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Die Textsorte Rechtsbücher

Die Entwicklung der Handschriften und Drucke des Sachsenspiegels und weiterer ausgewählter Rechtsbücherhandschriften vom 13.-16. Jahrhundert

von Gabriele von Olberg-Haverkate (Autor:in)
©2017 Monographie 290 Seiten

Zusammenfassung

Gegenstand der Untersuchung ist der Objektbereich «Rechtsbuch» und seine heterogene Kategorisierung. Die Materialgrundlage bilden ausgewählte repräsentative Rechtsbücherhandschriften und keine Editionen. In vier synchronen Schnitten (um 1300, 1400, 1500, 1600) von je ca. 100 Jahren untersucht die Autorin die externen und internen Merkmale der Handschriften und Drucke, vorrangig des Sachsenspiegels, aber auch des Großen und Kleinen Kaiserrechts, des Mühlhauser Rechtsbuches und späterer Stadtrechtsbücher. Ergebnis ist die theoriebezogene Klassifikation der Textsorte «Rechtsbücher». Das besondere Kennzeichen der Textsorte ist die Art und Weise der Rechtslegitimation und das Spannungsverhältnis von Bewahren und Verändern. Seit dem 14. Jahrhundert bildeten sich verschiedene Varianten der Textsorte. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts schließlich entwickelten sich aus den Varianten drei neue Textsorten «überregionales Kaiserrecht», «regional gebundenes Stadtrecht» und «gelehrtes, universitäres Recht».

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • 1. Die Textklasse ‚Rechtsbücher‘
  • 1.1. Einführung in die Problematik
  • 1.2. Materialgrundlage, Vorgehensweise, Arbeitshypothese
  • 2. Textsortenanalyse der Land-, Lehn-, Stadtrechtsbücher, des Kaiserrechts
  • 2.1. Textklasse und Textsorte
  • 2.2. Textexterne, textinterne Merkmale, Arten der Textverbindungen
  • 2.2.1. Textexterne Merkmale
  • 2.2.2. Textinterne Merkmale
  • 2.2.3. Teiltexte und Textteile
  • 2.2.4. Textallianzen
  • 3. Sachsenspiegel Land- und Lehnrecht – Handschriften und Drucke
  • 3.1. Einführung
  • 3.2. Externe Merkmale der Handschriften und Drucke
  • 3.2.1. Externe Merkmale in Handschriften um 1300
  • 3.2.2. Externe Merkmale in Handschriften um 1400
  • 3.2.3. Externe Merkmale in Handschriften und Drucken um 1500
  • 3.2.4. Externe Merkmale in Handschriften und Drucken um 1600
  • 3.2.5. Ergebnisse der Untersuchung der externen Merkmale
  • 3.3. Interne Merkmale der Handschriften und Drucke
  • 3.3.1. Makrostrukturen
  • 3.3.1.1. Bucheinteilungen, Kapitel, Artikel, Paragraphen
  • 3.3.1.2. Prolog, Epilog und Schlusswort/Nachschrift
  • 3.3.1.3. Ausstattung und Text-Bild-Relationen
  • 3.3.1.4. Glossen
  • 3.3.1.5. Register und Textallianzen
  • 3.3.1.6. Initiatoren und Terminatoren
  • 3.3.2. Prosa – Reim, Lexik, Syntax
  • 3.3.2.1. Prosa – Reim, Lexik
  • 3.3.2.2. Syntax
  • 3.3.3. Das Verhältnis Deutsch – Latein
  • 3.3.4. Ergebnisse der Untersuchung der internen Merkmale
  • 4. Deutschenspiegel, Großes Kaiserrecht (Schwabenspiegel), Kleines Kaiserrecht (Frankenspiegel)
  • 4.1. Der Deutschenspiegel
  • 4.2. Das Große Kaiserrecht (der Schwabenspiegel)
  • 4.3. Das Kleine Kaiserrecht (der Frankenspiegel)
  • 5. Stadtrechtsbücher
  • 5.1. Das Mühlhäuser Rechtsbuch
  • 5.2. Spätere Stadtrechtsbücher
  • 6. Von der Textsorte Rechtsbücher und ihren Varianten zur Differenzierung in unterschiedliche Textsorten
  • 6.1. Beschreibung der Textsorte Rechtsbücher und ihrer Varianten
  • 6.2. Legitimationsmuster als Textsortenkriterium
  • Anhang 1: Interne Merkmale der untersuchten Sachsenspiegelhandschriften
  • Abkürzungsverzeichnis (Tabellen)
  • Anhang 2: Literaturverzeichnis
  • Anhang 3: Sach- Namen- und Wortverzeichnis
  • Reihenübersicht

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Vorwort

Gegenstand der Untersuchung sind Rechtsaufzeichnungen, „Privatarbeiten“ von Einzelpersonen, die zunächst keine rechtliche Geltung beanspruchen konnten. Sie zeichnen das göttlich gegebene Recht auf, das in der Gerichtsverhandlung angewendet wurde. Viele Rechtsbücher, allen voran der „Prototyp“ der Rechtsbücher, der Sachsenspiegel des Eike von Repgow mit noch heute mehr als 460 bekannten handschriftlichen Textzeugen, hatten eine große Wirkung und rechtliche Durchsetzungskraft. In der langen Zeit ihrer Überlieferung, mehr als 400 Jahre, wandeln sich die „privaten“ Rechtsaufzeichnungen zu autoritativen Rechtstexten. Der Weg ihrer Entwicklung von der Mitte des 13. bis zum 16. Jahrhundert soll mit den Mitteln der textlinguistischen Analyse beschrieben und dargestellt werden.

Meinen Töchtern Anna und Gwen Haverkate danke ich für ihre Hilfe bei der Manuskriptherstellung, Elisabeth Hutter gilt mein Dank für die Verlags-Korrekturen.

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1. Die Textklasse ‚Rechtsbücher‘

Die rechtshistorische Gattungsbezeichnung, linguistisch: Textklasse Rechtsbuch (rehtbuoch, rechtbuk, rechtbok, rechtbuch etc.)1 ist eine Bezeichnung, die in den Textexemplaren verwendet wird. Das Wort begegnet zum ersten Mal Ende des 13. Jahrhunderts und bezeichnet dann vor allem die „Aufzeichnung rechtlicher Materien in Buchform: private Kompilierung lokalen Rechts, die auch überregionale Wirkung entfalten kann; Gesetzessammlung; Urteilssammlung; in bayerischen Belegen meist das Landrecht von 1346.“2 Die Belege zeigen, dass es sich hier generell um Rechtsordnungen handelt, die den ländlichen Bereich (Landrechtsbücher), den Adel (Lehnrechtsbücher) oder die Städte (Stadtrechtsbücher) betreffen. Sie können sowohl private Rechtsaufzeichnungen gewohnheitsrechtlich überlieferter Ordnungen sein als auch – vor allem seit dem 15. Jahrhundert verstärkt – Rechtssetzungen. Als zweite Bedeutung unterscheiden die Bearbeiter des Deutschen Rechtswörterbuches: „Aufzeichnung von rechtlich relevanten Handlungen und Eigenschaften, insb. im städtischen Bereich“.3 Sie nennen hier vor allem Belege aus dem Ende des 14. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Die Belege betreffen im Wesentlichen Stadtrechtsbücher, Schöffensprüche.

Es geht insgesamt seit dem 14. und verstärkt im 15. Jahrhundert nicht mehr vorrangig um die Aufzeichnung deutschen Gewohnheitsrechts4, sondern auch um Aufzeichnungen des bis dahin in Deutschland noch fremden römischen Rechts. Die Aufzeichnung des Rechts in Rechtsbüchern wurde immer mehr von ausgebildeten Juristen in der Reichs-, Territorial- wie in der Stadtverwaltung übernommen; damit vermischte sich geltendes Gewohnheitsrecht mit römischem Recht.5 Als rechtsbuch werden Rechtstexte vor allem aus dem 13.–16. Jahrhundert bezeichnet, die eine sehr unterschiedliche Mischung aus Gewohnheitsrecht, gesetztem Recht und römischem Recht aufweisen und einen sehr unterschiedlichen ← 11 | 12 → soziokulturellen Geltungsbereich (Adel, Land, Stadt) haben.6 Das Hauptdefinitionskriterium der rechtshistorischen Rechtsbücherforschung begründet sich durch den Entstehungszusammenhang: Rechtsbücher gelten als Privatarbeiten.7 Die Rechtsaufzeichnungen, die von Rechtshistorikern als Rechtsbücher bezeichnet werden, enthalten im Idealfall Gewohnheitsrecht8 des Mittelalters und der Neuzeit, nicht gesetztes Recht. Sie sind laut rechtshistorischer Gattungsdefinition keine Lehrbücher und keine Rechtskommentare.9 Dennoch zeigt die Behandlung der Rechtsgangbücher und Glossen, der Abecedarien und Vokabularien bei U.-D. Oppitz, dass durch den kausalen Bezug und die Überlieferungssituation ein enger Zusammenhang zwischen Rechtsbuch und wissenschaftlicher Kommentierung und Systematisierung besteht. Die Rechtsbücher enthalten vor allem im 15. Jahrhundert Kommentierungen und Systematisierungen, sodass zu untersuchen ist, ob es sich bei diesem Textverbund nicht um ein Textsortenmerkmal von Rechtsbüchern handelt. So werden z. B. die Landrechtsglosse und die Lehnrechtsglosse immer mit dem Sachsenspiegel Land- oder Lehnrecht gemeinsam überliefert. Das gilt auch für bestimmte Begleitüberlieferungen wie z. B. für den Richtsteig Landrechts10 des Johann von Buch (gest. 1345)11 oder die Kritik des Johannes Klenkok12 (ungefähr 1310–1374) an zunächst zehn, später 21 Artikeln des Sachsenspiegels, die seiner Meinung nach im Widerspruch zum päpstlichen Recht stünden bzw. eine Urteilsfindung mit Mitteln begünstigten, die der christlichen Lehre entgegenstünden. Auch Stadtrechtsbücher treten zunehmend im Verbund mit Kommentierungen und besonderer Begleitüberlieferung wie z. B. Stadtchroniken auf. Hier fällt besonders die Magdeburger Weichbildchronik auf. Die Germanistin Ruth Schmidt-Wiegand kam aufgrund von Handschriftenanalysen zu einer über den Entstehungszusammenhang (private Rechtsaufzeichnung) hinausgehende Definition: ← 12 | 13 →

Christa Bertelsmeier-Kierst sieht in Anlehnung an den Rechtshistoriker Gerhart Dilcher14 in „dem Schlagwort ‚Verschriftlichung des Rechts‘ “15 eine unzureichende Beschreibung des Wechsels von der Oralität zu Literalität. Sie spricht von einer qualitativen Veränderung des Rechts:

„Der ‚Sachsenspiegel‘ ist keine ‚volkstümliche Aufzeichnung ritterlich-bäuerlichen Gewohnheitsrechts, kein Produkt von ‚Verschriftung‘, das sich noch unmittelbar der Sprechkultur verdankt, sondern setzt primär schriftliche Traditionszusammenhänge, vor allem aus der lateinischen Schriftkultur voraus.“16

In der Textsortenanalyse geht es somit auch um die Fragen, ob Rechtsbücher „semi-offizielle Rechtsaufzeichnungen“ sind, „die eine Vorform zu dem vom Herrscher gesetzten Recht darstellen“17; es geht um die Fragen nach der Legitimation des Rechts, dem Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Volkssprache und Latein. Den in der Rechtsgeschichte geläufigen Terminus Rechtsbücher möchte ich zunächst als „vorwissenschaftliche“ Ordnungskategorie benutzen. Sie war die historische und lange Zeit auch inhaltliche Klammer für eine Gruppe ← 13 | 14 → verwandter Textarten wie Land-, Lehnordnungen, überregionale „kaiserliche“ Rechtsordnungen und Stadtordnungen, die mit Textexemplar-Sammlungen wie Schöffenordnungen oder anderen Textsorten aus dem Bereich des Rechts, wie den kommentierenden Textsorten Rechtsgangordnungen, Rechtsglossierungen enge Textallianzen eingehen. Die kommentierenden und systematisierenden Textsorten aus dem inhaltlichen Zusammenhang der Rechtsbücher sind nicht Gegenstand dieser Untersuchung, sie werden ebenso wie das im 14. Jahrhundert entstehende Prozessrecht (Rechtsgangordnungen) nur insofern betrachtet, als sie zur Textsortenanalyse der Textexemplare aus dem Bereich der Textklasse ‚Rechtsbuch‘ beitragen.

Ich gehe von einem Objektbereich ‚Rechtsbuch‘ und seiner heterogenen Kategorisierung aus, um ihn dann von der wissenschaftlich begründeten Klassifikation abzugrenzen. Es ist dabei durchaus nicht ausgeschlossen, dass Merkmale oder die Bezeichnung der alltagssprachlichen Ordnungskategorie Eingang in die homogene theoriebezogene Klassifikation finden. Gegenstand der Untersuchung sind die Textexemplare, die Landrecht, Lehnrecht, Kaiserrecht und Stadtrecht überliefern.

Gemäß dem Inhalt der Rechtsordnungen lassen sich bereits soziale Zuordnungen in ländliche Rechtsordnungen, Rechtsordnungen mit besonderer Relevanz für den Adel, städtische Rechtsordnungen vornehmen, die sich im Laufe der Untersuchung anhand der textsortenrelevanten Merkmale bestätigen sollten. Zeitlich liegt der Schwerpunkt der Untersuchung auf dem Textvorkommen zwischen dem 13. und dem 16. Jahrhundert. Die Zeit der Rechtsbücher endet insgesamt mit den großen Rechtskodifikationen wie dem Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794, letzte Reste „verschwinden erst mit den nationalen Kodifikationen des späten 19. Jahrhundert, vor allem dem Bürgerlichen Gesetzbuch von 1896.“18

1.1. Einführung in die Problematik

Die mittelalterliche Rechtskultur war stark mündlich geprägt, gleichzeitig schöpfte sie aus dem lateinisch überlieferten Recht. Für die Zeitgenossen wurde das Recht in der Regel erst im Streitfall sichtbar.19 Eine bewusste Normsetzung erschien im Mittelalter nicht nötig: das Recht war göttlich gegeben, es kam nur darauf an, es zu finden. Mit der ‚Rechtsfindung‘ waren zunächst nicht ausgebildete Juristen, sondern Laien betraut. Die Rechtsregeln hatten sich seit Generationen tradiert. ← 14 | 15 → „Schon auf Grund der mündlichen Existenz- und Überlieferungsform von Recht waren die Normen territorial und lokal sehr unterschiedlich. Hinzu kam der Umstand, dass eine Person in eine Rechtsordnung hineingeboren wurde und diese unabhängig vom Aufenthaltsort an ihr haftete (Personalitätsprinzip).“20 Schriftliches Recht gab es seit der Antike in Form von Urkunden21, vom 5. bis zum10. Jahrhundert sind die Leges22 überliefert, mehr oder weniger vom römischen Recht beeinflusste Rechtsaufzeichnungen der germanischen Stämme in lateinischer Sprache mit volkssprachigen Einschüben. Sie werden in der Karolingerzeit ergänzt durch die Kapitularien, die ihren Namen durch die makrostrukturelle Ordnung in Kapitel erhielten. Die Kapitularien waren schriftliches Königsrecht, das allerdings nur im Rahmen „der bestehenden Gewohnheitsrechtsordnung“23 agieren konnte. In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts begann in Deutschland mit den privaten Niederschriften des Mühläuser Rechtsbuches (1224–1230)24 und des Sachsenspiegels (um 1225)25 eine umfassende Verschriftlichung des Rechts. Dieser Prozess steht im Zusammenhang mit der Rechtsverschriftlichung in ganz Europa, der in Italien durch die Wiederentdeckung des römischen Rechts, der Digesten des Kaisers Justinian, im 12. Jahrhundert angestoßen wurde. „Überall ging es darum, das bis dahin nur mündlich überlieferte Gewohnheitsrecht durch die Aufzeichnung zu fixieren, zu objektivieren und, einem Modell gleich, verfügbar zu machen.“26

Die Kategorie Rechtsbuch schließt in der rechtshistorischen Kategorisierung sowohl Land- und Lehnrechtsbücher, Stadtrecht/Weichbildrecht, Schöffensprüche und „Kaiserrecht“ ein – soweit es sich hier nicht um Gesetzgebung, sondern um privatrechtliche Aufzeichnungen handelt, wie z. B. beim Großen Kaiserrecht (Schwabenspiegel) und beim Kleinen Kaiserrecht (Frankenspiegel). Eine Scheidung zwischen gesetztem Recht, römischem Recht, Gewohnheitsrecht bzw. ← 15 | 16 → Rechtsgewohnheiten27 ist in Bezug auf die Rechtsbücher ganz offensichtlich nicht immer möglich. Schaut man in die Arbeit von U.-D. Oppitz, Deutsche Rechtsbücher des Mittelalters28, so sind dort folgende Rechtsbüchergruppen aufgelistet: A. Land- und Lehnrechtsbücher: I. Sachsenspiegel mit den Sonderformen: Görlitzer Rechtsbuch, Breslauer Landrecht, Livländischer Spiegel (Land- und Lehnrecht), Holländischer Sachsenspiegel; II. Deutschenspiegel; III. Schwabenspiegel; IV Kleines Kaiserrecht (Frankenspiegel); V. Burger Landrecht; VI. Landlauf von Steyr; VII. Zipser Willkür; B. Stadtrechtsbücher: I. Mühlhäuser Rechtsbuch; II. Magdeburger Rechtsbücher; III. Schöffenspruchsammlungen; IV. Zwickauer Rechtsbuch; V. Meißner Rechtsbuch; VI. Elbinger Rechtsbuch; VII. Liegnitzer Stadtrechtsbuch; IX. Freisinger Rechtsbuch; X. Wiener Stadtrechtsbuch; XI. Ofener Stadtrechtsbuch; XII. Neumarkter Rechtsbuch; XIII. Löwenberger Rechtsbuch, XIV. Berliner Schöffenrecht; XV. Silleiner Stadtrechtsbuch; XVI. Glogauer Rechtsbuch; XVII. Salzwedeler Rechtsbuch. Weitere Stadtrechtsbücher führt U.-D. Oppitz unter F. Verschiedene Stadtrechte auf: I. Stadtrecht Wiener Neustadt; II. Preßburger Stadtrechtsbuch; III. Freiberger Stadtrechtsbuch; IV. Frankenberger Stadtrechtsbuch; V. Brünner Rechtsbuch (auch: Brünner Schöffenbuch); VI. Stadtrecht von Goslar; VII. Stadtrecht von Augsburg; VIII. Stadtrecht von München; IX. Rechtsbuch von Briel; X. Stadtrecht von Pettau; XI. Rechtsbuch der Stadt Herford; XII. Rudolfsbuch. Dazwischen aber führt er unter C. und D. kommentierende Rechtstexte auf: C. Rechtsgangbücher; D. Glossen, die in der Regel seit dem Ende des 14. Jahrhunderts in enger Verbindung mit Land-, Lehn- oder Stadtrechtsbüchern überliefert werden. In Kapitel E. Sammelwerke wird der Textverbund bzw. der Textbezug zum Ordnungskonzept: I. umfasst die Verbindung mehrerer Rechtsbücher; II. – IV. vorwiegend systematisierende Textsorten wie die Rechts-Abecedarien (II.), die Remissorien (III.) oder Vokabularien (IV).29 Bei einer derart weitgefassten, entstehungsgeschichtlich motivierten (privaten, semi-offiziellen) Ordnungskategorie verwundert es nicht, dass die Materialgrundlage sehr heterogen ist. ← 16 | 17 →

Aufgrund der rechtshistorischen Forschung lässt sich an dieser Stelle zusammenfassen: Die Textklasse Rechtsbücher ist sehr vielfältig, sie erscheint zum Teil völlig heterogen und unvereinbar, weil sie sich von ihren Ursprüngen im 13. Jahrhundert signifikant entfernt zu haben scheint.30 Deshalb stellt sich bei dieser Untersuchung sehr zugespitzt die Frage: Kann man überhaupt von einer Textsorte ‚Rechtsbuch‘ ausgehen? Wie kann man sie beschreiben, welche Kriterien sind signifikant? Um diese Fragen zu beantworten, werden ausgewählte Textexemplare der Textklasse Rechtsbücher vom 13. bis zum 16. Jahrhundert durch vier synchrone Schnitte analysiert.31 Ich beschränke mich in dieser Untersuchung nur auf Rechtsbücher in einem engeren Sinne: Land-, Lehn-, Stadtrechtsbücher und überregionale Rechtsbücher wie z. B. den Deutschenspiegel und das Große und Kleine Kaiserrecht. Abgrenzungen gegenüber Rechtsgangbüchern, Glossen, Abecedarien und Remissiorien z. B. müssen einer weiteren Untersuchung vorbehalten bleiben.

1.2. Materialgrundlage, Vorgehensweise, Arbeitshypothese

Als Materialgrundlage gehe ich von einem Handschriftenkorpus aus, wie es U.-D. Oppitz32 in der Nachfolge von C. G. Homeyer, C. Borchling, K. A. Eckhardt und J. v. Gierke33 zusammengestellt und beschrieben hat. U.-D. Oppitz listet 1673 Handschriften deutscher Rechtsbücher auf, darunter auch die bei C. G. Homeyer erwähnten und im Weltkrieg zerstörten oder verschollenen.34 Einige Handschriftenstandorte sind inzwischen bekannt geworden.35 Die vorliegende Analyse vereint Textexemplare aus sehr unterschiedlichen sozialen Zusammenhängen und auch mit einer unterschiedlichen Entwicklungsgeschichte, die aber im 13. Jahrhundert gemeinsame Wurzeln haben.Es können nicht alle Handschriften und ← 17 | 18 → frühen Drucke im Original berücksichtigt werden. An dieser Stelle wird zunächst eine Auswahl der Handschriften und Drucke getroffen, im Mittelpunkt stehen die Sachsenspiegelhandschriften. Vertreten ist Nord- und Mitteldeutschland mit ausgewählten Sachsenspiegelhandschriften und -drucken. Als Stadtrechte ziehe ich das Mühlhäuser Rechtsbuch hinzu, weil es das erste deutschsprachige Rechtsbuch ist; weitere spätere Stadtrechtsbücher behandele ich nur überblicksartig. Durch den exemplarischen Blick auf die Kaiserrechte ist der süddeutsche Raum repräsentiert.

Die vier synchronen Untersuchungsschnitte umfassen jeweils ca. 100 Jahre. Ich setzte sie von der Mitte des 13. bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts an (= um 1300), von der Mitte des 14. bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts (= um 1400), von der Mitte des 15. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts (= um 1500) und von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts (= um 1600) an. Damit habe ich eine repräsentative Auswahl vor allem von Handschriften, aber auch von Drucken zum Land- und Lehnrecht des Sachsenspiegels. Er steht im Vordergrund dieser Analyse. Exemplarisch ziehe ich Handschriften des Deutschenspiegels, des Großen Kaiserrechts (Schwabenspiegel), des Kleinen Kaiserrechts (Frankenspiegel), des Mühlhäuser Stadtrechtsbuches hinzu. Weitere Stadtrechtsbücher werden zum Vergleich und zur Vervollständigung in einigen Punkten (z. B. vergleichend in Bezug auf die Syntax Kap. 3.3.2.2. und Kap. 5.) herangezogen, aber nicht ausführlich untersucht.

Die Materialgrundlage bilden ausgewählte repräsentative Rechtsbücherhandschriften und keine Editionen. Das Untersuchungsziel ist nicht die rein induktive Gattungs- bzw. Textklassenbeschreibung, sondern die Untersuchung strebt vielmehr eine Textsortenbestimmung der überlieferten, auf den ersten Blick äußerst heterogenen Rechtsbuchhandschriften des 13. bis 16. Jahrhunderts an. Der lange Zeitraum, der durch vier synchrone Schnitte erschlossen wird, ermöglicht die Feststellung von Kontinuität und Wandel. Ausgangspunkt ist die vortheoretische Textklasse ‚Rechtsbücher‘. Aufgrund der Fülle der überlieferten Textexemplare (mehr als 1000) ist eine Auswahl nötig, deshalb kann eine Textsortenbestimmung nur annähernd durchgeführt werden.

Rechtsbücher markieren in besonderer Weise den Übergang von der mündlichen Rechtstradition zu einer immer weitere Bereiche umfassenden schriftlichen Rechtskultur36. Es wundert in keiner Weise, dass mit dem Wandel des Mediums auch grundsätzlich ein Wandel der Rechtskultur verbunden ist.37 Das Verhältnis ← 18 | 19 → zum Recht wandelt sich. In der Vorstellung der ursprünglich privat motivierten Rechtsbücher wie in der mündlichen Tradition ist das von Gott gegebene Recht vorhanden, es muss nur gefunden werden. So schreibt es Eike von Repgow im Vorwort „seines“ Sachsenspiegels. Ruth Schmidt-Wiegand sieht in der Fixierung, Objektivierung und Modellfunktion des Rechts die wesentliche Motivation für die im 13. Jahrhundert beginnenden Verschriftlichungsprozesse.38 Christa Bertelsmeier-Kierst geht vor allem von einem Bedürfnis nach kontrollierbarem Recht und nach der Veränderbarkeit von Recht als Motivation für die Rechtsaufzeichnungen aus.39

Es stellen sich textsortenrelevante Fragen: Warum wurde das bisher mündlich und gewohnheitsrechtlich existierende Recht aufgezeichnet? Setzen die volkssprachigen Rechtsbücher primär schriftliche, vor allem lateinische Traditionszusammenhänge voraus? Welche Motivation steht hinter den Rechtsaufzeichnungen? In welcher Weise sind diese zunächst nicht durch einen Gesetzgeber autorisierten Rechtstexte legitimiert? Ändert sich die Art und Weise der Rechtslegitimation? Die Untersuchung des hier gewählten exemplarischen Textkorpus richtet ihr Interesse nicht nur auf die Beschreibung und Entwicklung formaler und inhaltlicher Kriterien, sondern möchte das Augenmerk auch auf einen größeren, vieldiskutierten Zusammenhang richten: das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit und die damit verbundene Legitimation des Rechts.


1 Deutsches Rechtwörterbuch, Bd. XI, Artikel Rechtsbuch, Sp. 325–326.

2 Ebenda, Sp.325.

3 Ebenda, Sp. 326.

4 Vgl. auch die Beiträge in: G. Dilcher, H. Lück, R. Schulze, E. Wadle, J. Weitzel, U. Wolter, (Hgg.), Gewohnheitsrecht und Rechtsgewohnheiten im Mittelalter.

5 Vgl. zur Rezeption des römischen Rechts: H. Kiefner, Artikel ‚Rezeption‘ (privatrechtlich), Sp. 970–984; M. Stolleis, Artikel ‚Rezeption‘ (öffentlich-rechtlich), Sp. 984–995; H. Lange, Römisches Recht im Mittelalter, Bd. I und H. Lange, M. Kriechbaum, Römisches Recht im Mittelalter, Bd. II, S. 253f. (Rezeption in Deutschland: z. B. Johann von Buch und Nikolaus Wurm).

6 Vgl. auch: H. S. Hayduk, Rechtsidee und Bild, S. 6.

7 Vgl. die Beschreibung im Deutschen Rechtwörterbuch, Bd. XI, Artikel ‚Rechtsbuch‘, Sp. 325–326: „Aufzeichnung rechtlicher Materien in Buchform: private Kompilierung lokalen Rechts, die auch überregionale Wirkung entfalten kann…“.

8 Vgl. zur terminologischen Differenzierung von Gewohnheitsrecht und Rechtsgewohnheit: G. Dilcher, Mittelalterliche Rechtsgewohnheiten als methodisch-theoretisches Problem, S. 29.

Details

Seiten
290
Jahr
2017
ISBN (ePUB)
9783631712160
ISBN (PDF)
9783653054576
ISBN (MOBI)
9783631712177
ISBN (Hardcover)
9783631659809
DOI
10.3726/978-3-653-05457-6
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Mai)
Schlagworte
Sachsenspiegel Mühlhauser Rechtsbuch Kleines Kaiserrecht Großes Kaiserrecht Rechtslegitimation Mündlichkeit – Schriftlichkeit
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 290 S., 50 s/w Tab.

Biographische Angaben

Gabriele von Olberg-Haverkate (Autor:in)

Gabriele von Olberg-Haverkate studierte Germanistik, Soziologie, Geschichte und Publizistik in Münster. Sie wurde promoviert in Münster, habilitierte sich an der FU in Berlin und lehrte in Berlin, Münster und Heidelberg.

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