Lade Inhalt...

Die Causa «Blinkfüer» und die Grundrechtsdogmatik zur Pressefreiheit in Weimar und Bonn

von Lena Darabeygi (Autor:in)
©2017 Dissertation IX, 231 Seiten
Reihe: Rechtshistorische Reihe, Band 466

Zusammenfassung

Diese rechtshistorische Studie behandelt den «Blinkfüer»-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, der weitreichende Bedeutung für die Pressefreiheit hatte. Dazu untersucht die Autorin unveröffentlichte Gerichtsentscheidungen zum Fall. Neben der Kontextualisierung des Rechtsstreits in die gesellschaftspolitischen Debatten der 1960er Jahre erfolgt ein Rückblick auf die Wissenschaftsgeschichte, insbesondere die Grundrechtslehre des Weimarer Staatsrechtslehrers Rudolf Smend über die Wertordnung. Seine Lehre gab in der Nachkriegszeit der Staatsrechtswissenschaft wichtige Impulse für die Dogmatikentwicklung. Die Autorin zeigt, wie die rechtswissenschaftliche Auseinandersetzung um die Auslegung von Art. 5 GG auch die Grundrechtsinterpretation des Bundesverfassungsgerichts beeinflusste.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • I. Die bundesverfassungsgerichtliche Deutung der Pressefreiheit
  • II. Fragestellung
  • III. Die Historisierung der Bundesverfassungsrechtsprechung
  • IV. Methode
  • V. Quellenlage
  • VI. Forschungsstand
  • VII. Gang der Untersuchung
  • Kapitel 1: Der Fall
  • I. Ausgangspunkt des Rechtsstreits
  • 1. Axel Springer und der Boykottaufruf
  • 2. Ernst Aust und die „Blinkfüer“-Zeitung
  • 3. Die gesellschaftlichen Konsequenzen des Springer’schen Boykottaufrufs
  • II. Aust, Springer und die Zivilgerichtsbarkeit
  • 1. Die ersten Zivilprozesse in Hamburg (1961–1962)
  • a. Das Urteil des Landgerichts vom 11. Oktober 1961
  • b. Das Urteil des Landgerichts vom 14. Februar 1962
  • c. Exkurs: Die Debatte um die Pressekonzentration
  • d. Das Berufungsurteil des Oberlandgerichts vom 15. Februar 1962
  • e. Das Berufungsurteil des Oberlandesgerichts vom 20. September 1962
  • 2. Das Urteil des Revisionsgerichts (1963)
  • 3. Das Revisionsurteil in der zeitgenössischen Kritik
  • III. Das Strafverfahren gegen den „Blinkfüer“-Chefredakteur Aust (1962–1964)
  • IV. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (1969)
  • V. Das Bundesverfassungsgericht und die KPD-Wiederzulassungsdebatte
  • Kapitel 2: Hintergrunddiskussionen
  • I. Die Wissenschaftsgeschichte zur Meinungs- und Pressefreiheit in der Weimarer Republik
  • 1. Kontinuität älterer Grundrechtslehren
  • 2. Die Staatsrechtslehre der 1920er Jahre zwischen positivistischen und antipositivistischen Richtungen
  • 3. Die Münchner Staatsrechtslehrertagung von 1927
  • II. Die Wissenschaftsgeschichte zur Meinungs- und Pressefreiheit seit dem Grundgesetz
  • 1. Der Schulenstreit als Hintergrund staatsrechtlicher Debatten in den 1950er Jahren
  • a. Die Smend-Schule
  • b. Die Schmitt-Schule
  • 2. Auswirkung des Schulenstreits auf die Grundrechtstheorie
  • 3. Gesellschaftlicher und methodischer Wandel: Die Smend-Schule zwischen „Lüth“ und „Blinkfüer“
  • 4. Die Dogmatikentwicklung der Smend-Schule zu Art. 5 GG
  • 5. Die Methode der Schmitt-Schule
  • 6. Die Dogmatik der Schmitt-Schule zu Art. 5 GG
  • 7. Die Saarbrücker Staatsrechtslehrertagung von 1963
  • III. Die Bundesverfassungsrichter
  • Kapitel 3: Die Entscheidung
  • I. Der „Blinkfüer“-Beschluss
  • 1. Die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zum „Blinkfüer“-Beschluss
  • 2. Die Grundrechtsinterpretation des Bundesverfassungsgerichts im „Lüth“- und im „Blinkfüer“-Fall in Anlehnung an Smends Lehren
  • a. „Lüth“
  • b. „Blinkfüer“
  • II. Die Wirkungsgeschichte des „Blinkfüer“-Beschlusses
  • 1. Der „Blinkfüer“-Beschluss in zeitgenössischen Rezensionen
  • 2. Der „Blinkfüer“-Beschluss in staatsrechtlicher Studienliteratur bis zur Gegenwart
  • Zusammenfassung
  • I. Der Umgang der Zivilgerichtsbarkeit mit dem „Blinkfüer“-Fall
  • II. Zur Frage der Kontinuität älterer Grundrechtslehren im „Blinkfüer“-Beschluss
  • Quellen- und Literaturverzeichnis
  • I. Unveröffentlichte Quellen
  • II. Veröffentlichte Quellen und Literatur
  • III. Online-Dokument
  • IV. Zeitungs- und Zeitschriftenartikel ohne Autorenangabe
  • V. Zeitzeugengespräche

← X | 1 →

Einleitung

I.  Die bundesverfassungsgerichtliche Deutung der Pressefreiheit

Die bundesverfassungsgerichtliche Deutung der Pressefreiheit in der jungen Bundesrepublik der 1960er Jahre prägt wie selbstverständlich unser heutiges Verfassungsverständnis von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG. Sie bildet zugleich das wesentliche Fundament für eines der zentralen Kommunikationsgrundrechte der parlamentarischen Demokratie. Innerhalb eines kurzen Zeitraums von etwa acht Jahren ergingen drei aufsehenerregende Leitentscheidungen des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts: das Pressefehde-Urteil1 von 1961, das „Spiegel“-Urteil2 von 1966 und schließlich der „Blinkfüer“-Beschluss3 von 1969. Gemeinsam war all diesen Entscheidungen, dass sich das Bundesverfassungsgericht in ihnen aus aktuellem Anlass immer wieder prinzipiell zu Fragen über die Reichweite und Grenzen der Pressefreiheit äußerte und damit gleichzeitig seine seit dem „Lüth“-Urteil von 1958 dargelegte Konzeption zur Grundrechtsdogmatik von Art. 5 Abs. 1 GG weiterentwickelte.

Mit dem „Blinkfüer“-Beschluss entschied das Bundesverfassungsgericht zugunsten der Verfassungsbeschwerde des kommunistischen „Blinkfüer“-Zeitungsherausgebers Ernst Aust, der sich gegen einen von den Verlagshäusern Axel Springers 1961 initiierten Boykott gegen ostdeutsche Programmvorschauen zur Wehr setzte. Die historische wie dogmatische Bedeutung des Beschlusses ist darin zu sehen, dass das Bundesverfassungsgericht damit die Meinungs- und Pressefreiheit als Teil der objektiven Wertordnung des Grundgesetzes anerkannte, wie noch ausführlich darzulegen sein wird.

Eine weitere Besonderheit zeichnet die Entscheidung aus: Der „Blinkfüer“-Beschluss war aufs Engste mit politischen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungsprozessen während des Ost-West-Konflikts verknüpft und führte mit diesen zusammen die gesellschaftliche Liberalisierung der Bundesrepublik herbei. Denn es waren Konfliktsituationen wie die „Spiegel“-Affäre von 1962, die in der bundesrepublikanischen Geschichte eine neue politische Atmosphäre schufen und damit das Bewusstsein der breiten Bevölkerung für die Bedeutung ← 1 | 2 → der Pressefreiheit im demokratischen Prozess weckten.4 Seit Mitte der 1960er Jahre kam die Debatte über die Wiederzulassung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) hinzu5, nachdem das Bundesverfassungsgericht 1956 diese Partei wegen ihrer prinzipiellen Kampfhaltung gegenüber der freiheitlich-demokratischen Grundordnung6 für verfassungswidrig befunden hatte. Diese lang andauernde Debatte, an der sich weite Teile der Bevölkerung beteiligten, war Ausdruck des Aufbrechens veralteter repressiver Muster im Umgang mit dem westdeutschen Kommunismus.

Für weitere Dynamik sorgten die 1968 kulminierenden Studentenunruhen, die nicht nur auf gravierende Missstände in der Bundesrepublik hinwiesen.7 Hintergrund für die Entstehung dieser Bewegung war der Umstand, dass seit der Großen Koalition von 1966 de facto keine parlamentarische Opposition mehr im Bundestag vertreten war und sich vor allem Studenten zu einer linken Protestbewegung formten.8 Außenpolitisch warf die Protestbewegung die im Rahmen des Vietnam-Krieges offen zutage tretende Frage nach dem nationalen Selbstbestimmungsrecht ehemaliger Kolonien auf. So kämpfte etwa im Falle Vietnams eine breite Bevölkerungsmehrheit unter kommunistischer Führung ← 2 | 3 → Ho Chi Minhs gegen den Führungsanspruch der USA, um politische Selbstständigkeit zu erringen.9 Auch forderten die Studenten einen anderen Umgang der Bundesregierung mit den Machthabern repressiv regierter Länder, wie etwa dem persischen Schah10, und warfen damit die stets aktuelle Frage nach dem Verhältnis einer demokratischen Regierung zu autoritären Regimen auf. Innenpolitisch kam noch hinzu, dass die Studenten eine Hochschulreform forderten sowie die Elterngeneration angriffen, die nach wie vor über ihre nationalsozialistische Vergangenheit schwieg.11 Die schon vor dem „Blinkfüer“-Beschluss in gesellschaftlichen und rechtswissenschaftlichen Kreisen einsetzende Debatte über die Presse- und Machkonzentration Axel Springers wurde von den Studenten aufgegriffen und erreichte ihren Höhepunkt in den Osterunruhen 1968, bei welchen der Versuch unternommen wurde, die Auslieferung der Springer-Presse gewaltsam zu verhindern.12

Die aufreibenden politischen Auseinandersetzungen, der Kampf um Meinungs- und Pressefreiheit und die studentischen Proteste waren nicht auf Westeuropa begrenzt, vielmehr gab es um diese Themen weltweit politische Diskussionen und Konfrontationen – etwa auch in den USA und Japan13.

II.  Fragestellung

In dieser Arbeit wird daher der Frage nachgegangen, welche Bedeutung dem „Blinkfüer“-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 1969 und der damit eingeleiteten Dogmatikentwicklung zur Pressefreiheit für die bundesrepublikanische Demokratie zukommen.

Zunächst gilt es, die Gesellschaftsgeschichte des Falles „Blinkfüer“ darzulegen. Es geht um die Frage, welche politischen Debatten der 1960er Jahre für die Beurteilung dieses Boykottfalles eine Rolle spielten. Dabei wird deutlich werden, dass der „Blinkfüer“-Beschluss eine lang erwartete Entscheidung zu einem zivilrechtlichen Boykottrechtsfall war. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen alle Gerichtsentscheidungen des Falles „Blinkfüer“ aus dem Zeitraum 1961–1969. ← 3 | 4 → Es wird gezeigt, welche Positionen die Zivil- und Strafgerichte in den jeweiligen Stadien des „Blinkfüer“-Falles zur Pressefreiheit bezogen. Dabei soll der Kampf um die juristische Argumentation im Spannungsfeld zwischen Grundrechten, Politik, Wirtschaft und Ost-West-Konflikt dargelegt werden. All dies erfordert eine Kontextualisierung des „Blinkfüer“-Falles in eben diesem Spannungsfeld, um zu verdeutlichen, dass und wie sich der „Blinkfüer“-Beschluss in diese Phase gesellschaftlicher Umbrüche und Debatten wie jener über die Wiederzulassung der KPD oder über Pressemonopole einfügt.

Um nachzuvollziehen, inwieweit der „Blinkfüer“-Beschluss in Kontinuität zu älteren Grundrechtslehren steht, ist es erforderlich, diesen in die Grundrechtslehren seit der Weimarer Republik einzubetten. Mit diesem Rückblick auf die Wissenschaftsgeschichte der Grundrechte, insbesondere die Lehren des Staatsrechtslehrers Rudolf Smend aus den 1920er Jahren, soll geprüft werden, inwiefern diese die Dogmatikentwicklung in den 1950er und 1960er Jahren beeinflussten und welche Transformationsprozesse vonstattengingen, um die Weimarer Grundrechtsdogmatik in eine bundesrepublikanische Dogmatik umzuformen. Ziel der Arbeit ist es nachzuvollziehen, welche Auffassungen vom Grundrecht auf Pressefreiheit im zweiten Jahrzehnt des Grundgesetzes von führenden bundesrepublikanischen Rechtswissenschaftlern vertreten wurden und inwiefern diese die Rechtsprechung beeinflussten. Daran anknüpfend stellt sich die Frage, welcher juristischen Methodik sich die jeweiligen Akteure aus Rechtswissenschaft und Rechtsprechung bei der Auslegung der Pressefreiheit bedienten und welche Annahmen für die jeweilige Position entscheidend waren.

Hierbei geht es nicht nur um die Auseinandersetzungen zwischen den an der Diskussion beteiligten Juristen, sondern auch darum nachzuweisen, dass sowohl gesellschaftlicher als auch methodischer Wandel die Auslegung des Art. 5 GG in den 1960er Jahren beeinflussten. Betrachtet wird vor allem die Auseinandersetzung zwischen den dominierenden Staatsrechtsschulen der Nachkriegszeit – der Smend-Schule und der Schmitt-Schule –, da diese die Debatte zur Pressefreiheitsdogmatik maßgeblich beeinflussten und dem Bundesverfassungsgericht mögliche Lösungswege für den „Blinkfüer“-Beschluss boten. Es gilt also herauszuarbeiten, wie sich die Repräsentanten der Rechtswissenschaft zur Pressefreiheit im Vorfeld der Entscheidung äußerten und wie sie ihre jeweiligen Interpretationen des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG herleiteten.

Anschließend wird der „Blinkfüer“-Beschluss als die zentrale Entscheidung zur Pressefreiheit untersucht. Hierbei wird die Frage aufgeworfen, inwiefern der „Blinkfüer“-Beschluss in einer Linie mit dem „Lüth“-Urteil von 1958 steht und inwiefern das Bundesverfassungsgericht seine Argumentation in beiden ← 4 | 5 → Entscheidungen an die Lehren der Smend-Schule anlehnt. Abschließend wird die Wirkungsgeschichte des „Blinkfüer“-Beschlusses in den Blick genommen.

III.  Die Historisierung der Bundesverfassungsrechtsprechung

Die Historisierung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts steckt noch in ihren Anfängen. Jedoch sind bereits seit Ende der 1960er Jahre Schriften erschienen, die sich mit den Entstehungsbedingungen des Bundesverfassungsgerichts, seiner Institutionsgeschichte sowie seiner Rechtsstellung im bundesrepublikanischen Verfassungsgefüge beschäftigen.14 Andere Abhandlungen rücken dagegen die Interaktion zwischen Bundesverfassungsgericht und Politik in den Vordergrund15, um etwa Erkenntnisse darüber zu gewinnen, in welchem Ausmaß das Gericht die Gesetzgebungs- und Verfassungspolitik beeinflusste16. Auch sind rechtshistorische Abhandlungen und Aufsätze erschienen, die sich den frühen Machtkämpfen des Bundesverfassungsgerichts17, insbesondere seinem Konkurrenzkampf mit anderen obersten Fachgerichtsbarkeiten wie dem Bundesgerichtshof oder dem Bundesarbeitsgerichtshof, widmen oder die Auseinandersetzungen des Gerichts mit der Adenauer-Regierung18 in den 1950er Jahren verfolgen. ← 5 | 6 →

Sehr lange Zeit hielten sich Historiker mit Untersuchungen zu einzelnen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts eher zurück19, während Rechtshistoriker schon erste Untersuchungen publiziert haben.20 Uwe Wesel hat in seinem Buch „Die Hüter der Verfassung“21 Mitte der 1990er Jahre eine Auswahl der fünfzig großen Fälle des Bundesverfassungsgerichts aus dem Zeitraum 1956–1995 getroffen und diese vorgestellt. Wesel unternimmt den Versuch, historische Zeitabschnitte für die Rechtsprechungsentwicklung des Bundesverfassungsgerichts zu benennen.22 Sein einige Jahre später erschienener und deutlich umfassenderer Band „Der Gang nach Karlsruhe“23 setzt dieses Unterfangen fort und verfolgt das Anliegen, die Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts bei der Auslegung und Weiterentwicklung der Grundrechte und seine Rolle als politischer Akteur der bundesrepublikanischen Geschichte herauszustellen.24 Jörg Menzel schließt im Jahre 2000 hieran an mit dem Sammelband „Verfassungsrechtsprechung – Hundert Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in Retrospektive“25. ← 6 | 7 → Er bemängelt, dass das Bundesverfassungsgericht „eine zeithistorisch vernachlässigte Säule der deutschen Nachkriegsordnung“ sei26 und arbeitet gemeinsam mit anderen Autoren zentrale Entscheidungen wie etwa das „Elfes“-Urteil, das „Lüth“-Urteil, das „Apotheken“-Urteil oder das „Soraya“-Urteil in kurzen Aufsätzen unter Darlegung der Geschichte des Falles, der Prozessgeschichte und der Entwicklung der Grundrechtsdogmatik auf.27 Allerdings basieren diese rechtshistorischen Untersuchungen nur auf öffentlich zugänglichem Material. Archivakten wurden nicht ermittelt und konnten demzufolge nicht berücksichtigt werden.

Im Anschluss an diese Veröffentlichungen folgten erste rechtshistorische Schriften zu Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. 2001 erschien Thomas Hennes Aufsatz „Die Mephisto-Entscheidungen der deutschen Gerichte. Eine exemplarische, justitiell geführte Auseinandersetzung über den Umgang mit der deutschen NS-Vergangenheit in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren“.28 Der Schwerpunkt dieser Untersuchung liegt auf der Betrachtung und Bewertung der Prozessgeschichte des Falles. Archivmaterial wurde auch hier nicht herangezogen.

Jüngere, umfassendere Untersuchungen zu Einzelentscheidungen erschienen in dem interdisziplinär angelegten Forschungsband von Thomas Henne und Arne Riedlinger unter dem Titel „Das Lüth-Urteil aus (rechts-) historischer Sicht“29 im Jahre 2005 und mit Gunther Rojahns kürzlich online publizierter Dissertation „Elfes – Mehr als ein Urteil. Aufladung und Entladung eines Politikums“ (2010).30 Beide Untersuchungen behandeln Leitentscheidungen aus den ← 7 | 8 → 1950er Jahren. Sie zeichnen sich vor allem durch die Zusammentragung und rechtshistorische Auswertung von beachtlichem Archivmaterial aus. Beide Untersuchungen enthalten einen Anhang mit teilweise bislang unveröffentlichtem Quellenmaterial.31 Beide Werke haben damit die Historisierung der Bundesverfassungsgerichtsrechtsprechung maßgeblich vorangebracht. Sie wenden den von Wesel und Menzel benutzten historischen Ansatz zur Analyse der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts an und setzen auf eine konsequente Kontextualisierung des Falles unter Heranziehung von Archivmaterialien. Der Zugriff ist interdisziplinär: Aus der Perspektive der Rechtsgeschichte und Rechtswissenschaft, Geschichts- und Politikwissenschaft sowie der Medienwissenschaft werden unterschiedliche Fälle beleuchtet und die historisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die Rolle der Protagonisten des Falles, die lange Prozessgeschichte und die staatsrechtswissenschaftliche und grundrechtsdogmatische Entwicklung jener Jahre analysiert.

In seinem 2012 erschienen vierten Band zur „Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland“32 hebt Michael Stolleis unter anderem die für die demokratische Entwicklung der Bundesrepublik wichtigsten Verfassungsbeschwerden hervor und betont die große Grundrechtslinie vom „Elfes“-Urteil bis hin zum „Blinkfüer“-Beschluss33: Das „Elfes“-Urteil von 1957 diente über den Einzelfall hinaus der Konzeption eines möglichst umfassenden Grundrechtsschutzes. Mit dem „Lüth“-Urteil von 1958 und der Anerkennung der objektiven Wertordnung konnte ein wichtiger Schritt vollzogen werden, um Grundrechte als objektive Wertentscheidungen zu begründen. Zugleich war mit diesem Urteil der Weg für eine wertbezogene Verfassungstheorie geebnet. Ausgehend vom „Lüth“-Urteil konnten die Bundesverfassungsrichter in ihrem „Blinkfüer“-Beschluss von 1969 eine bis heute anerkannte materiale Verfassungskonzeption aufbauen, wonach im Einzelfall Werte gegeneinander abgewogen werden.

Die genannten Arbeiten haben wesentlich dazu beigetragen, dass rechtshistorische Untersuchungen von Verfassungsgerichtsurteilen mittlerweile als ← 8 | 9 → juristisches Forschungsfeld etabliert und mit eigener Methode als Teildisziplin der juristischen Zeitgeschichte anerkannt sind. In diesem Rahmen verortet sich auch diese Untersuchung.

IV.  Methode

Die vorliegende Arbeit versteht sich als Fortsetzung der oben beschriebenen Historisierung in der juristischen Forschung und orientiert sich in ihrem methodischen Zugriff an den erwähnten Untersuchungen. Während bei den vorgenannten umfangreicheren Werken von Henne/Riedlinger und Rojahn ausschließlich Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aus den 1950er Jahren im Vordergrund stehen, geht es bei der vorliegenden Arbeit um das darauffolgende Jahrzehnt.

Der „Blinkfüer“-Beschluss war in seiner Zeit eine gesellschaftspolitisch wichtige Entscheidung für die Pressefreiheitsdogmatik und ein Motor für die demokratische Staatstheorie zur Auslegung des Art. 5 GG. Um die Bedeutung, die dem „Blinkfüer“-Beschluss zukommt, voll erfassen zu können, ist es nötig, den Beschluss sowohl in seinem gesellschaftspolitischen Kontext zu betrachten als auch in die rechtswissenschaftliche Auseinandersetzung um die Pressefreiheit einzubetten.

Vor allem als historische Quelle kann der „Blinkfüer“-Beschluss in zweierlei Hinsicht genutzt werden: Zum einen gibt er Aufschluss über die gesellschaftspolitische Entwicklung der Bundesrepublik in den 1960er Jahren, zum anderen ist er von besonderer Bedeutung für die historische Betrachtung des rechtswissenschaftlichen Diskurses zur Pressefreiheit, d. h. der Geschichte des Art. 5 Abs. 1 GG. In die Betrachtung der Gesellschaftsgeschichte werden die Geschichte des Falles, die Prozessgeschichte, die Rolle der einzelnen Akteure (Parteien, Gerichte) ebenso wie der zeitgenössische Diskurs um Pressemonopole und die Debatten über den politischen Umgang mit westdeutschen Kommunisten einbezogen. Die Geschichte von Art. 5 Abs. 1 GG wird anhand der Darstellung der Dogmatik der Meinungs- und Pressefreiheit seit den 1920er Jahren aufgearbeitet. Ziel der Arbeit ist es, die These zu belegen, dass es eine Kontinuität in den Grundrechtslehren zur Presse- und Meinungsfreiheit von den 1920er Jahren über die 1950er Jahre bis zu den 1960er Jahren gibt.34 Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt ← 9 | 10 → auf den 1950er und 1960er Jahren, denn seit Ende der 1950er Jahre konkurrierten widerstreitende Grundrechtskonzeptionen, die unterschiedliche Standpunkte zur Auslegung der Meinungs- und Pressefreiheit des Art. 5 Abs. 1 GG gestatteten.

V.  Quellenlage

Die Hauptquellen für die rechtshistorische Untersuchung des „Blinkfüer“-Beschlusses sind Archivquellen. Zur wichtigsten Archivquelle zählt die Verfassungsbeschwerdeakte „Blinkfüer“. Diese ließ sich auf Anfrage beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe einsehen, sie ist im Bundesarchiv Koblenz archiviert.35 Während die Akte zur Verfassungsbeschwerde alle zur Rekonstruktion des Zivilrechts- und Verfassungsbeschwerdefalls nötigen Entscheidungen aus den zivilgerichtlichen Vorinstanzen sowie dem Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs enthält, fehlen jedoch sämtliche Schriftsätze der Parteien aus den Vorinstanzen. Bedauerlicherweise ergab eine Anfrage bei den Hamburger Zivilgerichten, dass die Zivilverfahrensakten zum „Blinkfüer“-Fall, welche die Originalschriftsätze enthielten, nach Beendigung der 30-jährigen Sperrfrist vernichtet wurden, da sie als nicht archivwürdig eingeschätzt worden waren.

Leider sind die Voten, die Entscheidungsentwürfe und Formulierungsvorschläge sowie die Notizen des Berichterstatters im Verfassungsbeschwerdeverfahren, die mit großer Sicherheit nützliche Quellen zur Rekonstruktion der bundesverfassungsgerichtlichen Argumentation im „Blinkfüer“-Beschluss wären, gem. § 34 GO BVerfG von der Akteneinsicht ausgeschlossen. Es ist zu befürchten, dass sich an dieser Regelung auch künftig nichts ändern wird, da das Interesse des Bundesverfassungsgerichts an der Geheimhaltung interner Beratungsvorgänge höher eingestuft wird als das Forschungsinteresse. Die vom Bundesverfassungsgericht zu den einzelnen Verfahren angelegten Senatshefte, die gesondert in einem Umschlag zur Verfahrensakte geführt werden, geben die Ergebnisse interner Beratungen und damit auch die genauen Entstehungsbedingungen des Urteilstextes sowie die Intentionen und Positionierungen der ← 10 | 11 → beteiligten Richter wieder.36 Sie gewähren damit tiefe Einblicke in den Entscheidungsprozess des Gerichts als Spruchkörper, spiegeln die Schwerpunkte juristischer Diskussionen innerhalb des Senats wider und offenbaren Dialoge zwischen den Bundesverfassungsrichtern.

Die fehlende Möglichkeit der Einsichtnahme in diese Materialien, in sogenannte Gerichtsinterna, zu wissenschaftlichen Zwecken sowie ihre zeitlich unbegrenzte Sperre wird von verschiedenen Autoren kritisiert37, weil dies nicht nur im Widerspruch zur sonst eher großzügigen Praxis der Akteneinsicht des Bundesverfassungsgerichts selbst, sondern vor allem im Gegensatz zur Praxis anderer oberster Gerichte steht.38

Die für die zeithistorische Forschung sehr wertvollen Sondervoten, die gem. § 30 Abs. 2 BVerfGG einen Bundesverfassungsrichter dazu berechtigen, seine von der Mehrheit in der Beratung abweichende Meinung in einer schriftlichen Begründung niederzulegen, wurden 1970 eingeführt und geben Auskunft über das Wirken einzelner Richter.39 Im Verkündungszeitpunkt des „Blinkfüer“-Beschlusses im Jahre 1969 gab es also noch keine Sondervoten, sodass keine Quellen über abweichende Meinungen der Bundesverfassungsrichter zum „Blinkfüer“-Beschluss existieren.

Im Bundesarchiv in Koblenz ließ sich erfreulicherweise als weitere Archivquelle die Akte zum Revisionsverfahren40 vor dem Bundesgerichtshof für Zivilsachen ermitteln. Diese Revisionsakte ist, wie gewöhnlich, sehr dünn, da es in ihr lediglich um die Erörterung konkreter Rechtsfragen geht. Aus dieser Akte lässt sich ersehen, dass seitens des Rechtsanwalts und Mitherausgebers der Neuen Juristischen Wochenschrift (NJW), Philipp Möhring, nur eine schriftliche Revisionsbegründung für die Verlagshäuser Axel Springers eingereicht wurde. Der Rechtsanwalt des „Blinkfüer“-Herausgebers Aust, Bernhard Wieczorek, äußerte ← 11 | 12 → sich nicht schriftlich zur Revisionsklage der Verlagshäuser, sondern war lediglich während der mündlichen Verhandlung am 10. Juli 1963 sowie bei der Urteilsverkündung am selben Tag zugegen.

Außerdem konnte im Wiesbadener Staatsarchiv der Nachlass41 von Erwin Stein, dem früheren hessischen Kultusminister (1947–1951) gesichtet werden. Diese Akten waren insofern für die Untersuchung des „Blinkfüer“-Beschlusses bereichernd, als aus ihnen hervorgeht, mit wem der Bundesverfassungsrichter und Berichterstatter Stein während der Zeit des „Blinkfüer“-Verfassungsbeschwerdeverfahrens korrespondierte und mit welchen Grundrechtspositionen er sich auseinandersetzte.

Stein stand in wissenschaftlichem Austausch mit Adolf Arndt, dem Rechtsanwalt Erich Lüths im Verfassungsbeschwerdeverfahren. Er hatte insbesondere auch mit dem Verfassungsrechtswissenschaftler und Bürgerrechtler Helmut Ridder, der für eine liberale Auslegung der Pressefreiheit eintrat, korrespondiert.42 In Wiesbaden war auch die dienstliche Korrespondenz Steins mit dem angesehenen christlichen Politikwissenschaftler Eugen Kogon vorhanden, der sich für die Neue Ostpolitik aussprach.43

Der Strafrechtsverteidiger Heinrich Hannover gestattete die Einsichtnahme in seine umfangreiche Handakte im Strafprozess gegen den „Blinkfüer“-Herausgeber Aust, die sich im Bremer Staatsarchiv befindet.44 Diese Akte erlaubt eine Rekonstruktion des Hamburger Strafverfahrens aus den Jahren 1962–1964.

Details

Seiten
IX, 231
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783631714492
ISBN (ePUB)
9783631714508
ISBN (MOBI)
9783631714515
ISBN (Hardcover)
9783631714522
DOI
10.3726/b10577
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (November)
Schlagworte
Bundesverfassungsgericht Verlagshäuser Springer Objektive Wertordnung Meinungsfreiheit (Art. 5 GG) Grundrechtslehren Pressekonzentration
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. IX, 231 S.

Biographische Angaben

Lena Darabeygi (Autor:in)

Lena Darabeygi studierte Rechtswissenschaft an der Universität in Frankfurt am Main und wurde dort promoviert.

Zurück

Titel: Die Causa «Blinkfüer» und die Grundrechtsdogmatik zur Pressefreiheit in Weimar und Bonn
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
book preview page numper 31
book preview page numper 32
book preview page numper 33
book preview page numper 34
book preview page numper 35
book preview page numper 36
book preview page numper 37
book preview page numper 38
book preview page numper 39
book preview page numper 40
243 Seiten