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Sprachen und interethnische Beziehungen in Estland in der Umbruchszeit

Russische Bevölkerungsgruppe zwischen Anpassung und Protest

von Ekaterina Popova (Autor:in)
©2016 Dissertation 366 Seiten

Zusammenfassung

Die Autorin untersucht am Fallbeispiel Estland ethnosprachliche Konfliktkonstellationen sowie Ursachen für deren mögliche gewaltsame Austragung. Den Fokus ihrer Studie legt sie dabei auf die Beziehungen zwischen der estnischen und der russischen Bevölkerungsgruppe – den beiden größten ethnischen Gruppen des Landes – im Prozess der Wiederherstellung der Staatlichkeit Estlands nach der Auflösung der Sowjetunion. Zu diesem Zweck rekonstruiert und analysiert die Autorin die historisch-spezifische Genese dieser Beziehungen. Auf der Grundlage empirischer Untersuchungen ermöglicht sie Einblicke in die subjektiven Sicht- und Verhaltensweisen der Betroffenen. Das Buch leistet somit einen Beitrag zur aktuellen wissenschaftlichen Diskussion um ethnische und ethnosprachliche Konflikte.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • I Einleitung
  • 1 Aktualität der Thematik und Ausgangsfragen
  • 2 Konzeption und Aufbau der Studie
  • 3 Zum Stand der Forschung
  • II Theoretische Ausgangspositionen
  • 1 Zum gewählten Modell soziologischer Erklärung
  • 2 Ethnizität und soziales Handeln
  • 2.1 Ethnizität als soziologische Kategorie
  • 2.2 Ethnische Ressourcen und soziale Produktionsfunktionen
  • 3 Ethnischer Konflikt
  • 3.1 Entstehung und Verlauf ethnischer Konflikte
  • 3.1.1 Strukturelle Bedingungen
  • 3.1.1.1 Antagonistische Interessenlagen und der Kampf um Positionsgüter
  • 3.1.1.2 Ethnische Schichtung
  • 3.1.1.3 Gesellschaftliche Instabilität
  • 3.1.2 Organisatorische Bedingungen
  • 3.1.3 Motivationale Bedingungen
  • 3.2 Folgen latenter ethnischer Konfliktkonstellationen für Individuen und Gruppen
  • 3.2.1 Anpassungsstrategien von Individuen und Gruppen
  • 3.2.2 Strukturelle Antagonismen und Integration sozialer Systeme
  • 4 Sprache und interethnische Beziehungen
  • 4.1 Sprache und Ethnizität
  • 4.2 Sprachliche Ungleichheit und Sprachkonflikt
  • 5 Zwischenfazit
  • III Entwicklung interethnischer Beziehungen in Estland
  • 1 Vorgeschichte: Völker der baltischen Region
  • 2 Mittelalter und Frühe Neuzeit: Wechselnde Machtverhältnisse und ethnosoziale Schichtung im Baltikum
  • 3 Estland unter russischer Herrschaft: Reformen, Russifizierung und das nationale Erwachen
  • 3.1 Abschaffung der Leibeigenschaft und Industrialisierung
  • 3.2 Entstehung der estnischen Nation
  • 3.3 Russische Bevölkerung in den Ostseeprovinzen
  • 4 Estnische Republik in der Zwischenkriegszeit
  • 4.1 Staatsgründung und Staatsaufbau
  • 4.2 Nationalitäten- und Sprachenpolitik
  • 4.3 Die russische Minderheit in der ersten Estnischen Republik
  • 5 Sowjetzeit
  • 5.1 Eingliederung der Estnischen Republik in die UdSSR
  • 5.2 Sowjetisierung und Repressionen
  • 5.3 Sowjetische Nationalitätenpolitik und ihre Folgen
  • 5.4 Unabhängigkeitsbewegung der 80er Jahre
  • 5.5 Loslösung von der Sowjetunion
  • 5.6 Die russische Bevölkerung in Estland während der Sowjetzeit
  • 6 Nach der Unabhängigkeit – politischer, wirtschaftlicher und sozialer Wandel
  • 6.1 Neue Nationalitätenpolitik – gesetzliche Regelungen und ihre Umsetzung
  • 6.1.1 Staatsbürgerschaftsgesetze und Einbürgerungsverfahren
  • 6.1.2 Der Staat und die Staatenlosen – das Ausländergesetz
  • 6.1.3 Minderheitenschutzbestimmungen
  • 6.1.4 Sprachenpolitik
  • 6.1.5 Integrationspolitik
  • 6.2 Dimensionen ethnosozialer Ungleichheit im neuen Estland
  • 6.2.1 Statusunterschiede und Einschränkung der politischen Partizipation
  • 6.2.2 Benachteiligung im wirtschaftlichen Bereich
  • 6.2.3 Wandel der Sozial- und Elitenstruktur
  • 6.2.4 Sprachlicher Wandel
  • 7 Zwischenfazit
  • IV Interethnische Beziehungen und Sprachen im modernen Estland aus der Sicht von Betroffenen und Experten – empirische Untersuchung
  • 1 Forschungsdesign
  • 1.1 Fragestellung
  • 1.2 Methodik
  • 1.2.1 Zur Methodenwahl
  • 1.2.2 Datenerhebung
  • 1.2.2.1 Schriftliche Befragung
  • 1.2.2.2 Interviews und Expertengespräche
  • 1.2.3 Datenauswertung
  • 2 Ergebnisse
  • 2.1 Komplex „Interethnische Beziehungen“
  • 2.1.1 Bewertungen interethnischer Kontakte
  • 2.1.2 Russen in Estland – Gefahr oder Bereicherung?
  • 2.1.3 Ungleiche Rechte – ungleiche Chancen
  • 2.2 Komplex „Russische Bevölkerung – Identität und Loyalität“
  • 2.2.1 Verhältnis zu Russland
  • 2.2.2 Identifikation mit Estland und estnischen Institutionen
  • 2.2.3 Zwischen zwei Kulturen: die Suche nach einer neuen Identität
  • 2.3 Komplex „Sprachenproblematik“
  • 2.3.1 Erbe der Russifizierung – Bewertungen sprachhistorischer Entwicklungen
  • 2.3.2 Bewertungen aktueller sprachenpolitischer Regelungen
  • 2.3.2.1 Zum Status und der Bedeutung von Sprachen
  • 2.3.2.2 Sprachkenntnisse und Einbürgerung
  • 2.3.2.3 Sprachregelungen im Bildungsbereich
  • 2.3.3 Zum Gebrauch und Prestige von Sprachen im heutigen Estland
  • 2.3.3.1 Das Estnische
  • 2.3.3.2 Das Russische
  • 3 Die russische Bevölkerung zwischen Anpassung und Protest – Experteneinschätzungen und Interpretation der eigenen Ergebnisse
  • 3.1 Auswanderung
  • 3.1.1 Politik der Rückführung und deren Auswirkungen
  • 3.1.2 Potentielle Migration
  • 3.2 Mobilisierung
  • 3.2.1 Interethnische Konfliktlagen und Mobilisierungsmotive
  • 3.2.2 Ressourcen ethnischer Mobilisierung
  • 3.3 Anpassung
  • 4 Zwischenfazit
  • V Schlussbetrachtung und Ausblick
  • VI Anhang
  • 1 Teilnehmerliste: Interviews
  • 2 Teilnehmerliste: Expertengespräche
  • 3 Fragebogen
  • 4 Interviewleitfaden
  • 5 Tabellenverzeichnis
  • 6 Abbildungsverzeichnis
  • Literaturverzeichnis/Quellenverzeichnis

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I Einleitung

Die vorliegende Dissertation ist ein Teil der wissenschaftlichen Buchreihe Sprache, Identität und Zugehörigkeit: Kontexte, Aushandlungen und Praktiken (Language, Identity and Belonging: Contexts, Negotiations and Practices) des Peter Lang Verlages. Die Reihe, welche von Prof. Dr. Konstanze Jungbluth (Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder) und Prof. Dr. Monica Maria Guimarães Savedra (Universidade Federal Fluminense, Niterói) herausgegeben wird, hat zum Ziel, eine transdisziplinäre Perspektive in die aktuelle Zugehörigkeitsforschung einzubringen und dokumentiert Studien, welche an der Schnittstelle zwischen linguistischer, soziologischer, ethnographischer und kulturwissenschaftlicher Forschung liegen.

Die Forschungsarbeit untersucht am Fallbeispiel Estland ethnosprachliche Konfliktkonstellationen sowie Ursachen deren gewaltsamer Austragung. Dabei wird der komplexe Forschungsansatz verfolgt, bei dem sowohl räumliche und zeitliche als auch sprachliche und soziale Aspekte von Identitätskonstruktionen in das Forschungsparadigma miteinbezogen werden. Im Weiteren werden zunächst die für die Studie gewählten Ausgangsfragen näher erläutert und in die aktuelle wissenschaftliche Diskussion eingebettet.

1 Aktualität der Thematik und Ausgangsfragen

Die Prognosen von Karl Marx und Max Weber, dass mit der Modernisierung der Gesellschaft die ethnischen Gemeinschaften immer mehr verschwinden und die Ethnizität immer mehr an Bedeutung verlieren würden1, haben sich bisher nicht bestätigt. Im Gegenteil: zeitgleich zur fortschreitenden Modernisierung, Globalisierung der Wirtschaft, wachsenden Bedeutung supranationaler Institutionen lassen sich derzeit erstens auch eine stärkere Akzentuierung der ethnischen Unterschiede und zweitens eine Wiederbelebung von ethnischen Bewegungen bis hin zu gewaltsamen und blutigen Kriegen quer über die Welt beobachten. Die ← 11 | 12 → Weltgemeinschaft sieht sich nach wie vor mit ethnischen Spannungen und Konflikten konfrontiert2, was sich wohl auch in Zukunft nicht so schnell ändern wird.

Infolge von Migrationsbewegungen und Grenzverschiebungen weisen mittlerweile alle größeren Nationen bedeutende Anteile an ethnischen Minderheiten auf. Entgegen den ursprünglichen Erwartungen besinnen sich deren Angehörige nicht weniger, sondern eher stärker als zuvor auf ihre ethnische Zugehörigkeit. Selbst in den klassischen Einwanderungsländern wie den USA, Kanada und Australien, die seit eh und je multiethnische Gesellschaften sind, konnte das Konzept des melting pot, welches alle Spannungen zwischen Ethnien abschaffen sollte, nicht verwirklicht werden. Auch in Deutschland zeigen die Diskussionen um die „deutsche Leitkultur“, eine Begrenzung der Zuwanderung und Integration von Migranten, dass eine fundierte Auseinandersetzung mit ethnopolitischen Konzepten weiterhin sinnvoll ist.

Ethnische Differenzierung birgt insofern Konfliktpotential in sich, als die Begegnung ethnischer Gruppen unter bestimmten Bedingungen zu deren Mobilisierung bis hin zu gewaltsamen Auseinandersetzungen und militantem Separatismus führen kann. Folglich stellen die Fragen nach Ursachen und Bedingungen interethnischer Konflikte, deren Verlauf und Folgen nach wie vor eine Aufgabe dar, der sich Sozialforscher stellen müssen. Da Sprache oftmals im Fokus interethnischer Auseinandersetzungen steht, handelt es sich in der Regel um ethnosprachliche Konflikte, welche in letzter Zeit immer mehr in den Mittelpunkt soziolinguistischer Forschung gerückt sind. Beispiele für Auseinandersetzungen um Sprachenrechte sind etwa das Irische in Irland, das Wallonische und das Flämische in Belgien, das Katalanische und das Baskische in Spanien. Zahlreiche Beispiele hierfür finden sich auch auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion. Nach der Wiederherstellung der Staatlichkeit der einzelnen Republiken wurden hier die Sprachen der Titularvölker3 zu Staatssprachen erhoben, ohne dass dabei Rücksicht auf die einheimische russischsprachige Bevölkerung genommen wurde. Die russische Sprache, die während der Sowjetzeit die dominante Sprache war, hat hier nach der Auflösung des Vielvölkerstaates starke Status- und Prestigeverluste erlitten und wird bewusst aus dem öffentlichen Sprachgebrauch verdrängt. Dies wird von den neu entstandenen russischen Minderheiten oftmals als ungerecht empfunden und führt zu Protesten und Integrationsverweigerung. ← 12 | 13 →

Die Auflösung ehemaliger multinationaler Staaten wie die UdSSR und Jugoslawien sowie neue Staatsgründungen im Osten Europas und im Baltikum haben die Weltgemeinschaft vor neue Herausforderungen gestellt bzw. die alten Fragen, die zumindest in Europa nicht mehr aktuell schienen, erneut aufgeworfen. So entflammte etwa mit neuer Kraft die Diskussion über die Bedeutung ethnischer Identität und das Fortbestehen ethnischer Grenzen innerhalb eines Staates, über das Konzept eines Nationalstaates und dessen Umgang mit ethnischen Minderheiten auf seinem Territorium, über den Minderheitenschutz und dessen Bedeutung für die Friedenssicherung sowie über die Bedeutung der Nationalsprachen.

Zu den Beweggründen, die gesellschaftspolitische Transformationsprozesse ins Rollen brachten, zählen neben ökonomischen und politischen Faktoren nicht zuletzt die Autonomiebestrebungen der einzelnen Völker. Der sowjetische Vielvölkerstaat zerbrach, ebenso wie Jugoslawien und die Tschechoslowakei, entlang ethnischer Grenzen. Die staatlich propagierte Ideologie von einem Sowjetvolk konnte wohl nicht die ethnischen Abgrenzungen und Rivalitäten abschaffen, die trotz sowjetischer Dominanz weiterexistierten. Anfang der neunziger Jahre wurden die ehemaligen Sowjetrepubliken zu Nationalstaaten, in denen meist eine Ethnie zum Staatsvolk und dessen Sprache zur alleinigen Nationalsprache erklärt wurde.

Das Streben nach nationalsprachlicher Abgrenzung hat im postsowjetischen Raum ein beträchtliches Ausmaß angenommen. Die symbolische und identitätsstiftende Funktion der Sprache erlangte absolute Priorität vor ihrer kommunikativen Funktion. Während zumindest im Westen Europas die Vorstellung, dass jede Nation ihre eigene Sprache haben müsse, als überholt angesehen wurde, haben sich die meisten neuen Staaten dagegen für eine mehr oder weniger restriktive Sprachenpolitik entschieden. Ob dieser dabei eine integrative oder desintegrative Rolle zukommt, bleibt umstritten.

Darüber hinaus mussten die neuen Regierungen nun entscheiden, wie sie mit den ethnischen Minderheiten, welche auf ihrem Territorium lebten, umgehen. Zum Teil handelte es sich um „alteingesessene“ Minderheiten, welche bereits vor der Sowjetzeit bestimmte Regionen bewohnten. Infolge der Deportations- und Migrationswellen sowie der Grenzverschiebungen während der Sowjetherrschaft kamen jedoch neue Bevölkerungsgruppen dazu. Die mit Abstand größte von ihnen ist die der Russen. Nach der Auflösung der UdSSR lebten rund 25 Mio. Russen im sogenannten „nahen Ausland“, d. h. außerhalb Russlands auf den Territorien der ehemaligen Sowjetrepubliken. Die Situation dieser Bevölkerungsgruppe verdient auch deswegen eine besondere Aufmerksamkeit, da sie nach der Auflösung des sowjetischen Vielvölkerstaates einen drastischen Statuswechsel erfahren hatte – von der dominierenden Mehrheit, welche nach der Staatsideologie die ← 13 | 14 → Grundlage für das Sowjetvolk bilden sollte, zur Minderheit, die ihre sichere Position und ihre Privilegien verloren hatte, als Nachfolger der sowjetischen Okkupationsmacht stigmatisiert und für deren Politik verantwortlich gemacht wurde. Diese Degradierung geschah binnen kürzester Zeit: Viele Russen sind nicht nur zu Ausländern, sondern auch zu Staatenlosen geworden, ohne dabei ihren Wohnort gewechselt zu haben. Es erscheint sinnvoll zu untersuchen, welche Auswirkungen der politische, wirtschaftliche und soziale Umbruch für Angehörige der russischen Diaspora in den ehemaligen Sowjetrepubliken hatte bzw. welche Identifikations- und Verhaltensmuster sie unter diesen Umständen entwickelt haben.

Auch in Estland, der Republik, die als erste ihre Unabhängigkeit von der UdSSR erklärte und so den Zerfall des sowjetischen Vielvölkerstaates eingeleitet hatte, bilden Russen mit ca. 25% der Landesbevölkerung mit Abstand die größte ethnische Minderheit. Daraus wird ersichtlich, dass sich die aktuelle Minderheitenproblematik hier hauptsächlich auf die Beziehungen zwischen den Esten und den im Land lebenden Russen bezieht. Die gesellschaftspolitische Transformation in Estland in den 80er und 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts führte einerseits zur Wiederherstellung der staatlichen Unabhängigkeit der Republik, andererseits dazu, dass die im Land lebende russische Bevölkerung rechtlich erheblich schlechter gestellt wurde als die estnische Titularbevölkerung. Seit 1991 fällt der harte Kurs der estnischen Regierung gegen die im Land lebenden Russen auf, der sich insbesondere in der ausgrenzenden Staatsbürgerschafts- und Sprachenpolitik äußert. Eine mehr oder minder starke Benachteiligung der Minderheit in verschiedenen Lebensbereichen (Politik, Wirtschaft, Kultur, Bildung usw.) ist bereits mehrfach festgestellt worden.4 Auch eine Studie von Amnesty International vom 7. Dezember 2006 kam zur gleichen Schlussfolgerung:

Angehörige der russischsprachigen Minderheit in Estland leiden unter systematischer Ausgrenzung und Diskriminierung. Zwar stellen sie seit der Unabhängigkeit Estlands 1991 ein Drittel der Gesamtbevölkerung. Die estnische Regierung verwehrt ihnen jedoch einen freien Zugang zum Arbeitsmarkt und zum Bildungssystem. Die Folge ist eine überdurchschnittlich hohe Arbeitslosenquote unter der russischsprachigen Minderheit in Estland. Gefangen in diesem Teufelskreis, werden die Betroffenen an der freien Ausübung ihrer wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte gehindert

(Amnesty International 2006)

Angesichts dieser Umstände wäre es auf den ersten Blick plausibel, dass die russische Bevölkerung Widerstand gegen die bestehenden Verhältnisse leistet. Eine Zuspitzung interethnischer Differenzen in Estland wurde mehrfach prognostiziert. ← 14 | 15 → Auch gewaltsame Auseinandersetzungen wurden von Experten als wahrscheinlich angesehen. So war etwa Roger Brubaker, der Experte für Nationalitätenfragen, Ende der 90er Jahre davon überzeugt, dass die russische Minderheit mehr Rechte und Privilegien einfordern würde und falls diese Forderungen nicht erfüllt werden würden, zu einem offenen Konflikt mit dem estnischen Staat bereit wäre.5

Diese Vorhersagen haben sich jedoch bis heute nicht bestätigt. Trotz der beschriebenen Gegensätze kam es in Estland weder zu einem politischen Kampf noch zu einem dauerhaften gewaltsamen Konflikt. Wie kann man diese Tatsache erklären? Ist Estland ein Fallbeispiel für ethnischen Frieden trotz Transformation oder ist ein Ausbruch ethnischer Auseinandersetzungen noch zu erwarten? Warum bleibt die russische Minderheit trotz systematischer Benachteiligung bis heute weitgehend passiv?

Eine weitere Tatsache, die beim Betrachten interethnischer Beziehungen in Estland ins Auge fällt, ist die außerordentlich große Bedeutung, welche der Sprachenfrage zukommt. Bereits 1989 wurde ein neues Sprachgesetz verabschiedet, im Jahr 1995 folgte das nächste, das bis heute gültig ist. Beide Gesetze erklären das Estnische zur alleinigen Staatssprache. Ungeachtet der tatsächlichen Zweisprachigkeit des Landes und einer großen Zahl monolingualer Russischsprecher bekam das Russische dagegen keinen offiziellen Status. Beherrschung der Staatssprache auf einem recht hohen Niveau wurde als Voraussetzung für Ausübung mancher Berufe eingeführt und wird rigoros, mittels Strafen und Entlassungen, selbst in überwiegend russischsprachigen Regionen des Landes durchgesetzt. Russische Bildungseinrichtungen wurden verpflichtet, einen Großteil der Fächer auf Estnisch zu unterrichten. Wie ist dieser auf den ersten Blick harte sprachenpolitische Kurs des estnischen Staates zu erklären? Warum wird gerade der Sprachenfrage eine so große Bedeutung beigemessen?

Die weiteren Ausführungen stellen einen Versuch dar, Antworten auf diese Fragen zu finden.

2 Konzeption und Aufbau der Studie

Beziehungen zwischen verschiedenen ethnischen Gemeinschaften können sich auf unterschiedliche Art und Weise gestalten. Ein Spezialfall interethnischer Beziehungen, der meist erhebliche negative Konsequenzen für Individuen und Gruppen mit sich bringt und den Zusammenhalt sozialer System gefährdet, ist der ethnische Konflikt. Wie bereits angedeutet können ethnische Konflikte ← 15 | 16 → verschiedene Beweggründe haben: Rassenkonflikte in den USA der 60er Jahre oder im heutigen Zimbabwe und Südafrika, Territorialkonflikte wie der zwischen Israel und Palästina, separatistische Bewegungen innerhalb bereits bestehender Nationalstaaten wie die Basken-Bewegung in Spanien, um nur einige Beispiele zu nennen. Darüber hinaus sind zwei grundlegende Formen der Konflikte bezüglich ihrer Dynamik zu unterscheiden: manifeste Konflikte, die in politischen Kämpfen oder gewaltsamen Auseinandersetzungen offen ausgetragen werden, und latente, die trotz des objektiv bestehenden Konfliktpotentials nur verdeckt bestehen und dabei womöglich sogar geleugnet werden.6

Zahlreiche Studien zu interethnischen Differenzen in verschiedenen Regionen der Welt erforschen bereits bestehende offene Konflikte zwischen ethnischen Gruppen und suchen in der aktuellen Konfliktkonstellation nach Erklärungen für deren Entstehung und Verlauf sowie nach Faktoren, welche zum Ausbruch des Konfliktes geführt bzw. ihn begünstigt haben. Die vorliegende Studie nähert sich dem Thema aus einer anderen Perspektive und fragt nach Ursachen für das Ausbleiben offener ethnischer Konflikte bei bestehenden interethnischen Spannungen. Als Frage formuliert: Warum gibt es keine manifesten ethnischen Konflikte dort, wo sie vorausgesagt worden sind? Welche Faktoren wirken trotz objektiv bestehender Interessengegensätze einer kollektiven ethnischen Mobilisierung entgegen und verhindern so den Ausbruch der Gewalt? Welche Folgen haben latente Konflikte für Individuen, Gruppen und soziale Systeme? Dieser Fragstellung wird am Fallbeispiel Estland nachgegangen, indem die Beziehungen zwischen der estnischen Mehrheit und der russischen Minderheit im Land sowie die Rolle der Sprachen in diesen Beziehungen rekonstruiert und analysiert werden. Auf diese Art und Weise soll die vorgelegte Arbeit einen Beitrag zur wissenschaftlichen Diskussion um das Phänomen ethnosprachlicher Konflikte leisten.

Diesen Überlegungen folgend lassen sich die zentralen Fragen, die wir uns in der vorliegenden Studie gestellt haben, wie folgt zusammenfassen:

Wie hat sich die ethnosprachliche Konstellation in Estland bisher entwickelt? Auf welche Erfahrung der ethnischen Abgrenzung und Mobilisierung bzw. der friedlichen Koexistenz miteinander können die beteiligten Akteure zurückgreifen? Welche sind die historischen Hintergründe der heutigen Spannungen?

Wie gestalten sich die Beziehungen zwischen der estnischer Mehrheit und der russischen Minderheit heute? Sind sie als ein Konflikt zu qualifizieren? Welche sind die wichtigsten Konfliktlinien? ← 16 | 17 →

Warum bleibt die russische Minderheit trotz der systematischen Benachteiligung in verschiedenen Lebensbereichen bis heute weitgehen passiv? Wie hat sich die russische Bevölkerung an die veränderte gesellschaftliche Ordnung angepasst?

Warum wird gerade der Sprachenfrage in der estnischen Politik eine dermaßen große Bedeutung beigemessen? Welche Bedeutung wird dem Estnischen und dem Russischen von den Beteiligten beigemessen? Welche Rolle spielen sie in den Beziehungen zwischen den beiden ethnischen Gruppen?

Bei der Analyse der interethnischen Beziehungen und Sprachen in Estland liegt das besondere Augenmerk auf den subjektiven Faktoren, d. h. auf den Einstellungen und Sichtweisen der beteiligten Akteure. Da sich diese keineswegs automatisch aus den objektiven Rahmenbedingungen ableiten lassen, wurden sie im Rahmen einer empirischen Fallstudie ermittelt. Diese bestand zum einen aus einer schriftlichen Befragung der Bevölkerung Estlands und zum anderen aus den Interviews mit Betroffenen und Experten aus Politik, Bildung, Wissenschaft und Medien Estlands.

Gliederung und Aufbau der Arbeit

Die vorgelegte Arbeit besteht aus 5 Kapiteln und ist wie folgt aufgebaut: Nach einer Einleitung in das Thema und das Konzept der Arbeit werden im Kapitel II soziologische und soziolinguistische Grundlagen der Untersuchung präsentiert. Auf der Grundlage der Modelle von Esser, Tajfel, Giles und Berry wird ein idealtypisches Modell zu Entstehung und Verlauf ethnischer Konflikte entwickelt, anhand dessen im Weiteren das Fallbeispiel Estlands rekonstruiert und analysiert wird.

Um die Spezifik der heutigen Minderheitensituation in Estland verstehen zu können, ist es nach unserer Meinung notwendig, die historischen Hintergründe heutiger Spannungen zu untersuchen. Das Kapitel III gibt einen Überblick über die wichtigsten Eckdaten in der Entwicklung interethnischer Beziehungen in Estland bis zur Gegenwart. Dabei werden politische, wirtschaftliche und soziale Transformationsprozesse und ihre Auswirkungen auf die Konstitution der estnischen Titularethnie und die Situation der russischen Bevölkerung im Land aufgezeigt sowie in Bezug zur heutigen interethnischen Konstellation gesetzt. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei den Identitätsbildungs- und Mobilisierungsprozessen.

Im Kapitel IV werden die Ergebnisse meiner eigenen empirischen Untersuchung zu Sprachen und interethnischen Beziehungen im heutigen Estland vorgestellt. Es werden zum einen Einstellungen und Sichtweisen der Beteiligten und zum anderen Einschätzungen der befragten Experten aufgezeigt und analysiert. Dabei werden die aktuellen Trenn- und Konfliktlinien zwischen den beiden Gruppen aus der Sicht der Betroffenen aufgewiesen. Zum Schluss werden ← 17 | 18 → die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst und in Hinblick auf die zentrale Fragestellung der Arbeit überprüft sowie Prognosen über mögliche zukünftige Entwicklungen erstellt.

Abschließend erscheint es an dieser Stelle sinnvoll, auf den in dieser Arbeit vielfach verwendeten Begriff der russischen Minderheit kurz einzugehen. Bei der Betrachtung interethnischer Verhältnisse in Estland ist es erforderlich, zwischen den ethnischen Russen und der russischsprachigen Bevölkerung im Land zu unterscheiden. Als Russischsprachige werden diejenigen bezeichnet, die Russisch als bevorzugte Kommunikationssprache benutzen. Dabei handelt es sich nicht nur um ethnische Russen, sondern auch um Ukrainer, Weißrussen, Juden, Koreaner und andere ehemalige Sowjetbürger. Zwar macht die Differenz im Untersuchungsfall Estland lediglich ca. 2% aus7 und wurde deswegen bei einigen anderen Forschungsbeiträgen außer Acht gelassen, dennoch wird in der vorgelegten Arbeit auf diese Unterscheidung geachtet. Es erscheint von Bedeutung, da es unter anderem um Einstellungen der Akteure zu ihrer Identität, Heimat, Verhältnis zu Russland und anderen Themen geht, bei denen die ethnische Zugehörigkeit durchaus eine Rolle spielen kann.

Den Begriff Minderheit in Bezug auf die russische Bevölkerungsgruppe in Estland finden wir berechtigt, da es sich um eine Gruppe handelt, die sich zum einen nach ethnischen und kulturellen Merkmalen von der estnischen Mehrheitsbevölkerung eindeutig unterscheidet. Zum anderen ist die Gruppe mit ca. 25% der Landesbevölkerung zwar zahlenmäßig beachtlich, dennoch deutlich kleiner als die Mehrheitsbevölkerung und verfügt auch über wesentlich weniger Macht und Einfluss im Land. Damit wären die soziologischen Kriterien einer ethnischen Minderheit erfüllt.8

3 Zum Stand der Forschung

Zu Sowjetzeiten gab es insbesondere für westliche Forscher nur wenige Möglichkeiten, die ethnischen Identitäten und Beziehungen in der UdSSR zu untersuchen. Aber auch den sowjetischen Wissenschaftlern waren die Wege für eine kritische Auseinandersetzung mit Sprachen- und Nationalitätenfragen im Lande, welche der offiziellen Staatsideologie vom Sowjetvolk widersprechen könnte, weitestgehend versperrt. Daher mangelt es für die Zeit vor der Unabhängigkeit Estlands an erhobenen Daten. Aus dieser Zeit stammen vor allem historische Arbeiten, z.B. Reinhard Wittrams (1954) Baltische Geschichte, Georg von Rauchs ← 18 | 19 → (1970) Geschichte der baltischen Staaten oder gerade zu Estland Toivo Rauns umfassendes Werk (1987) Estonia and the Estonians. Ein weiteres bedeutendes Werk zur Sowjetzeit ist die Monographie von Roumuald Misiunas und Rein Tagepera (1983) The Baltic States. Years of Dependence 1940–1990.

Mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems und der Auflösung der Sowjetunion ergaben sich in kürzester Zeit grundlegende Veränderungen der interethnischen Konstellation auf den ehemaligen sowjetischen Territorien. Es eröffnete sich nun ein weites Forschungsfeld für Ethnologen, Rechts- und Politikwissenschaftler, Sozial- und Sprachforscher. Bereits während der Glasnost und Perestroika in den 80er Jahren entstand eine Reihe von Studien, die der Nationalitätenpolitik und der Situation in der Sowjetunion gewidmet waren, etwa Rocket 1981 und Karklins 1986. Hierbei empfiehlt sich auch der Rückgriff auf Gerhard Simons Monographie (1986) Nationalismus und Nationalitätenpolitik in der Sowjetunion: Von der totalitären Diktatur zur nachstalinistischen Gesellschaft. Einen Überblick über die ethnische Landschaft bieten auch die Werke von Kappeler (1992) und Grobe-Hagel (1992). Die Renaissance des Nationalismus beleuchten Geyer (1993), Mommsen (1993), Smith (1998), Fowkes (2002). Der Soziologe Rogers Brubaker (1996) liefert eine herausragende Arbeit Nationalism Reframed: Nationhood and the National Question in the New Europe, welche die Dynamik ethnopolitischer Auseinandersetzungen erklärt.

Roeder legte 1991 eine interessante Analyse der Rolle der nationalen Eliten im sowjetischen System vor. Zur Elitenforschung in den baltischen Ländern gehören auch die Aufsätze von Steen (1997a, 1997b), welche sehr faktenreiche Quellen darstellen.

Details

Seiten
366
Jahr
2016
ISBN (ePUB)
9783631705797
ISBN (PDF)
9783653071870
ISBN (MOBI)
9783631705803
ISBN (Hardcover)
9783631676967
DOI
10.3726/978-3-653-07187-0
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Mai)
Schlagworte
Interethnische Beziehungen Ethnosprachliche Konflikte Diglossie Integration von Sprachminderheiten Russen in Estland Nationalitätenpolitik Sowjetunion
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2016. 366 S., 29 farb. Abb., 10 Tab.

Biographische Angaben

Ekaterina Popova (Autor:in)

Ekaterina Popova studierte Sprach- und Sozialwissenschaften an der Europa-Universität Frankfurt (Oder) und an den Universitäten von Almería und in Barnaul. Sie führte in Europa und Lateinamerika mehrere Forschungsaufenthalte durch, bei denen Sprachenpolitik, Sprachgebrauch sowie die Situation von Sprachminderheiten in verschiedenen Regionen der Welt im Mittelpunkt standen.

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