitlichem Ablauf, von der Spätaufklärung bis zur Entstehung der historischen Romane des frühen 20. Jahrhunderts auf. Dafür habe ich ein Kategorisierungsmodell entworfen, das meiner Ansicht nach die fünf wichtigsten Entwicklungslinien nachzeichnet. Hierbei geht es um Fragen der Entstehung von Geschichte, des Motors für historische Entwicklung, der Rolle des Individuums, verschiedene Zeitkonzepte und die normative Wertung, die geschichtsphilosophischen Auseinandersetzungen inhärent ist. Das Modell dient als Grundlage für die Untersuchung der Texte, die sich mit einzelnen Perspektiven auf Geschichte oder mit ganzen geschichtsphilosophischen Kategorien produktiv auseinandersetzen. In den sich hieran anschließenden Textanalysen werde ich mich auf den Theorieteil und die dort entwickelten Begrifflichkeiten stützen.

Um ein möglichst breites Spektrum des historischen Romans zu erfassen, enthält die Textauswahl Werke aus den vier genannten literarischen Kategorien11 der Prosa des frühen 20. Jahrhunderts. Ich habe mich allerdings bewusst dafür entschieden, die Romane nicht als Repräsentanten dieser Kategorien zu präsentieren. Die Einteilung in Literatur der Weimarer Republik, der sogenannten inneren Emigration, des Exils und der völkisch-nationalen Literatur unterliegt keinen ästhetischen Kriterien, sondern ist durch politische Rahmenbedingungen bedingt.12 Diese materiellen Umstände können sich zwar ästhetisch auswirken, zum Beispiel in Texten der Camouflage-Literatur oder als Instrumentalisierung von Geschichte in der völkisch-nationalen Literatur. Trotzdem stellen solche Phänomene allenfalls Tendenzen dar und keine Gesetzmäßigkeiten für den Umgang mit Vergangenem in bestimmten politischen Milieus. Vielmehr möchte ich in meiner Untersuchung zeigen, dass Texte, die vor einem bestimmten politischen Hintergrund geschrieben werden, vergangenes Geschehen zwar inhaltlich ← 18 | 19 → auf unterschiedliche Weise funktionalisierbar machen, ästhetisch aber ganz ähnlichen Verfahren unterliegen. Die ausgewählten Texte sind Repräsentanten für diesen neuen Umgang mit Geschichte. Bei der Untersuchung der einzelnen Romane gehe ich also nicht chronologisch vor, sondern orientiere mich an den Schwerpunkten bei der jeweiligen Form der Auseinandersetzung mit Geschichte.

Im Zentrum von Alfred Döblins Epos Wallenstein (1925) steht nicht etwa der gleichnamige Feldherr, sondern die Gewalt des Dreißigjährigen Krieges, von der die Menschen mitgerissen werden. Auf dieser Grundlage behandelt Döblin die Frage, von welcher Kraft historische Bewegung angestoßen wird. Lion Feuchtwanger nimmt in seinem Roman Jud Süß (1925) die Lebensgeschichte des Hoffaktors Joseph Süß Oppenheimer im 18. Jahrhundert in den Blick. Der Romanhandlung übergeordnet ist der Gegensatz von historischem Fortschritt und Stillstand. Ina Seidel entwirft in ihrem Roman Das Wunschkind (1930) ein Familienepos während der Napoleonischen Kriege. Ihr Text ist der völkisch-nationalen Literatur zuzuordnen. Seidel setzt sich hierin vor allem mit der Frage nach der Urheberschaft von Geschichte im Kontext von Mutterschaft auseinander. Sowohl Feuchtwanger als auch Döblin, aber auch Ina Seidel, legen ihren Romanen ein eigenes Geschichtskonzept zugrunde, das auf etablierten geschichtsphilosophischen Kategorien beruht. In Adam Kuckhoffs Roman Der Deutsche von Bayencourt (1937) geht es vordergründig um einen Vorfall zwischen Deutschen und Franzosen während des Ersten Weltkriegs in einer ländlichen Region in Nordfrankreich. Kuckhoff thematisiert hier die Frage, ob Geschichte von einer übergeordneten Macht oder vom Menschen selbst hervorgebracht wird und knüpft damit an moderne geschichtsphilosophische Ideen an. Erika Mitterer thematisiert in ihrem Roman Der Fürst der Welt (1940) die historische Verantwortung des Einzelnen im Gegensatz zur vermeintlichen Schuldlosigkeit der Masse. Den thematischen Rahmen für diese Frage bilden die Ereignisse in einer nicht näher bestimmten Kleinstadt an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit. Noch stärker als Adam Kuckhoff, der ebenfalls nicht ins Exil ging, ist in ihrer Ausgestaltung der einzelnen Handlungsstränge und der Figurenpsychologie ein narratives Muster erkennbar, das den Roman die Zensur passieren lies. Kuckhoff und Mitterer setzen sich in ihren Texten produktiv mit bestimmten geschichtsphilosophischen Kategorien auseinander und entwickeln diese in den Texten weiter.

In Walter von Molos Trilogie Roman meines Volkes (1918–1921) werden verschiedene zeitliche Abschnitte der Deutschen Geschichte von Friedrich dem Großen über Königin Luise von Mecklenburg-Streletz bis hin zum Vorabend der Befreiungskriege gegen Napoleon geschildert. Walter von Molo zeigt in seiner Trilogie die Entwicklung von einer Nation, die sich zunächst stark auf eine ← 19 | 20 → politische Leitfigur verlässt hin zu einem Volk, das die Verantwortung für seine Geschichte selbst übernimmt. Der Doppelroman Die Jugend des Königs Henri Quatre (1935) und Die Vollendung des Königs Henri Quatre (1938) ist Ergebnis einer lebenslangen Beschäftigung Heinrich Manns mit der Person Heinrich dem Vierten von Frankreich und entstand im französischen Exil. Mann entwirft hier ein utopisches Gleichnis zwischen Henris Entwicklung und Herrschaftsjahren im 16. Jahrhundert und dem Deutschland nach Hitlers Machtergreifung. Walter von Molo und Heinrich Mann entwickeln in ihren Romanen keine eigenen geschichtsphilosophischen Konzepte sondern entwerfen Gedankenmodelle, die sie an bestimmten historischen Zeiträumen spiegeln.

1.2  Forschungsüberblick

Weil die vorliegende Arbeit nicht nur das Genre historischer Roman in den Blick nimmt, sondern sich ebenso mit geschichtsphilosophischen Ideen auseinandersetzt, sind sowohl wissenschaftliche Studien zur Geschichtsphilosophie als auch zum historischen Roman relevant für die vorliegende Arbeit. Die folgenden Darstellungen ersetzen keinen bibliographischen Überblick über das Thema Geschichtsphilosophie und die Gattung historischer Roman, sondern folgen vielmehr den für die hier relevanten Ideen und maßgeblichen Studien.

1.2.1  Geschichtsphilosophie

Die für die vorliegende Studie interessante Forschungsliteratur zur Geschichtsphilosophie lässt sich maßgeblich in zwei Kategorien einteilen. Erstens gibt es Zusammenfassungen, die den Anspruch erheben, einen Überblick über die wichtigsten geschichtsphilosophischen Texte zu geben. Dazu gehören sowohl Lexikonartikel als auch Monographien, aber auch solche Zusammenfassungen, die sich auf einen bestimmten zeitlichen Rahmen wie die Aufklärung oder den Idealismus konzentrieren. Für die vorliegende Arbeit ist besonders die diesen Studien übergeordnete Frage relevant, ab welchem Zeitpunkt von einer philosophischen Auseinandersetzung mit Geschichte ausgegangen werden kann. Zweitens gibt es Studien, die thematische Schwerpunkte setzen und den Versuch unternehmen, in der Geschichtsphilosophie eine Systematik zu erkennen. Auf diese werde ich im folgenden Teilkapitel „1.2.2 Ordnungsmodelle für Geschichtstheorien“ eingehen.

Innerhalb der Forschung zur allgemeinen Geschichtsphilosophie kristallisieren sich ein enger und ein weiter gefasster Begriff heraus, wie Geschichtsphilosophie, also die Betrachtung des Vergangenen, definiert werden kann. ← 20 | 21 → Geschichtsphilosophie im weiteren Sinne bezieht in der Regel schon die Auseinandersetzung mit Vergangenem in der Antike oder im frühen Christentum mit ein. So geht KARL LÖWITH in seinem Standardwerk Weltgeschichte und Heilsgeschichte (erstmals erschienen 1953, neueste Auflage 2004)13 von einem weiten Begriff von Geschichtsphilosophie aus, der nicht erst in der Aufklärung seinen Anfang nimmt: Löwith beschäftigt sich mit antiken theologischen Auslegungen der Geschichte und geht dabei bis auf die Bibel selbst zurück. Interessant ist dabei der Aufbau seiner Monographie: Anstatt die ältesten Quellen an den Anfang zu stellen, beginnt er mit Jacob Burckhardts Geschichtskonzept und geht von hier in einer rückwärtslaufenden Chronologie vor. Ebenso wie Löwith bezieht auch das Metzler Philosophie Lexikon die Auseinandersetzung mit Geschichte im Christlichen Altertum als Vorläufer der Geschichtsphilosophie in die Begriffsdefinition mit ein.14 Der Artikel von U. DIERSE UND G. SCHOLZ aus dem Historischen Wörterbuch der Philosophie von 1974 bezeichnet dagegen mit klassischer Geschichtsphilosophie die Schriften der Aufklärung von Voltaire bis Hegel. Hierbei werden in den Konzepten dominante Einzelaspekte wie der Übergang vom Natur- zum Kulturraum bei Jakob Iselin in den Fokus genommen und aufeinander bezogen.15 In seinem Standardwerk Geschichtsphilosophie von 199116 berücksichtigt EMIL ANGEHRN dagegen zusätzlich die Ideen der Antike und der christlichen Theologie um Augustinus als zeitliche Entstehungsorte der Geschichtsphilosophie, die erst die Voraussetzung für eine moderne Herangehensweise an den Gegenstand legen: „Es liegt auf der Hand, daß in den neu konstituierten Fragebereich eine Vorgeschichte eingeht, die von beiden Traditionssträngen, dem christlichen wie dem griechisch-philosophischen herkommt und von ihnen hier zu verstehen ist.“ (Angehrn 1991, S. 14) Mit dem „neu konstituierten Fragebereich“ bezeichnet Angehrn das sich durch die Aufklärung herausbildende neuzeitliche Denken, das er als Grundlage für Geschichtsphilosophie im prägnanten Sinn bezeichnet (ebd.). Dieser mittleren Stufe in der Entwicklung der Geschichtsphilosophie ordnet er auch den historischen Materialismus zu. ← 21 | 22 → Die hierauf zeitlich folgenden Auseinandersetzungen mit Geschichte im 19. und 20. Jahrhunderts sieht Angehrn vor allem durch Krisen und Neuansätze geprägt. Er geht hier sowohl auf Nietzsche, Burckhardt und Benjamin als auch auf Vertreter der Hermeneutik und neue universalhistorische Ansätze wie Spenglers Morphologie der Weltgeschichte ein. JOHANNES ROHBECK nimmt in seiner Monographie Geschichtsphilosophie zur Einführung (2004) ebenfalls eine dreiteilige Ordnung vor.17 Als Geschichtsphilosophie im engeren Sinne bezeichnet er, ähnlich wie Angehrn, den Zeitraum von der Spätaufklärung bis zum historischen Materialismus. Anschließend würden im Historismus, den Rohbeck als Unterkategorie der Geschichtsphilosophie behandelt, die formalen Aspekte im Fokus stehen. Abschließend beschreibt Rohbeck das Ende der Geschichte von Burckhardt bis Lyotard, das sich vor allem kritisch mit bisherigem Geschichtsdenken auseinandersetze. Sowohl Angehrns als auch Rohbecks Dreischritt der Entwicklung geschichtsphilosophischer Diskurse überzeugen. In der vorliegenden Arbeit wird mit Perspektive auf die historischen Romane nur die Genese der Geschichtsphilosophie bis zum Untersuchungszeitraum in den Blick genommen.

Details

Seiten
294
Jahr
2016
ISBN (ePUB)
9783631701324
ISBN (PDF)
9783653072167
ISBN (MOBI)
9783631701331
ISBN (Hardcover)
9783631677179
DOI
10.3726/978-3-653-07216-7
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (November)
Schlagworte
Exilliteratur Innere Emigration Weimarer Republik Alfred Döblin Lion Feuchtwanger Blut- und Bodenliteratur
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2016. 294 S.

Biographische Angaben

Ulrike Häfner (Autor:in)

Ulrike Häfner hat an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz sowie der University of Birmingham Deutsche Philologie, Anglistik und Bildungswissenschaften studiert. In Mainz wurde sie im Fach Deutsche Philologie promoviert.

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