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Figur und Handlung im Märchen

Die «Kinder- und Hausmärchen» der Brüder Grimm im Licht der daoistischen Philosophie 2., überarbeitete Ausgabe

von Liping Wang (Autor:in)
©2017 Dissertation 348 Seiten

Zusammenfassung

Diese Studie geht von einem weit außerhalb der europäisch-germanistischen Forschung liegenden Punkt aus, nämlich der fernöstlichen Philosophie des Daoismus, und eröffnet durch eine symboltheoretisch-strukturalistische Bedeutungsanalyse einen interkulturell erweiterten Zugang zu ausgewählten Texten der «Kinder- und Hausmärchen». Aus dem Handeln von 16 signifikanten Märchenfiguren extrapoliert sie Verhaltensmodelle, die sowohl grundlegend für das Weltbild in Grimms Märchen sind als auch überraschende Ähnlichkeiten mit dem Daoismus aufweisen. Mit der Kardinalfrage der Märchen: «Was ist Glück und Unglück?» gelangt die Arbeit zu einer von traditionellen Märcheninterpretationen abweichenden, sie reflektierenden und ergänzenden Antwort, die mit «der Suche nach der verlorenen (R)Einheit» anfängt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort von Prof. Dr. Günter Wohlfart:
  • Vorwort zur zweiten Auflage
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • Teil I: Die Verhaltensmodelle und die Kinder- und Hausmärchen
  • 1. Die Basis der Verhaltensmodelle: Die Philosophie von Laozi und Zhuangzi
  • 1.1 Laozi und seine Philosophie
  • 1.2 Zhuangzi und seine Philosophie
  • 1.3 Zusammenfassung
  • 2. Die Verhaltensmodelle und die Kinder- und Hausmärchen
  • 2.1 Drei Grundverhaltensmodelle in den Kinder- und Hausmärchen
  • 2.2 Zwei Selbstwerdungsmodi in den Kinder- und Hausmärchen
  • 2.3 Ein Selbstwerdungsprinzip in den Kinder- und Hausmärchen
  • 2.4 Zusammenfassung
  • Teil II: Märchenanalysen mit den Verhaltensmodellen
  • 3. Märchenhelden und ihre Verhaltensmodelle
  • 3.1 Hans im Glück (KHM 83)
  • 3.1.1 Die Geschichte von Hans
  • 3.1.2 Die Verhaltensweise von Hans
  • 3.1.3 Das Verhaltensmodell von Hans
  • 3.2 Der Bärenhäuter (KHM 101)
  • 3.2.1 Die Geschichte des Bärenhäuters
  • 3.2.2 Die Verhaltensweise des Bärenhäuters
  • 3.2.3 Das Verhaltensmodell des Bärenhäuters
  • 3.3 Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich (KHM 1)
  • 3.3.1 Die Geschichte der Prinzessin
  • 3.3.2 Die Verhaltensweise der Prinzessin
  • 3.3.3 Das Verhaltensmodell der Prinzessin
  • 3.4 König Drosselbart (KHM 52)
  • 3.4.1 Die Geschichte der Prinzessin
  • 3.4.2 Die Verhaltensweise der Prinzessin
  • 3.4.3 Das Verhaltensmodell der Prinzessin
  • 3.5 Sneewittchen (KHM 53)
  • 3.5.1 Die Geschichte von Sneewittchen
  • 3.5.2 Die Verhaltensweise von Sneewittchen
  • 3.5.3 Das Verhaltensmodell von Sneewittchen
  • 3.6 Der goldene Vogel (KHM 57)
  • 3.6.1 Die Geschichte des jüngsten Prinzen
  • 3.6.2 Die Verhaltensweise des jüngsten Prinzen
  • 3.6.3 Das Verhaltensmodell des jüngsten Prinzen
  • 3.7 Die drei Sprachen (KHM 33)
  • 3.7.1 Die Geschichte des Jungen
  • 3.7.2 Die Verhaltensweise des Jungen
  • 3.7.3 Das Verhaltensmodell des Jungen
  • 3.8 Das Wasser des Lebens (KHM 97)
  • 3.8.1 Die Geschichte des jüngsten Königssohnes
  • 3.8.2 Die Verhaltensweise des jüngsten Königssohnes
  • 3.8.3 Das Verhaltensmodell des jüngsten Königssohnes
  • 3.9 Rotkäppchen (KHM 26)
  • 3.9.1 Die Geschichte von Rotkäppchen
  • 3.9.2 Die Verhaltensweise von Rotkäppchen
  • 3.9.3 Das Verhaltensmodell von Rotkäppchen
  • 4. Märchenantihelden und ihre Verhaltensmodelle
  • 4.1 Von dem Fischer un syner Fru (KHM 19)
  • 4.1.1 Die Geschichte des Fischers
  • 4.1.2 Die Verhaltensweise des Fischers
  • 4.1.3 Das Verhaltensmodell des Fischers
  • 4.2 Der Gevatter Tod (KHM 44)
  • 4.2.1 Die Geschichte des jungen Arztes
  • 4.2.2 Die Verhaltensweise des jungen Arztes
  • 4.2.3 Das Verhaltensmodell des jungen Arztes
  • 4.3 Frau Holle (KHM 24)
  • 4.3.1 Die Geschichte des faulen Mädchens
  • 4.3.2 Die Verhaltensweise des faulen Mädchens
  • 4.3.3 Das Verhaltensmodell des faulen Mädchens
  • 4.4 Der Arme und der Reiche (KHM 87)
  • 4.4.1 Die Geschichte des Reichen
  • 4.4.2 Die Verhaltensweise des Reichen
  • 4.4.3 Das Verhaltensmodell des Reichen
  • 4.5 Sneewittchen (KHM 53)
  • 4.5.1 Die Geschichte der Stiefmutter
  • 4.5.2 Die Verhaltensweise der Stiefmutter
  • 4.5.3 Das Verhaltensmodell der Stiefmutter
  • 4.6 Aschenputtel (KHM 21)
  • 4.6.1 Die Geschichte der zwei Schwestern
  • 4.6.2 Die Verhaltensweise der zwei Schwestern
  • 4.6.3 Das Verhaltensmodell der zwei Schwestern
  • 5. Rückblick und Ausblick
  • 6. Literaturverzeichnis
  • 6.1 Primärliteratur und Quellen
  • 6.2 Sekundärliteratur
  • Anhang
  • Anhang I: Gemeinsamkeiten von Laozi und den Brüdern Grimm
  • Anhang II: Gemeinsamkeiten vom Laozi und den Kinder- und Hausmärchen
  • Anhang III: Gemeinsamkeiten von Laozis „Dao“ und Grimms „Märchen“
  • Reihenübersicht

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Einleitung

Die Kinder- und Hausmärchen wurden „zum meistaufgelegten, meistübersetzten und jedenfalls bestbekannten deutschsprachigen Buch aller Zeiten.“1 „Wie die systematische Sammlung, so hat auch die systematische Erforschung des Märchens ihren eigentlichen Ursprung in der Arbeit und in Anregungen der Brüder Grimm.“2 In diesem Sinne bleibt nicht nur das deutsche Märchen für immer mit den Brüdern Grimm samt ihren Kinder- und Hausmärchen unlösbar verbunden3, sondern auch die Märchenforschung. Vielfältige und grenzenlose Deutungsansätze bestätigen immer wieder die von Wilhelm Grimm 1819 postulierte These:

„Jede wahre Poesie ist der mannigfaltigsten Auslegung fähig, denn da sie aus dem Leben aufgestiegen ist, kehrt sie auch immer wieder zu ihm zurück; sie trifft uns wie das Sonnenlicht, wo wir auch stehen; darin ist es gegründet, wenn sich so leicht aus diesen Märchen eine gute Lehre, eine Anwendung für die Gegenwart ergibt; es war weder ihr Zweck, noch sind sie, wenige ausgenommen, deshalb entstanden, aber es erwächst daraus, wie eine gute Frucht aus einer gesunden Blüte, ohne Zutun der Menschen.“4

Aus dieser Selbstdeutung von Wilhelm Grimm, was Märchen seien, ergeben sich drei Orientierungspunkte, die eine für die Interpretation der Kinder- und Hausmärchen – wie die vorliegende Arbeit sie unternimmt – zu berücksichtigende Ausgangsposition markieren.

Erstens: das Märchen ist eine „Naturpoesie“5, die durch „Sichvonselbstmachen“6 charakterisiert ist; zweitens: die Märchenlehre ist keine gewollte oder gemachte Zutat dieser Dichtung, sondern eine natürliche Frucht; drittens: die Märchenauslegung dient dem Leben, denn die Märchen kommen aus dem Leben. Auf eine Formel gebracht lautet die Kernthese: Märchen sind und zeigen das, was natürlich ← 17 | 18 → ist. Um dieses Natürliche treu im Märchen zu erhalten, bekennen sich die Brüder Grimm zu einem strengen Transformationsprinzip:

An dieser Behauptung zweifelt jedoch Achim von Arnim:

„[I]ch glaube es Euch nimmermehr, selbst wenn Ihr es glaubt, daß die Kindermärchen von Euch so aufgeschrieben sind, wie Ihr sie empfangen habt, der bildende fortschaffende Trieb ist im Menschen gegen alle Vorsätze siegend und schlechterdings unaustilgbar.“8

Darauf antwortet Jacob Grimm:

„Wir kommen hier auf die Treue. Eine mathematische ist vollends unmöglich und selbst in der wahrsten, strengsten Geschichte nicht vorhanden; allein das thut nichts, denn daß Treue etwas wahres ist, kein Schein, das fühlen wir und darum seht ihr auch eine Untreue wirklich entgegen. Du kannst nichts vollkommen angemessen erzählen, so wenig Du ein Ei ausschlagen kannst, ohne daß nicht Eierweiß an den Schalen kleben bliebe […] Die rechte Treue wäre mir nach diesem Bild, daß ich den Dotter nicht zerbräche. Bezweifelst Du die Treue unseres Märchenbuches, so darfst Du die letztere nicht bezweifeln, denn sie ist da. Was jene unmögliche angeht, so würde ein anderer und wir selbst großentheils mit andern Worten nochmals erzählt haben […] und doch nicht minder treu, in der Sache ist durchaus nichts zugesetzt oder anders gewendet.“9

Aus diesem Federstreit ist zu schlussfolgern, dass die Brüder Grimm die erste Auslegung der gesammelten Märchen geleistet haben, indem sie die Geschichten „großentheils mit andern Worten nochmals erzählt haben“. In einem halben Jahrhundert haben die Brüder Grimm, besonders Wilhelm Grimm, die ← 18 | 19 → Märchen gesammelt und vor allem bearbeitet. Ob ihr Umarbeitungsprinzip – „Verbürgerlichung“10, die sich als „die allmähliche Angleichung der den Märchen ursprünglich zugrundeliegenden Lebenswelt und Sozialstrukturen an bürgerliche Anschauungen und Wertvorstellungen“11 versteht – den „Dotter“ der ihnen zugetragenen Märchen zerbricht, ist umstritten. Kaum noch umstritten ist aber, dass inzwischen Grimms Märchenbuch selbst aufgrund seines Weltliteraturstatus ein „Ei“ geworden ist, mit dessen „Dotter“ – das Substanzielle – sich die vielfältigen Märchenforschungen auseinandersetzen (philologisch, psychoanalytisch, pädagogisch, mythologisch, anthroposophisch, kultur- und sozialhistorisch, strukturalistisch12, feministisch13, volkskundlich, ← 19 | 20 → theologisch14, tiefenpsychoanalytisch etc.). In der 200-jährigen Kinder- und Hausmärchen-Rezeptionsgeschichte (seit der ersten Auflage des ersten Bandes der Kinder- und Hausmärchen 1812) gestaltet sich ein dreidimensionaler Deutungsraum mit drei konstanten Themen, die die Brüder Grimm angedeutet haben: Genese, Gebilde und Gehalt oder – nach Heinz Rölleke – „Herkunft, Alter und Bedeutung der Märchen“15. In puncto Herkunft und Alter der Märchen sind die Brüder Grimm einhellig der Meinung, dass sie „Überreste“ der Mythen seien. Jacob Grimm sieht in dem „‚Niedergang uralter, wenn auch umgestalteter und zerbröckelter Mythen‘ (1854, Vorrede zu Karadschitschs Volksmärchen der Serben)“16 den Ursprung der Märchen. Wilhelm Grimm kommt 1856 zu demselben Schluss. In den Anmerkungen der Kinder- und Hausmärchen äußert er sich folgendermaßen:

„Gemeinsam allen Märchen sind die Überreste eines in die älteste Zeit hinauf reichenden Glaubens, der sich in bildlicher Auffassung übersinnlicher Dinge ausspricht.“17

An derselben Stelle führt Wilhelm Grimm in die Bedeutung dieser Dichtungsform ein:

„Die Bedeutung davon ist längst verloren, aber sie wird noch empfunden, und gibt dem Märchen seinen Gehalt, während es zugleich die natürliche Lust an dem Wunderbaren befriedigt; niemals sind sie bloßes Farbenspiel gehaltloser Phantasie […]. Wir sehen wie diese, getragen von der Erhabenheit ihres Gegenstandes und unbesorgt um Einklang mit der Wirklichkeit, wenn sie die geheimnisreichen und furchtbaren Naturkräfte schildert, auch das Unglaubliche, das Gräuelhafte und Entsetzliche nicht abweist.“18 ← 20 | 21 →

Empfunden wird das Verlorengegangene, das Sinnliches und Tiefsinniges, Entsetzliches und Erhabenes, Fruchtbares und Furchtbares, Gewöhnliches und Geheimnisvolles, Phantasie und Wirklichkeit, Ernst und Lust, kurzum: die Gegensätze, umfasst. Gegensätze finden sich auch in den fortgesetzten Forschungen. Bei der Untersuchung des Ursprungs steht die Hypothese der Monogenese19 der Theorie der Polygenese20 gegenüber. Die die Märchen auf alte Zeiten datierenden Spekulationen21 stoßen auf Kritiken, die warnen, dass „das Märchen sich archaisierend angeben [kann], ohne archaisch zu sein“22. Das romantische „Es war einmal“ ← 21 | 22 → kollidiert mit dem „Es war vor 300 Jahren“23. Daraus ergibt sich einerseits die „Enthistorisierung der Märchen“24, die zu behaupten tendiert, dass Märchen „im Grunde zeitlos [sind], sie sind alt und jung zugleich25, andererseits die strenge „geographisch-historische“ Methode, die die finnische Schule26 und vor allem das international anwendbare Typenverzeichnis27 hervorbringt, das auf der einen Seite zum interkulturellen28 Märchenvergleich, auf der anderen Seite zur Selbstwiderlegung beiträgt. Dazu Wilhelm Solms:

„Ihr Typensystem hat sich in der praktischen Arbeit der Märchensammler durchgesetzt […]. Sie haben aber nicht gefragt, wie diese Motive vom Erzähler behandelt und von den Zuhörern rezipiert werden und welche Funktion sie für die Handlung erfüllen. […] Wo Aarne und Thompson sich nicht entscheiden konnten, wohin ein Text gehört, haben sie ihm mehrere, in einzelnen Fällen sogar zehn oder elf verschiedene Nummern gegeben […] und damit ihr Verzeichnis selbst widerlegt.“29

Unwiderlegbar ist der Charme des Märchenklassikers30, der „nicht allein in [den Märchen] selbst begründet [ist], sondern zugleich in unserer heutigen Zeit. Die Botschaft der Märchen kommt offenbar den Wünschen, Bedürfnissen, Hoffnungen oder Ängsten der Menschen entgegen.“31 Die Suche nach der „Botschaft der ← 22 | 23 → Märchen“ floriert32. Die Pädagogen suchen die erzieherische Botschaft in dem „Erziehungsbuch“33; die Theologen bemühen sich, Märchen und Mission durch Umdeuten und Umerzählen in Verbindung zu setzen34; die Psychoanalytiker sehen die Triade von „Es“, „Ich“ und „Über-Ich“ in den Märchenfiguren35. „[D]ie der Tiefenpsychologie verpflichteten Ausdeutungen (C. G. Jung) sind insofern offener, als sie nach dem Prinzip der Amplifikation alle erdenklichen Symbolbezüge nebeneinander stellen; eben dadurch wird aber der spezifische kulturelle Horizont, der für das jeweilige Verständnis eines M[ärchen]s maßgebend ist, verwischt“36 – anders gesagt, überschritten. Denn auf „die Aufdeckung der überindividuellen seelischen Vorgänge, die sich im Märchen spiegeln“37, zielen die einflussreichen38 und aufschlussreichen39 psychoanalytischen Deutungsansätze, deren Zentralfigur ← 23 | 24 → Carl Gustav Jung (1875–1961) ist, dessen Hauptlehre mit der fernöstlichen Philosophie übereinstimmt, was nach Richard Wilhelm (1873–1930) – wenn Jung weder „in einem seiner früheren Leben ein Chinese [war] und zur Strafe für seine Widerspenstigkeit gegen alle Schulweisheit zur Wiedergeburt in Zentraleuropa verurteilt worden [ist]“40 noch „telepathisch veranlagt ist und mehr weiß, als man mit Händen tasten und mit Schulweisheit sich träumen lassen kann“41 – nur eine Erklärung für „solche seltsamen Übereinstimmungen“42 übrig lässt:

„Sowohl die chinesische Weisheit wie Dr. Jung sind unabhängig voneinander in die Tiefen der menschlichen Kollektivpsyche hinabgestiegen und sind dort Wesenheiten begegnet, die deswegen so ähnlich aussehen, weil sie eben beide in Wahrheit vorhanden sind. Das würde beweisen, daß die Wahrheit von jedem Standpunkt aus erreichbar ist, wenn man nur tief genug gräbt, und die Übereinstimmung des Schweizer Forschers mit den alten chinesischen Weisen würde dann nur zeigen, daß beide recht haben, weil sie beide die Wahrheit gefunden haben. Ich weiß nicht, wie Dr. Jung darüber denkt, ich könnte mich mit dieser Erklärung sehr wohl zufrieden geben.“43

Jung denkt darüber Folgendes:

„Schon bevor ich ihn [Richard Wilhelm] kennenlernte, hatte ich mich mit östlicher Philosophie beschäftigt […] [. W]ir [Jung und Wilhelm] sprachen sehr viel über chinesische Philosophie und Religion. Was er mir aus der Fülle seiner Kenntnisse des chinesischen Geistes mitteilte, hat mir damals einige der schwierigsten Probleme, die mir das europäische Unbewußte stellte, erhellt. Auf der anderen Seite hat ihn das, was ich von den Resultaten meiner Forschungen über das Unbewußte erzählte, in nicht geringes Erstaunen versetzt; denn in ihnen erkannte er wieder, was er bis dahin ausschließlich als Tradition der chinesischen Philosophie angesehen hatte.“44 ← 24 | 25 →

Am Ende seiner biografischen Erinnerungen, Träume, Gedanken nähert sich Jung wieder seinen zwei fernen Seelenverwandten:

„Wenn Lao Tse45 sagt: ‚Alle sind klar, nur ich allein bin trübe‘, so ist es das, was ich in meinem hohen Alter fühle. Lao Tse ist das Beispiel für einen Mann mit superiorer Einsicht, der Wert und Unwert gesehen und erfahren hat, und der am Ende des Lebens in sein eigenes Sein zurückkehren möchte, in den ewigen unerkennbaren Sinn. […] Und doch gibt es so viel, was mich erfüllt: die Pflanzen, die Tiere, die Wolken, Tag und Nacht und das Ewige in den Menschen. Je unsicherer ich über mich selber wurde, desto mehr wuchs ein Gefühl der Verwandtschaft mit allen Dingen […].“46

Während einer der beiden Verwandten („Lao Tse“) direkt zitiert wird, verbirgt sich in dem letzten Satz der Gedanke des zweiten (der geschrieben haben soll: „Himmel und Erde entstehen mit mir zugleich, und alle Dinge sind mit mir eins“47), dessen Name Jung in einem Brief48 verrät: „Ich bin ein großer Verehrer der Philosophie des Chuang-tse49.“50 Gemeint ist die daoistische Philosophie, die

„psychologische Grundsätze von universaler Bedeutung [formuliert]. Grundsätze von einer solch umfassenden Weite, daß sie für die ganze Menschheit Gültigkeit besitzen. Andererseits bedürfen sie, gerade wegen ihrer Universalität, einer Neuübersetzung und Spezifizierung, sobald es um ihre praktische Anwendung geht. Gewiß sind die Anschauungen auch in ihrer Universalität von größter Bedeutung, aber ebenso wichtig ist die bis in alle Einzelheiten gehende Kenntnis des Weges, der zu wahrem Verstehen führt. Für den westlichen Geist liegt die Gefahr darin, bloß Worte zu gebrauchen, anstatt sich auf Tatsachen zu stützen. […] Mir geht es deshalb vor allem um die Methoden, durch welche dem westlichen Menschen die dem Begriff des Tao zugrunde liegenden Tatsachen nahegebracht werden können – insofern Tao51 überhaupt als Begriff zu bezeichnen ist. […] Die große und beinahe unüberwindliche Schwierigkeit liegt in der Frage, auf welche Weise man den Menschen dazu bringt, die psychischen Erfahrungen zu machen, die allein ihre Augen für die Wahrheit des Hintergrunds öffnen können. Es ist ein und dieselbe ← 25 | 26 → Wahrheit überall, aber ich muß sagen, daß der Taoismus52 eine der allervollkommensten Formulierungen ist, die ich je zu Gesicht bekam.“53

Die Jung’sche Frage, auf welche Weise „ein und dieselbe Wahrheit“, deren „allervollkommenste Formulierungen“ in der daoistischen Philosophie zu lesen sind, „ihre praktische Anwendung“ – die Augen für die Wahrheit zu öffnen – finden kann, beantworten Jung und seine Schüler, indem sie nicht nur Träume deuten, sondern auch Märchen, zu dessen Sinn54 und „Unsinn“55 andere Disziplinen andere „Sitten“ sind. Trotz differenzierter Konzepte sind sich „die verschiedenen analytischen Schulen“ – nach Felix Karlinger – „jedenfalls in der Deutung des Märchens grundsätzlich einig; sie sehen in ihm die Verarbeitung von allgemein-menschlichen Reifungserlebnissen und von menschlichen Grundsituationen“56. Heinrich Dickerhoff bekräftigt diese Feststellung und schreibt:

„Mich interessiert nicht zuerst das, was Menschen über Märchen wissen, sondern was Märchen über die Menschen wissen. Mir geht es also nicht um Märchenkenntnis an sich, sondern um Menschenkenntnis und was Märchen dazu beitragen können.“57

Zu den Beiträgen meint Max Lüthi: „[Märchen] führen den Hörer ein in das Wesen des menschlichen Daseins.“58 Winfried Münch verwandelt das Stichwort „Dasein“ in „Existenz“ und stellt fest, dass ← 26 | 27 →

Gerhard Szonn schließt sich an und behauptet: Märchen vermitteln uns „Beispiele eines zu Weisheit führenden Umganges mit den Wechselfällen des Lebens“60. Lutz Röhrich ist derselben Meinung. Er erkennt,

„daß Märchen sehr wesentliche und substantielle Erzählungen sind, die paradigmatisch Beispiele von gelungenen und mißlungenen Konfliktlösungen in entscheidenden Lebenssituationen zeigen.“61

Nicht zuletzt entdeckt Johann Gottfried Herder, der den deutschen Romantikern für ihre Märchenrenaissance den Weg bahnt, schon vor dem Erscheinen der Kinder- und Hausmärchen die Eigenschaft der „guten Lehre“ des Märchens:

„Im Märchen liegt eine ewige Ernte an Lehren der Weisheit. Keine andere Dichtungsart versteht dem menschlichen Herzen so feine Dinge so fein zu sagen wie das Märchen.“62

All diese Forschungsbeiträge beeinflussen auch die chinesische Rezeption der Kinder- und Hausmärchen. Trotz der späteren Begegnung mit dem Begriff „Märchen“ (erst am Anfang des 20. Jahrhunderts wird „Märchen“ in China als Gattungsbegriff eingeführt, obwohl die märchenhaften Geschichten längst als Sagen, Legenden, Parabeln, Schwänke, Anekdoten etc. erzählt und überliefert wurden) mangelt es nicht an Märchentheorien und -werken in China. Das Wort „Märchen“ wird in China stets mit Grimms Märchen assoziiert. Seit 190363 bieten unzählige Übersetzungsversionen als Gesamt- oder Auswahlausgaben einen großen Raum für interdisziplinäre und interkulturelle Diskurse über Grimms Märchen an, die sich inzwischen in zwei Hauptgebieten zu etablieren versuchen: Entstehungs-, Rezeptions- und Wirkungsgeschichte dieser Märchensammlung einerseits64, ← 27 | 28 → Stoff- und Motivvergleiche mit den chinesischen Märchen andererseits65. Der Schwerpunkt der aktuellen Forschung liegt auf deskriptivem Vorstellen und Vergleichen. Eine Monographie über eine neue Interpretationsperspektive oder über die Interpretation des Märchenkorpus überhaupt ist noch nicht erschienen.

Es fehlen der deutschsprachigen Forschung zwar keine neuen sowohl fachinternen als auch interdisziplinären Impulse für die Kinder- und Hausmärchenstudien, jedoch gilt ein philologisch fundierter strukturaler philosophischer Deutungsansatz noch als Desiderat der Märchenforschung. Die Philologie stellt die philosophischen Fragen: „Man tut wohl gut daran, sich vor der Beschäftigung mit den heutigen Mutationen und Wirkungen der Märchen einmal wieder der Grundlage zu versichern: Was wirkt da? Oder: Was ist es denn wirklich, was da wirkt und immer weiterwirkt?“66; die Philosophie bedient sich des philologischen Märchenkorpus zur Erhellung des tiefsinnigen Einzel- oder Gruppenbildes67. Beide Fachgebiete (nicht nur die beiden, sondern auch die anderen oben angeführten Deutungsschulen) erkennen und berühren den substanziellen Gehalt der Märchen („Weisheit“ von den „allgemein-menschlichen Reifungserlebnissen und von menschlichen Grundsituationen“), jedoch keines geht dieser Daseinsthematik strukturell auf den Grund. Parallel zu den Genese- und Gebildeforschungen, die zur Phänomenologie des Märchens – Entstehung, Entwicklung, Stil, Form – beitragen, verlaufen die Gehaltsuntersuchungen, die die „innere Wahrheit“68 der Märchen, die „menschenkundlich und speziell psychol. ausgerichtet“69 ist, zu erschließen versuchen. Diese innere Wahrheit greift Carl Gustav Jung in seinem Artikel Vom Werden der ← 28 | 29 → Persönlichkeit70 auf, dessen Schlusssatz das methodische Fundament der vorliegenden Arbeit erhellt: „Persönlichkeit ist Tao.“71 Tao ist Weisheit und Weisheit ist, wie oben analysiert, die Qualität der „guten Lehre“ der Märchen. Märchen erzählen von Menschen und Menschen handeln. Das Handeln setzt das Denken voraus und das Denken verrät die zwei zugrundeliegenden Welt- und Wertvorstellungen, die sich auf die vielfältigen Märchenfiguren verteilen, die die klassische „gute Lehre“ präsentieren: Gutes (Tugend) wird belohnt, Böses (Laster) wird bestraft.72

Es stellt sich jetzt die Frage: Wie verstehen sich Tugend und Laster in den Märchen, die ausschlaggebend für den glücklichen oder unglücklichen Ausgang der Figuren sind? Was verstehen die Märchen der Brüder Grimm überhaupt unter Glück und Unglück, die „als Zentralbegriffe für das Märchen angesehen werden [können], da sich im Grunde alle Märchen mit Gelingen oder Mißlingen, Erreichen oder Verfehlen eines Zieles befassen“73?

Diesen Fragen widmet sich die vorliegende Arbeit, die durch den Aufbau von Verhaltensmodellen bekannter Märchenfiguren die Märchenweisheiten zu erschließen versucht. Die philosophische Grundlage der Grundverhaltensmodelle beruht auf den chinesischen und deutschen Rezeptionen der daoistischen Philosophie. Die philologischen Untersuchungsgegenstände bestehen hauptsächlich aus 14 Märchentexten der Kinder- und Hausmärchen (Ausgabe letzter Hand). Der Leitfaden der Untersuchung ist der Feststellung entsprungen, die in der Vorrede der Kinder- und Hausmärchen 1812 geäußert und in der Einleitung 1819 unter dem Titel Über das Wesen der Märchen abgeändert ausgedrückt wird:

„Durch den Dummling wird die weltliche Klugheit gedemütigt, denn er, weil er reinen Herzens ist, gewinnt allein das Glück.“74

Diese Konstatierung zeigt, dass sich die Weisheit75 in den Kinder- und Hausmärchen von der Klugheit des Alltags unterscheidet. Diese Weisheit steht einer Art ← 29 | 30 → von „Dummheit“ nah, die der herkömmlichen Klugheit gegenübersteht.76 Die „Verkehrtheit“ dieser Märchenlogik irritiert den Menschen so sehr, dass die Abwehr gegen Märchen unübersehbar ist. Aber wer sich gegen Märchen wehrt, der hat nach Wilhelm Salber „Angst vor der märchenhaften seelischen Wirklichkeit, die einen Zugang eröffnet zu der ungeheuren und paradoxen Wirkungswelt, in der wir leben“77. In dieser Wirklichkeits- oder Wirkungswelt ist die Doppelgesichtigkeit der Wesensnatur präsent. Die Tiere, die Wunderhelfer, das Elternhaus, der gewaltige Befehl, die bedingungslose Liebe, der giftige Apfel, die stechende Spindel etc. können beides verkörpern, Glück und Gefahr, und zwar gleich für jeden. Der Fuchs erscheint nicht nur vor dem jüngsten Königssohn, er spricht auch die zwei älteren an. Aber die beiden verscherzen sich ihre Chance und wenden sich von dem Wunder ab. In diesem Sinne sind alle vor dem Wunder oder vor der günstigen Schicksalswende gleich, es hängt aber letztendlich davon ab, wie man damit umgeht.

Der Dummling78 geht mit allem generell gelassen und gewissenhaft um. Er verhält sich natürlich und naiv. Seine Naivität verwechseln die gewöhnlichen ← 30 | 31 → Menschen, meistens die Familienmitglieder, fast immer mit der wahrhaften Dummheit. Der Dummling beschäftigt sich nicht mit weltlichen Werten und ist deswegen so anders als die anderen, dass die anderen ihn nicht verstehen können und wollen. Sie verlachen ihn, vertreiben ihn und versuchen, ihn mit aller Hinterlist zu vernichten. Die Reaktion des Dummlings ist eigentlich das Wunder par excellence: weder vergilt er Böses mit Bösem, noch vergilt er Feindschaft mit Wohltun. Er regt sich überhaupt nicht deswegen auf. Es scheint, als ob er davon nichts wüsste. Das Wunderbare dabei ist, dass sein weises Verhalten nicht auf dem Erlernen der Moralvorschriften beruht. Er handelt spontan und spielend, ohne Bedenken und Berechnung, darum lässt er sich kaum aus dem Gleichgewicht bringen. Er fürchtet nichts und flüchtet auch nicht in Wunschträume, sondern weiß die eigene Lebenserwartung und Lebensenergie auszurichten an dem, was ihm wirklich wahr und wichtig ist.79 Seine „Dummheit“ unterscheidet sich von der des puren Dummkopfes, der nicht mit dem Weltzusammenhang in Einklang stehen kann. Die erste Art von Dummheit entspricht dem Grimm’schen Begriff von „Dummling“, die zweite „der weltlichen Klugheit“. Wenn der Figurentyp „Dummling“ nach Wilhelm Grimm der alleinige Glücksgewinner ist, sollen alle Märchenfiguren, die am Ende glücklich enden, eine entscheidende Gemeinsamkeit mit dem Dummling teilen: sie müssen zum Schluss auch „reinen Herzens“ sein. In diesem analytischen Diskurs wird die Märchenfigur, die entweder ein „Dummling“ ist oder sich zum „Dummling“ mit „reinem Herzen“ entwickelt, als Märchenheld bezeichnet, während die Märchenfigur, die „das reine Herz“ für immer verliert, als Märchenantiheld benannt wird.

Primär bedeutet das Wort „rein“: „nicht mit etwas vermischt, was nicht dazugehört; ohne fremden Zusatz, ohne verfälschende, andersartige Einwirkung“80. ← 31 | 32 → Es deutet auf eine Einheit hin, die ohne fremde Beeinflussung die originale Beschaffenheit bewahrt. Das Wort „Herz“ bedeutet: „in der Vorstellung dem Herzen zugeordnetes, in ihm lokalisiert gedachtes Zentrum der Empfindungen, des Gefühls, auch des Mutes und der Entschlossenheit“81. „Das reine Herz“ heißt dann in einheitlicher Weise zu fühlen und zu handeln. Es bezeichnet einen ursprünglichen ungeteilten Zustand, der durch die konventionelle egozentrische Denk- und Verhaltensweise zerstört wird. Dieser Prozess des Verlustes schildert eine daoistische Parabel wie folgt:

„Der Herr des Südmeeres war der Schillernde; der Herr des Nordmeeres war der Zufahrende; der Herr der Mitte war der Ungeteilte82. Der Schillernde und der Zufahrende trafen sich häufig im Lande des Ungeteilten, und der Ungeteilte begegnete ihnen stets freundlich. Der Schillernde und der Zufahrende überlegten nun, wie sie des Ungeteilten Güte vergelten könnten. Sie sprachen: ‚Die Menschen alle haben sieben Öffnungen zum Sehen, Hören, Essen und Atmen, nur er hat keine. Wir wollen versuchen, sie ihm zu bohren.‘ So bohrten sie ihm jeden Tag eine Öffnung. Am siebenten Tage, da war der Ungeteilte tot.“83

Die beiden Herren aus Süd und Nord spielen die Rolle der verfälschenden und andersartigen Einwirkung, die sich anmaßt, Zusätze (die sieben Öffnungen) in die ungeteilte Reinheit zu mischen. Verliert man die Reinheit und Einheit, geht man in Kürze unter, wenn auch nicht unbedingt in sieben Tagen. Die Antihelden sind Beispiele dafür. Während die Märchenhelden meistens nie irreversibel tot sind, gehen die Antihelden oft unumkehrbar unter. Aber sie sind nicht vom Anfang bis zum Ende unglücklich oder vom Anfang an zum Misserfolg verdammt. Sie waren eigentlich auch einmal glücklich oder mindestens für einen kurzen Moment zufrieden. Die Stiefmutter in Sneewittchen (KHM 53) war anfangs „zufrieden“84, als sie die Wahrheit erfuhr, dass sie die Schönste im Land war; der Fischer und seine Frau (KHM 19) waren mit der ersten Hütte zufrieden („‚Süh‘, säd de Fru, ‚is dat nich nett?‘ ‚Ja‘, säd de Mann, ‚so schall’t blywen, nu wähl wy recht vergnöögt lewen.‘“85), bevor der Frau ein anderer Wunsch einfiel; die hässliche und faule Tochter in Frau Holle (KHM 24) hatte anfangs nichts zu ← 32 | 33 → klagen, denn sie wurde von der Mutter verwöhnt und brauchte nicht zu arbeiten („Die andere mußte alle Arbeit tun“86); die beiden älteren Brüder im Märchen Der goldene Vogel (KHM 57) fühlten sich wohl, als sie in dem lustigen Wirtshaus „in Saus und Braus“87 lebten; die Stiefschwestern waren am Anfang des Märchens Aschenputtel (KHM 21) heiterer Laune, sie „lachten“88 und lachten das Aschenputtel aus. Diese Figuren werden im Text nie als dumm bezeichnet, aber ihre Verhaltensweisen haben es bewiesen. Sie können nicht bis zum Ende lachen und bis heute leben, weil sie den Weg zurück zur Lebensquelle verlieren. Das heißt, sie verlieren das, was Menschlichkeit und Ewigkeit ausmacht: das reine Herz oder nach der daoistischen Philosophie, die ursprüngliche Einheit, die in der Chiffre „Dao“ inbegriffen ist.

„Dao“ ist göttlich, aber es ist kein Gott. Es ist Natur und Natürliches. Es ist alles und „Nichts“. Es ist überall und doch ist es nirgendwo zu sehen. Es ist nicht mit Worten auszuloten, wie ein „Brunnen, dessen Tiefe man nicht kennt, aus dem aber jeder nach seinem Bedürfnis schöpft“89. Mit demselben Brunnengleichnis erklären die Brüder Grimm den gemeinsamen Ursprung der Märchen verschiedener Kulturkreise:

„Die Übereinstimmung zwischen Märchen durch Zeit und Entfernung weit getrennter nicht minder als nahe an einander gränzender Völker beruht theils in der ihnen zu Grund liegenden Idee und der Darstellung bestimmter Charaktere, theils in der besondern Verflechtung und Lösung der Ereignisse. Es gibt aber Zustände, die so einfach und natürlich sind daß sie überall wieder kehren, wie es Gedanken gibt, die sich wie von selbst einfinden“90.

Diese natürliche „sichvonselbstmachende“ Erzählung – „ohne Bindung an historische Personen oder an bestimmte Örtlichkeiten“91 – ist eben eine Art von „überall und nirgendwo“, die das „Göttliche und Geistige im Leben“92 offenbart. Diese „durch Zeit und Entfernung weit getrennten“ Gemeinsamkeiten betreffen nicht nur Märchen der Völker, sondern auch Philosophien der Völker. Diese Dimension sah Wilhelm Grimm längst (1811) voraus: ← 33 | 34 →

„Es scheint nämlich, daß es sich mit der Poesie ebenso verhalte wie mit der Philosophie der Völker, und daß dasjenige, was Görres in seiner Mythengeschichte93, deren Resultate wir mit zu den größten rechnen, die die Zeit gewonnen, von dieser dargetan, auch von jener gelten werde. Das Göttliche, der Geist der Poesie ist bei allen Völkern derselbe […].“94

An dieser Stelle kristallisiert sich der Ansatz der vorliegenden Arbeit heraus: mit Philosophie Poesie zu erhellen. Zu unterstreichen ist, dass dieser philosophische Deutungsansatz, der auf der Verhaltensebene (berücksichtigt wird sowohl das individuelle Profil einzelner Märchen als auch deren Gemeinsamkeiten) die bedeutende „Nachricht“, „Kunde“ oder „Botschaft“, wie das „Märchen“ in seinem ursprünglichen Sinne zu verstehen ist95, zu erschließen versucht, die anderen Märchendeutungsrichtungen nicht ausschließt, sondern ergänzt. Auf diese Deutungsmöglichkeit weist Max Lüthi hin:

Details

Seiten
348
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783631714911
ISBN (ePUB)
9783631714928
ISBN (MOBI)
9783631714935
ISBN (Hardcover)
9783631714744
DOI
10.3726/b10633
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Mai)
Schlagworte
Antihelden Glück Helden Laozi Märchendeutung Märchenfiguren Tugend Zhuangzi
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 348 S., 49 s/w Abb.

Biographische Angaben

Liping Wang (Autor:in)

Liping Wang studierte Germanistik in Beijing, gefolgt von einem Austauschstudium in München. Sie wurde am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin promoviert und arbeitet am Department of Foreign Languages and Literatures der Tsinghua University, Beijing.

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Titel: Figur und Handlung im Märchen
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