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Zeitgeschichte als Lebensgeschichte

Überlegungen zu einer emanzipativen und aktuellen Zeithistoriographie

von Peter Pichler (Autor:in)
©2017 Monographie 140 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch präsentiert einen programmatischen Ansatz einer aktuellen Zeithistorie und versteht sich als kritischer Beitrag der Orientierungswissenschaft im Anschluss an das Spätwerk Michel Foucaults. Die derzeitige Diskussion setzt sich nur ungenügend mit der Epoche seit 1989 auseinander. Globalisierung, regionale Integration, wirtschaftliche Krisen, Migration, Finanzwirtschaft und Terrorismus kennzeichnen eine neue Geschichte. Neue Freiheiten und Ambivalenzen der Kultur in Digitalisierung, Migration und Kommunikation bewirken Unsicherheiten, Ängste und Orientierungsverluste, gar den Zusammenbruch lange vorherrschender Identitätslandschaften. Das Buch greift dies auf, verortet sich theoretisch in der neuen Zeit und schlägt empirische Themenbereiche vor.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung: Zeitgeschichte im Epochenwandel mit Foucault denken
  • 2. Selbstorganisation als kulturelles Konzept: Foucault, die „Geschichte der Gouvernementalität“, die „Regierung des Selbst und der anderen“ und der „Mut zur Wahrheit“
  • 2.1 Die „Geschichte der Gouvernementalität“ seit den späten 1970er-Jahren
  • 2.2 Die „Regierung des Selbst und der anderen“ sowie der „Mut zur Wahrheit“ seit den frühen 1980er-Jahren
  • 3. Die Notwendigkeit der Selbstorganisation: theoretische Überlegungen zu einer Zeitgeschichte als Lebensgeschichte
  • 3.1 Die wissenschaftliche Haltung, die aus der Notwendigkeit der Selbstorganisation folgt
  • 3.2 Die Notwendigkeit der Selbstorganisation als theoretisches Erklärungsmodell in der Zeitgeschichte
  • 3.3 Die Notwendigkeit der Selbstorganisation als Kontext der Zeitgeschichte
  • 4. Mögliche empirische Fokussierungen einer Zeitgeschichte als Lebensgeschichte
  • 4.1 Narrativer Brennpunkt I: die Kulturgeschichte der Selbstorganisation nach 1989
  • 4.2 Narrativer Brennpunkt II: die Kulturgeschichte der Selbstorganisation im Neoliberalismus bis 1989
  • 4.3 Narrativer Brennpunkt III: die kulturelle Selbstorganisation in der Zeitgeschichte der europäischen Integration sowie in der Zeitgeschichte Europas
  • 4.4 Narrativer Brennpunkt IV: die Kollektivsymbolik der Selbstorganisation nach 1989
  • 4.5 Empirischer Eklektizismus und empirische Innovation
  • 5. Zusammenschau und Fazit: eine emanzipative und aktuelle Zeitgeschichte als Lebensgeschichte
  • 6. Bibliographie
  • Reihenübersicht

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1. Einleitung: Zeitgeschichte im Epochenwandel mit Foucault denken

Das emblematische Epochenjahr 1989 „beging“ im Diskurs des Erinnerungsjahres 2014 sein fünfundzwanzigstes Jubiläum und wurde in weiterer Folge der Erinnerung der Ereignisse, für die das Bild und Narrativ des Falls der Berliner Mauer im November 1989 ikonenhaft steht, noch stärker zur Routine unserer gemeinsamen und geteilten Erinnerung der Zeitgeschichte seither – in Europa und der Welt.1 Was kann es auch für ein besseres Bild, für eine bessere Metapher für Geschichte geben, die Menschen bewegt, über welche sie nachdenken und auf welche sie in ihrer alltäglichen Orientierung Bezug nehmen, als den Fall einer physisch und material vorhandenen Mauer, die eine Stadt mehr als achtundzwanzig Jahre künstlich trennte? Nicht nur die Mauer selbst war Geschichte, sondern dann erst recht ihr Fallen vor heute über fünfundzwanzig Jahren. Es stellt sich die Frage: Was wissen wir über diese Zeit seither? Und dann müssen wir eingestehen: bei weitem nicht genug!

Die Wichtigkeit der Zeit seit 1989, bis zur Gegenwart, die Andreas Wirsching als „unsere Zeit“ bezeichnet,2 ist allen Historikern, deutschsprachiger und internationaler Provenienz, bewusst und als gegeben geläufig, aber wir verfügen über kein geeignetes fachliches, d.h. konsensuell abgesichertes Narrativ seiner Erzählung, das uns als Fachwissenschaftlern, auch der breiten Kultur und Gesellschaft, zur Orientierung dienen könnte. Ich bin der Meinung, dass dies einer, wenn nicht der zentrale Struktur- und Themenmangel momentaner zeithistorischer Diskussionen ist. Diese Zeitgeschichte seit 1989 (kursorisch in Schlagwörtern umrissen: Globalisierung, Demokratisierung, Migration, regionale Integration, Digitalisierung, Integration der Finanzmärkte, neue Strukturen in allen Kulturbereichen, Terrorismus, neue Kriege usw.) prägt unser aller Leben, aber wir wissen, historisch-konzeptionell betrachtet, sehr wenig gesichert über sie – das ist eine zentrale theoretische und empirische Schieflage der Zeitgeschichte. ← 7 | 8 → Man könnte versuchen, dies an noch fehlendes Datenmaterial und die Arbeitszeit des kulturellen Gedächtnisses rückzukoppeln,3 aber auch dieses Argument läuft ins Leere, da man gerade in ihm einen bestechenden Grund für die Beschäftigung mit der jüngsten Weltgeschichte sehen kann.

Ich bin daher mit der momentanen Zeitgeschichtsschreibung im deutschsprachigen und internationalen, vor allem englischsprachigen Diskurs, unzufrieden.4 Aber auch die europäische Zeitgeschichte, die sich am „Neuen Europa“ seit dem Vertrag von Maastricht aus dem Jahre 1993 und der Vorgeschichte der Europäischen Union „abarbeitet“ (wobei mit dem britischen Votum zum „Brexit“ vom 23. Juni 2016 Tatsachen geschaffen wurden, die im Folgenden noch prekärere Voraussetzungen für jede Narrativentwicklung zur EU bedeuteten),5 sowie die Historiographie der globalen Entwicklung nach 1989 empfinde ich als in konzeptionellen Aspekten problematisch. Der Diskurs kennt im Verhältnis zu anderen Themenbereichen wenige Beiträge, welche sich aus dieser Sicht global um die Zeit nach 1989 drehen.6 Martin Sabrow hielt einschlägig fest: ← 8 | 9 →

Dies ist symptomatisch für die ambivalente Position der derzeitigen zeitgeschichtlichen Fachdiskussion in Hinblick auf 1989 als Beginn einer neuen zeithistorischen Epoche. Zwar ist man sich durchaus bewusst, dass diese Zäsur weitreichende historische Änderungen zeitigte, doch weiß man in der Regel nicht, wie diese Transformationsprozesse auf den Punkt gebracht werden sollen; beziehungsweise weitergehend nicht, wie ein die Komplexitäten reduzierendes narratives image der Zeit um und nach 1989 aussehen könnte.

Die gegenwärtig dominanten Narrative der einschlägigen Forschungsdebatten erfüllen mich daher häufig mit fachlicher Skepsis. Die Zeithistorie der letzten zwanzig Jahre – die „Neue Kulturgeschichte“ seit 1989 konnte zwar international ← 9 | 10 → gesehen einige Innovationsimpulse freisetzen8 – erscheint mir oft gar zu sehr als eine „Anlass-“ oder „Jubiläumsgeschichtsschreibung“: Häufig reduziert sie sich darauf, sich an wiederkehrenden Gedenkanlässen neue Gedanken zu alten Themen zu machen, die damit verknüpften Feierdiskurse wissenschaftlich zu orchestrieren, zelebrierend zu ritualisieren.9 Ein kanonisierter Inhaltsbereich der Forschung bestätigt diese Trends. Etwa in jenem Gedenkjahr 2014,10 in welchem auch richtungsweisende Wahlen zum Europäischen Parlament stattgefunden haben,11 erweckte die Sicht auf den Diskurs der institutionell, vor allem universitär verankerten Zeitgeschichte, einen Skepsis auslösenden Eindruck. Sie scheint die innovative Dynamik ihrer „Gründerjahre“ der 1950er- und 1960er-Jahre verloren zu haben.12 Wenn ich zur Zeit des Abschlusses dieses Beitrages im ausgehenden Winter 2016/17 auf das eben zu Ende gegangene Jahr 2016 zurückblicke ← 10 | 11 → (das damit aber nicht „zu Grabe getragen“ wurde), in welchem die Entscheidung zum „Brexit“ der britischen Wähler sowie die Wahl des Populisten mit rechter Schlagseite, Donald Trumps, zum US-Präsidenten noch größere Orientierungslosigkeit auslöste, erscheint mir dies umso alarmierender.

Die Zeitgeschichte wirkt momentan vor allem daran mit, schon bestehende Narrative zu bestätigen oder auch zu falsifizieren. Ich vermisse eine Zeitgeschichte, die innovativ ist und in ihrer wissenschaftlichen Verantwortung die historisch-kulturellen Bedürfnisse der Menschen unserer Gegenwart zum Maßstab erhebt. In diesem Sinne könnte (und: sollte) sich die Zeitgeschichte insofern weiterentwickeln, als sie sich selbst neu im Diskurs verorten sollte. Der vorliegende programmatische Beitrag will hierzu einige theoretische und empirische Gedankenansätze beisteuern. Es soll versucht werden, über den momentanen mainstream der Zeitgeschichtsschreibung hinauszugehen und einige mögliche Konturen einer zeitgemäßen Gegenwartshistorie für die Epoche seit 1989 nachzuzeichnen. Dies zielt darauf ab, erstens, ein theoretisches Modell hierfür anzudenken, sowie, zweitens, einige empirische Fokussierungen für eine so konzipierte Zeithistorie zu beschreiben.

Das notwendige theoretische Rüstzeug hierzu findet sich im Denken des breit rezipierten (und oft fehlgedeuteten) französischen Philosophen Michel Foucault. Das kurze Buch, das meine Leser in Händen halten, steht unter der Maxime, ein engagierter, wiewohl kleiner Versuch sein zu wollen, Zeitgeschichte heute im Epochenwandel, emanzipativ und aktuell, mit Foucault neu zu denken.13 Was wir hierzu brauchen, findet sich in seiner Philosophie der zu Ende gehenden 1970er- und frühen 1980er-Jahren, der „Geschichte der Gouvernementalität“, der „Regierung des Selbst und der anderen“ sowie des „Muts zur Wahrheit“. Gerade letztere Denkfigur, welche die antike Vorstellung der „Parrhesia“, des risikoreichen Sprechens der Wahrheit, wiederaufnimmt, ist in der heutigen Zeit für eine Zeitgeschichte, die kritisch und emanzipativ sprechen will, umso wichtiger.14 Wir sollten versuchen, Zeitgeschichte heute mit Foucault innovativ zu denken. ← 11 | 12 →

Eines ist nicht zu übersehen – die Zeitgeschichte hat Konjunktur, wie die Geschichte überhaupt. Gerade etwa in der Zeit seit dem genannten Gedenkjahr 2014, in welchem sich der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zum hundertsten Male jährte, sowie der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs durch Nazi-Deutschland fünfundsiebzig Jahre zuvor gedacht wurde, bis heute, hatten wir es mit einer ganzen „Flut“ an einschlägigen Neuerscheinungen zu tun. Diese mögen zwar teils durchaus neue Erkenntnisse und Innovationsimpulse zum Thema enthalten haben,15 in der Richtungsentwicklung des Gesamtdiskurses wirken sie jedoch darauf hin, bestehende Narrative mit neuen, orchestrierenden Effekten auszustatten (im Europa der Zeit des Gedenkjahrs 2014 bis heute: das Friedens- und Begründungsnarrativ der Europäischen Union, welches den Ausbruch des Ersten Weltkriegs sowie die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs als Antithese ihrer eigenen historischen „Verantwortung“ konstruierte, die in der europäischen und globalen Friedensstiftung läge; die narrative Wirkungen der Verwerfungen seit 2016 sind noch abzuwarten).16

Die heutige Zeitgeschichtsschreibung ist zu einer oft vorhersehbaren Tätigkeit geworden, die wissenschafts- und kulturpolitisch zu berechenbar ist. Sie wird ihrem wissenschaftlichen Auftrag nicht mehr umfassend gerecht. Diesen kann man darin sehen, die Menschen in ihrer alltäglichen praktischen Sinnorientierung und Lebensführung zu unterstützen. Er besteht etwa darin, den Menschen bei der persönlichen Identitätssuche im postmodernen Zeitalter der regionalen Integration auf allen Kontinenten sowie der Globalisierung nach 1989 rational angeleitet orientierend zur Seite zu stehen.17 Eine so verstandene „Zeitgeschichte als Lebensgeschichte“ (im Sinne von vita magistra historiae, und nicht umgekehrt) findet ihre umfassende Legitimation schon aus ihrer kulturellen Alltagsrelevanz.18 Die ← 12 | 13 → momentan vorherrschenden Formen der Zeithistorie hingegen haben es sich zu oft in den institutionalisierten Diskursen „bequem gemacht“.

Der Ausgangspunkt meiner Kritik besteht darin, die derzeitige inhaltliche Fokussierung der Zeitgeschichtsschreibung zu problematisieren. Diese Fokussierung besteht darin, einen kanonisierten Themenbereich der Geschichte des 20. Jahrhunderts immer und immer wieder zu bearbeiten, ohne sich dabei der eigenen kulturellen Position bewusst zu sein.19 Das Narrativ des „Zeitalters der Extreme“20 (Eric Hobsbawm) ist zu einer Ikone der Geschichtsschreibung geworden, die nach inzwischen über zwei Jahrzehnten Diskurszeit für sich steht, und sich in einem autopoietischen Sinne der Kritik verflüssigend zu entziehen scheint. Im Sinne eines „Paradigmas“21 grenzt dieser Erzählrahmen die Fragestellungen und Antwortmöglichkeiten ein, kontrolliert sie gar. Dies ändert nichts daran, dass es eine historiographische Meisterleistung Hobsbawms war, eine narrative Metapher zu konstruieren, die einem breitem Publikum in gekonnter Weise die Geschichte des beinahe gesamten 20. Jahrhunderts näherbrachte.22 Die Frage ist jedoch, ob dies für heute noch umfassend aktuell ist. Vieles spricht dagegen, aber umso mehr dafür, dass diese Erzählung des Zeitalters der Extreme zum „Bremsklotz“ wurde, der die Zeitgeschichte heute mithin daran hindert, sich auf Höhe der Gegenwart zu bewegen. Nämlich auf der Höhe einer Gegenwart, in der sich zunehmend Gräben zwischen Orientierungsangeboten auftun, im Umfeld der Diskurse von Demokratiekritik und Medienschelte, allgemein des steigenden Bewusstseins einer neuen, „postfaktischen“ Zeit, die noch ihrer Bestimmung harrt.

Details

Seiten
140
Jahr
2017
ISBN (ePUB)
9783631705483
ISBN (PDF)
9783653054163
ISBN (MOBI)
9783631705490
ISBN (Hardcover)
9783631659687
DOI
10.3726/978-3-653-05416-3
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Juli)
Schlagworte
Geschichtstheorie Kulturgeschichte Selbstorganisation Michel Foucault Viktor Frankl Postmoderne Transformationsgeschichte seit 1989
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. S. 140.

Biographische Angaben

Peter Pichler (Autor:in)

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