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Reflexionen über Entfremdungserscheinungen in Christa Wolfs «Medea. Stimmen»

von Yildiz Aydin (Autor:in)
©2016 Dissertation 190 Seiten

Zusammenfassung

Entfremdung erscheint im Gesamtwerk der DDR-Autorin Christa Wolf als ein wichtiges und ständig wiederkehrendes Thema. Die Christa Wolf-Forschung hat jedoch die zentrale Bedeutung der Entfremdung für Leben und Werk der Autorin bislang wenig beachtet. Diese Studie geht der Frage nach, wie sich die Autorin mit ihrer eigenen Entfremdungserfahrung auseinandergesetzt hat und ob in ihrer zweiten Mythos-Bearbeitung «Medea. Stimmen», die nach der Wiedervereinigung publiziert wurde, Entfremdungserscheinungen festzustellen sind. Mit Hilfe der hier angewandten Entfremdungstheorie des amerikanischen Soziologen Melvin Seeman: «powerlessness», «meaninglessness», «normlessness», «isolation» und «self-estrangement», zeigt Yıldız Aydın, dass nicht nur Medea, sondern fast alle literarischen Figuren im Roman in unterschiedlicher Abstufung eine bestimmte Entfremdung erfahren, über die sie zum Teil selbst reflektieren.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhalt
  • Einleitung
  • 1. Der Begriff der Entfremdung
  • 2. Forschungsbericht
  • 3. Zielsetzung und Aufbau der Arbeit
  • I. Christa Wolf und die Konflikte im kulturpolitischen Klima unter besonderer Berücksichtigung der Entfremdung
  • I.1 Ablehnung der Bitterfelder Poesie
  • I.2 Kahlschlag: Angriff auf Entfremdung
  • I.3 Kritik an den „Teilhabern des Entfremdungsmonopols“: Der VI. Schriftstellerkongress
  • I.4 „Das Motiv des Sich-selber-fremd-Werdens“: Wolf Biermanns Ausbürgerung
  • I.5 „Heute drückt mir dieses ganze Land auf meine Schultern“: Die Ausschließung von neun Autoren aus dem Schriftstellerverband
  • I.6 Selbstzensur und Selbstentfremdung
  • I.7 Die Wiedervereinigung: „Entfremdung folgt auf Entfremdung“
  • II. Hinwendung zum Mythos als Projektion der Entfremdung
  • II.1 Kassandra – „Das unheimliche Wirken von Entfremdungserscheinungen“
  • II.2 Medea
  • II.2.1 Die euripideische Medea
  • II.2.2 Medea vor der Zeit von Euripides
  • II.2.3 Medea-Bearbeitungen im 20. Jahrhundert
  • II.2.4 „Die Erfahrung der neuen Entfremdung“: Medea
  • III. Die subjektive Erfahrung der Entfremdung
  • III.1 Melvin Seemans fünf Bedeutungen der Entfremdung
  • III.2 Seemans Theorie und die figurenperspektivische Entfremdungserfahrung
  • IV. Die figurenperspektivische Erfahrung von Entfremdung in Medea. Stimmen
  • IV.1 Politische Entfremdung
  • IV.1.1 Medea: powerlessness, normlessness, isolation
  • IV.1.2 Jason: meaninglessness
  • IV.1.3 Agameda: normlessness
  • IV.1.4 Akamas: normlessness
  • IV.1.5 Glauke: meaninglessness
  • IV.1.6 Leukon: powerlessness, isolation, self-estrangement
  • IV.2 Kulturelle Entfremdung
  • IV.2.1 Medea: powerlessness, normlessness, isolation, self-estrangement
  • IV.2.2 Jason: normlessness, isolation, self-estrangement
  • IV.2.3 Agameda: normlessness, isolation
  • IV.2.4 Akamas: normlessness, isolation
  • IV.2.5 Glauke: meaninglessness, isolation, self-estrangement
  • IV.2.6 Leukon: powerlessness, isolation, self-estrangement
  • Schlussbetrachtung
  • Literaturverzeichnis
  • Primärliteratur
  • Sekundärliteratur

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Einleitung

1.    Der Begriff der Entfremdung

Nicht nur in Medea. Stimmen1, sondern in vielen anderen literarischen Arbeiten hat sich Christa Wolf mit Entfremdungserscheinungen befasst. Bereits in Der geteilte Himmel (1963) lässt sie ihre Romanheldin, die Pädagogikstudentin Rita Seidel, sagen: „Man ist auf schreckliche Weise in der Fremde“2. Auch die an Leukämie erkrankte Christa in Christa T. (1968) stellt in ihrer Ausweglosigkeit erschüttert fest: „Mir steht alles fremd wie eine Mauer entgegen. Ich taste die Steine ab, keine Lücke. Was soll ich es mir länger verbergen: Keine Lücke für mich.“3 Und in der Erzählung Kein Ort. Nirgends (1979), in der eine fiktive Begegnung Heinrich von Kleists mit Karoline von Günderrode konstruiert wird, ist Kleist geradezu von einer unentrinnbaren Weltfremdheit überwältigt: „Es wird dahin kommen, daß die Kinder meine Weltfremdheit belachen.“4 Bereits der erste Satz in Kindheitsmuster (1976) weist auf eine bestimmte Beziehung zwischen der Vergangenheit und Fremdheit: „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“5 Ebenso stößt man in ihrer ersten Mythos-Bearbeitung Kassandra (1983) auf eine Fülle von Entfremdungserscheinungen, die besonders die Stimme Kassandras betreffen. Vom Gott Apollon mit der Sehergabe beschenkt, jedoch ihrer Glaubwürdigkeit beraubt, ist es Kassandra nicht mehr möglich, sich mit ihrer eigenen Stimme zu identifizieren, weil aus ihr immer wieder eine „fremde Stimme“6 spricht. ← 11 | 12 →

Diese Beispiele verdeutlichen, dass sich Christa Wolf dem Problem der Entfremdung schon früh genähert hat. In einem Interview mit Jaqueline Grenz im Jahr 1983 markiert die Autorin in diesem Zusammenhang den Beginn ihrer Auseinandersetzung mit den Entfremdungserscheinungen:

In den späteren Büchern – „Kein Ort. Nirgends“ und „Kassandra“ – erinnere ich (mich) an etwas: an die Ursprünge der Entfremdungserscheinungen in unserer Zivilisation. Dies war meine Fragestellung der letzten sieben Jahre.7

Man könnte leicht fehlgehen in der Annahme, dass sie sich Ende der 70er Jahre, also unmittelbar nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns, diesem Thema zugewendet hat. Drei Jahre zuvor jedoch bemerkt Christa Wolf in einem Gespräch mit Hans Kaufmann Bezug nehmend auf ihre Erzählung Selbstversuch8 (1972) ausdrücklich: „Es geht um nicht mehr und nicht weniger als die Überwindung von Entfremdung“9. Die Erzählung – sie behandelt die Verwandlung einer jungen Ärztin der Physiopsychologie in einen Mann im Namen des wissenschaftlichen Fortschritts – war ursprünglich für eine Anthologie konzipiert worden, in der sich verschiedene Schriftsteller mit dem Thema Geschlechtertausch produktiv auseinandersetzen wollten. Das Experimentieren an der Geschlechtsumwandlung einer Frau, wie sie hier vergegenwärtigt wird, löst in der Ärztin sukzessive eine Geschlechtsentfremdung aus, so dass sie frühzeitig diesem Experiment ein Ende setzt. Selbstversuch kann man durchaus als eine Geschichte lesen, die ein solches wissenschaftliches Experiment infrage stellt, insofern es „humane Bezüge“10 außer Acht lässt. Entfremdung vom eigenen Geschlecht, der Zeit, dem Ort, von sich selbst oder der eigenen Stimme sind ein immer wiederkehrendes Thema der Erzählerin Christa Wolf, das in unterschiedlichen Formen und Konstellationen dargestellt wird, und dies ist auch in der Forschung durchaus gesehen worden. Es ist deshalb sinnvoll, das Problem der Entfremdung bei Christa Wolf näher zu untersuchen.

Der Begriff der Entfremdung (lat. alienatio, engl. alienation, franz. alienation) findet in der Theologie, Philosophie, Soziologie und Psychologie Verwendung. Nach Siegfried Blasche wurde er in der Scholastik und Mystik „wertfrei ← 12 | 13 → für Trennung, aber auch pejorativ für den Abfall von Gott oder positiv für die Abkehr von den irdischen Dingen“11 benutzt, ebenso als ‚alienatio mentis‘, um eine Geistesverwirrung12 zum Ausdruck zu bringen. Größere Bedeutung erhält der Begriff erst in der Philosophie der Neuzeit. Für J. J. Rousseau entsteht Entfremdung durch den Übergang des Menschen vom Naturzustand in ein Gesellschaftssystem. Während die Freiheit des Individuums durch seine Abhängigkeit von der Natur nicht verhindert werde, führe die Abhängigkeit von der Gesellschaft zu einer Diskrepanz „zwischen dem faktischen Sein des Menschen, sozusagen seiner ‚wahren‘ Persönlichkeit, und dem Bild seiner selbst, das er zu schaffen trachtet“.13 In einem anderen Sinne versteht Rousseau den Begriff der Entäußerung als vollkommene Entfremdung (alienation totale), womit er die freie Zustimmung des Individuums (volonté générale) zur Einschränkung seiner natürlichen Freiheit durch einen Gesellschaftsvertrag (contrat social), und zwar zugunsten der bürgerlichen Gleichheit und Freiheit, meint. Es geht um die Übergabe der natürlichen Rechte und Freiheit des Menschen an die Gesellschaft, die hier eine vollkommene Entfremdung bewirke.

G. W. F. Hegel betrachtet die Entfremdung zunächst als Prozess der Entäußerung in der Arbeit. Einerseits habe die Arbeit eine Funktion der Vermittlung zwischen Mensch und Natur, andererseits habe sie jedoch zur Folge, dass der Mensch sich von der objektiven Welt des Geistes entfremdet. Erst durch die Erkenntnis der Entfremdung bzw. des Selbstverlustes sei es dem Menschen möglich, sein Selbstbewusstsein zu entwickeln. Die Entfremdung wird als eine notwendige Durchgangsphase zur Selbstverwirklichung verstanden. Hegel verwendet den Terminus Entfremdung auch für den Zustand der Selbstentfremdung, in dem der mit Gott gleichgesetzte Geist, durch Denken zum Selbstbewusstsein gelange und somit die Entfremdung überwinde. Die Entfremdung des Geistes von sich selbst steht bei Hegel mit dem „Streben des Geistes nach Selbstverwirklichung“14 in Verbindung.

Karl Marx greift das Problem der Entfremdung bei Hegel auf und führt den Begriff in die Sozialwissenschaften ein. Im Mittelpunkt seines Entfremdungsverständnisses steht die Entfremdung des Arbeiters von seinem Produkt. Marx ← 13 | 14 → kritisiert an Hegel, dass die Entfremdung nur im Gedanken aufzuheben sei. Ihm zufolge resultiert die Entfremdung aus dem kapitalistischen System, und nur durch „die Abschaffung des Privateigentums und des Profits, beseitig[e] der Kommunismus die Entfremdung der menschlichen Arbeit und die ‚Verdinglichung‘ der sozialen Beziehungen“15. Innerhalb der marxistischen Bewegung wurde in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts über den Begriff „Entfremdung“ viel diskutiert und besonders von nicht-orthodoxen Marxisten verwendet, um den real existierenden Sozialismus zu kritisieren, weil die Möglichkeit von Entfremdung in sozialistischen Ländern bestritten wurde.16

In der Psychologie und Sozialpsychologie taucht der Begriff im Zusammenhang mit Depersonalisation, Entpersönlichung und Anomie auf: „Zwischen Ich und Erlebnis schiebt sich ein Abstands- oder Unwirklichkeitsgefühl, das die eigenen Handlungen wie die eines Fremden empfinden läßt“.17 Auch infolge von aktuellen Katastrophen wie Massenarbeitslosigkeit, atomaren und ökologischen Bedrohungen und der Technisierung kann Entfremdung als „das Gefühl der Ohnmacht gegenüber anonymen Großorganisationen und Informationsmonopolen“18 entstehen. Die psychologischen Untersuchungen zum Begriff der Entfremdung zeigen, dass hier zwei Aspekte der Entfremdung beachtet werden: Entfremdung als Prozess und Entfremdung als Zustand. Axel T. Paul unterscheidet „den Prozeß, der materiellen oder sozialen Umwelt oder auch sich selbst fremd zu werden, und den Zustand, sich der Natur, den Artefakten, den Mitmenschen oder sich selbst gegenüber fremd zu fühlen“.19 Es wird vorausgesetzt, dass der Begriff der Entfremdung „eine diesem Prozeß oder Zustand vorausliegende und gegebenenfalls wiederherzustellende Einheit von empfindendem Subjekt und erlebter ← 14 | 15 → Umgebung“ impliziert.20 Ähnlich argumentiert Joachim Israel, der zwischen soziologischer und psychologischer Ebene der Entfremdung unterscheidet:

Auf soziologischer Ebene kann man versuchen, die sozio-ökonomischen Prozesse zu beschreiben und zu analysieren, die auf den einzelnen und auf seine Rolle in der Gesellschaft einwirken. Eine wichtige Aufgabe ist es dabei, im Rahmen einer gegebenen gesellschaftlichen Struktur die Prozesse zu erforschen, die Einfluss auf die Beziehung des einzelnen zu seiner Arbeit sowie auf seine gesellschaftlichen Beziehungen und auf seine Beziehungen zur Objekt-Welt ausüben. Auf psychologischer Ebene kann versucht werden, die psychischen Erfahrungen zu beschreiben und zu analysieren, die aus den Beziehungen des Individuums zu Personen und zu Objekten resultieren. Man kann ebenso der Frage nachgehen, wie der einzelne seine eigenen Existenzbedingungen in der Gesellschaft empfindet, die durch gesellschaftliche Prozesse der Entfremdung gekennzeichnet ist. Im ersten Fall beobachten wir entfremdende Prozesse, im zweiten Zustände der Entfremdung.21

Von dieser Begriffsbestimmung ist der Weg zu Christa Wolfs Erzählungen und Romanen nicht mehr weit. Christa Wolf hat in allen ihren Werken und besonders in Medea. Stimmen psychische Zustände der Entfremdung dargestellt, indem sie die Erfahrungen, Empfindungen und Gefühle des Subjekts sowie seine Existenzbedingungen in der Gesellschaft beschrieben hat, die auf bestimmte sozio-ökonomische und kulturpolitische Prozesse zurückgeführt werden können.

2.    Forschungsbericht

Christa Wolfs Roman Medea. Stimmen ist seit seinem Erscheinen 1996 vielfach literaturgeschichtlich, komparatistisch und mythengeschichtlich untersucht worden.

Komparatistische Untersuchungen lassen sich unter drei Aspekten näher beschreiben. Zum einen beziehen sie sich auf den Vergleich zwischen der Medea-Bearbeitung Christa Wolfs und einer anderen Mythos-Bearbeitung von anderen Autoren. Eleni Georgopoulou unternimmt eine vergleichende Studie22, indem sie Christa Wolfs Medea. Stimmen und Evjenia Fakinus Das siebte Gewand unter dem Aspekt der kulturkritischen Haltung der deutschen und der griechischen Autorin analysiert, die mit der Literarisierung eines antiken Mythos verbunden sei. Christa Wolfs Medea-Mythos und Evjenia Fakinus Demeter-Kore-Mythos ← 15 | 16 → thematisieren Georgopoulou zufolge die Kultur im Veränderungsprozess und vergegenwärtigen die „Kritik an der westlichen Kultur“. Ortrud Gutjahr23 vergleicht in ihrem Beitrag Christa Wolfs Medea. Stimmen mit Botho Strauß’ Ithaka und stellt trotz Bearbeitung unterschiedlicher mythologischer Stoffe einige Parallelen fest; nach Gutjahr standen beide Autoren nach der Wende mit Veröffentlichung ihrer Texte Was bleibt (1990) und Anschwellender Bockgesang (1993) im Mittelpunkt ästhetischer und politischer Debatten. Gemeinsam sei der Medea-Bearbeitung Wolfs und der Odysseus-Bearbeitung von Strauß die Thematisierung der Fremdheitsproblematik, die mit der Wiedervereinigungsproblematik verknüpft werde. Gutjahr macht auf den kulturkritischen Aspekt dieser Werke aufmerksam, auf die Opfer, die der Kulturprozess fordere. Die Mythenbearbeitung beider Autoren wird als „Gestaltung einer Schwellenerfahrung“ bewertet und als solche anhand von Arnold van Genneps Übergangsriten interpretiert. Unter dem Aspekt der Aktualisierung des Mythos vergleicht Inge Stephan24 Christa Wolfs Medea. Stimmen und Die märkische Argonautenfahrt von Elisabeth Langgässer. Sie hält fest, dass es bei der Bedrohung nationaler Identität vermehrt zu mythischen Rekursen komme und dass in den letzten Jahrzehnten eine „Boomzeit“ des Mythischen erkennbar sei. In der Wiederbelebung des Mythischen zeige sich, so Stephan, oft eine Auseinandersetzung mit dem Faschismus nach 1945 und Fragen der Herkunft würden verhandelt. Dabei gehe es mehr um die Wiederbelebung alter Geschlechterbilder als neue ‚nationale‘ Identitäten und im konkreten Fall um Vorstellungen von Mütterlichkeit im Sinne von „Fürsorglichkeit“ und „Aufopferung“.

Zum anderen beschäftigen sich einige komparatistische Arbeiten mit der Medea- und Kassandra-Bearbeitung Christa Wolfs: Karin Birge Büch25 bearbeitet Christa Wolfs Umgang mit den Mythen, indem sie Parallelen zwischen ← 16 | 17 → Kassandra und Medea. Stimmen herausarbeitet. Als charakteristisch für den Mythenumgang Wolfs sieht sie zwei entgegensetzte Betrachtungen: die Kritik am literarisierten Mythos und das Sprechen einzelner Figuren, wobei sie ersteres als Entmythologisierung und das zweite als Remythologisierung versteht. Sie diskutiert das Sündenbock-Motiv unter Berücksichtigung des Menschen als ‚homo sacer‘ im Sinne von Giorgo Agamben und stellt fest, dass in Kolchis und Korinth drei wichtige Merkmale der Ausgrenzung zu erkennen sind: Geschlecht, Abstammung und Wissen. Hervorgehoben wird ebenfalls die Ähnlichkeit der Zeitengrenze in beiden Werken, die den Wechsel der Machtstrukturen kennzeichne.

Corinna Viergutz und Heiko Holweg26 untersuchen utopische Elemente in Kassandra und Medea. Stimmen von Christa Wolf. Nach einem Vergleich der Utopieentwürfe beider Mythenadaptionen stellen die Autoren fest, dass sich in beiden Mythenprojekten Wolfs gleiche Utopievorstellungen erkennen lassen, die mit dem Traum einer Rückkehr zum matriarchalen Ursprung zusammenhängen. Gleichzeitig wird der Unterschied zwischen Kassandra und Medea damit begründet, dass die in Kassandra formulierte Gewissheit der Hoffnung in Medea. Stimmen aufgegeben wird.

Anknüpfend an die These von Thorsten Wilhelmy, der die Widersprüchlichkeit in Christa Wolfs Kassandra damit begründet, dass die Autorin einerseits der Verschleierung im Mythos auf den Grund gehe, andererseits aber in ihrer Rezeptionsweise selbst eine Verschleierung anstrebe, unternimmt Ulrich Krellner27 den Versuch, Wilhelmys These mit Blick auf die inneren und äußeren Verhältnisse zu ergänzen. Krellner liest die Mythenprojekte Wolfs als eine „Deckerzählung“. Neben der Thematisierung des Kampfes um die Emanzipation der Frau, behandle Wolf in Kassandra gleichzeitig den Kampf um die Integrität der Intellektuellen in der DDR, in Medea. Stimmen gehe es ihr um die Verteidigung ihrer persönlichen Integrität. Er kommt zu dem Schluss, dass die Mythenadaptionen Christa Wolfs die Bedeutung einer Ersatzhandlung haben, in der die Autorin „ihre in Bedrängnis gekommene Integrität und Autonomie“ aufrechtzuerhalten versuche. ← 17 | 18 →

Zum Schluss gibt es vergleichende Untersuchungen zu den Medea-Bearbeitungen von Christa Wolf und anderen Schriftstellern: In Das Drama der Geschichte bei Heiner Müller und Christa Wolf vergleicht Daniela Colombo28 das Geschichtsbild in den Medea-Bearbeitungen von Christa Wolf und Heiner Müller. Ausgehend von ähnlichen Erfahrungen, der Zugehörigkeit zur gleichen Generation und vom gleichen Lebensort der Autoren, hebt Colombo hervor, dass beide Autoren Kritik an der westlichen Zivilisation üben. Unter dem „Drama der Geschichte“ wird die „Vorstellung eines Kontinuums von Gewalt, Ausschluss und Unterdrückung“ verstanden, die in beiden Werken dargelegt werde. Während jedoch bei Müller „Geschichte als Kreislauf von Gewalt“ hervortrete, erscheine bei Christa Wolf „Geschichte als Ausschluss und Unterdrückung“.

In einer anderen vergleichenden Studie beleuchten Astrid Messerschmidt und Eva Peters29 die Ähnlichkeiten der Medea-Bearbeitungen von Ursula Haas und Christa Wolf. Ausgangspunkt für beide Schriftstellerinnen ist die Veränderung des Medea-Mythos durch Euripides, beide lehnen die Anschuldigung „Kindsmörderin“ ab und nähern sich der Figur mit einer gewissen Skepsis an; ihre Absicht ist, hinter den Überlieferungen eine andere Medea vorzufinden. Medea wird als „paradigmatische Figur der Fremdheit“ erkannt. Die Neuinterpretationen der beiden Autorinnen spiegeln „Antagonismen weiblicher Existenz zwischen Ausgrenzung, Assimilation, Resignation und Widerstand“ wider.

Details

Seiten
190
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783631713495
ISBN (ePUB)
9783631713501
ISBN (MOBI)
9783631713518
ISBN (Hardcover)
9783631698440
DOI
10.3726/978-3-631-71349-5
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (November)
Schlagworte
Mythos-Bearbeitung DDR Sozialpsychologie
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2016. 190 S.

Biographische Angaben

Yildiz Aydin (Autor:in)

Yıldız Aydın studierte an der Atatürk Universität Erzurum Deutsche Sprache und Literatur und promovierte am Institut für Neuere Deutsche Literaturgeschichte an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen. Sie arbeitet als Assistant Professor an der Namık Kemal Universität und ist Institutsleiterin für Deutsche Sprache und Literatur.

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