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Identitätsdiskurs im deutsch-jüdischen Dialog

von Norbert Honsza (Band-Herausgeber:in) Przemysław Sznurkowski (Band-Herausgeber:in)
©2017 Sammelband 224 Seiten

Zusammenfassung

Die Autoren erweitern mit diesem Buch die seit vielen Jahren geführte Debatte um die deutsch-jüdische Identität. In den letzten Jahren sind neue Forschungsansätze mit Nuancen und neuen Hypothesen entstanden. Die Publikation soll den seit vielen Jahren dauernden Diskurs zum Thema «Juden im deutschen Kulturraum» fortsetzen. Das Buch führt die Untersuchungen innerhalb dieser Publikationsreihe weiter und zeigt sowohl die Kontinuität als auch die Diskontinuität im deutsch-jüdischen Dialog auf.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • Die Transformation des deutsch-jüdischen Identitätsdiskurses gegen Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts (Hanni Mittelmann)
  • Deutsch-jüdische Identität im Spiegel unterschiedlicher sozialer Kontexte: Jean Améry, Elazar Benyoëtz, Chaim Noll, Yascha Mounk und Lena Gorelik (Theo Mechtenberg)
  • (Kein) ‚Doppeltes Grab‘? Zur Metaphorik des deutsch-jüdischen Dialogs im Werk von Barbara Honigmann, Monika Maron, Katja Petrowskaja und Mirna Funk (Małgorzata Dubrowska)
  • Alles was war. Michel Bergmanns Frankfurter Triptychon (Thomas Nolden)
  • Was heißt gelingende Integration? Lena Goreliks literarische Wege der Selbstbestimmung (Ortwin Beisbart)
  • Identitätskonstruktionen am Beispiel der zeitgenössischen deutsch-jüdischen Literatur (Przemysław Sznurkowski)
  • Heinrich Heine. Schelm der Epoche und „Dichterjude“ (Norbert Honsza)
  • Eine vergessene Exilgeschichte: Alfred Polgars Marlene (Michael Segner)
  • Selma Meerbaum-Eisinger. Lyrik einer jüdisch-deutschen Poetin aus Czernowitz (Therese Chromik)
  • Kann der jiddische Witz verdeutscht werden? Sigmund Freud und Salcia Landmann (Jakob Hessing)
  • Ortskonstruktionen und Zeiterfahrungen von Juden in Wien um 1900 (Klaus Hödl)
  • Reisen in Wiener Volkssängerstücken. Ähnlichkeit als Analysekategorie jüdisch-nichtjüdischer Beziehungen (Susanne Korbel)
  • Die angelehnte Tür. Die Übernahme deutscher Kultur im 19. Jahrhundert durch aus Galizien eingewanderte Juden am Beispiel des Teschener Schlesiens (Janusz Spyra)
  • Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge
  • Reihenübersicht

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Vorwort

Der vorliegende Sammelband ist eine Fortsetzung der 2013 veröffentlichten Publikation Deutsch-jüdische Identität. Mythos und Wirklichkeit. Ein neuer Diskurs?, die in der Reihe „Polnische Studien zur Germanistik, Kulturwissenschaft und Linguistik“ erschienen ist. Der Band konnte einen – für eine wissenschaftliche Veröffentlichung – beachtlichen Leseerfolg buchen. Somit haben sich die Herausgeber entschlossen, einen weiteren Band zur deutsch-jüdischen Problematik zu veröffentlichen. Die Initiative hat sowohl Zuspruch einiger Autoren des vorherigen Bandes gefunden als auch neue Mitarbeiter gewonnen. Hiermit möchten wir den Leser auf einige Beiträge aufmerksam machen, die den Leitfaden dieser Publikation ausmachen.

Hanni Mittelmann beschreibt in ihrem Aufsatz die vielfältigen Transformationen des deutsch-jüdischen Identitätsdiskurses in den letzten Jahren, die mit einem wandelnden Selbstverständnis Deutschlands als Einwanderungsland verbunden sind sowie mit einem Identitätsverständnis, das sich an der postmodernen Theorie einer hybriden, multikulturellen Identität orientiert.

Anregende Themen sprechen auch einige weitere Beiträge an, die sich mit der deutsch-jüdischen Identität im Spiegel unterschiedlicher sozialer Kontexte befassen. Der Band enthält u. a. Reflexionen über Identitätskonstruktionen am Beispiel der zeitgenössischen deutsch-jüdischen Literatur. Thematisiert werden u. a. historische und kulturelle Aspekte der sogenannten „negativen Symbiose“ der Deutschen und der Juden nach dem Zweiten Weltkrieg, die Vergangenheitsverarbeitung (insbesondere der Einfluss des Holocaust auf die Identitätskonstruktionen), das Verhältnis zu Tradition und Religion, die Kritik der aktuellen deutsch-jüdischen Beziehungen oder der Verhältnisse in der jüdischen Gemeinschaft.

Der Beitrag von Ortwin Beisbart Was heißt gelingende Integration? Lena Goreliks literarische Wege der Selbstbestimmung zeigt eine neue Perspektive der Immigration aus der Sowjetunion. Sowohl die Flüchtlingsproblematik als auch aus soziologischer Sicht geführte Identitätsdiskussion finden hier ihren gebührenden Platz.

Weitere Texte befassen sich mit Michel Bergmanns Frankfurter Triptychon, mit Heinrich Heine, Alfred Polgar wie auch mit der vergessenen Poetin aus Czernowitz Selma Meerbaum-Eisinger. Interessante Aspekte des deutsch-jüdischen Dialogs werden in den Beiträgen präsentiert, die sich auf das literarische Werk der jüngeren Generation deutsch-jüdischer Schriftsteller beziehen. ← 7 | 8 →

Gegenstand vielseitiger Reflexionen ist seit jeher der jüdische Witz. Der Text Jakob Hessings Kann der jiddische Witz verdeutscht werden? Sigmund Freud und Salcia Landmann stellt eine interessante auf den jüdischen Humor bezogene Überlegung dar. Der Autor reflektiert über die kulturellen und kulturpolitischen Verwandlungen, die der jüdische Witz in seinen in deutschsprachigen Sammlungen um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jh. erschienenen Übersetzungen bis zu der Übersetzung von Salcia Landmann in den 1960er Jahren erfahren hat.

Eine umfassende Studie über das Jüdisch-Sein bietet der Aufsatz von Klaus Hödl Ortskonstruktionen und Zeiterfahrungen von Juden in Wien um 1900. Es werden Haltungen und Anschauungen einiger jüdischer Kulturschaffender im Wien des Fin-de-siècle gezeigt. Den Band schließen Beiträge zu jüdisch-nichtjüdischen Interaktionsfeldern in Wiener Volkssängerstücken und zu aus Galizien nach Schlesien eingewanderten Juden.

Die Publikation soll den seit vielen Jahren dauernden Diskurs zum Thema ‚Juden im deutschen Kulturraum‘ fortsetzen. Keine dankbare Aufgabe, zumal die Verschmelzung deutscher und jüdischer Kultur sowohl Befürworter als auch Gegner gefunden hat. Begriffe wie Synthese oder Symbiose waren im deutsch-jüdischen Kontext immer problematisch.

Die Herausgeber und der Peter Lang Verlag danken allen Beiträgern für die kollegiale Mitarbeit an diesem Band, der sowohl die Kontinuität als auch die Diskontinuität im deutsch-jüdischen Dialog zeigen soll.

Die Herausgeber

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Hanni Mittelmann
Hebrew University of Jerusalem

Die Transformation des deutsch-jüdischen Identitätsdiskurses gegen Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts

Eine Ausdifferenzierung des traditionellen religiösen Selbstverständnisses von Judentum sowie ein säkulares Verständnis von Jüdischsein wirkt sich auf das Verhältnis zu Deutschland und seiner belastender Vergangenheit aus. Diese wird reflektiert in der Polyphonie der Stimmen und Perspektiven der jüdischen Kulturschaffenden.

Schlüsselwörter: Jüdische Identität, aktueller Antisemitismus, Humor, Migration, Anti-Israelismus

Die Vielfalt der heutzutage in Deutschland lebenden Juden hat das traditionelle Identitätsverständnis der deutsch-jüdischen Gemeinschaft im Nachkriegsdeutschland verändert. Während es in den 1980er und 1990er Jahren den Versuch gab, von neuem eine deutsch-jüdische Identität zu schaffen, die sich an dem Modell der Vorkriegsgemeinschaft orientierte, hat sich im 21. Jahrhundert ein völlig neues Modell des jüdischen Selbstverständnisses herausgebildet. Die Versuche, ein erweitertes jüdisches Identitätsverständnis zu schaffen, hängen eng zusammen mit der allmählichen Transformation von Deutschland in ein Einwanderungsland, was wiederum das deutsche Selbstverständnis als eine homogene Gemeinschaft, die sich durch eine gemeinsame Sprache, Erfahrung und Geschichte definiert, in Frage stellt. Auch die jüdische Gemeinschaft, die nach dem Zweiten Weltkrieg wieder in Deutschland ansässig wurde, sah sich vor die Aufgabe gestellt, der neuen pluralistischen, multikulturellen und vielsprachigen Wirklichkeit gerecht zu werden, die durch die Einwanderungswelle der jüdischen Kontingentflüchtlinge aus den GUS-Staaten, sowie von jungen Juden aus Israel, Amerika und anderen europäischen Staaten entstanden war.

Das globale Phänomen der geographischen und kulturellen Mobilität hat das alte Verständnis von Identität als Einheit und Kontinuität des Ichs untergraben und durch die Theorie einer hybriden, multikulturellen Identität ersetzt. Die jüngste Generation der in Deutschland lebenden Juden verkörpert dieses neue Identitätsverständnis. Sie haben eine bi- oder sogar trinationale Herkunft und ← 9 | 10 → sind in ihren kulturellen Aktivitäten, in Literatur und Film, aktiv mit der Dekonstruktion und Hybridisierung ihrer Identitäten beschäftigt.1

Die aus den ehemaligen GUS-Staaten eingewanderten jungen Autoren wie Wladimir Kaminer und Lena Gorelik können paradigmatisch für diese Generation stehen, die in ihrer auktorialen und privaten Persona alternative Perspektiven der jüdischen Identität entwickeln. Sie stellen eine individualistische Auslegung jüdischer Identität über ein traditionelles Verständnis einer kollektiven, essentialistischen Identität des Judentums.2

In Russendisko, einem Band, in dem Wladimir Kaminer 50 Kurzgeschichten versammelt hat, die die Erfahrungen eines Russen in Berlin mit Witz und Scharfblick beschreiben, definiert sich Kaminer als eine konkrete Verkörperung eines pluralistischen Identitätsverständnisses, in dem sich „5 russische Migrationswellen“3 vereinen. In Mein deutsches Dschungelbuch registriert er amüsiert die Versuche der verschiedenen Zeitungen, ihn auf seinen Lesereisen durch Deutschland anzukündigen:

Die Stadtzeitung Rathenow hatte meine Lesung mit einem großen Artikel angekündigt. Unter der nicht besonders einfallsreichen Überschrift: „Der Russe kommt.“ In jeder dritten Stadt reagiert die regionale Presse mit diesem Satz auf mein Erscheinen. Manchmal schreiben sie auch „Deutscher Autor russischer Abstammung“ oder „Ein jüdischer Schriftsteller“. Die Leser wundern sich wahrscheinlich und fragen sich „Hey, ist das nicht alles der gleiche Typ?“ Mir ist es egal. Ich höre auf jeden Namen.4

Kaminer besteht nicht auf einer eindeutig definierten Identität, sondern fühlt sich wohl in seiner facettenreichen, nicht leicht einzugrenzenden Individualität.

Die kognitiven Fragen nach einer festumrissenen Identität werden heutzutage nicht mehr gestellt, oder scheinen ihre ehemals oft tragische Dimension verloren zu haben. Das illustriert die junge russische Einwanderin Lena Gorelik an ihrer Protagonistin Anja in der Erzählung Hochzeit in Jerusalem. Anja feiert „Weihnukkivester“, das für sie von Mitte Dezember bis Anfang Januar dauert: „Ich bekomme Channuka-Geld von meiner Oma, Weihnachtsgeschenke von ← 10 | 11 → Freunden, Silvestergeschenke von meinen Eltern. Ich bin so, wie ich bin, eine russisch-jüdische Deutsche, mein Weihnachten dauert eben länger.“5

Dieser Prozess der Dekonstruktion und Hybridisierung von Identitäten findet vor allem in Großstädten wie Berlin mit seiner multikulturellen Bevölkerung statt. Wladimir Kaminers Bücher registrieren diese Auflösung alter Identitäts-Kategorien:

Die Chinesen aus dem Imbiss gegenüber von meinem Haus sind Vietnamesen. Der Inder aus der Rykestraße ist in Wirklichkeit ein überzeugter Tunesier aus Karthago. Und der Chef der afroamerikanischen Kneipe mit lauter Voodoo-Zeug an den Wänden – ein Belgier. Selbst das letzte Bollwerk der Authentizität, die Zigaretten-Verkäufer aus Vietnam, sind nicht viel mehr als ein durch Fernsehserien und Polizeieinsätze entstandenes Klischee.6

Die in Deutschland ansässige junge Generation der Juden nimmt an diesem Trend der Dekonstruktion von Konzepten wie Authentizität und Essentialismus teil. Existiert also noch das „tragische Dilemma“ deutsch-jüdischer Identität, unter dem vor allem die deutschen Juden im Vorkriegsdeutschland litten? Oder gibt es eine „Rekonzeptualisierung“ jüdischer Identität im Deutschland des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts?7

Die erste Nachkriegsgeneration deutsch-jüdischer Schriftsteller wie Henryk Broder, Rafael Seligmann, Doron Rabinovici, Lea Fleischmann und Maxim Biller, die in den 1980er Jahren in der literarischen Szene in Deutschland auftauchten, waren die Nachkommen ihrer vom Holocaust traumatisierten Eltern. Sie beschrieben ihr Leben in Deutschland, dem Land der Mörder ihrer Großeltern und der Peiniger ihrer Eltern, mit bitterer Ironie und beißendem Witz. Es war eine Literatur, die ein tiefsitzendes Misstrauen gegenüber einem angeblich unreformierten und unreformierbaren Deutschland ausdrückte, in Titeln wie Lea Fleischmanns kontroverses Buch Dies ist nicht mein Land. Eine Jüdin verlässt die Bundesrepublik8 oder Henryk Broders Abrechnung mit Deutschland Fremd im eigenen Land. ← 11 | 12 → 9

Nach dem Mauerfall begann sich die psychologische Einstellung zu Deutschland zu ändern. In Rafael Seligmanns Roman Schalom meine Liebe (1998) kommt Beni, der israelische Sohn des deutschen Juden Ronni, zu dem Schluss: „Die Bilder vom Fall der Mauer bewiesen, dass die Deutschen aus ihrer Geschichte gelernt hatten.“10 Auch der Historiker Michael Wolffsohn proklamierte bereits in seinem 1990 erschienen Buch Keine Angst vor Deutschland eine Wende in der deutschen Mentalität, die ein neues jüdisches Selbstverständnis verlangte, und wählte die bindestrichslose Identitätsoption des „Deutschjüdischen Patrioten.“11 Ebenso verkündet Rafael Seligmanns Protagonist Jonathan Rubinstein am Ende des Romans Rubinsteins Versteigerung nach vielen Irrungen und Wirrungen: „Ich bin ein deutscher Jude.“12 Die erste Nachkriegsgeneration, die in Deutschland geblieben war, kam nicht mehr darum herum, die Realität jüdischen Lebens in Deutschland anzuerkennen. In seinem Artikel Hier geblieben! Warum tun deutsche Juden so als seien sie Zionisten? schreibt Seligmann: „Durch die Macht des Faktischen ist ihnen [den Juden] Deutschland wieder zur Heimat geworden“.13 Die Holocausterinnerung weicht im Deutschland der sogenannten „Wende“ allmählich dem Bemühen um eine neue deutsch-jüdische Identitätsdefinition.

Als Zeichen dafür, dass nicht nur eine Wende in der deutschen Mentalität stattgefunden hatte, sondern sich auch ein neues jüdisches Selbstbewusstsein und Selbstverständnis in den folgenden Jahrzehnten herausgebildet hat, kann das neue Phänomen einer jüdisch-deutschen Unterhaltungsliteratur am Anfang des 21. Jahrhunderts gewertet werden, die jüdische Kultur und das Thema der immer noch unbehaglichen deutsch-jüdischen Beziehungen den Deutschen auf humorvolle Weise zu übermitteln versucht.14 Vor allem muss hier Michael Wuligers witziges Etikettenbüchlein Der koschere Knigge. Trittsicher durch die deutsch-jüdischen Fettnäpfchen erwähnt werden, das „Tipps“ gibt, wie der deutsche Leser sich zu verhalten habe, falls er einem Juden am Arbeitsplatz, beim Tennis oder ← 12 | 13 → auf einer Party „leibhaftig“ begegnen sollte, eine „Chance“, so Wuliger, die bei den in Deutschland lebenden ca. 200 000 Juden, – „nicht, wie laut einer Umfrage die meisten Bundesbürger glauben, bis zu 5 Millionen Kinder Israels“, – „statistisch immerhin bei 1:400 [steht], doppelt so hoch wie ein Dreier mit Zusatzzahl im Lotto“15.

Der neue, humorvolle Zugang zum deutsch-jüdischen Verhältnis und der jüdischen Selbstrepräsentation macht sich zur Aufgabe, die Ähnlichkeit des Differenten zu übermitteln. Der deutsche Leser, so Wuliger in einem Interview, soll entdecken, dass er mit dem Juden mehr Gemeinsamkeiten hat als angenommen: „Die Bundesliga interessiert ihn mehr als die Lage in Gaza, über die Fahreigenschaften seines Wagens denkt er häufiger nach als über die Vergangenheitsbewältigung. ABBA hört er lieber als Klezmermusik. Und öfters als den Talmud liest er den Kicker“16. Deshalb, so empfiehlt Wuliger dem deutschen Leser, falls er auf einen Juden treffen sollte: „nerven Sie den armen Mann – oder die Frau – nicht mit der Betroffenheit beim Besuch des Holocaustmahnmals oder Ihren Ideen zum Nahostkonflikt.“17 Wuliger empfiehlt auch, Juden nicht nach den Details der Kaschrut Gesetze zu befragen, die die meisten Juden wahrscheinlich sowieso nicht kennen. Schließlich, so meint er, „Sie würden ja auch, wenn Sie Katholik sind, beim Bier keine Debatte über die theologischen Aspekte der Transsubstantiation führen wollen.“18

Neben Wuligers Büchlein und unzähligen jüdischen Witzbüchern, die am Anfang des 21. Jahrhunderts ihren Weg auf den deutschen Büchermarkt fanden, erschienen auch semi-autobiographische Romane, die die immer noch komplizierte Koexistenz von Juden und Deutschen in ein humorvolles Licht zu stellen versuchen. Zu diesen Romanen gehört Lena Goreliks Roman Lieber Mischa: … der du fast Schlomo Adolf Grinblum geheissen hättest, es tut mir leid, dass ich Dir das nicht ersparen konnte: Du bist ein Jude.19 Auch das Buch von Oliver Polak Ich darf das, ← 13 | 14 → Ich bin Jude und sein Buch samt CD Jud Süss Sauer, die Show20 versucht den Deutschen die Angst vor ihrem eigenen Schatten zu nehmen und ein entspannteres Verhältnis zwischen Deutschen und Juden herzustellen. Bücher wie diese reflektieren tatsächlich einen „Mentalitätswechsel“ in der jüngsten Generation der in Deutschland lebenden Juden wie Wuliger in seinem Artikel Aus das Trauma behauptet.21 Diese neue Generation hat „keine Angst vor Deutschland“ mehr, wie der Historiker Michael Wolffsohn es noch vor über 20 Jahren von seiner eigenen Generation eingefordert hatte. Das Leben in einem demokratischen Deutschland, das allmählich seine multikulturelle Wirklichkeit anerkennt, verleiht ihnen die Sicherheit, ihre kulturellen Eigenheiten und ethnischen Differenzen mit den Deutschen in aller Öffentlichkeit zu teilen. Das eigentliche Anliegen ist dabei, den Deutschen für die Äquivalenzen die Augen zu öffnen, für das „unwiderlegbare Phänomen der menschlichen Pluralität“, aber auch zwischen der Pluralität der Kulturen und der Einheit aller Menschen zu vermitteln.22 Das Lachen soll dabei die Isolation durchbrechen, in der die jüdische Nachkriegsgemeinschaft gelebt hat.

Dieser Mentalitätswandel in der zweiten und dritten Nachkriegsgeneration der in Deutschland lebenden jungen Juden, repräsentiert durch die Autoren Lena Gorelik, Oliver Polak, Wladimir Kaminer, Vladimir Vertlib, Arye Sharuz Shalikar, Vanessa Fogel und andere mehr, hat dabei auch damit zu tun, dass sie weiter entfernt sind von den traumatischen Ereignissen der Vergangenheit. Für sie ist der Holocaust ein Faktum der deutschen Geschichte, das sie aus den Erzählungen ihrer Großeltern kennen. Es ist ein Teil ihres Lebens so wie es ein Teil des Lebens ihrer deutschen Altersgenossen ist. Aber dieses historische Wissen der Vergangenheit ist nicht mehr mit Schuldzuweisungen oder Angst beladen. Es beeinflusst weder ihr Selbstbild noch ihr Selbstverständnis.23 Dank dieser jungen Generation meist junger russischer Juden, beginnen die in Deutschland lebenden Juden ihrer alten Rolle als Opfer zu entwachsen, so Wuliger in seinem Artikel Aus ← 14 | 15 → das Trauma. Die humorvolle Selbstdarstellung und der entspanntere Umgang mit den deutsch-jüdischen Beziehungen sind ein deutliches Zeichen dafür.

Die Ankunft von etwa 200.000 Juden aus den ehemaligen GUS-Ländern unterlief in der Tat die politisch-symbolische Stellung der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland als Opfergemeinschaft.24 Der Hauptgrund dafür war die „Differenz der Erinnerungen an den zweiten Weltkrieg und den Holocaust“, welche die Einstellung der russischen Juden zu Deutschland definierte.25 Das jüdische Selbstverständnis der russischen Einwanderer war durch ihre Erfahrungen in der Sowjetunion anders geprägt als das der Holocaustüberlebenden und der ersten Nachkriegsgeneration der in Deutschland lebenden Juden. Bildete die Erinnerung an den Holocaust den zentralen Bezugspunkt des Selbstverständnisses der im Nachkriegsdeutschland lebenden Juden, eine Erinnerung, die auch ihr Verhältnis zur BRD strukturierte26, so erinnern die russisch-jüdischen Einwanderer den zweiten Weltkrieg anders. Der 9. Mai 1945, das Ende des Krieges, bedeutet für die russischen Juden den Sieg der Alliierten und Russlands über Deutschland, an dem sie als „kämpfende jüdische Soldaten“ teilgenommen und den Sieg über die nationalsozialistische Diktatur davongetragen hatten27. Sie gehören damit nicht der Opfergemeinschaft an wie die Generation, die aus den deutschen DP Camps kam und die „in der öffentlichen Selbst- und Fremdwahrnehmung wesentlich über den Holocaust definiert war“28. Die russischen Juden sind damit auch nicht in die „Erinnerungsgemeinschaft“ eingeschlossen, als die sich die Holocaust­überlebenden und Deutschland in Anerkennung seiner historischen Verantwortlichkeit definiert haben.29

Aus diesen unterschiedlichen Erinnerungs- und Erfahrungsräumen der sowjetischen Juden resultieren auch „divergierende kulturelle und religiöse Selbstentwürfe“30. Ein innerjüdischer Diskurs um die Definition des Jüdischen wurde ← 15 | 16 → damit in Gang gesetzt, der die Grenzen des traditionellen religiösen und kulturellen Selbstverständnisses von Judentum und Jüdischsein der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland sprengte.

Galten Juden in der Sowjetunion als „Angehörige einer nationalen Minderheit“, so gelten Juden in Deutschland als „Mitglieder einer Religionsgemeinschaft“. Dieser Wandel von einer nationalen zu einer religiösen Minderheit stellt für die mehrheitlich säkularisierten russischen Juden einen Konflikt dar.31 Russisch- jüdische Identität versteht sich vor allem als eine ethnische Identität, die sich „im wesentlichen passiv über die Herkunft begründet, ohne einen Bezug zur jüdischen Religion und Tradition zu besitzen“32, die in Russland in den 1920er und 30er Jahren zerstört wurde und damit nicht mehr von Generation zu Generation weitergegeben werden konnte.33 Ein solches Selbstverständnis war der bestehenden jüdischen Gemeinschaft in Deutschland fremd.

Details

Seiten
224
Jahr
2017
ISBN (ePUB)
9783631706701
ISBN (PDF)
9783653056464
ISBN (MOBI)
9783631706718
ISBN (Hardcover)
9783631663349
DOI
10.3726/b11198
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (April)
Schlagworte
Identität Identitätskonstruktionen Juden Dialog Literatur Geschichte
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 224 S.

Biographische Angaben

Norbert Honsza (Band-Herausgeber:in) Przemysław Sznurkowski (Band-Herausgeber:in)

Norbert Honsza ist Professor für Germanistik an der Philologischen Hochschule in Wrocław (Polen) und war Jahre Leiter des Lehrstuhls für Deutsche Gegenwartsliteratur an der Universität Wrocław. Seine Forschungs- und Arbeitsgebiete sind Deutschsprachige Literatur, Literaturkritik, Kulturwissenschaften, interkulturelle Kommunikation und Rezeption, deutsch-polnische Beziehungen. Przemysław Sznurkowski ist Germanist und Literaturwissenschaftler an der Jan-Długosz-Universität in Częstochowa (Polen). Er ist Autor zahlreicher Aufsätze über deutsche Gegenwartsprosa, deutsch-jüdische Literatur und deutsch-polnische Grenzräume.

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