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Der Holocaust in deutschsprachigen publizistischen Diskursen

Eine sprachwissenschaftliche Analyse am Beispiel der Diskussion um den Roman «Die Wohlgesinnten» von Jonathan Littell

von Britta Gries (Autor:in)
©2017 Dissertation 748 Seiten

Zusammenfassung

Thema dieses Buchs sind die öffentlichen Diskurse um den Holocaust, die einen integralen Bestandteil der Vergangenheitsbewältigung in der Bundesrepublik seit den 1960er Jahren darstellen. Viele Konflikte, Brüche und Diskontinuitäten kennzeichnen diesen Zeitraum und auch im 21. Jahrhundert sorgen literarisch-ästhetische Annäherungsversuche an den Genozid für mediale Skandale.
Die Autorin fragt, von welchen Intentionen, Haltungen und Wissensbeständen diese publizistischen Kontroversen geleitet werden. Um die vielschichtige Thematik zu beleuchten, analysiert sie die Debatte über Jonathan Littells Roman «Die Wohlgesinnten» Anfang 2008 in deutschen Qualitätsmedien mit einem eigens konzipierten Diskurslinguistischen Vier-Ebenen-Modell, das Foucaults diskurstheoretische Überlegungen in Analysekategorien übersetzt und so die Dynamik zwischen Gesellschaft und Sprache erfasst.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhalt
  • Einleitung
  • 1 Die historisch-diachrone Entwicklung des Diskursbegriffs und dessen Etablierung in den Geistes- und Sozialwissenschaften
  • 1.1 Einführende Bemerkungen
  • 1.2 Französischer Strukturalismus
  • 1.3 Französischer Poststrukturalismus
  • 1.4 Amerikanischer Strukturalismus
  • 2 Der Diskursbegriff im Kontext der Germanistischen Linguistik – Linguistische Diskursforschung im Rahmen der Gesprächslinguistik bzw. Diskursanalyse
  • 2.1 Einführende Bemerkungen
  • 2.2 Linguistische Diskursforschung im Rahmen der Gesprächslinguistik bzw. Diskursanalyse
  • 3 Der Diskursbegriff im Kontext der Germanistischen Linguistik – Linguistische Diskursforschung im Rahmen der Diskurslinguistik
  • 3.1 Einführende Bemerkungen
  • 3.2 Linguistische Diskursforschung im Rahmen der Diskurslinguistik
  • 4 Die Entwicklung eines Diskurslinguistischen Vier-Ebenen-Modells zur Analyse publizistischer Diskurse
  • 4.1 Einführende Bemerkungen
  • 4.2 Die Bedeutung der Diskurstheorie Michel Foucaults für das Diskurslinguistische Vier-Ebenen-Modell – Aspekte aus „Archäologie des Wissens“ und „Die Ordnung des Diskurses“
  • 4.3 Der untersuchungsleitende Öffentlichkeitsbegriff
  • 4.4 Die Definition des untersuchungsleitenden Diskursbegriffes und die Prämissen einer darauf aufbauenden diskurslinguistischen Analyse
  • 4.5 Diskurslinguistische Mehr-Ebenen-Modelle als Vorläufer des zu konzipierenden vierdimensionalen Analysekonzeptes
  • 4.6 Bewertung der diskurslinguistischen Mehr-Ebenen-Modelle im Hinblick auf deren Nützlichkeit für das Forschungsvorhaben
  • 4.7 Das Diskurslinguistische Vier-Ebenen-Modell und dessen Analysedimensionen – Einleitende Worte und Überblick über die Vorgehensweise
  • 4.7.1 Die kontextuellen Analysedimensionen
  • 4.7.1.1 Die makrokontextuelle Analysedimension
  • 4.7.1.2 Die institutionelle Analysedimension
  • 4.7.2 Die linguistischen Analysedimensionen
  • 4.7.2.1 Die diskursive Analysedimension
  • 4.7.2.2 Die textuelle Analysedimension
  • 4.8 Die Gütekriterien des Diskurslinguistischen Vier-Ebenen-Modells
  • 4.9 Der kritische Anspruch des Diskurslinguistischen Vier-Ebenen-Modells
  • 4.10 Zusammenfassende Darstellung des Diskurslinguistischen Vier-Ebenen-Modells und Zusammenstellung des untersuchungsleitenden Fragenkatalogs
  • 5 Die empirische Analyse der publizistischen Auseinandersetzung über Jonathan Littells Roman „Die Wohlgesinnten“ Anfang 2008 mithilfe des Diskurslinguistischen Vier-Ebenen-Modells
  • 5.1 Einführende Bemerkungen – Aufbau der Untersuchung
  • 5.2 Die makrokontextuelle Analysedimension: Zusammenfassende Darstellung der historisch-diachronen Entwicklung der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Holocaust
  • 5.2.1 Zusammenfassende Darstellung der ersten Phase der öffentlichen Auseinandersetzung: Die von „außen“ verordnete Konfrontation mit dem Holocaust durch die alliierten Siegermächte (8. Mai 1945–23. Mai 1949)
  • 5.2.2 Zusammenfassende Darstellung der zweiten Phase der öffentlichen Auseinandersetzung: Abstraktion und Entkonkretisierung des Holocaust (23. Mai 1949–bis etwa 31. Dezember 1957)
  • 5.2.3 Zusammenfassende Darstellung der dritten Phase der öffentlichen Auseinandersetzung: Konfrontation mit dem und Konkretisierung des Holocaust (1958–1979)
  • 5.2.4 Zusammenfassende Darstellung der vierten Phase der öffentlichen Auseinandersetzung: Kommunikation über sowie Dokumentation des Holocaust und dessen Verankerung im kollektiven Erinnerungsgedächtnis (1980–2008)
  • 5.2.4.1 Zusammenfassende Darstellung der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Holocaust in den 1980er Jahren
  • 5.2.4.2 Zusammenfassende Darstellung der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Holocaust in den 1990er Jahren
  • 5.2.4.3 Zusammenfassende Darstellung der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Holocaust im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts
  • 5.3 Der Anlass der Kontroverse – Jonathan Littells Roman „Die Wohlgesinnten“
  • 5.3.1 „Die Wohlgesinnten“ – Eine Inhaltsskizze des Romans
  • 5.3.2 Reaktionen in der französischen und deutschen Presse auf die Veröffentlichung von „Les Bienveillantes“ im August 2006
  • 5.4 Das Analysekorpus
  • 5.4.1 Die Zusammensetzung des Analysekorpus
  • 5.4.2 Die beteiligten Presseorgane
  • 5.4.3 Journalistische Darstellungsformen
  • 5.4.3.1 Textsorten der informationsbetonten Textklasse
  • 5.4.3.2 Textsorten der meinungsbetonten Textklasse
  • 5.5 Die diskursive Analysedimension
  • 5.5.1 Einführende Bemerkungen
  • 5.5.2 Zusammenfassende Darstellung der ersten Phase der publizistischen Auseinandersetzung (31.01.2008–11.02.2008): Vom Versuch der medialen Inszenierung eines literarischen Skandals
  • 5.5.3 Zusammenfassende Darstellung der zweiten Phase der publizistischen Auseinandersetzung (14.02.2008–29.02.2008): Der schmale Grat der angemessenen literarisch-ästhetischen Darstellung des Holocaust
  • 5.5.4 Zusammenfassende Darstellung der dritten Phase der publizistischen Auseinandersetzung (1.03.2008–15.03.2008): Der Aufregung folgt die Ernüchterung
  • 5.5.5 Zusammenfassende Darstellung der vierten Phase der publizistischen Auseinandersetzung (3.04.2008–28.04.2008): Zurück zu den Wurzeln der „Wohlgesinnten“ – oder: Die Stunde des Klaus Theweleit
  • 5.6 Die textuelle Analysedimension
  • 5.6.1 Textuelle Analyse der Rezension von Iris Radisch „Am Anfang steht ein Missverständnis“ (Die Zeit 8/2008, 14.02.2008, S. 51/52)
  • 5.6.1.1 Der Kontext des zu analysierenden Beitrages
  • 5.6.1.2 Die textuelle Analyse
  • 5.6.1.2.1 Titel und Untertitel der Rezension: Das vorangestellte negative Urteil
  • 5.6.1.2.2 Erster thematischer Abschnitt: Erste Erklärungsversuche angesichts der öffentlichen Aufmerksamkeit gegenüber den „Wohlgesinnten“
  • 5.6.1.2.3 Zweiter thematischer Abschnitt: Von deutschen Erwartungen und französischen Fehlinterpretationen
  • 5.6.1.2.4 Dritter thematischer Abschnitt: Die Aufwertung des Nationalsozialismus durch den intellektuellen Protagonisten und den Rückgriff auf die antike Tragödie
  • 5.6.1.2.5 Vierter thematischer Abschnitt: Wenn historiografische Interpretationsansätze mit literarischen Ansprüchen kollidieren
  • 5.6.1.2.6 Fünfter thematischer Abschnitt: Die Sprache als Indikator der literarischen Schwäche
  • 5.6.1.2.7 Sechster thematischer Abschnitt: Das Scheitern Littells am kritischen Blick der deutschen Öffentlichkeit
  • 5.6.1.3 Zusammenfassung und Kommentierung der Ergebnisse der textuellen Analyse der Rezension
  • 5.6.2 Textuelle Analyse der Rezension von Klaus Theweleit „Der jüdische Zwilling“ (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 24.02.2008, S. 27)
  • 5.6.2.1 Der Kontext des zu analysierenden Beitrages
  • 5.6.2.2 Die textuelle Analyse
  • 5.6.2.2.1 Titel und Untertitel der Rezension: Das deutsche Feuilleton als „Opfer“?
  • 5.6.2.2.2 Erster thematischer Abschnitt: Die deutschen Literaturkritiker als öffentliche Mahner?
  • 5.6.2.2.3 Zweiter thematischer Abschnitt: Jonathan Littell als Opfer der reaktionären Kräfte im deutschen Feuilleton? Oder: Iris Radischs Kritik in der Kritik!
  • 5.6.2.2.4 Dritter thematischer Abschnitt: Die Authentizität der Sprache in „Die Wohlgesinnten“
  • 5.6.2.2.5 Vierter thematischer Abschnitt: Die Länge des Romans als Folge der Komplexität der Thematik
  • 5.6.2.2.6 Fünfter thematischer Abschnitt: Den Motiven der NS-Täter auf der Spur
  • 5.6.2.2.7 Sechster thematischer Abschnitt: Jonathan Littell zeigt den „wahren“ Charakter der Nationalsozialisten
  • 5.6.2.2.8 Siebter thematischer Abschnitt: Auch Historiografen versuchen sich erfolglos als Literaturkritiker
  • 5.6.2.3 Zusammenfassung und Kommentierung der Ergebnisse der textuellen Analyse der Rezension
  • 5.6.3 Die Rezensionen von Iris Radisch und Klaus Theweleit in einem abschließenden direkten Vergleich
  • 5.7 Die institutionelle Analysedimension
  • 5.7.1 Die beteiligten Presseorgane
  • 5.7.2 Zusammenfassende Darstellung der Ergebnisse der institutionellen Analysedimension im Hinblick auf die beteiligten Presseorgane
  • 5.7.3 Die beteiligten Diskursakteure
  • 5.7.4 Zusammenfassende Darstellung der Ergebnisse der institutionellen Analysedimension im Hinblick auf die beteiligten Diskursakteure
  • 5.8 Beantwortung des ersten Leitfragenkomplexes
  • 5.8.1 Wie wurden der Holocaust und dessen künstlerisch-ästhetische Darstellung über 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in der bundesdeutschen printmedial vermittelten Öffentlichkeit thematisiert, und welche sprachlichen Besonderheiten weist die Kontroverse über „Die Wohlgesinnten“ Anfang 2008 dabei auf?
  • 5.8.2 Handelt es sich bei der printmedial ausgetragenen Auseinandersetzung über Jonathan Littells „Die Wohlgesinnten“ um einen publizistischen Konflikt?
  • 5.8.3 Abschließende Zusammenfassung
  • 5.9 Beantwortung des zweiten Leitfragenkomplexes
  • 5.9.1 Welche Relevanz und welchen Stellenwert beanspruchen der nationalsozialistische Völkermord und dessen literarische Thematisierung in der medial vermittelten bundesdeutschen Öffentlichkeit im Jahre 2008?
  • 5.9.2 Gibt es im Rahmen der Littell-Debatte Übereinstimmungen bzw. signifikante Unterschiede im Vergleich zu zeitlich vorgelagerten Kontroversen über den Holocaust und dessen Darstellung?
  • 5.9.3 Zusammenfassende Bemerkungen
  • 6 Fazit
  • 7 Literatur
  • 7.1 Monografien, Sammelbände, Aufsätze in Sammelbänden und Fachzeitschriften
  • 7.2 Lexika, Wörterbücher, Gesetzestexte, Gerichtsurteile, Beiträge in Lexika und Wörterbüchern
  • 7.3 URLs
  • 7.4 Publizistische Beiträge in Tageszeitungen, Wochenzeitungen und Nachrichtenmagazinen
  • 7.5 Das Analysekorpus
  • 7.6 Tabellenverzeichnis
  • 7.7 Abbildungsverzeichnis
  • Reihenübersicht

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Einleitung

„Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz“1 – so die Aussage des ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck im Rahmen seiner Rede vor dem Bundestag am 27. Januar 2015 anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung des nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz durch Soldaten der Roten Armee.

Ein Satz, dessen Proposition so bekannt ist und mit seiner deontischen Bedeutung fast schon beschwörend klingt, überträgt seinen Adressaten – den Mitgliedern der deutschen Gesellschaft – eine große Verantwortung: die Aufrechterhaltung des Gedenkens an die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik. Vor dem Hintergrund der seit nunmehr sieben Jahrzehnten dauernden öffentlichen Auseinandersetzung mit den Geschehnissen während des Dritten Reiches und insbesondere mit den Gewaltverbrechen der Nationalsozialisten im Kontext des Zweiten Weltkrieges sind die Dimension und Komplexität dieses Erinnerns enorm. Doch am Anfang dieses Prozesses, unmittelbar nach der Kapitulation der Deutschen Wehrmacht und dem damit einhergehenden Ende der nationalsozialistischen Diktatur am 8. Mai 1945, stand zunächst die Unfähigkeit, über die Geschehnisse, die sich vor allem in Osteuropa zugetragen hatten, zu sprechen.

Der Holocaust – ein Zivilisationsbruch, der eine tiefgreifende Zäsur für die europäische Bevölkerung bedeutete – konfrontierte die Menschen mit einem neuen Ausmaß an Inhumanität und rücksichtsloser Grausamkeit. Im Londoner Statut vom 8. August 1945 wurde der millionenfache Mord als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ definiert – ein Straftatbestand, der vorlag, wenn abseits der Kriegshandlungen Gewaltverbrechen an der Zivilbevölkerung begangen und durch Verfolgung, Deportation und Ermordung aus rassischen, politischen oder religiösen Gründen verübt wurden.

Rund sechs Millionen europäische Juden fielen der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik zum Opfer. Neben dieser größten Opfergruppe wurden andere soziale Minderheiten wie Roma und Sinti, aber auch Homosexuelle, Behinderte, politisch Andersdenkende und Gegner des diktatorischen Systems zu ← 15 | 16 → Hunderttausenden ermordet. Zahlen, die kaum vorstellbar und daher so abstrakt und unfassbar erscheinen, dass der deutschen Bevölkerung nach Kriegsende am 8. Mai 1945 nur das Beschweigen dieses Themenkomplexes möglich erschien.

Mit den Urteilssprüchen des am 20. November 1945 eröffneten Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses am 30. September und 1. Oktober 1946 stand für den überwiegenden Teil der ehemaligen NS-Volksgemeinschaft fest: Die Hauptverantwortlichen für den Völkermord kamen nicht aus der Mitte der Gesellschaft, sondern gehörten dem kleinen Führungszirkel um Adolf Hitler an. Mit dieser Externalisation der Schuld wurde es möglich, den Blick in die Zukunft zu richten und alle Aufmerksamkeit und Energie für den Wiederaufbau des zerstörten Deutschlands aufzuwenden. Die notwendige gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Holocaust wurde hingegen von den meisten weitgehend ausgeblendet.

Doch nach einer Latenzzeit von etwa 15 Jahren wurde die Gegenwärtigkeit der verdrängten Verbrechen evident. Der Beginn der justitiellen Aufarbeitung der Gewaltverbrechen Ende der 1950er Jahre setzte sukzessive auch eine öffentliche, weithin vernehmbare Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik in Gang, im Rahmen derer die nationalsozialistische Verfolgungs- und Vernichtungspolitik bald in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussionen und künstlerisch-ästhetischen Thematisierungen rückte. Diese Anstrengungen werden mit dem lexikalisierten Substantiv-Kompositum Vergangenheitsbewältigung beschrieben.

Im Laufe seiner historisch-diachronen Entwicklung war dieser Prozess, der von Anfang an ein enormes Konfliktpotential in sich getragen hat, stets durch Brüche, Diskontinuitäten und Konflikte gekennzeichnet, die sich teilweise in heftigen, öffentlich ausgetragenen Kontroversen entladen haben.

Aktualität und Konjunktur dieses Themenkomplexes sind auch im 21. Jahrhundert ungebrochen, wobei insbesondere die Fokussierung des Holocaust noch immer einen streitbaren Diskussionspunkt darstellt. Im Zuge der jahrzehntelangen intensiven gesamtgesellschaftlichen, wissenschaftlichen und künstlerischen Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Völkermord konnte sich ein enormer Wissensstand in der bundesdeutschen Öffentlichkeit etablieren, der jedoch ab den 1980er Jahren zunehmend von Kontroversen über die Deutung und Reflexion der historischen Verbrechen gekennzeichnet war.

Mit dem immer deutlicher werdenden Ableben der Zeitzeugen der NS-Vergangenheit, das bereits vor der Jahrtausendwende eingesetzt hat, wird vor allem die bundesdeutsche Gesellschaft vor die Aufgabe gestellt, die historischen Ereignisse aus dem individuellen Erfahrungs- in ein kollektives Erinnerungsgedächtnis ← 16 | 17 → zu überführen, das ein aktives Gedenken und einen lebendigen Dialog ermöglicht – eine Forderung, die auch Joachim Gauck mit dem eingangs zitierten Satz „Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz“ formuliert hat. Dieser Prozess scheint jedoch von einer großen Unsicherheit begleitet zu sein, wie in der folgenden diskurslinguistischen Untersuchung zu zeigen sein wird, in deren Mittelpunkt der erstmals im Jahre 2006 im französischen Original veröffentlichte Roman „Les Bienveillantes“ des jüdisch-amerikanischen Schriftstellers Jonathan Littell steht.

Das öffentliche Interesse in Frankreich richtete sich nach der Publikation auf die fiktive Autobiografie des ehemaligen NS-Täters Dr. Max Aue. Anhand der Erzählungen des promovierten Juristen konnte das Lesepublikum aus einer ungewöhnlichen Perspektive Einblick in die fiktive Gedankenwelt und das subjektive Empfinden eines Täters nehmen, der aktiv am Holocaust beteiligt war und mehr als 30 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges über seine Taten berichtete.

Mit einer außergewöhnlichen Detailgenauigkeit ließ Littell seine fiktive Hauptfigur an allen bekannten Stätten des Russland-Feldzuges durch die Deutsche Wehrmacht ab dem 21. Juni 1941 erscheinen und Dr. Max Aue regelmäßig mit historisch-realen Personen der NS-Elite in Kontakt treten. Diese Vermischung fiktiver Elemente und Personen mit realen Ereignissen, Orten und Verantwortlichen des Holocaust erfolgte vor dem Hintergrund der unkonventionellen Biografie des Protagonisten, der als hochgebildeter Deutsch-Franzose auf eine inzestuöse Beziehung mit seiner Zwillingsschwester während der Jugend zurückblicken konnte und einem grenzenlosen Hass auf die Mutter erlegen war, die dieses symbiotische Verhältnis entdeckt und durch die Trennung der beiden beendet hatte.

Die französische Literaturkritik war fast einstimmig fasziniert von „Les Bienveillantes“ und beehrte Littell mit zahlreichen Literaturpreisen – einschließlich des renommierten Prix de Goncourt im Jahre 2006. Jürg Altwegg sprach sogar davon, dass der Roman in Frankreich zu einem „gesellschaftlichen Massenphänomen“2 avanciert sei, dessen Bedeutung sich angesichts 800.000 verkaufter Exemplare ← 17 | 18 → bis Ende 2007 und der Publikation von drei Büchern über die außergewöhnliche literarische Thematisierung des Holocaust in Frankreich Anfang 2008 bestätigt habe. Auch dem deutschen Feuilleton blieb dieses literarisch-ästhetische Wagnis im Herbst 2006 nicht lange verborgen und wurde von den darüber berichtenden Journalisten skeptisch bis ablehnend kommentiert.3

Doch es sollten noch einmal knapp achtzehn Monate vergehen, bis „Die Wohlgesinnten“4 – so der Titel der deutschen Ausgabe von Littells Roman – am 23. Februar 2008 in Deutschland veröffentlicht wurde. Daran entzündete sich bereits im Vorfeld eine publizistische Auseinandersetzung, bei der schnell deutlich war, dass mehr verhandelt wurde als die ungewöhnliche literarische Thematisierung des Holocaust mithilfe einer frei erfundenen Figur, von der Jonathan Littell selbst behauptete, dass „Max Aue als Erzähler […] vor allem eine Stimme, ein Ton [sei]. Er ist keine Person. Realismus ist für mich kein Kriterium.“5

Die Vehemenz, mit der gestritten wurde, lässt darauf schließen, dass ein Themenkomplex von gesamtgesellschaftlicher Relevanz diskutiert wurde. Und auch der Ort der Auseinandersetzung – die Feuilletons und Kulturressorts der überregionalen bundesdeutschen Qualitätspresse – lässt die Vermutung zu, dass Littell mit seinem Roman einen problematischen Themenbereich der Deutschen als Sujet seines Werkes ausgewählt hatte.

Doch wie kann diese printmediale Debatte aus der interdisziplinären Perspektive des vorliegenden Forschungsprojektes inhaltlich und strukturell erfasst und untersucht werden? Auf diese Frage findet sich – angesichts der geisteswissenschaftlichen Ausrichtung der Arbeit – sehr schnell eine Antwort: Die Untersuchungsgröße Diskurs bietet einen methodologischen Zugang zu dieser öffentlichen sprachlichen Auseinandersetzung Anfang des Jahres 2008.

Angesichts der Polysemie und der wissenschaftlichen Konjunktur, die den Diskursbegriff kennzeichnen, hat sich insbesondere ab den 1990er Jahren ein interdisziplinäres Feld entwickelt, das den Gegenstand Diskurs als Ort der sprachlichen Verhandlung gesellschaftlich relevanter Themen begreift, die vor dem Hintergrund verschiedenster Theorietraditionen mit einer Vielzahl von Konzepten und Forschungsschwerpunkten untersucht werden. Zeugnisse dieses dynamischen transdisziplinären Geschehens sind u. a. die beiden erstmals im Jahre 2001 und 2003 ← 18 | 19 → erschienenen Bände des „Handbuch[s] sozialwissenschaftliche Diskursanalyse“6 von Reiner Keller et al., aber auch das aus dem DFG-Projekt „Methodologien und Methoden der Diskursanalyse“ hervorgegangene interdisziplinäre DiskursNetz – ein Netzwerk, in dem Vertreter unterschiedlichster geistes- und sozialwissenschaftlicher Disziplinen gemeinsam an der Weiterentwicklung der diskursanalytischen Forschung arbeiten.7 Zu diesem Zweck wurde im Jahre 2014 sowohl das erste „Wörterbuch der interdisziplinären Diskursforschung“8 veröffentlicht, um einen Überblick über die Vielfalt der Terminologie dieses Forschungsfeldes zu vermitteln, als auch ein zweibändiges Handbuch zur „Diskursforschung“9. Zudem wird die transdisziplinäre Relevanz der Diskursforschung mit der seit März 2013 dreimal jährlich erscheinenden Zeitschrift für Diskursforschung – Journal for Discourse Studies (ZfD) hervorgehoben. Darüber hinaus ist das 2011 gegründete Tagungsnetzwerk „Diskurs interdisziplinär“ bemüht, die methodologische und empirische Diskursforschung fortlaufend zu verbessern und Wissenschaftlern unterschiedlichster Disziplinen die Möglichkeit zu eröffnen, unter Berücksichtigung disziplinärer Forschungsinteressen das Potential diskursanalytischer Untersuchungen zu eruieren und zu nutzen.10 Ein Ergebnis dieser Arbeit ist der im Jahre 2015 veröffentlichte Sammelband „Diskurs – interdisziplinär: Zugänge, Gegenstände, Perspektiven“11.

Auch das vorliegende Forschungsprojekt weist eine interdisziplinäre Ausrichtung auf und findet seine theoretischen und methodischen Bezugspunkte in der Medien- und Kommunikationswissenschaft und vor allem in der ← 19 | 20 → Diskurslinguistik als einer bedeutenden Teildisziplin der Sprachwissenschaft.12 Doch gerade vor dem Hintergrund der Vielfalt an theoretischen und methodischen Arbeiten der zeitgenössischen Diskursforschung scheint es geboten, die vorliegende Arbeit, den Untersuchungsgegenstand und dessen Kontexte zu konkretisieren.

Mit der Entscheidung, die printmedial ausgetragene Kontroverse über Jonathan Littells Roman „Die Wohlgesinnten“ Anfang 2008 auf der Grundlage diskurslinguistischer Untersuchungskategorien einer eingehenden Analyse zu unterziehen, ist die Wahl auf eine Auseinandersetzung gefallen, die in der Presse als einem Teilbereich der klassischen Massenmedien13 ausgetragen worden ist.

Massenmedien zeichnen in zeitgenössischen modernen, funktional ausdifferenzierten, demokratisch verfassten Gesellschaften für die Herstellung von Öffentlichkeit und die Gewährleistung öffentlicher sprachlicher Kommunikation über Themen von gesamtgesellschaftlicher Relevanz verantwortlich. Bei den im Rahmen der vorliegenden Untersuchung berücksichtigten Pressemedien handelt es sich um überregionale deutsche Tages- und Wochenzeitungen und ein Nachrichtenmagazin, die als meinungsbildende Medien gelten, sodass die in diesen Organen thematisierten Ereignisse und Sachverhalte sowie die ausgetragenen Diskussionen als Gradmesser der kulturellen Entwicklung der bundesdeutschen Gesellschaft zu begreifen sind.14

Unter Berücksichtigung des angestrebten Rückgriffs auf diskurslinguistische Untersuchungskriterien zur Untersuchung der Debatte soll folgende forschungsleitende Fragestellung formuliert werden, die in vier systematisch aufeinander aufbauenden Arbeitsschritten bearbeitet wird:

Mit welchem Diskursbegriff und einem darauf aufbauenden diskurslinguistischen Analysemodell ist es möglich, eine printmedial vermittelte, öffentliche sprachliche Auseinandersetzung über den Holocaust und dessen künstlerisch-ästhetische Darstellung am Beispiel von Jonathan Littells Roman „Die Wohlgesinnten“ in den Feuilletons ausgewählter Organe der bundesdeutschen Qualitätspresse Anfang des Jahres 2008 zu untersuchen? ← 20 | 21 →

Der Diskursbegriff der Germanistischen Linguistik bietet dazu allerdings kein einheitliches Verständnis des Untersuchungsgegenstandes. Der Grund für die Ambiguität des Begriffs findet seinen Ursprung in zwei Teildisziplinen der Sprachwissenschaft – der Gesprächslinguistik und Diskursanalyse einerseits und der Diskurslinguistik andererseits. Diese beiden Forschungsrichtungen berufen sich auf unterschiedliche Theorietraditionen und nehmen mit dem Diskursbegriff verschiedene Formen der sprachlichen Kommunikation und deren jeweilige Kontexte in den Blick.

Während die Gesprächslinguistik und Diskursanalyse, die sich zu Beginn der 1970er Jahre im Rahmen der Germanistischen Linguistik etablierten, mithilfe verschiedener Analyseansätze die interpersonale, in einer bestimmten Situation erfolgende gesprochen-sprachliche dialogische Kommunikation fokussierten, sind die Konzeptionen der zu Beginn der 1990er Jahre entstandenen Diskurslinguistik darauf ausgerichtet, die situationsübergreifende, auf der gesellschaftlichen Ebene erfolgende, zumeist schriftsprachliche Kommunikation zu analysieren.

Doch welchen Theorietraditionen sind die Gesprächslinguistik und Diskursanalyse sowie die Diskurslinguistik verpflichtet? Diese Frage, die zugleich auch eine Suche nach den Ursprüngen der Polysemie des Diskursbegriffs impliziert, soll mithilfe des ersten Arbeitsschrittes beantwortet werden.

Zu diesem Zweck erfolgt in einem online verfügbaren Referenzhandbuch „Wissenschaftsgeschichte des Diskursbegriffs“ die systematische Rekonstruktion der historischen Genese des Diskursbegriffs im diachronen Zeitverlauf. In Kapitel 1 des Handbuches schließt sich an eine komprimierte Darstellung der frühen Geschichte des Diskursbegriffs ab dem Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert der Verlauf der Implementierung und Genese des Begriffes in den geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen ab den 1950er Jahren an. In diesem Zusammenhang wurde der Diskursbegriff in unterschiedlichen Denkkollektiven wie dem Französischen Strukturalismus (Abschnitt 1.3.1), dem darauf aufbauenden französischen Poststrukturalismus (Abschnitt 1.3.2) sowie dem Amerikanischen Strukturalismus (Abschnitt 1.3.3) aufgegriffen und semantisch den jeweils vorherrschenden Denkstilen angepasst, wodurch er seinen polysemen Charakter ausgebildet hat.15

Da insbesondere die im poststrukturalistischen Denkstil entwickelten diskurstheoretischen und -analytischen Überlegungen des französischen Philosophen Michel Foucault für die Entwicklung und Extension des Verständnisses von ← 21 | 22 → Diskurs in der Germanistischen Linguistik von großer Bedeutung sind und vor allem die Schriften „Archäologie des Wissens“16 und „Die Ordnung des Diskurses“17 zum Ausgangspunkt für die Konzeption der meisten diskurslinguistischen Analyseansätze genommen worden sind, kommt diesen Werken Foucaults im Rahmen der online verfügbaren Ausführungen zum französischen Poststrukturalismus in den Abschnitten 1.3.2.2 und 1.3.2.3 besondere Aufmerksamkeit zu. Mit dieser Entscheidung wird auch das Vorhaben berücksichtigt, die vorliegende Arbeit auf dem Feld der Diskurslinguistik zu situieren und durch die erweiterte Berücksichtigung der beiden genannten poststrukturalistischen Schriften Foucaults bei der Konzeption eines diskurslinguistischen Analysemodells zu akzentuieren.

Doch die alleinige Berücksichtigung der Diskurslinguistik und der darin versammelten theoretischen und methodischen Ausarbeitungen würden eine Verkürzung der Bedeutungsvielfalt des Diskursbegriffs und seiner Entwicklung innerhalb der Sprachwissenschaft zur Folge haben. Um diese Limitierung in der vorliegenden Arbeit zu umgehen, wird die Untersuchungsgröße Diskurs sowohl im Kontext der Gesprächslinguistik und Diskursanalyse als auch im Rahmen der Diskurslinguistik berücksichtigt. Mit diesem Vorgehen wird ein Desiderat aufgegriffen, auf das auch Claudia Fraas und Michael Klemm eingegangen sind. Beide Wissenschaftler merken im Vorwort ihres 2005 publizierten Sammelbandes „Mediendiskurse. Bestandsaufnahmen und Perspektiven“18 kritisch an, dass die Diskursbegriffe der Gesprächslinguistik und Diskursanalyse einerseits und der Diskurslinguistik andererseits gleichberechtigt nebeneinander existieren, jedoch nicht direkt aufeinander bezogen werden, obwohl der Handlungscharakter beider Begriffsverständnisse ihren Vergleich legitimiert.19 Angesichts der zunehmenden Bedeutung der Internet-Kommunikation und der damit verbundenen Annäherung interpersonaler und gesellschaftlicher Kommunikation vertreten Claudia Fraas und Michael Klemm die Ansicht, dass eine methodische und theoretische Approximation der beiden Teildisziplinen wünschenswert und ← 22 | 23 → für umfassende, qualitativ aussagekräftige Untersuchungen der Interaktion in Online-Medien elementar sei.20

Das vorliegende Forschungsprojekt nimmt zwar nicht die Online-Kommunikation in den Blick, sondern strebt die diskurslinguistische Analyse einer printmedial ausgetragenen Kontroverse an, aber dennoch sollen ausgewählte Ansätze sowohl der Gesprächslinguistik und Diskursanalyse als auch der Diskurslinguistik im Rahmen der theoretischen Ausführungen des ersten Arbeitsschrittes vorgestellt werden, um die unterschiedlichen Dimensionen des Diskursbegriffs darzustellen.

In Kapitel 2 des Referenzhandbuchs „Wissenschaftsgeschichte des Diskursbegriffs“ wird daher zunächst der Fokus auf die Etablierung des Diskursbegriffs in der Germanistischen Linguistik im Kontext der sich mit der „pragmatischen Wende“ Anfang der 1970er Jahre entwickelten Gesprächs- bzw. Diskursforschung gerichtet. In diesem Zusammenhang werden auch die drei Forschungsrichtungen – die Gesprochene-Sprache-Forschung (GS-Forschung) (Abschnitt 2.2), die Sprechakttheorie (Abschnitt 2.3) und die ethnomethodologische Konversationsanalyse (Abschnitt 2.4) – angeführt, welche die Entwicklung der einzelnen gesprächslinguistischen und diskursanalytischen Konzepte maßgeblich beeinflusst haben. Um der angestrebten Interdisziplinarität des vorliegenden Forschungsvorhabens angemessen Rechnung zu tragen, sollen auch konversations- und dialoganalytische Konzepte (Abschnitt 2.5.3) auf ihre Fruchtbarkeit zur Untersuchung massenmedialer Kommunikation hin überprüft werden.

Ab den 1990er Jahren hat der Diskursbegriff im Rahmen der Germanistischen Linguistik insbesondere durch die Integration der im poststrukturalistischen Denkstil verfassten diskurstheoretischen und -analytischen Schriften Foucaults – namentlich die „Archäologie des Wissens“ sowie „Die Ordnung des Diskurses“ – eine semantische Extension erfahren. Mit dieser Integration ging die Einsicht einher, dass Sprache und Interaktion nicht nur das disziplinäre Interesse der Linguistik erreichen, sondern dass dem sprachlichen Handeln auch im gesamtgesellschaftlichen Kontext eine maßgebliche Bedeutung zukommt, wodurch die linguistische Untersuchung von Diskursen auch eine makrosoziologische Relevanz ausgebildet hat. Denn Sprache und sprachliche Interaktion stellen eine grundlegende Voraussetzung für die Konstitution von Wissen und Wirklichkeit innerhalb eines gesellschaftlichen Zusammenhangs dar, wobei sie gleichzeitig ← 23 | 24 → von den vorherrschenden soziohistorischen Bedingungen geprägt werden.21 Auf der Grundlage dieser Erkenntnis wurde der Gegenstand Diskurs im Kontext der sich entwickelnden Diskurslinguistik fortan nicht mehr als eine einzeltextbezogene, sondern vielmehr als eine einzeltextübergreifende Größe und Analysedimension begriffen.

Dieser Entwicklung wird in Kapitel 3 des Referenzhandbuchs „Wissenschaftsgeschichte des Diskursbegriffs“ Rechnung getragen, im Rahmen dessen ausgewählte diskursanalytische und diskurslinguistische Analyseansätze vorgestellt werden, die sich überwiegend auf die poststrukturalistischen Schriften Foucaults beziehen. Diese werden ebenso wie die in Kapitel 2 des online abrufbaren Handbuches dargestellten Analysekonzepte auf ihre Fruchtbarkeit hinsichtlich der Untersuchung publizistischer Diskurse überprüft und in einer anschließenden Diskussion im Hinblick auf ihre Relevanz und Praktikabilität für das eigene Forschungsvorhaben bewertet.

Diese Darstellung gesprächslinguistischer und diskursanalytischer sowie diskurslinguistischer Konzepte kann auch als eine sukzessive Annäherung an den Forschungsgegenstand Diskurs aufgefasst werden, da sie eine vergleichende Gegenüberstellung ausgewählter Ansätze der beiden linguistischen Teildisziplinen ermöglicht und einen Überblick über die wesentlichen Unterschiede, aber auch Konvergenzen der theoretischen und praktischen Untersuchungsansätze vermittelt.

Diesem ausführlichen Rekonstruktionsprozess des Online-Handbuches kann in der vorliegenden Printausgabe aufgrund der Komplexität nicht entsprochen werden. Vielmehr wird Kapitel 1 dazu genutzt, die Denkstile und Theorietraditionen zu skizzieren und eine Vorstellung über die Ursprünge der Polysemie des Diskursbegriffs zu entwickeln. Hiermit soll es möglich sein, die in der Printausgabe der vorliegenden Arbeit kurz erläuterten Analysedimensionen und zugrunde liegenden Begriffsdeutungen der Ansätze der Gesprächsanalyse und Diskursanalyse (Kapitel 2) einerseits und der diskurslinguistischen Konzepte (Kapitel 3) andererseits nachzuvollziehen.

Vor dem Hintergrund des im ersten Arbeitsschritt vollzogenen Rekonstruktionsprozesses der Genese des Diskursbegriffs im Rahmen des Referenzhandbuchs „Wissenschaftsgeschichte des Diskursbegriffs“ erfolgt mit dem zweiten Arbeitsschritt in Kapitel 4 der vorliegenden Printausgabe die Entwicklung eines Diskurslinguistischen Vier-Ebenen-Modells, mit dem Diskurse als mehrdimensionale Gebilde begriffen werden, die nur mithilfe einer multiperspektivischen Betrachtung ← 24 | 25 → und Reflexion in ihrer Komplexität erfasst, analysiert und interpretiert werden können. Zu diesem Zweck sollen ausgewählte diskurslinguistische Analysekategorien bei der Konzeption der beiden textuellen Analysedimensionen eingesetzt werden, wohingegen bei der Gestaltung der beiden kontextuellen Analyseebenen auch institutionelle und soziokulturelle Kontextfaktoren berücksichtigt werden, sodass medien- und kommunikationswissenschaftliche, aber auch soziologische und historiografische Forschungsergebnisse einen bedeutenden Stellenwert einnehmen. Auf dieser Grundlage ist es möglich, die publizistische Auseinandersetzung über Jonathan Littells Roman „Die Wohlgesinnten“ Anfang 2008 in den Feuilletons und Kulturressorts ausgewählter überregionaler Qualitätsmedien in der Bundesrepublik zu untersuchen.

Im Rahmen der Entwicklung dieses Analysemodells sollen im Anschluss an die Formulierung eines Öffentlichkeitsbegriffs und eines untersuchungsleitenden Diskursbegriffs sowie einer darauf aufbauenden diskurslinguistischen Analyse in den Abschnitten 4.3 und 4.4 der Printausgabe die in Foucaults Schriften „Archäologie des Wissens“ und „Die Ordnung des Diskurses“ entwickelten Aspekte zu Diskursen und deren Analyse aufgegriffen und sowohl für die kontextuellen – namentlich die makrokontextuelle sowie die institutionelle Analyseebene – als auch für die textuellen Analyseebenen – die sog. diskursive sowie die textuelle Analyseebene – fruchtbar gemacht werden (Abschnitt 4.7ff.). Dieses Vorgehen grenzt sich von den bisherigen diskurslinguistischen Analysemodellen dadurch ab, dass Foucaults diskursanalytische Untersuchungsaspekte explizit in diskurslinguistische Analysekategorien „übersetzt“ werden und somit als integrale Bestandteile der linguistischen Analyse der publizistischen Beiträge der printmedialen Auseinandersetzung Geltung beanspruchen (Vorbemerkungen dazu erfolgen in Abschnitt 4.2).

Auf der Grundlage eines in Abschnitt 4.10 erstellten Fragenkatalogs, dem zwei untersuchungsleitende Fragenkomplexe vorangestellt werden, wird in Kapitel 5 der vorliegenden Printausgabe die empirische diskurslinguistische Analyse der Debatte über Littells Roman „Die Wohlgesinnten“ durchgeführt, die den dritten Arbeitsschritt des vorliegenden Forschungsprojekts repräsentiert.

Im Anschluss an die makrokontextuelle Analysedimension erfolgt in Abschnitt 5.2 eine komprimierte Zusammenfassung der historisch-diachronen Entwicklung des öffentlichen Diskurses der sog. Vergangenheitsbewältigung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in den drei westlichen Besatzungszonen und ab 1949 zunächst in der alten Bundesrepublik sowie ab 1989 im wiedervereinigten Deutschland bis Anfang des Jahres 2008.22 Der Komplexität dieses mehr als sechs ← 25 | 26 → Jahrzehnte währenden Prozesses wird in einem zweiten, online verfügbaren Referenzhandbuch „Makrokontextuelle Dimensionen der Littell-Debatte“ ausführlich Rechnung getragen. Auf der Grundlage einer Rekonstruktion der verschiedenen zeitlichen Phasen der justitiellen, politischen und künstlerischen Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und hier insbesondere mit dem Holocaust werden in diesem Referenzhandbuch die sukzessive Entwicklung des öffentlich verfügbaren Wissens über den Völkermord an den europäischen Juden sowie die jeweils konventionalisierten Formen des medial vermittelten öffentlichen Umgangs mit den historischen Ereignissen detailliert und systematisch erarbeitet.

Im Anschluss an diesen historisch-diachron ausgerichteten Forschungsprozess erfolgt in der vorliegenden Printausgabe eine qualitative Analyse und Interpretation der in einem Analysekorpus zusammengestellten Beiträge der an der Auseinandersetzung über Littels Werk beteiligten Diskursakteure und die Ermittlung des Einflusses sowie der Funktion der berücksichtigten Qualitätsmedien und der Diskursakteure (Abschnitt 5.4 ff.). Vor dem Hintergrund des historisch-diachronen Abrisses der Entwicklung des öffentlichen Diskurses der Vergangenheitsbewältigung im Referenzhandbuch „Makrokontextuelle Dimensionen der Littell-Debatte“ soll es möglich sein, die Ergebnisse der diskurslinguistischen Analyse der Littell-Debatte zu reflektieren und mit zeitlich vorgelagerten Kontroversen über die NS-Vergangenheit und den Holocaust in Beziehung zu setzen, sodass in den daran anschließenden Abschnitten 5.8 und 5.9 die beiden Leitfragenkomplexe beantwortet werden können.

In einem abschließenden vierten Arbeitsschritt wird in Kapitel 6 der Printausgabe die Gesamtheit der ermittelten Ergebnisse und Erkenntnisse sowohl der beiden online abrufbaren Referenzhandbücher als auch der vorliegenden Printausgabe reflektiert, zusammengeführt und bewertet. Vor diesem Hintergrund werden auf der Grundlage der empirischen Analyseergebnisse sowohl der gegenwärtige Stand der öffentlichen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit und dem Holocaust dargelegt und kommentiert, aber auch eine Prognose der künftigen Thematisierung der historischen Ereignisse entwickelt. In diesem Zusammenhang scheint es geboten, auch künftigen Forschungsbereiche der Diskurslinguistik und daraus resultierende methodologische Herausforderungen in den Blick zu nehmen.


1 Gauck, Joachim: „Rede zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2015“, in: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2015/01/150127-Bundestag-Gedenken.html [Abgerufen am: 28.08.2015].

2 Altwegg, Jürg: „Frankreich diskutiert die ersten Bücher über Littell“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.02.2008, S. 35. Hierbei handelt es sich um die Publikation „Les Melveillantes“ des französischen Historikers „Paul-Eric Blanrue“, eine Werkeinführung in Littells Roman von dem französischen Schriftsteller und Publizisten Marc Lemonier mit dem Titel „Les Bienveillantes décryptées“, sowie um eine gemeinsame Publikation des Historikers Édouard Husson mit dem Philosophen Michel Terestchenko mit dem Titel „Les Complaisantes. Jonathan Littell et l’écriture du mal“, im Rahmen derer Littells Erfolgsroman negativ kommentiert worden ist. Vgl. hierzu weiter Fn. 1463, S. 335 des Referenzhandbuches „Makrokontextuelle Dimensionen der Littell-Debatte“.

3 Eine Darstellung ausgewählter Reaktionen in überregionalen deutschen Presseorganen erfolgt in Abschnitt 5.3.2 der vorliegenden Printausgabe.

4 Vgl. Littell, Jonathan: „Die Wohlgesinnten. Aus dem Französischen von Hainer Kober“, Berlin Verlag, Berlin 2008.

5 Doerry, Martin/Leick, Romain: „Die Stimme der Henker“, in: Der Spiegel 7/2008, 11.02.2008, S. 150–153, hier: S. 152.

6 Vgl. Keller, Reiner et al. (Hrsg.): „Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band 1: Theorien und Methoden“, Westdeutscher Verlag, Opladen 2001; vgl. Keller, Reiner et al. (Hrsg.): „Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band 2: Forschungspraxis“, Leske + Budrich, Opladen 2003.

7 Vgl. Wrana, Daniel et al.: „Einleitung“, in: Wrana, Daniel et al.: „DiskursNetz. Wörterbuch der interdisziplinären Diskursforschung“, 1. Auflage, Suhrkamp Verlag, Berlin 2014, S. 7–9, hier S. 8.

8 Vgl. Wrana, Daniel et al.: „DiskursNetz. Wörterbuch der interdisziplinären Diskursforschung“.

9 Vgl. Angermuller, Johannes et al.: „Diskursforschung. Ein interdisziplinäres Handbuch“, Transcript Verlag, Bielefeld 2014.

10 http://www1.ids-mannheim.de/lexik/sprachlicherumbruch/diskursinterdisziplinaer/ [Abgerufen am: 5.09.2015].

11 Vgl. Kämper, Heidrun/Warnke, Ingo H. (Hrsg.): „Diskurs – interdisziplinär: Zugänge, Gegenstände, Perspektiven“, Walter de Gruyter, Berlin/Boston 2015.

12 Die Bezeichnung der Diskurslinguistik als Teildisziplin der Sprachwissenschaft geht auf Ingo Warnke und Jürgen Spitzmüller zurück. Vgl. Spitzmüller, Jürgen/Warnke, Ingo H.: „Diskurslinguistik. Eine Einführung in Theorien und Methoden der transtextuellen Sprachanalyse“, Walter de Gruyter, Berlin/Boston 2011, S. 1.

13 Vgl. hierzu auch in der vorliegenden Printausgabe Fn. 117, S. 71.

14 Vgl. Gerhards, Jürgen: „Konzeptionen von Öffentlichkeit unter heutigen Medienbedingungen“, in: Jarren, Otfried/Krotz, Friedrich (Hrsg.): „Öffentlichkeit unter Viel-Kanal-Bedingungen. Symposien des Hans-Bredow-Instituts. Band 18“, 1. Auflage, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden/Hamburg, 1998, S. 25–48, hier: S. 41.

15 Eine Definition der auf Ludwik Fleck zurückgehenden Begriffe des Denkkollektivs und Denkstils erfolgt in Abschnitt 1.3 des online abrufbaren Referenzhandbuchs „Wissenschaftsgeschichte des Diskursbegriffs“.

16 Vgl. Foucault, Michel: „Archäologie des Wissens. Übersetzt von Ulrich Köppen“, 1. Auflage, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1981.

17 Vgl. Foucault, Michel: „Die Ordnung des Diskurses. Mit einem Essay von Ralf Konersmann“, 10. Auflage, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2007.

18 Vgl. Fraas, Claudia/Klemm, Michael (Hrsg.): „Mediendiskurse. Bestandsaufnahme und Perspektiven“, Peter Lang (= Bonner Perspektiven zur Medienwissenschaft 4), Frankfurt am Main u. a. 2005.

19 Vgl. Fraas, Claudia/Klemm, Michael: „Diskurse – Medien – Mediendiskurse. Begriffsklärungen und Ausgangsfragen“, in: Fraas, Claudia/Klemm, Michael (Hrsg.): „Mediendiskurse. Bestandsaufnahme und Perspektiven“, S. 1–8, hier: S. 2.

20 Vgl. ebd., S. 3.

21 Vgl. Spitzmüller, Jürgen/Warnke, Ingo H.: „Diskurslinguistik. Eine Einführung in Theorien und Methoden der transtextuellen Sprachanalyse“, S. 79.

22 Von einer Rekonstruktion der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust in der Deutschen Demokratischen Republik wird in dieser Arbeit Abstand genommen, da es sich hier um einen Prozess handelt, der maßgeblich von den politischen Direktiven der kommunistischen Staatsführung geprägt war, sodass von einem pluralistischen, dynamischen Reflektieren der nationalsozialistischen Diktatur und der begangenen Gewaltverbrechen nicht gesprochen werden kann.

Details

Seiten
748
Jahr
2017
ISBN (ePUB)
9783631709177
ISBN (PDF)
9783653072129
ISBN (MOBI)
9783631709184
ISBN (Hardcover)
9783631677131
DOI
10.3726/978-3-653-07212-9
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (April)
Schlagworte
Diskurslinguistik Poststrukturalismus Vergangenheitsbewältigung Foucault Holocaust-Literatur
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 748 S., 2 farb. Abb., 20 s/w Tab.

Biographische Angaben

Britta Gries (Autor:in)

Britta Gries studierte Diplom-Sozialwissenschaften an der Universität Göttingen und arbeitete im Anschluss mehrere Jahre am Zentrum für interdisziplinäre Medienwissenschaft und am Seminar für Deutsche Philologie.

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Titel: Der Holocaust in deutschsprachigen publizistischen Diskursen
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