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Raumbegehren

Zum Flaneur bei W.G. Sebald und Walter Benjamin

von Eva Riedl (Autor:in)
©2017 Dissertation 558 Seiten

Zusammenfassung

Trotz der Aufmerksamkeit, die den gehenden Protagonisten im Prosawerk W.G. Sebalds in der theoretischen Beschäftigung zugekommen ist, hat die Forschung diese bislang nur selten unter der Perspektive «Flaneur» untersucht. Die Autorin widmet sich Sebalds sorgsamen Inszenierungen dieser Fußreisen und verfolgt sie kritisch vor W.G. Sebalds Benjamin-Lektüre. Sie zeigt, dass die als widersprüchlich aufgefasste Aneignung der Figur durch Walter Benjamin eine Chance ist, das Zugleich von intensiven, im Übergang befindlichen und zerstörerischen Formen der Flanerie in Sebalds Texten aufzuzeigen. Der Flaneur ist ein auffälliger Körper: Wie dessen epiphanische, intensive und vernichtende Gesten in Sebalds theoretisches und literarisches Schreiben eingehen, verfolgt dieses Buch.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhalt
  • I. Einleitung
  • I.1 Virulenzen des Gehens
  • I.2 „Etwas Stabiles dieses Namens ist Fiktion“: Über den prekären Status des Flaneurs bei Benjamin. Grundlegende Fragen und Projektübersicht
  • II. „Sich die Mühe gemacht, Benjamins Buch […] zu lesen“: Sebalds Benjamin-Lektüren
  • II. 1 Zum Forschungsstand
  • II. 2 ‚Messianische‘ Keimzelle: Sebalds Essay Traumtexturen
  • II. 3 Zu Benjamins Zeit-Begriff
  • II. 4 Sprengarbeiten am Kontinuum der Geschichte
  • II. 5 Ausstieg aus der Zeit?
  • II. 6 Messianische Ideale
  • II. 7 Die messianische Arbeit des Autors
  • II. 8 Zur Arbeit des Eingedenkens
  • II. 9 Eine entscheidende Differenz: Annäherung an den Begriff der Naturgeschichte der Zerstörung
  • III. Zur Figur des Flaneurs: Forschungsperspektiven
  • III. 1 Übersicht über Benjamins Flaneur-Bilder
  • III. 2 Der Flaneur als ,Textproduktionsmaschine‘
  • III. 3 Das auf der Straße Gehen und das Auf-Schreiben
  • III. 4 ,Agent‘ der Moderne: (Neu-)Verortung der Flanerie
  • III. 5 Die Wiederkehr des Raumes – Der Flaneur im spatial turn
  • III. 6 Raumbegehren des Flaneurs: Machtansprüche und Rückseiten
  • III. 7 Tod und Wiederkehr: Schockkörper, Ausrasten, Untote
  • III. 8 Zu Sebalds ‚Körperschaften‘
  • III. 9 Subversionen des gehenden Körpers
  • III. 10 Virulenz des Körpers vs. ‚Ethik der Erinnerung‘
  • IV. Zu Spuren des Flaneurs in W.G. Sebalds literaturwissenschaftlichen Werk
  • IV. 1 Le Paysan de Vienne (1989) – zu Sebalds Peter Altenberg
  • IV. 2 Der Mann der Menge
  • IV. 3 Drei Flanerie-Typen 155
  • IV. 3. 1 Aktivitäten des Auges
  • IV. 3. 2 Zum Promeneur und was aus ihm wurde
  • IV. 3. 3 Und Altenberg? (K)eine Version der Flanerie
  • IV. 4 Die Ware und der Körper: Anatomische Blicke
  • IV. 5 Anatomien auf der Straße: Das Schrecknis der Liebe. Zu Schnitzlers Flaneurs-Welt
  • IV. 5. 1 Zu einer Urszene des Raumbegehrens
  • IV. 5. 2 Die Ehegemeinschaft: Zur Kritik am commercium sexuale
  • IV. 5. 3 Das Bild von der Hure
  • IV. 6 Kafka: Ein Flaneur auf dem Bild
  • IV. 7 Das Kreisen des Ich-Erzählers
  • IV. 8 Kafka im Kino: Ein Flaneur im Bild
  • IV. 8. 1 Der ‚mortifizierende‘ Blick
  • IV. 8. 2 Panoramatisches Spektakel: Die Vorschule des Flaneur-Blickes
  • IV. 9 Flanieren im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit
  • V. Intensitäten
  • V. 1 Passagenwelt: Urgeschichten und Schmutzspuren von der Moderne 266
  • V. 2 Zu Benjamins surrealistischer Schulung
  • V. 3 Leib- und Bildraum und dialektisches Bild
  • V. 4 Intensive Gegenwarts-Räume: Michel Foucaults Heterotopien
  • V. 5 ‚Spiegellogiken‘: Zu Heterotopien bei Benjamin und Sebald
  • V. 6 Literarische Heterotopien
  • V. 7 Die Wiederkehr des Körpers
  • V. 8 Flanerie und Trance
  • V. 9 Intensive Räume bei Sebald
  • V. 9. 1 Wiederholung
  • V. 9. 2 Ideale Räume
  • V. 9. 3 A une passante – Austerlitz’ Begegnung auf der Straße
  • V. 9. 4 Im Ladies Waiting Room
  • V. 10 Eintreten ins Bild: Körperdisziplin bei Handke und Sebald
  • V. 10. 1 Disziplinierung des Autorenkörpers
  • V. 10. 2 Zum ‚Eingehen ins Artefakt‘
  • V. 10. 3 Körper der Ich-Erzähler
  • V. 10. 4 Das Zittern des Bildes
  • VI. Schwellenräume
  • VI. 1 Flanerie an der Schwelle: Panorama und Detail
  • VI. 1. 1 Plateau und Subversion: Michel de Certeaus Kunst des Handelns
  • VI. 1. 2 Subversion und Klassifikation
  • VI. 1. 3 Die Stadt als Retorte
  • VI. 1. 4 Sebalds Subversionsstrategien
  • VI. 1. 5 Sebalds Panorama: Sprengen und Kitten
  • VI. 1. 6 Illusionsmaschinen und Anfälligkeiten
  • VI. 1. 7 Neuralgische Position: Sebalds Luftkrieg und Literatur- Essay
  • VI. 1. 8 Die Bombardierung von Hamburg
  • VI. 1. 9 Engel und Bestien
  • VI. 2 Schwellenkundige
  • VI. 2. 1 Zu Benjamins ‚Schwellenkunde‘
  • VI. 2. 2 Zu Sebalds Schwellenkunde
  • VI. 2. 3 Schwellenübertretungen bei Sebald
  • VI. 2. 3 Transgression in der Kindheit
  • VI. 2. 4 Schwellenraum Berlin
  • VI. 2. 5 Ins Weichbild der Städte
  • VI. 2. 6 Schwellenzonen
  • VI. 3 Schwellenphänomen Erinnerung
  • VI. 3. 1 Erinnerungsraum Berliner Kindheit
  • VI. 3. 2 Labyrinth
  • VI. 3. 3 Dunkle Stellen
  • VI. 3. 4 Zu Sebalds Erinnerungsprojekt
  • VI. 3. 5 Die Aufgabe der Literaten – Die Fälle Jurek Becker, Jean Améry und Primo Levi
  • VI. 3. 6 Benjamins Gedächtnistheorie: Eingedenken und mémoire involontaire
  • VI. 3. 7 Zur Arbeit des materialistischen Historikers
  • VI. 3. 8 Zu Sebalds Begriff des Eingedenkens
  • VII. Katastrophen
  • VII. 1 Die Nicht-Orte der Gegenwart
  • VII. 1. 1 Die Passagen als Nicht-Orte
  • VII. 1. 2 Sebalds Nicht-Orte
  • VII. 1. 3 Abfall, Lumpen, Ruinen: zur Produktivität von Brachflächen
  • VII. 1. 4 Ruinierte Räume
  • VII. 2 Sammler und Lumpen: Rettungsstrategien
  • VII. 2. 1 Lumpenoperationen
  • VII. 2. 2 Sebalds Berliner Kindheiten
  • VII. 3 Zur Figur des Zeugen
  • VII. 3. 1 Naturgeschichte im Zeichen der Entropie
  • VII. 3. 2 Erstarrte Welt und Eisgärten
  • VII. 4 Zur ‚Naturgeschichte der Zerstörung‘
  • VII. 4. 1 Allegorische Operationen
  • VII. 4. 2 Ein Blick vom Turm
  • VII. 4. 3 Allegorie, Rettung und Eingedenken
  • VIII. Zum Abschluss
  • IX. Literaturverzeichnis

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I.  Einleitung

I.1  Virulenzen des Gehens

Die überdeutliche Rolle, die das Gehen in den Prosatexten W.G. Sebalds spielt, die ihre Protagonisten im „stundenlang fortgesetzte[n] Kreuzundquergehen in der Stadt“ (SG, 40) und auf „anscheinend end- und ziellose[n] Wege[n]“ durch Wien, Antwerpen, Manchester oder durch die Peripherien Suffolks zeigen, ist bislang nur selten mit der Perspektive eines Flaneurs zusammengebracht worden.

Sebald äußert in einem Interview zur Genese seiner „Universalgeschichte“, er betreibe diese auf „sehr amateurhafte Weise“: „Also es liegt da irgendwelcher Unrat am Wegrand sozusagen, man stößt zufällig mit dem Fuß an irgendein Bruchstück“1. Dieser amateurhaften Weise wendet sich dieser Text zu. Die sorgsame Inszenierung von Sebalds Prosa als Fußreise, die darauf besteht, Artefakt und Bruchstücke buchstäblich mit den Füßen aufgelesen zu haben, deutet auf eine Figur des Flaneurs hin, die, wie Walter Benjamin erschlossen hat, mit den Sohlen erinnert (GS V.1, 524) und als „Priester des genius loci“ (GS III, 196) auf dem Asphalt unterwegs sein will. Sebalds Fußreisen, denen das Durchwandern der Räume als Beglaubigung dient, für eine „sensuelle Konfrontation mit diesen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem distanzloseren, nicht an einer systematisierenden Übersicht, sondern am empathischen Nachvollzug interessierten Zugang zur Geschichte“2, sollen hier unter die Perspektive ‚Flaneur‘ eingerückt werden, um zu erschließen, wie es um den „unscheinbaren Passant mit der Priesterwürde und dem Spürsinn eines Detektivs“ (GS III, 196) bei Sebald bestellt ist.

Wiewohl die Produktivität der Reise als Thema und textkonstitutives Strukturelement in Sebalds Prosa breite Zuwendung in der Forschung erfahren hat3, gilt für den ,Ich-Körper‘ dieser Texte J.J. Longs Feststellung: „But the walking body of ← 15 | 16 → the narrator himself has received little critical attention.“4 Dies ist umso erstaunlicher, als bereits der erste seiner ,Ich-Körper‘, den Sebalds Prosa in der Erzählung von All’estero auf die Straßen entlässt, als Flaneur gelten kann. So berichtet in All’estero, der zweiten Erzählung von Schwindel.Gefühle, der Ich-Erzähler5 von seinen Gängen durch Wien:

Jeden Morgen machte ich mich auf und legte in der Leopoldstadt, in der inneren Stadt und in der Josefstadt anscheinend end- und ziellose Wege zurück, von denen keiner, wie sich zu meinem Erstaunen bei einem späteren Blick auf den Plan zeigte, über einen genau umrissenen, sichel- bis halbmondförmigen Bereich hinausführte, dessen äußerste Spitzen in der Venediger Au hinter dem Praterstern beziehungsweise bei den großen Spitälern des Alsergrunds lagen. Hätte man die Wege, die ich damals gegangen bin, nachgezeichnet, es wäre der Eindruck entstanden, es habe hier einer auf einer vorgegebenen Fläche immer wieder neue Traversen und Winkelzüge versucht, um aufs neue stets am Rand seiner Vernunft, Vorstellungs- oder Willenskraft anzugelangen und zum Umkehren gezwungen zu werden. (SG, 39f.)

Erst der ,objektive‘ Blick von oben, von einer Karte beglaubigt, enthüllt das wahnhafte Ausmaß dieser Gänge. Hier scheint es aber noch so, als ließe es sich kartieren, was es bedeutet, sich am „Rand der Vernunft“ zu bewegen. Halluzinierend streift der Ich-Erzähler durch die Straßen, die zu Durchtrittspforten von geisterhaften Wiedergängern werden:

Bei diesen Halluzinationen, denn etwas anderes war es ja nicht, handelte es sich ausschließlich um Menschen, an die ich jahrelang nicht mehr gedacht hatte, um Abgeschiedene gewissermaßen. Auch solche, die sich mit Sicherheit nicht mehr am Leben befanden, wie die Mathild Seelos und den einarmigen Dorfschreiber Fürgut, habe ich gesehen. Einmal, in der Gonzagagasse, glaubte ich sogar, den bei Feuertod aus seiner Heimat verbannten Dichter Dante zu erkennen. Längerer Zeit ging er, um einiges größer als die übrigen Passanten und doch ganz unbeachtet von diesen, ein Stück weit vor mir ← 16 | 17 → her mit der bekannten Kappe auf dem Kopf, doch als ich meine Schritte beschleunigte, um ihn einzuholen, da bog er in die Heinrichsgasse und war, als ich die Ecke erreichte, nirgends mehr zu sehen. (SG, 41f.)6

Die zehn Tage isolierter Existenz, deren einziger Zugewinn die seismographische Erfassung gewisser anthropomorpher Kräfte dieses Terrains zu sein scheint,7 zeitigen bedrohliche Auflösungserscheinungen. Auf die „undeutliche Besorgnis, die sich äußerte als ein Gefühl der Übelkeit und des Schwindels“, folgt nur wenige Zeilen später die Furcht vor dem „Beginn einer Lähmung oder Krankheit des Kopfes“ (SG, 42). Gegen diese hilft nur manisches Gehen. Der Panik vor der Lähmung „vermochte ich […] nicht anders entgegenzuwirken als dadurch, daß ich mich gehend bis spät in die Nacht hinein völlig erschöpfte“ (SG, 42). Auf seinem Hotel-Zimmer vermerkt der Ich-Erzähler die Veränderungen, wie den „Widerspruch“, in den er sich gehend manövriert. Der Ich-Erzähler konstatiert erschüttert:

[…] und ich weiß nicht, ob ich aus diesem Niedergang herausgekommen wäre, hätte mich nicht eines Nachts, da ich, am Bettrand sitzend, langsam mich auskleidete, der Anblick meines inwendig schon gänzlich in Fetzen aufgelösten Schuhwerks geradezu entsetzt. (SG, 43)

Wenn Flanerie wie hier als manischer „Niedergang“ beschrieben wird, dann stellt sich schnell stellt die Verbindung zu einem Flaneursprotokoll von Walter Benjamin her, das Flanerie als bedrohlichen Grenzgang dokumentiert: ← 17 | 18 →

Ein Rausch kommt über den, der lange ohne Ziel durch Straßen marschierte. Das Gehn gewinnt mit jedem Schritt wachsende Gewalt; immer geringer werden die Verführungen der Läden, der Bistros, der lächelnden Frauen, immer unwiderstehlicher der Magnetismus der nächsten Straßenecke, einer fernen Masse Laubes, eines Straßennamens. Dann kommt der Hunger. Er will nichts von den hundert Möglichkeiten, ihn zu stillen, wissen. Wie ein asketisches Tier streicht er durch unbekannte Viertel, bis er in tiefster Erschöpfung auf seinem Zimmer, das ihn befremdet, kalt zu sich einläßt, zusammensinkt. (GS V.1, 525)

I.2  „Etwas Stabiles dieses Namens ist Fiktion“: Über den prekären Status des Flaneurs bei Benjamin. Grundlegende Fragen und Projektübersicht

Das Zögern, das sich an dieser Stelle einstellen mag, ist beabsichtigt. Was Benjamin derart intensiv für den Flaneur im Konvolut M der Aufzeichnungen für seine projektierte Passagenarbeit niederlegt, nimmt sich unter den umliegenden Eintragungen eigentümlich fremd aus. Die us-amerikanische Philosophin Susan Buck-Morss hat entsprechend für diese Passage einen autobiographischen Hintergrund Benjamins vermutet.8 Die Passage verhält sich konträr zu Beschreibungen bzw. etablierten Auffassungen von Flanerie als intellektuell beflügelnder Müßiggang und vom Flaneur als allwissendem Stadtgänger, der sich den Straßen hingibt, um sich im selben Moment als heimlicher Machthaber der Stadt zu fühlen. Schon im nächsten Umkreis der Aufzeichnungen Benjamins zum Flaneur scheint eine innerhalb der etablierten kulturgeschichtlichen Überlieferung ,typischere‘ Beschreibungsformel auf, die auf das Vermögen der Flanerie als „Tastbewußtsein“ eingeht:

Den Flanierenden leitet die Straße in eine entschwundene Zeit. Ihm ist eine jede abschüssig. Sie führt hinab zu den Müttern, so doch in eine Vergangenheit, die um so bannender sein kann als sie nicht seine eigene, private ist. Dennoch bleibt sie immer Zeit einer Kindheit. (GS V.1, 524)

Wenn sich hier noch eine Stabilität darüber anbieten könnte, was oder wer der Flaneur ist – in diesem Fall ein Erinnerungsarbeiter im Sinne von Hugo von Hofmannsthals „Was nie geschrieben wurde, lesen“, das Benjamin selbst zum ← 18 | 19 → Motto des Flaneurs-Abschnitts gewählt hat – bleibt das Unbestimmte gewiss: Über den Flaneur sind keine fixen Typisierungen dauerhaft zu halten.

Der Weg, den diese Arbeit mit ihrem Gegenstand nehmen wird, führt zudem zu einer Virulenz, die bislang nur angedeutet wurde: Der Flaneur ist ein spezifischer Wiedergänger aus den „unübersehbaren Scharen der Geisterwelt“ (GS I.2, 567), die in unserer ,breiten‘ Gegenwart driften. So führt bereits der zitierte Abschnitt von der abschüssigen Straße seinem Kontext nach zu Benjamins Rezension von Franz Hessels Spazieren in Berlin9, die dessen Stadtgänge um 1929 bereits als im Titel als ,Wiederkehr‘ dessen bezeichnet, was sich eigentlich bereits in Baudelaires Paris-Terrain zu erledigen beginnt.

Historisch tritt er nämlich erst auf, als alles gegen ihn zu sprechen beginnt. Er entwickelt seine Leidenschaft in dem Moment, da der aufkommende Großstadtverkehr genüßliches Schlendern und versunkene Kontemplation gerade unmöglich macht. Und er richtet sich erst im sprichwörtlich rasend beschleunigten Tempo der Moderne mit dem eigenen langsamen ein; […]10

Benjamin verzeichnet in seinen Baudelaire-Studien entsprechend: „Das Warenhaus ist der letzte Strich des Flaneurs“ (GS I.2, 557) und projiziert in seiner Auseinandersetzung mit Edgar Allen Poes Erzählung vom Man of the crowd in diesen die „Figur seines Endes“ (GS I.2, 557) Vor allem die stetig ab den 1980er Jahren anschwellende literatur- und kulturwissenschaftlichen Zuwendung zum Flaneur hat die unheimliche Dimension der Flanerie bzw. den ,untoten Körper‘ in ihrer Mitte, produktiv erschlossen.

Dass im Folgenden die Perspektive auf die sich unterwegs Befindenden in Sebalds Prosa vor dem Hintergrund verhandelt werden soll, den Benjamins theoretische Auseinandersetzung mit dem Flaneur aufgeworfen hat, bietet sich aus zwei Gründen an. Erstens greift Sebald in signifikanter Weise auf Benjamins theoretisches Denken zurück, was sich nicht nur anhand seiner literaturwissenschaftlichen wie essayistischen Arbeiten nachweisen lässt. Peter Schmuckers umfassende Monographie Grenzübertretungen entwickelt dazu den Begriff der „poetischen Paraphrase“11, die in seinem Prosawerk eindrückliche Effekte zeitigt. Zum anderen ist gerade die Brüchig- und Sperrigkeit von Benjamins ← 19 | 20 → Flaneurstudien für die Arbeit mit Sebalds Texten von Vorteil. Für den Flaneur benjaminischer Provenienz gilt, dies sei erneut betont, die Prämisse, die Winfried Menninghaus für Benjamins Mythos-Begriff aufgestellt hat: „Ein stabiles Etwas dieses Namens ist eine Fiktion.“12 Harald Neumeyers große Monographie zum Flaneur hat ihrerseits den prekären Status als Defizit begriffen, der darin bestehe,

daß Benjamin immer so schreibt, als hätte er den Begriff des Flaneurs. […] Jede einzelne Aussage setzt einen Begriff von Flaneur voraus; der Inhalt des Begriffs variiert jedoch, und zwar derart, daß sich Benjamins Aussagen, konfrontiert man sie miteinander, nicht zusammenfügen lassen.13

Anstelle Benjamins willkürlicher Zuschreibungen lässt Neumeyer nur eine Minimaldefinition von Flanerie bzw. für Flaneurs-Texte gelten, die einen solche überall ausmacht, wo eine Figur „ziel- und richtungslos durch die Großstadt streift“14. Neumeyer besteht vor allem auf Einzelanalyse, die die verschiedenen Funktionalisierungen des Flaneurs in den Texten Charles Baudelaires, Guillaume Apollinaires, Louis Aragons, Rainer Maria Rilkes, Robert Walsers, Franz Hessels, Siegfried Kracauers und auch Benjamin selbst, zu erschließen fähig ist. Wie bereits an den gewählten Texten ersichtlich ist, erkennt Neumeyer im Flaneur vornehmlich einen „Agenten“ unterschiedlicher Programme, die im Zeitraum ,Moderne‘15 virulent werden. Folgt man weiterhin der These Wolfgang Welsch, wie es in Bezug für eine Flanerie der (postmodernen) Gegenwart neben ← 20 | 21 → Neumeyer auch Stephanie Gomollas Monographie zum Flaneur in der französischen Literatur zwischen Moderne und Postmoderne getan hat, gilt auch für das Phänomen der Flanerie dessen Verdikt: „Die Postmoderne realisiert in der Breite der Wirklichkeit (exoterisch), was modern zunächst nur spezialistisch (esoterisch) erprobt wurde.“16

Statt von grenzziehenden Unterschieden auszugehen, besteht Welschs Konzept auf Fortführung, die in einer Gegenwart der Heterogenität und Pluralismus das aufgehen sieht, was die Moderne „nur sporadisch zu realisieren vermochte“ bzw. in „Sondersphären“17 errungen hat. So zeigt sich das Phänomen der Flanerie in der Gegenwart wie diese vielfältig ‚verbreitert‘. Neumeyers Ausblick am Ende seiner Monographie auf mögliche Formen postmodernen Flanierens prognostiziert allerdings angesichts dieser Breite, dass der in der Moderne zugunsten verschiedener Funktionalisierungen zurückgedrängte „sinnliche Ereignischarakter der Flanerie – Rausch des Gehens und […] delieriende[r] Blick“18, weitaus stärker in den Vordergrund treten werde.

Das Nebeneinander auch gegenläufigster Dimensionen des Flanierens wird in Bezug auf Sebalds Prosa zu beobachten sein. Es ist gilt dabei zu zeigen, dass die als willkürlich und widersprüchlich aufgefasste Zeichnung der Figur durch Benjamin weniger ein Hindernis, sondern Chance ist, das Zugleich von intensiven, im Übergang befindlichen und katastrophalen Formen der Flanerie in Sebalds Texten aufzuzeigen. Zudem zeigt sich an einer Auseinandersetzung mit dem solchermaßen ,hochvirulenten‘ Körper des Flaneurs auch eines: Er ist widerständig genug, gegen eine allzu glatte Einbettung Sebalds in benjaminische Diskurse, sogar dort wo es von Sebald selbst intendiert scheint, zu widerstehen und Differenzen benennbar zu machen, ohne in wertende Vergleiche abzurutschen.

Es soll zunächst eine am Forschungsstand orientierte Übersicht folgen, die einige Annäherungen Sebalds an benjaminische Theorie und Motive aufführt. In der Rezeption hat sich, wie es die Arbeiten Irving Wohlfahrts und Peter Schmuckers zeigen, die Kategorie der Zeit bzw. der Zeitbegriff Benjamins, als ← 21 | 22 → Ausgangspunkt einer Auseinandersetzung mit den Interferenzen Sebalds und Benjamins als fruchtbar erwiesen, die daher entsprechend zur Hinleitung im Vordergrund stehen wird. Anschließend folgt eine Übersicht über das Phänomen der Flanerie und dessen literaturwissenschaftlicher Rezeption. Sebalds literaturwissenschaftliches Arbeiten hat das Phänomen der Flanerie nur punktuell berührt, die an Benjamin geschulte Phänomenologie des Boulevards im Anbruch des 20. Jahrhunderts aber geht in sein literaturwissenschaftliches Schreiben, wie es eine Betrachtung der Essays zu Peter Altenberg – Le Paysan de Vienne, Das Schrecknis der Liebe. Zu Schnitzlers Traumnovelle, und der Essays zu Kafka, Thanatos. Zur Motivstruktur in Kafkas „Schloß“ und Kafka im Kino zeigen wird. Um zu den Formen einer Gegenwartsflanerie in Sebalds Prosa Schreiben zu gelangen, folgt ein nach Intensitäten, Schwellen und Katastrophen aufgegliederter Analyseteil. Die Dreiteilung richtet sich nach Konzepten, die ein Denken um die – so verschlagwortete – Wiederkehr des Raumes in den kultur- und literaturwissenschaftlichen Diskurs eingebracht hat. Die Konzepte Michel Foucaults zur Heterotopie, Michel de Certeaus Kunst des Handelns und Marc Augés Nicht-Orte werden dort die jeweilige Perspektive anleiten. Grob schematisch richtet sich dies zudem nach dem Weg, den Benjamins Schreiben von Früh- zum Spätwerk beschreitet. Auf die Betrachtung der surrealistischen Leib- und Bildräume Benjamins wie zu den daran vollzogenen therapeutisch-disziplinierenden Formen, folgt eine der foucaultschen Heterotopien, die für Sebalds Räume bereits in Anschlag gebracht worden sind. An Rainer Warnings Denken zu literarischen Heterotopien bzw. der differentiellen Epiphanie zeigt sich, dass Sebald für die poetologische Ausrichtung der Arbeit des Autors eine ähnliche Struktur vorschwebt, die im Essay der Traumtexturen wiederum an Benjamin anbindet. Verbunden zeigen sich Sebald und Benjamin vor allem hinsichtlich der Therapie- und Disziplinierungsverfahren, die intensive Flaneurserfahrung, v.a. ein rauschhaftes, manisches Gehen, zügeln. Das Kapitel der Schwellenräume verhandelt eine spezifische Wahrnehmungsspannung des Flaneurs zwischen panoramatischer Weitwinkelperspektive und detaillierter Nahaufnahme, die in konstitutiver Weise in Sebalds Werk aufgenommen wird. Zudem wird ein Fokus auf die Schwellenräume und Weichbilder, bzw. benjaminische und sebaldische Schwellenkunde und den ihr inhärenten Transgressionserfahrungen gelegt. Abschließend wird das von Benjamin im Erzähler-Aufsatz an einem Übergang situierte Erinnern als Übergangsphänomen in den Fokus genommen, bzw. die verschiedenen Folgerungen, die sich für Sebald an einer analog ausgemachten Schwelle erschließen lassen. Im abschließenden Abschnitt ,Katastrophen‘ folgt ein Ausblick auf die, ansich nicht sehr ,katastrophalen‘ Augé’schen Nicht-Orte ← 22 | 23 → bzw. Sebalds spezifische Aufladung derselben. Aus der Produktivität der Ruine und Brachfläche folgt eine Betrachtung über die Figur des Sammlers und dessen Einbindung in Benjamins Logik der Apokatastasis. An dieser Stelle werden die von Sebald eingesetzten und als benjaminisch entzifferten ‚Rettungsmittel‘, wie sie vor allem Peter Schmucker in die Diskussion eingebracht, zu problematisieren sein. ← 23 | 24 →


1 Schlodder, Holger: Die Schrecken der Überlebenden. Dialog-Collage über »Die Ausgewanderten« und »Die Ringe des Saturn«. In: Loquai, Franz (Hg.): W.G. Sebald. Eggingen: Edition Isele 1997, S. 170–176, S. 176.

2 Johannsen, Anja K. Kisten, Krypten, Labyrinthe. Raumfigurationen in der Gegenwartsliteratur: W.G. Sebald, Anne Duden, Herta Müller. Bielefeld: transcript, 2008, S. 41.

3 Vgl. dazu v.a. die Beiträge des Sammelbandes The Undiscover’d Country (Zisselsberger, Markus (Hg.) (2010): The Undiscover’d Country. W.G. Sebald and the Poetics of Travel. Rochester: Camden House), wie auch die Beiträge des Abschnitt zu „Travel and Walking“ im Sammelband W.G. Sebald – A Critical Companion (Long, Jonathan J./Whitehead, Anne (Hg.) (2004): W.G. Sebald – A Critical Companion. Edinburgh: Edinburgh University Press).

4 Long, J.J.: W.G. Sebald – Image, Archive, Modernity, S. 133.

5 Bei der Frage, ob es sich bei dem Ich-Erzähler, dessen melancholischer Duktus die vier großen Prosaerzählungen entscheidend färbt und die erstmals in Austerlitz hinter die – von ihr mitunter kaum unterscheidbaren – Stimme des Protagonisten Austerlitz selbst zurücktritt, trotz geringfügiger Verschiebungen stets um die gleiche Figur handelt oder nicht, hat sich ein Gutteil der Sebaldforschung zugunsten des ersteren entschieden. An diese Einschätzung schließt sich diese Arbeit, auch im Sinne der gewählten Konzentration auf den gehenden ,Ich-Körper‘, an.

6 Benjamin überbietet im Haschisch-Rausch mit Dante und Petrarca, die im „Stadium der tiefen Versunkenheit“ an ihm vorüberziehen (GS IV.1, 415).

7 So berichtet der Ich-Erzähler, er habe in Wien kaum ein Wort gesprochen, „[B]loß mit den Dohlen in den Anlagen vor dem Rathaus habe ich, wenn mir recht ist, einiges geredet und mit einer weißköpfigen Amsel, die mit den Dohlen um meine Weintrauben kam und die ich bei mir Senavogel nannte.“ (SG, 42) Dass dieses ,Zwiegespräch‘ unter die Geistererscheinungen zu rechnen ist, lässt sich nach der in der Forschung von beispielsweise von Brad Prager umfänglich erschlossenen Präsenz Kafkas in Schwindel.Gefühle nachweisen, der eine solche, wie im vorliegenden Fall über die Verbindung Kafka-kavka-tschech. Dohle, auch außerhalb der von Sebald verwendeten kafkaschen Prätexte und dem Auftauchen von ,figures on loan‘ (hier bes. Kafkas Jäger Gracchus) kritisch erschließt. (Prager, Brad: Sebald’s Kafka. In: Denham, Scott/McCulloh, Mark (Hg.): W.G. Sebald. History – Memory – Trauma. Berlin: de Gruyter 2006, S. 105–125.); Zum Konzept der ,figures on loan‘, vgl. z.B. Schedel, Susanne: „Wer weiß, wie es vor Zeiten wirklich gewesen ist?“ Textbeziehungen als Mittel der Geschichtsdarstellung bei W.G. Sebald. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004; Schmucker, PeterGrenzübertretungen. Intertextualität im Werk von W.G. Sebald. Berlin: de Gruyter 2012.

8 Buck-Morss, Susan : Der Flaneur, der Sandwichman und die Hure. Dialektische Bilder und die Politik des Müßiggangs. Deutsche Übersetzung von Gisela Kempgen. In: Bolz, Norbert/Witte, Bernd (Hg.): Passagen. Walter Benjamins Urgeschichte des 19. Jahrhunderts. München: Wilhelm Fink 1984, S. 96–113, S. 108.

9 Vgl. Hessel, Franz: Ein Flaneur in Berlin. Bilderbuch in Worten. Neuausgabe von „Spazieren in Berlin“ 1929. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Peter Moses-Krause. Berlin: Das Arsenal 2011.

10 Weidmann, Heiner: Flanerie, Sammlung, Spiel. Die Erinnerung des 19. Jahrhunderts bei Walter Benjamin. München: Wilhelm Fink 1992, S. 75.

11 Schmucker: Grenzübertretungen, S. 229–240, bes. 239f.

12 Menninghaus, Winfried: Schwellenkunde. Walter Benjamins Passage des Mythos. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 109.

13 Neumeyer: Flaneur, S. 383. Die Monographie führt minutiös Benjamins teilweise widersprüchlichen bzw. willkürlichen Applikationen und Zuschreibungen auf: vgl. Neumeyer: Flaneur, bes. S. 14–25, 52–66.

14 Neumeyer: Flaneur, S. 17.

15 Während der Beginn einer solchen Epoche bei Neumeyer mit dessen Fokus auf den Flaneur ab Baudelaire natürlich auf Jauß’ Entzifferung des baudelaireschen Essay zu Constantin Guys dem peintre de la vie moderne von 1863 als „Gründungsurkunde der ästhetischen Moderne“ (Neumeyer: Flaneur, S. 67, 19, Fn.1) orientiert wird, ist die der Epochengrenze in seine Überlegungen zu einer Flanerie in der Postmoderne verspannt. Davor projektiert Neumeyer eine einschneidende Zäsur, die den deutschsprachigen Flaneur ins Zentrum rückt, als eine Flanerie nach 1933 im „Zug der Marschierenden“ ausfällt bzw. ununterscheidbar in den Mitläufer aufgeht. (vgl. ebd., S. 395) Für postmoderne Flanerien prognostiziert Neumeyer die verstärkte Wendung zweier Dimensionen seines Gehens und Sehens, die, da die Flanerie der Moderne diese beinah immer einem bestimmten Programm unterstellt sei, bislang im Hintergrund geblieben wären: „Rausch des Gehens und der delirierende Blick“ (ebd., S. 396).

16 Welsch, Wolfgang : Unsere postmoderne Moderne. Weinheim: VCH Acta humaniora, 1991, S. 83. Den Anschluss an Welsch bezüglich einer Bestimmung des Phänomens der Flanerie in postmodernen Gegenwartskontexten sucht neben Neumeyer auch Stephanie Gomollas Monographie des Flaneurs in der französischen Literatur zwischen Moderne und Postmoderne (Neumeyer: Flaneur, S. 393; Gomolla, Stephanie: Distanz und Nähe. Der Flaneur in der französischen Literatur zwischen Moderne und Postmoderne. Würzburg: Königshausen & Neumann 2009.

17 Welsch: Unsere postmoderne Moderne, S. 83.

18 Neumeyer: Flaneur, S. 396.

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II.  „Sich die Mühe gemacht, Benjamins Buch […] zu lesen“: Sebalds Benjamin-Lektüren

II. 1  Zum Forschungsstand

Bereits eine nur kursorische Übersicht über die Häufigkeit, mit der Sebalds literaturwissenschaftliches Schreiben benjaminische Theorie aufruft, verdeutlicht dessen einzigartige Stellung in Sebalds Denken. Sebald operiert in den beiden als Essaysammlungen herausgegebenen Bänden zur österreichischen Literatur, Die Beschreibung des Unglücks wie Unheimliche Heimat, wesentlich mit Benjamin, was schon ein oberflächlicher Blick ins Fußnotenregister verrät. Auch in der späteren Sammlung Logis in einem Landhaus, dass ohne ein solches auskommen muß, tritt Benjamin unter den dortigen versammelten Kreis an ,Seelenverwandten‘, die Sebald ,körpernah‘ um sich etabliert.

Wie bereits die akademischen Qualifikationsarbeiten Sebalds zeigen, sind es die Schriften Adornos und Horkheimers, Marcuses, Blochs, Lukács und Benjamins, die in seinem literaturwissenschaftlichen Schreiben in Garantenstellung für sein auf kritische Offenlegung des Zivilisationsprozesses ausgerichteten Schreibprojekts treten.19

Im Essay zu Johann Peter Hebel adressiert Sebald deren „Beihilfe“ (Logis, 12), ohne die „unser Literaturverständnis“ „trüb und verlogen“ geblieben wäre. Erst ← 25 | 26 → jene „andere Perspektiven“, der von Sebald als „jüdische Schule zur Erforschung der bürgerlichen Sozial- und Geistesgeschichte“ (Logis, 12) umschrieben Frankfurter Schule20, ermöglicht dem von 1963 an in Freiburg Studierenden wesentliche Einsicht in die gesellschaftspolitischen Umstände bzw. in das, was in der deutschen Nachkriegsgesellschaft niedergeschwiegen wurde. Es ermöglicht von dort aus auch der Einblick in das Ausmaß einer als defizitär aufgefassten Lehre, deren Fehlleistungen, längst als ,Germanistenschelte‘ apostrophiert, die gängige Ouvertüre Sebalds literaturwissenschaftlicher Essays bildet.21

Dass Sebalds literaturwissenschaftliche Volten selbst unter Kritik geraten sind, wie es die Debatten um seine moralpolitischen Aufrechnungen zu Ungunsten Carl Sternheims, Alfred Döblins, Alfred Anderschs oder Jurek Beckers zeigen, bzw. der an ihn ergangene Vorwurf des strategischen Ausblendens kritischer Diskurse, wie es die Debatte um den Luftkrieg und Literatur-Essay gezeigt hat, ist längstens Teil der kritischen Auseinandersetzung. Auf die oben benannte Charakterisierung der Schriften Benjamins und der Frankfurter Schule hat Irving Wohlfahrt auf die inhärente „Verharmlosung“ hingewiesen, die das „in jener ‚Erforschung‘ noch gärende politische Ferment unerwähnt“22 lasse.

Sebalds Operationalisierung und Stilisierung literaturwissenschaftlicher Methoden zur ,Wahrheitswissenschaft‘ hat unlängst Fridolin Schley massiv kritisiert. Schleys Kritik einer sebaldschen „Inszenierung von Autorschaft“ liest diese als Strategie „im Gewand moralischer Entrüstung“, die letztlich über „Polemik und Provokation“ eine herausgehobene Integrität beanspruche.23 Die Kritik Schleys unterstellt Sebald zwei „habituelle […] Grundzüge“, einerseits die moralische ← 26 | 27 → Verlässlichkeit suggerierende, „urteilende Richterlichkeit“ Sebalds sowie seine Positionierung als kritischer wie „moralisch erhabener“ Außenseiter, die ihn ebenso als ästhetisch wie ethisch kritische Instanz ausweisen solle.24 Es sei an dieser Stelle die Legitimität von Schleys Kritik an Sebalds ,Korrumpierung‘ nicht angezweifelt, jedoch auf die Problematik hingewiesen, die Schleys Studie verschärfend aufwirft. Wenn Sebalds habituelle Einstellungen als „symbolischer Mehrwert zur Legitimierung seiner Holocaustautorschaft“25 entziffert werden, verengt dies den erweiterten Forschungsfokus, der von Sebalds ,Holocaust-Autorschaft‘ zugunsten jenem seinerseits gärenden Ferment einer ,Naturgeschichte der Zerstörung‘ gerückt ist, wieder entsprechend provokativ.26

Das dennoch Sebalds Suspendierung des Autonomiegedankens von Kunst und Literatur, deren Entdeckung als soziopolitische Entitäten, die „entscheidende gesellschaftliche Archivar- und Erinnerungsfunktion annehmen“27, konsequent Sebalds eigene Ansprüche der kritische Überprüfung zuschiebt dürfte klar sein.

Während sich Sebald in seinen literaturwissenschaftlichen Arbeiten mehrfach auf Benjamin bezieht, findet sich im Prosawerk nur eine einzelne explizite Erwähnung. In Die Ausgewanderten wird Benjamin, neben Altenberg, Trakl, Wittgenstein, Friedell, Hasenclever, Toller, Tucholsky, Klaus Mann, Ossietzky, Koestler und Zweig, allesamt „Schriftsteller, die sich das Leben genommen hatten oder nahe daran waren, es zu tun“ (AW, 86), dem Lesekanon Paul Bereyters zuordnet, dessen Selbstmord wiederum dem Ich-Erzähler Initial wird, den Lebensspuren des eins verehrten Lehrers nachzugehen. Eine weitere Annäherung betrifft die in Die Ringe des Saturn geschilderte Berliner Kindheit Michael Hamburgers, dessen autobiographischer verlorener einsatz über wesentliche Textsignale an Benjamins Berliner Kindheit um Neunzehnhundert angelehnt wird.28 Und ← 27 | 28 → nicht zuletzt lässt sich die Figur des Jacques Austerlitz aus dem gleichnamigen Roman als Hommage an Benjamin gedeutet, da Austerlitz’ Projekt einer Zivilisationsgeschichte des 19. Jahrhunderts im Spiegel seiner Architekturgeschichte an die benjaminische Passagenarbeit erinnert.29 Mit der Idee eines solchen Projekts beschäftigt sich wiederum auch Paul Bereyter, der Ausgewanderte, der angesichts des als „ideales Fabrik-, Stadt- und Gesellschaftsmodell errichteten Salinengebäude[s]“ von Arc-et-Senans „sehr kühne Verbindungslinien […] zwischen dem bürgerlichen Utopie- und Ordnungskonzept, wie es in den Bauten des Nicolas Ledoux sich manifestierte, und der immer weiter fortschreitenden Vernichtung und Zerstörung des natürlichen Lebens“ (AW, 67) zieht.

Die als Titel dieses Kapitels gewählte Überschrift zitiert aus Sebalds Venezianisches Kryptogramm, dem Essay zu Hofmannsthals Andreas von 1985. Es ergeht dort der Vorwurf an den Germanisten Richard Alewyn, sich nun eben gerade nicht der Mühe ausgesetzt zu haben, Benjamins Habilitationsschrift Der Ursprung des deutschen Trauerspiels zu lesen. So müsse dieser bei Hofmannsthal die Melancholie-Chiffre ‚Hund‘30 überlesen, die nichts anderes ist als eine „Inkarnation eines uralten Schwermutsymbols für die melancholische Seele des Mannes“ (BU, 73). Bereits in einem früheren Essay zu Hofmannsthal Turmweist Sebald das Trauerspiel-Buch als revolutionäres Werk aus, dass entsprechend zurückgewiesen werden mußte, da es, wie Hofmannsthals Trauerspiel, Fragen aufwarf, die über die „festgelegten Kompetenzen von Kultur und Kritik hinauszielten.“31 Die im Essay angedeutet Kompetenzüberschreitung betrifft dessen „Konklusionen über die barocken Verbindungen von Politik und Metaphysik“ (BU, 295). Benjamins Trauerspiel-Buch fungiert dem literaturwissenschaftlichen Schreiben ← 28 | 29 → Sebalds nicht nur entscheidend als Schlüssel zu Melancholie-Chiffren. Es setzt ihn zudem wesentlich auf die Spur nach den melancholisch (und zunehmend katastrophal) konnotierten ‚naturgeschichtlichen‘ Topographien, die rekurrent erschlossen werden, wie es die Essays zu Kafka, Joseph Roth, Stifter, Hofmannsthal, wie zu Grass und Hildesheimer zeigen. Im Prosawerk schließlich entwickelt die in den literaturwissenschaftlichen Studien erschlossene Vorstellung einer ablaufenden Naturgeschichte der Zerstörung ihre eigene Virulenz. Dass die Impulse aus Benjamins im Trauerspiel-Buch entwickelten Komplex zu Melancholie und Allegorie wesentlich – und in nicht unproblematischer Weise – auf Sebalds eigene Benjamin-Lektüre abstrahlen, wird in Kapitel VII. 4. zu zeigen sein.

Sebalds Zugriff auf Benjamins Schreiben ist bereits vielfach angemerkt und analysiert worden. Die Fülle der dort aufgeführten Bezüge zu Benjamin können hier nicht vollständig erfasst werden. Es sind daher im Folgenden einzelne Überlegungen dargestellt, die für diese Arbeit leitend waren. Stellt schon Benjamins Trauerspiel-Buch wie die Einbahnstraße die Neigung zu weiten Reisen unter die melancholische Disposition (GS I.1, 326, IV.1, 117), so ist der melancholische Habitus der reisenden Protagonisten Sebalds mehrfach ausgewiesen worden.32 Gegen die ubiquitäre melancholische Grundstimmung der sebaldschen Werke fährt Fridolin Schley die deutlichste Volte der letzten Jahre, der ← 29 | 30 → Sebald Habitualisierung vorwirft, die sich „melancholische Leidkonstitution […] als Repräsentationsideal einer Zerstörungsgeschichte“ erzwinge.33

Innerhalb des Komplexes Flanerie und Melancholie hat Leonard Fuest auf „verwandtschaftliche Beziehungen“ hingewiesen, die der Flaneur mit dem melancholischen Fürsten des Trauerspiel-Buchs unterhält. Die „eigentümliche Unschlüssigkeit des Flanierenden“ (GS V.1, 535) zeige sich der „Unentschlossenheit des Fürsten“ (GS I.1, 333) verbunden, die „nichts als saturnische Acedia“ sei, „Trägheit des Herzens“, an welcher der Tyrann zugrunde gehe und deren Maske der Flaneur sich aufgesetzt habe.34

Eine Annäherung von Sebalds fiktionalen Schreibens und benjaminischer Theorie über den „Einfluss Saturns“35 bedarf der Einschränkung. Denn dabei ist die Versuchung, die Phänomenologie von Sebalds ,ruinierter‘ Welt mittels einer Interpretation zu festigen, die sich von Benjamin als quasi ‚obersten‘ melancholischen Allegoriker selbst herschreibe, sehr verlockend. Eine solche ist für die Interpretation Benjamins selbst immer wieder zum neuralgischen Punkt ← 30 | 31 → avanciert.36 Gegen eine mögliche konsensbildende Charakteristik Benjamins als Melancholiker, wie sie Susan Sontags einflußreicher Essay Under the Sign of Saturn von 1980 vorgelegt hat, haben die Benjamin-Biographen Howard Eiland und Michael Jennings unlängst vehement eingesprochen.37

Unter der Zeichnung Sebalds als melancholischer ‚Nachgänger‘ unter einem von und mit Benjamin zu ‚beglaubigenden‘ Stern, fällt, neben anderen, Iris Radischs kritische Rezension von Austerlitz von 2001 besonders harsch aus, die den Verdacht des „schwarzer Kitsch[s]“ erhoben hat, der von diesem „Theresienstädter Flaneur“ zelebriert werde.38 Radisch berechnet Sebalds literarische „Kollektion“, den „Grundton der Melancholie“ wie den „Generalschlüssel der Katastrophe“ implizit von Benjamins aus, als sie den „Stimmenimitator“ dieser Prosa weniger als Erzähler denn als benjaminischen „materialistischen Geschichtsmetaphysiker“ ausliest.39 In ihrer engen Verknüpfung von Sebalds ‚Poetik der Erinnerung‘ und deren Bezüge zu Benjamins Geschichtsphilosophie hat Anne Fuchs Monographie Die Schmerzensspuren der Geschichte von 2004 auf den neuralgischen Punkt dieser Orientierung hingewiesen. Benjamins Bindung an eine „messianische Restutopie“ stimuliere Erinnerung, da sie allererst verspreche, dass trotz der psychischen und physischen Gefahren, die im Erinnerungsprozess auf die Protagonisten lauern, eine solche zugunsten eines „Andere[n] der schlechten Wirklichkeit“ in Gang kommt. Bei Sebald zeigt sich dies wesentlich bedroht. Fuchs hat dies vor allem mit Blick auf den Luftkrieg und Literatur-Essay ausgewiesen, der ein ‚Kippen‘ antizipiert, vom „Prinzip der empathetischen Parteinahme für die Opfer der Geschichte“ zu einer vernichtenden „Metaphysik der Naturgeschichte“.40 Solches ‚Kippen‘ haben vor allem die neuesten monographischen Zugriffe auch unter ausgeweiteter Beobachtung auf Sebalds Gesamtwerk neu und zu Sebalds Ungunsten als negative Geschichtsteleologie beobachtet. ← 31 | 32 → Patrick Baumgärtel hat sehr deutlich die sebaldsche Idee einer Naturgeschichte der Zerstörung und deren Einflüsse auf Sebalds Erinnerungsbegriff problematisiert. In seiner auf Nach der Natur und Luftkrieg und Literatur konzentrierte Analyse ist Baumgärtel zudem auf Anzeichen gnostischen Denkens gestoßen. Diese Anzeichen gnostischen bzw. gnostizistischen Denkens hat auch Peter Schmuckers Monographie umfangreich analysiert41, sich dabei allerdings – anders als Baumgärtel – größtenteils auf Sebalds Diegese beschränkt. Eine produktive Balance zwischen ‚melancholischer Bastelei‘ und ‚politischer Archäologie‘ markiert noch der Sammelband von Michael Niehaus und Claudia Öhlschläger von 2006 bereits in seinem Titel von Politischer Archäologie und melancholischer Bastelei. So bleibe Rekonstruktion des Vergangenen immer an die „Reflexion über die Bedingungen von Wahrheitsproduktion gebunden“, wie die Autoren im Vorwort schreiben, die über die „,resignifizierende‘ Bereitstellung vorhandener Wissensbestände“ nun Verschiebungen innerhalb einer „archäologischen Ordnung der Dinge“ provoziere:

So werden trotz der bei Sebald zuweilen beobachtbaren Tendenz, die erzählten Schicksale und Katastrophen zu ordnen, im Zeitalter postmoderner Fragmentierung eine Geschlossenheit zu verleihen, doch ganzheitliche und einsinnige Lesarten der vom Erzähler gesicherten Spuren widerrufen.42

Formal hat das ,Inkognito‘, das Sebald nach Irving Wohlfahrt über die ansonsten als „ubiquitär“ zu erkennende „Gastrolle“ Benjamins verhänge, besonders Peter Schmuckers Monographie Grenzübertretungen von 2012 vermerkt, die minutiös den intertextuellen Strategien von Sebalds Werk nachgeht. Solches Inkognito versteht Schmucker als Sebalds intertextuelle Strategie unter dem Begriff der ,poetischen Paraphrase‘, ein Verfahren, dass Sebald selbst in seinem Stifter- und Handke-Essay Helle Bilder und dunkle exponiere, als Eingehen von „Passagen, […] in bildhafter, bezeichnenderweise jedoch nicht in diskursiver Sprache“ (BU, 173).43 Mit dem Konzept der ,poetischen Paraphrase‘ verweist Schmucker auf die theoretische ,Lücke‘, von der bislang vor allem die Repräsentation philosophischer Gedanken in literarischen Texten betroffen waren: Genettes Definition der Intertextualität als „‚Beziehung der Co-Präsenz zweier oder mehrerer Texte‘“, deckten bislang nicht die, in Sebalds Werk gehäuft auftretend, Aufnahme eines ← 32 | 33 → Prätextes in veränderter Fassung z.B. einer Umschreibung, wie es der Transport philosophischer Gedanken erforderlich mache.44

Details

Seiten
558
Jahr
2017
ISBN (ePUB)
9783631705995
ISBN (PDF)
9783653072273
ISBN (MOBI)
9783631706008
ISBN (Hardcover)
9783631677223
DOI
10.3726/978-3-653-07227-3
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (November)
Schlagworte
Stadt Foucault Engel der Geschichte Katastrophe Disziplin Intensität
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 558 S.

Biographische Angaben

Eva Riedl (Autor:in)

Eva Riedl studierte an der Ludwig-Maximilians-Universität München Neuere deutsche Literatur, Politische Wissenschaften, Interkulturelle Kommunikation sowie Rechtswissenschaften. Sie wurde dort an der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften promoviert.

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Titel: Raumbegehren
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