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Eine Rolle für die NATO out-of-area?

Das Bündnis in der Phase der Dekolonisierung 1949–1961

von Moritz Pöllath (Autor:in)
©2017 Dissertation VII, 428 Seiten

Zusammenfassung

Die out-of-area-Debatte der NATO wurde im untersuchten Zeitraum vom Ausgreifen des Kalten Krieges auf Afrika und Asien sowie von der Kolonialpolitik fünf ihrer Partnerstaaten erfasst. Die Debatte belastete das Bündnis und übte einen maßgeblichen Einfluss auf die Struktur der NATO aus: Artikel 4 des NATO-Vertrags erlangte dabei ebenso eine herausragende Bedeutung wie die Absicht der Kolonialmächte, die USA für ihre Ziele zu instrumentalisieren. Die Analyse der Allianz auf Basis multiarchivalischer Forschung, die Oral History-Projekte und Nachlässe von Politikern einschließt, trägt so zum Verständnis der Organisation bei – zumal der Aufgabenbereich der NATO bis heute zwischen den Polen regionaler Verteidigung und globaler Ordnungsfunktion schwankt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • 1. Einleitung
  • 1.1 Untersuchungsgegenstand
  • 1.2 Thema und Fragen
  • 1.3 Methode und Begriffe
  • 1.4 Forschungsstand
  • 1.4.1 Geschichte des Kalten Krieges
  • 1.4.2 NATO und der atlantische Raum
  • 1.4.3 Die Öffnung zu einer internationalen Perspektive
  • 1.4.4 Out-of-area: Das atlantische Bündnis aus einem globalen Blickwinkel
  • 1.5 Aufbau
  • 2. Die Gründung der NATO 1949: „I’ve Got Plenty Of Nothin“
  • 2.1 Auftakt der Blockkonfrontation
  • 2.2 Entstehung der Eindämmungspolitik
  • 2.3 Anfänge transatlantischer Kooperation
  • 2.4 Streit über die geographische Definition der Allianz
  • 2.5 Die Unterzeichnung des Nordatlantikvertrages
  • 3. Der NATO-Rat bis 1956: Blick auf die Peripherie
  • 3.1 NATO-Rat: Erste out-of-area-Debatten
  • 3.2 Libyen und Indochina: Information und Einbezug der Verbündeten
  • 3.3 Stützpunkte: Infrastrukturprogramme außerhalb des Vertragsgebietes
  • 3.4 Zwist in der Allianz: Konsultationen über Asien und Indochina
  • 3.5 Wachtposten im Niemandsland: Indien, Portugal und die Goakrise
  • 3.6 West-Neuguinea: Den Haags Suche nach Verbündeten
  • 3.7 Zusammenfassung
  • 4. Bandung 1955: Die Formierung der Dritten Welt
  • 4.1 Kritik: Die Sicht vom Indischen Ozean
  • 4.2 Drohungen: Artikel 4, Goa und Chruschtschow
  • 4.3 Reaktionen: Ausbau der Konsultationen und Zusammenarbeit
  • 4.4 Zusammenfassung
  • 5. Krisenjahr 1956: Ausfall der NATO-Konsultationen
  • 5.1 Lange, Martino und Pearson: Die Arbeit der „Drei Weisen“
  • 5.2 Suezkrise: Rückschlag der politischen Konsultationen
  • 5.3 Die Folgen der Suezkrise: Der Bericht der „Drei Weisen“
  • 5.4 Zusammenfassung
  • 6. Kolonialkonflikte ab 1957: Die Auflösung der europäischen Kolonialreiche
  • 6.1 „Explosive Evolution“: Die Dekolonisierung von Goa und West-Neuguinea
  • 6.2 Deckmantel der Bündnissolidarität: De Gaulles Memorandum 1958
  • 6.3 Chaos und Konflikt: Belgien, Kongo und die UN
  • 6.4 Die Letzten: Portugals Kolonialpolitik in Afrika
  • 6.5 Zusammenfassung
  • 7. Schlussfolgerungen
  • 7.1 Bilanz und Bedeutung der out-of-area-Frage
  • 7.2 Ausblick
  • Quellen- und Literaturverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Index

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Vorwort

Die Arbeit an der vorliegenden Studie erscheint mir im Rückblick wie eine lange Reise, bei der mich beständige Unterstützer begleiteten sowie wohlwollende Weggefährten einzelne Etappen mit mir zurücklegten. Viel eigener Schweiß und Arbeit stecken in der Studie, die von der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Chemnitz nach erfolgreicher Disputation am 22. August 2016 angenommen wurde. Aber ohne den im Folgenden zu dankenden Wegbegleitern wäre mein Pfad als beschwerliche Odyssee in Erinnerung geblieben und nicht als persönliche Bereicherung an neuen Erfahrungen, Erkenntnissen und Einsichten.

Meiner Doktormutter Professorin Dr. Beate Neuss danke ich herzlichst für ihre besonnene und gleichzeitig fordernde Betreuung, mit der sie die Richtung der Arbeit kontinuierlich im Blick behielt. Durch ihre Ratschläge konnte ich so manchen Irrweg im Forschungseifer vermeiden. Ihr gebührt mein großer Dank, meinem Forschungsdrang viel Freiheit gelassen zu haben und gleichzeitig fokussiert bei der Sache geblieben zu sein. Unschätzbar bleibt mir ihr Einsatz, der Arbeit im richtigen Moment neuen Schwung und Schärfe gegeben zu haben – meinen allerherzlichsten Dank! Ich kann mich auch sehr glücklich schätzen, dass mein Zweitgutachter Professor Dr. Dr. Heiner Timmermann mir über die Jahre mit Rat und Tat zur Seite stand. Von dem Gedankenaustausch mit ihm über die Atlantische Allianz und den Kalten Krieg profitierte ich erheblich, hat er doch beide Forschungsfelder über die Jahrzehnte mitgeprägt. Aus der Ferne, aber immer erreichbar, begleitete er mich mit seinen klugen Hinweisen durch die Archive in Brüssel und den USA und erwies sich als unerschöpflicher Impulsgeber. Mit seiner Zuversicht und Erfahrung schenkte er mir Kraft, konstant an der Arbeit zu bleiben.

Meine wissenschaftliche Neugierde für Fragen der Diplomatie- und Militärgeschichte weckten Professor Dr. Russell Hart und Captain Carl Otis Schuster an der Hawai‘i Pacific University. Sie beide sind mir als sehr gute Lehrer in Erinnerung geblieben, die mich freundschaftlich förderten und stets dazu ermutigten, noch mehr zu lesen, noch mehr Fragen zu stellen und mich niemals mit einfachen Antworten zufrieden zu geben. Beiden verdanke ich mein Forschungsinteresse an Fragen aus der Schnittmenge der Diplomatie- und Militärgeschichte. Ihre pragmatische Herangehensweise an die Geschichte verdeutlichte mir, wie Geschichte und Politikwissenschaft sich gegenseitig bereichern und nicht allein für die Archive bestimmt sind, sondern für unseren Alltag; getreu ihrem Motto: Lessons learned!

Über die Jahre traf ich immer wieder auf gute Ratgeber und akademische Gastfreundschaft. Während meines Archivaufenthaltes in Washington D.C. war ← 1 | 2 → Louie Milojevic mir eine große Hilfe und – viel wichtiger – ein guter Freund. Wertvolle Quellen fand ich in den Archiven dank der ausgesprochen freundlichen und hilfsbereiten Archivare. Von ihnen ist mir besonders Kevin Bailey von der Eisenhower Presidential Library in Erinnerung geblieben, der mich auf zusätzliche wertvolle Quellensammlungen aufmerksam machte.

Zur Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, die meine Promotion mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung förderte, kam ich auch dank Professor Dr. Johannes Varwick, der sich Zeit für mein Forschungsprojekt nahm. Als Vertrauensdozent hat mich Professor Dr. Dr. Harm Klueting über die Jahre begleitet – danke für die geistreichen Gespräche und das aufrichtige Interesse. Dank der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit konnte ich wissenschaftliche Konferenzen in den USA und Großbritannien besuchen, bei denen ich meine Forschungen Historikern und Politikwissenschaftlern aus aller Welt vorstellen konnte. Ganz besonders hervorheben möchte ich darunter die Transatlantic Studies Association: Dort wurde ich mit britischer Gastfreundschaft aufgenommen und habe in Dundee eine wunderbare Gemeinschaft von Wissenschaftlern erlebt. Von dem akademischen Gedankenaustausch hat meine Dissertation in hohem Maße profitiert und Dr. Jeffrey Michaels hat meine Blicke in genau dem richtigen Zeitpunkt geschärft und mich auf meinem Weg bestärkt – dafür möchte ich ihm danken.

Die Freundschaft und Unterstützung von Dr. Christine Mogendorf nimmt einen besonderen Platz ein, hat sie doch das Manuskript Korrektur gelesen und erheblich zur Leserlichkeit der Studie beigetragen. Die Gespräche mit ihr waren und sind von ihrem lebensfrohen Witz gekennzeichnet und dabei stets hilfreich. Immer an meiner Seite befand sich glücklicherweise meine wunderbare Freundin Svenja Schnepel. Sie nahm sich viel Zeit für meine Gedanken, durchdachte mit mir die nächsten Schritte und las das Manuskript Korrektur. Trotz zwei genialer Korrekturleserinnen liegt die Verantwortung für die vorliegende Fassung selbstverständlich bei mir. Über die Zeit unschätzbar bleibt aber Svenjas liebevoller Blick für das Wesentliche: Sie gab mir Kraft in den schwierigen Phasen, begab sich mit mir auf Entdeckungsreise durch die Archive und verstand es mit ihrem zauberhaften Lächeln, vergangene Diskussionen im NATO-Rat sowie Berichte entlegener ehemaliger Kolonien für den Moment in den Hintergrund treten zu lassen und meinen Blick auf die schönen Augenblicke des Lebens zu richten. Danke, dass du den Weg mit mir gegangen bist!

Worauf ich aber immer zählen konnte, gleich welchen Weg ich im Leben einschlug, war die Unterstützung und Liebe meiner Eltern Dr. Martin und Hildegunde Pöllath: Ihnen widme ich diese Arbeit – Danke für Alles!

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1.    Einleitung

1.1    Untersuchungsgegenstand

„The fundamental defect of the Atlantic Alliance, however, is that it is merely – Atlantic. Actually, it is restricted to the North Atlantic.”1 Jacques Soustelle, Generalsekretär der Gaullisten in Frankreich von 1947 bis 1951, übte mit dieser Aussage in der Zeitschrift Foreign Affairs 1952 Kritik an der regionalen Ausrichtung der Nordatlantikpakt-Organisation (NATO). Aus Soustelles Perspektive existierten vier geopolitische Konfliktregionen mit der Sowjetunion: in Europa, auf dem Balkan, im Nahen Osten und in Südostasien. Daher forderte er „a global alliance, that is, to meet a threat that knows no boundaries, regions or limits.“2 Auch bei der Unterzeichnung des Nordatlantikvertrages am 4. April 1949 hatte Lester Bowles Pearson, zu diesem Zeitpunkt Außenminister Kanadas, die folgenden zukunftsweisenden Worte geäußert: „This treaty, though born of fear and frustration, must, however, lead to positive social, economic, and political achievements if it is to live – achievements which will extend beyond the time of emergency which gave it birth, or the geographical area which it now includes.”3 Pearson blickte damit bereits bei der Gründung der NATO über die geographische Einschränkung der Allianz hinaus, der sich sein französischer Kollege Soustelle drei Jahre später anschloss, indem er die – angebliche – Atlantizität, sprich Regionalität, des Vertragsgebiets bemängelte. Beide Aussagen waren frühe Indizien für eine lebhafte Diskussion innerhalb der Allianz, ob und welche geographischen Einschränkungen für die NATO gelten sollten.

Die Debatte über das Einsatzgebiet der NATO ist keine Entwicklung der letzten Jahrzehnte, die nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Abschied von der bipolaren Weltordnung wiederauflebte. Nachdem die Berliner Mauer gefallen war und sich der Warschauer Pakt aufgelöst hatte, erweiterte sich der geographische Blickwinkel der NATO. Konfrontiert damit, welche Aufgaben die Allianz von jetzt an übernehmen sollte, richtete sich das Bündnis in einem gewandelten sicherheitspolitischen Umfeld neu aus. Der Einsatz im Kosovo-Krieg verdeutlichte die grundlegende Veränderung des „alten“ Defensivbündnisses gegen die ← 3 | 4 → UdSSR und Warschauer Pakt-Staaten. Im „Strategischen Konzept“ von 1999 beschlossen die NATO-Staaten auf Basis der Erfahrung der Einsätze in Bosnien und im Kosovo, eine derartige Krisen- und Konfliktbewältigung im veränderten Sicherheitsumfeld des euro-atlantischen Raumes als Bestandteil des NATO-Aufgabenspektrums zu integrieren.4

Diese historische Neuausrichtung rückte die Diskussion über das geographische Verantwortungsgebiet der NATO wieder in den Fokus. Der Staat Jugoslawien lag in Südosteuropa und grenzte an die NATO-Mitglieder Griechenland und Italien. Die Einsätze dort wurden als ein out-of-area-Einsatz betrachtet, da nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrages kein Angriff auf das Gebiet eines Mitgliedstaates stattgefunden hatte und sie somit außerhalb des Bündnisgebietes nach Artikel 6 erfolgten. Der erste militärische Einsatz der Allianz stand daher nicht in der Gründungsräson des Kalten Krieges, die vorsah einer sowjetischen Expansion Einhalt zu gebieten. In Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen (UN) übernahm die NATO sicherheitspolitische Verantwortung außerhalb ihrer traditionellen Grenzen. Auf Anfrage des UN-Sicherheitsrates unterstützte das Bündnis in Übereinstimmung mit den UN-Resolutionen 713 und 757 ein Waffenembargo und wirtschaftliche Sanktionen gegen das ehemalige Jugoslawien – zunächst durch eine maritime Präsenz in der Adria. In den folgenden Jahren übernahm die Allianz mit der Kontrolle der Flugverbotszonen über Bosnien-Herzegowina Funktionen einer globalen Ordnungspolitik und mit der Eskalation des Konfliktes erhielt die United Nations Protection Force (UNPROFOR) Luftunterstützung durch die NATO. Die Einrichtung und Absicherung der Schutzgebiete in Bosnien für die Zivilbevölkerung führte auch zum ersten Kampfeinsatz der Allianz – dem Abschuss von vier serbischen Flugzeugen. Nach dem Zusammenbruch der UNPROFOR-Mission im August 1995, die aus 10.216 Blauhelmsoldaten aus 29 Ländern bestand und kein Mandat zum Eingreifen in die Kriegshandlungen besessen hatte, flog die NATO Luftangriffe gegen die Positionen des serbischen Militärs außerhalb Sarajevos. Dadurch schwächte die Allianz die militärische Option Serbiens so weit, sodass der Diplomatie Raum ← 4 | 5 → eröffnet wurde und Verhandlungen über das Abkommen von Dayton geführt werden konnten.5

Die Jugoslawien-Einsätze waren gleichermaßen eine Lehrstunde für die UN wie die NATO. Während die Vereinten Nationen mit den Fehlern ihrer peacekeeping-Missionen in Bosnien und Ruanda kämpften – in beiden Fällen hatten sich die Blauhelme passiv gegenüber ethnischer Säuberung und Völkermord verhalten –, feierte NATO-Generalsekretär Javier Solana 1995 die Implementation Force (IFOR), die den Waffenstillstand vor Ort durchsetzen sollte, mit den Worten: „a turning point not only for the former Yugoslavia but also for the Atlantic Alliance. For the first time in the Alliance’s 47-year history, we are deploying ground forces in what used to be called an ‘out-of-area’ operation.”6 Dieser Wendepunkt für die Allianz von einem regionalen hin zu einem globalen Akteur geschah nicht alleine als Reaktion auf zeitgeschichtliche Entwicklungen, sondern beruhte auf einer internen Debatte, die seit Gründung der Allianz besteht und Untersuchungsgegenstand dieser Studie ist. Die Missionen im ehemaligen Jugoslawien, einschließlich der politisch umstrittenen Entscheidung, ohne UN-Mandat im Kosovo-Krieg einzugreifen, waren für die NATO zum Testfall geworden, inwieweit die Allianz als Sicherheitsakteur in Konflikten außerhalb ihres Vertragsgebietes auftreten sollte. In der Folge lässt sich von diesen Einsätzen auf dem Balkan eine direkte Linie bis zur Führung der International Security Assistance Force (ISAF) am 11. August 2003 in Afghanistan ziehen, da seit den Missionen im ehemaligen Jugoslawien sowie in Afghanistan die NATO-Vertragsstaaten nicht mehr nur außerhalb des territorial definierten Schutzbereiches, sondern auch außerhalb des euro-atlantischen Raumes aktiv geworden waren. Auch verfolgen die NATO-Staaten seitdem ihre neu definierten Sicherheitsinteressen in Zentralasien, Afrika – in Kooperation mit der Afrikanischen Union oder in eigener Mission am Horn von Afrika –, im Mittelmeerraum, aber auch als Nothelfer wie nach dem Erdbeben 2005 in Pakistan.7 ← 5 | 6 →

1.2    Thema und Fragen

Mittlerweile gehört es zur Tagesordnung der NATO, die internationale Situation aus einer globalen Perspektive zu betrachten und auch außerhalb des euro-atlantischen Raumes als Sicherheitsakteur in Erscheinung zu treten. In den Anfangsjahren der Allianz waren die Entwicklungen der NATO zu einem möglichen globalen Akteur dagegen ein neues Phänomen und unter den Mitgliedern höchst umstritten, wie die Studie zeigen soll. Insbesondere durch die Möglichkeit der Konsultation nach Artikel 4 des NATO-Vertrages sind diplomatische Aktivitäten für globale Anliegen der Mitgliedstaaten innerhalb der Allianz zu beobachten. Der Wortlaut des Artikel 4 ermöglicht eine breite Interpretation von Sicherheitsbedrohungen durch die Vertragspartner: „Die Parteien werden einander konsultieren, wenn nach Auffassung einer von ihnen die Unversehrtheit des Gebietes, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht ist.“8 Gegenwärtig nutzt der NATO-Rat Konsultationen nach Artikel 4, um damit eine formalrechtliche Klärung des Aufgabenspektrums und Bündnisgebietes zu umgehen und bewegt sich auf eine „Dehnung bzw. Neudefinition des Washingtoner Vertrages“9 zu, wie der Politikwissenschaftler Johannes Varwick die Transformation des Selbstverständnisses der Allianz formuliert. Die Forschung über die strategische Debatte innerhalb der Allianz, ob die NATO als geeigneter Sicherheitsakteur abseits der Supermacht-Konfrontation eingesetzt werden könnte, fand lange Zeit wenig Beachtung. Der Fokus der Forschung lag auf der Achse des Ost-West-Konfliktes und wurde erst mit Ende des Kalten Krieges um die West-West sowie Ost-Ost-Konflikte innerhalb der Blöcke erweitert. Auf der Nord-Süd-Achse verblieb die out-of-area-Frage weitgehend unerforscht und ein eher exotischer Aspekt der NATO-Geschichte, der bewusst durch die europäischen Kolonialmächte angetrieben und beeinflusst wurde.

Die Studie soll daher neue Erkenntnisse zu der Entwicklung des Selbstverständnisses der Allianz liefern und die Konsultationsmechanismen sowie Interessen ihrer Mitglieder erforschen, die diese out-of-area-Debatte geprägt und ← 6 | 7 → gesteuert haben. Konkret wird dabei die Frage untersucht: Welche Strategien wurden von den Kolonialmächten als politisches Instrument innerhalb der Atlantischen Allianz ergriffen, um den Prozess der Dekolonisierung in den europäischen Kolonialreichen in Afrika und Asien aufzuhalten? Die Untersuchung der Problemstellung, wie sehr die Dekolonisierung in die Atlantische Allianz durch ihre europäischen Mitglieder hineingetragen wurde, ermöglicht eine neue Perspektive und Bewertung der Interessen der westeuropäischen Kolonialstaaten, die NATO für Sicherheitsinteressen einzuspannen, die nicht ihrer Gründungsraison entsprochen hatte – der Abwehr des totalitären sowjetischen Herrschaftsanspruches. Darüber hinaus soll die Studie Einblicke in die internationale oder regionale Ausrichtung der Allianz im frühen Kalten Krieg gewähren. Auf institutionsgeschichtlicher Ebene wird zudem im Rahmen einer Analyse der out-of-area-Debatten die Veränderung und Weiterentwicklung der Konsultationsprozesse im NATO-Rat ausgearbeitet, strukturiert und beantwortet, wie die Allianz um einen geeigneten Platz für die out-of-area-Fragen im Gefüge der Organisation stritt.10

Im Zusammenhang mit der out-of-area-Frage kann die Bedeutung der NATO-Interventionen von 1995 und 1999 auf dem Balkan nicht stark genug unterstrichen werden, zumal die antikommunistische Gründungsräson der NATO eng mit Artikel 5 des Vertrages verbunden war: der Verpflichtung, sich im Falle eines Angriffes auf das eigene Territorium gegenseitig zu helfen. Als in Washington 1949 der Vertrag unterzeichnet wurde, waren alle Teilnehmer davon ausgegangen, eine zukünftige Auseinandersetzung mit der Sowjetunion stünde bevor. Sowohl die atlantische Öffentlichkeit als auch eine Mehrheit von Experten sah in der Verteidigung des nach Artikel 6 definierten Gebietes das verbindliche Kernstück des Aufgabengebietes der Allianz. Um die Sicherheit der Territorien der Bündnismitglieder zu gewährleisten war daher bis 1989 eine mögliche Eskalation des Kalten Krieges als Argument gegen eine out-of-area-Mission angeführt worden. Diese Logik brach erst nach dem Kalten Krieg auf, denn die Jugoslawien-Einsätze begründeten sich auf Artikel 4 und damit auf den Konsultationsprozess des Nordatlantikrates, der eingeschaltet werden kann, wann immer die Sicherheit eines Mitgliedstaates bedroht wird.11 ← 7 | 8 →

In Deutschland führte dies zu verfassungsrechtlichen Bedenken, da Artikel 26 GG „Verbot eines Angriffskrieges“12 als Kernargument gegen militärische Auslandseinsätze der Bundeswehr aller Art herangezogen worden war. Im Zuge des Jugoslawien-Krieges klärte das Bundesverfassungsgericht diese juristische Frage im sogenannten out-of-area-Urteil vom 12. Juli 1994 für die Bundesrepublik Deutschland: Auslandseinsätze der Bundeswehr sind im „Rahmen gegenseitiger kollektiver Sicherheit“13 grundsätzlich nach Artikel 24 und 87a GG zulässig. Zusätzlich musste die demokratische Legitimation gewährleistet werden, was durch den Erlass des Parlamentsbeteiligungsgesetzes am 18. März 2005 deutlich später geregelt wurde.14 Für die Zeit vor 1994, insbesondere für den Untersuchungszeitraum der Studie, blieb dagegen die Diskrepanz zwischen direkter territorialer Konflikte in Europa, wie einer Eskalation des Kalten Krieges an der deutsch-deutschen Grenze und wahrgenommene Sicherheitsbedrohungen außerhalb Europas in Afrika und Asien bestehen und unterstreicht die Bedeutung der Problemstellung der Studie: Wenig bekannt und untersucht ist, in welchem Maß die Mitgliedstaaten der Atlantischen Allianz bereits in der Vergangenheit die Möglichkeit von Einsätzen nach Artikel 4 entdeckt und diskutiert hatten.15

Die aus der Studie gewonnenen Erkenntnisse sollen im Feld der Politikwissenschaft Einsichten in die Handlungsmuster der Kolonialmächte liefern, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg als sicherheitspolitisch geschwächte Akteure versuchten, die USA für ihre Zwecke zu gewinnen. Ganz bewusst möchte diese Arbeit die Synthese von Geschichts- und Politikwissenschaft anstreben, wie sie von Leopold von Ranke als Verwandtschaft beschrieben und von Alexander Gallus für die aktuelle Forschungsdebatte wieder aufgegriffen wurde.16 Im Feld der Neuesten Geschichte soll daher die Analyse der frühen out-of-area-Fälle zu einem besseren Verständnis der Zeitgeschichte beitragen, da die Frage des Aufgabenbereiches des Bündnisses regelmäßigen Neubewertungen unterliegt, zuletzt in Form des Strategischen Konzepts von 2010, und zwischen den Polen ← 8 | 9 → globaler Einsatzbereitschaft und regionaler Verteidigung schwankt. Die Verteidigung des europäischen Kontinents gewann 2014 wieder an Aktualität, obwohl das Verhältnis zwischen der Atlantischen Allianz und Russland nach dem Kalten Krieg erhebliche Veränderungen erfahren hat, bleibt es weiterhin von Konflikt und Wettbewerb geprägt. Der ehemalige Supermacht-Kontrahent war nach dem Fall der Mauer bis in die 2000er Jahre nicht mehr die raison d‘être der NATO, aber mit dem Georgien-Krieg, der Annexion der Krim und dem Einsatz russischer Truppen in der Ost-Ukraine sowie Syrien erfolgt im Westen allmählich eine grundlegende Neubewertung des russischen Machtanspruchs gegenüber der Europäischen Union und der NATO.17

Auch in der Zukunft ist mit einem verstärkten Engagement der NATO in so genannten out-of-area-Missionen zu rechnen, weshalb die Erforschung ihrer Vorgeschichte an Bedeutung gewinnt. Die von Senator Richard Lugar 1993 geäußerte und vom ehemaligen NATO-Generalsekretär Manfred Wörner bestätigte Sichtweise, die NATO habe die Wahl zwischen „out of area or out of business“,18 zeichnete sich bereits vor den Balkankriegen durch die logistische Unterstützung der zwei US-Operationen im Zuge des Golfkrieges 1990/1991 ab: Operation Desert Shield verhinderte nach der Einnahme Kuwaits ein weiteres Vorrücken irakischer Truppen und mit Desert Storm erfolgte die militärische Offensive gegen den Irak. Komplementiert wurde diese Unterstützung durch die NATO-Operation Southern Guard zum Schutze der Türkei vor einem möglichen Gegenschlag durch den Irak. Die Absicht, den geographischen Raum des NATO-Vertrages nach Artikel 6 zu verlassen, kann tatsächlich auf Grund der Worte des kanadischen Außenministers und späteren Premierministers Lester ← 9 | 10 → Pearson seit Gründung der NATO festgestellt werden. Der Geltungsbereich des Vertrages im Falle eines bewaffneten Angriffes ist nach Artikel 6 geographisch wie folgt definiert: die Territorien der Mitgliedstaaten in Nordamerika, Europa und Vorderasien; die Inseln unter der Rechtshoheit der Mitgliedstaaten nördlich des Wendekreises des Krebses und jegliche Form alliierter militärischer Präsenz in diesem Gebiet und im Mittelmeer.19 Die Einsatzorte der NATO sind durch Artikel 6 hingegen nicht eingeschränkt. Die geographische Debatte, die auch im Vorfeld des Afghanistan-Einsatzes zu beobachten war, stand in den 1950er und 1960er Jahren des 20. Jahrhunderts innerhalb der NATO auf der Tagesordnung. Bereits damals stellten einzelne Mitgliedstaaten Überlegungen an, das Militärbündnis außerhalb des euro-atlantischen Raumes einzusetzen.20

Mit Kroatien und Albanien wurden 2009 die ersten beiden Staaten aus der ehemaligen Konfliktregion des Balkans aufgenommen – weitere mögliche Beitrittskandidaten im Kaukasus und dem West-Balkan tauchen immer wieder in den tagespolitischen Diskussionen auf. Einsätze weit außerhalb des euro-atlantischen Raumes werden auch in Zukunft Teil des Aufgabenspektrums der Allianz bleiben: Missionen gegen Piraten vor der somalischen Küste im Rahmen der Operation Allied Provider und der ISAF-Einsatz in Afghanistan, der in veränderter Form auch nach dem offiziellen Abzugstermin 2014 aus dem Land weitergeführt wird, sind nur zwei Beispiele dafür.21 ← 10 | 11 →

1.3    Methode und Begriffe

Der Zusammenhang zwischen dem historischen Prozess der Dekolonisierung der europäischen Kolonialmächte und des Konsultationsprozesses wird durch eine Erläuterung der relevanten Artikel des NATO-Vertrages nachvollziehbar. Da die amerikanischen, kanadischen und europäischen Diplomaten um die Ausgestaltung der Artikel heftig stritten, sollen die grundlegenden Aussagen der Artikel 4 (Konsultationen) und 6 (Geographie) des NATO-Vertrages geklärt werden, um sie anschließend in der Analyse wieder aufzugreifen.

Das Vertragswerk, das am 4. April 1949 in Washington D.C. die ersten zwölf Mitgliedstaaten unterzeichnet hatten, wurde in seiner mehr als 65-jährigen Geschichte nur geringfügig verändert. Es besteht insgesamt aus einer Präambel und 14 Artikeln und umfasst militärische, politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Aspekte. Sein Kern – Artikel 5 (Beistandsverpflichtung) – blieb unberührt. Neben der konkreten Verteidigung der westlichen Zivilisation („Freiheit, das gemeinsame Erbe und die Zivilisation ihrer Völker, die auf den Grundsätzen der Demokratie, der Freiheit der Person und der Herrschaft des Rechts beruhen, zu gewährleisten“22) gegenüber äußeren Aggressoren verpflichten sich die Signatarstaaten zu einer verstärkten wirtschaftlichen und sozialen Zusammenarbeit („innere Festigkeit und das Wohlergehen im nordatlantischen Gebiet“23).24

Über die Räson der NATO hält der Informationsdienst der westlichen Allianz fest: „Zum Zeitpunkt der Vertragsunterzeichnung allerdings bestand das unmittelbare Ziel der NATO in der Verteidigung ihrer Mitglieder vor der Bedrohung durch die expansive Politik und das wachsende Militärpotenzial der damaligen Sowjetunion.“25 Die Kernabsicht und die heftigen out-of-area-Diskussionen in den 1950er und 1960er Jahren innerhalb der Allianz stehen somit in einem Widerspruch zu dieser Beschreibung. Die für die Studie relevanten Krisenfälle befinden sich alle out-of-area – also außerhalb des Vertragsgebietes der NATO, wie es der Artikel 6 definiert. Ihren Weg in die Allianz fanden die zu behandelnden Krisen über den Nordatlantikrat (NAC), das höchste Gremium der NATO und auch „das einzige Organ der Allianz, dessen Autorität explizit ← 11 | 12 → auf den Nordatlantik-Vertrag zurückgeht“26, wie es in Artikel 9 festgehalten ist.27 Die Verbindung der westlichen Allianz mit dem historischen Prozess der Dekolonisierung durch die Debatten im NATO-Rat, die über die Kolonien der Kolonialmächte geführt wurden, werden als erste out-of-area-Debatten der Allianz bezeichnet. Die out-of-area-Debatten fallen daher in die Phase der NATO I (1949–1989), die als Verteidigungsbündnis gegen die Sowjetunion gegründet worden war. Die NATO II (1990–1999) agierte als Stabilitätsexporteur nach Mittel-, Ost- und Südosteuropa. In der Gegenwart versteht sich die NATO III (1999-) als aktive sicherheitspolitische Organisation, die die Sicherheit ihrer Mitgliedstaaten weltweit gewährleisten will.28

Ein Blick auf die NATO II sowie die NATO III, die außerhalb des euro-atlantischen Sicherheitsraumes aktiv geworden ist, zeigt die Bedeutung des out-of-area-Themas. Die NATO-Missionen während des Jugoslawien- und Kosovokrieges ereigneten sich in einer Transitionsphase der Allianz: Diese Einsätze befanden sich an den Grenzen der NATO-Mitgliedstaaten, aber nach dem Interpretationsmuster des Kalten Krieges außerhalb des Zuständigkeitsbereiches der Allianz, denn bis 1990 galten Konflikte außerhalb des Vertragsgebietes nach Artikel 6 als out-of-area für die Allianz. Während dies anhand der Grenzen der Mitgliedstaaten leicht einzuordnen war, blieb die Zuständigkeitsfrage für out-of-area-Konflikte von 1949 bis in die 1990er Jahre ungelöst.

Die Unklarheit, inwieweit die NATO I in out-of-area-Fragen aktiv werden sollte, ergab sich durch Artikel 4 des Nordatlantikvertrages, der keine geographischen Einschränkungen kennt. Wenn ein Mitgliedstaat Konsultationen über ein Thema seiner Wahl auf die Tagesordnung des Nordatlantikrates setzt, müssen sich alle Parteien damit auseinandersetzen; in der Geschichte der NATO ausdrücklich auch dann, wenn die Gefahr nicht von der Sowjetunion oder dessen Verbündeten ausging. Somit deckt Artikel 4 alle potentiellen Bedrohungen ab, mit denen sich Mitgliedstaaten konfrontiert sehen können.29 Bereits während der Vorverhandlungen zum Vertragsentwurf erarbeiteten die Teilnehmer Interpretationen für bestimmte Stellen des NATO-Vertrages, wie z. B. über mögliche zukünftige Mitgliedstaaten (Westdeutschland). Das Einverständnis für die ← 12 | 13 → Wortwahl des Artikels 4 stellte dagegen kein Problem dar30 und man einigte sich auf: „Article 4 is applicable in the event of a threat in any part of the world, to the security of any of the Parties, including a threat to the security of their overseas territories.”31 Auch der Brüsseler-Pakt hatte einen Konsultationsartikel ähnlich des Artikels 4 des NATO-Vertrages, war aber auf das Gebiet der Unterzeichner begrenzt. In diesem Punkt war der NATO-Vertrag hingegen in seiner Konzeption frei von geographischen Beschränkungen. Das deckte sich mit der von US-Senator Arthur Vandenberg beschriebenen Beziehung zwischen NATO und UN. Da sich die NATO nur an Artikel 51 der UN-Charta orientierte, war eine flexible Sicherheitspolitik ohne einen Eingriff des UN-Sicherheitsrates in die Entscheidungen der NATO möglich.32 Der US-Senator Vandenberg nannte dies „within the Charter, but outside the veto.“33

Die rechtlichen Beziehungen zwischen NATO und UN wurden nach der Gründung des Nordatlantikpakts nochmals thematisiert, als die „Drei Weisen” sich 1956 mit der Reform der NATO auseinandersetzten. Der Generalsekretär nahm in einer internen NATO-Quelle dazu Stellung, welche Auswirkungen es auf die NATO hätte, wenn die Allianz sich in eine regionale Organisation im Sinne der UN-Charta, nach Kapitel VIII, transformieren würde. Laut Erklärung des Generalsekretärs Ismay war die NATO keine Regionalorganisation im Sinne ← 13 | 14 → der UN-Charta und dies war auch nicht von ihren Gründern beabsichtigt gewesen. Eine Umwandlung hin zu einer UN-konformen Regionalorganisation wäre nur durch eine Vertragsveränderung möglich. Abgesehen von rechtlichen und vertraglichen Bedenken hielt Ismay diesen Schritt nicht für wünschenswert. Er wiederholte die Absicht der NATO-Gründer, sich innerhalb der Charta zu bewegen – was Artikel 7 des NATO-Vertrages34 ausdrückt –, aber gleichzeitig für Situationen abgesichert zu sein, die der UN-Sicherheitsrat nicht kontrollieren könne. Da laut Artikel 53 des UN-Vertrages der Sicherheitsrat die Handlungen der Regionalorganisationen, die unter Kapitel VIII der UN-Charta fielen, kontrollierte, hatten die NATO-Gründer ganz bewusst jede Bezugnahme vermieden, damit keine Missverständnisse aufkamen. Eine Veränderung dieser rechtlichen Konstellation wäre für die NATO sehr schädlich gewesen, da dann die Vetomächte, und damit die UdSSR, die Handlungsfähigkeit der Allianz beeinflussen und blockieren hätten können. Dies war, wie Ismay wiederholte, nicht im Sinne ihrer Gründer gewesen.35

Der Vertrag gestattete es nach Artikel 4 ausdrücklich, den NATO-Rat als höchstes Gremium der Organisation durch Konsultationen mit einer großen Bandbreite an Problemen und Krisen der Mitgliedstaaten zu konfrontieren. Der US-Diplomat Theodore Achilles erklärte rückblickend, dieses Zugeständnis der out-of-area-Konsultationen war ein Handel mit den europäischen Kolonialmächten gewesen, wofür diese ihre Forderungen nach Inklusion der Kolonien in das Vertragswerk aufgegeben hatten.36 Der diplomatische Spielraum blieb aber groß, da Konsultationen nicht zwangsweise eine Reaktion durch die Allianz als einheitlicher Akteur auf der internationalen Bühne bedeuteten. Denn „the taking of decisions is not the most important function of the Council. Rather it is to act as a clearing house for information and assessments, and to foster consultation and contingency planning, so that confidence among the allies can be generated.”37 Im Bewusstsein dieser Methode der Arbeit des NAC in den ersten Jahrzehnten seines Bestehens werden die NATO-Ratstreffen und Kommuniqués in der Studie behandelt. Auch wenn der konsultative Charakter des Rates in den 1950er und 1960er Jahren grundsätzlich in den Köpfen der meisten Akteure Geltung beanspruchte, stand dennoch wegen des geographisch uneingeschränkten Artikels 4 eine Hintertür für koloniale Krisen in Überseegebieten offen. Mit dem ← 14 | 15 → Ziel ins Leben gerufen, eine westliche Einheit gegen den sowjetischen Machtblock zu bilden, waren out-of-area-Bestrebungen vor allem für die amerikanischen Politiker ein Ärgernis.38 Senator Tom Connally äußerte diese Bedenken einen Monat nach der Gründung der NATO vor dem amerikanischen Kongress: “I agree 100 percent with those who argue that this treaty should not be either the front door, the side door, or the back door through which the United States might be drawn into family quarrels between signatory parties and their overseas territories in Africa, the Far East, or other parts of the world.”39

Wie die Bündnispartner nach dem 4. April 1949 zusammenarbeiten, wird durch die Arbeitsweisen im NATO-Rat (NAC) deutlich: Der NATO-Rat selbst besteht aus ständigen Vertretern im Botschafterrang, die in der Regel einmal wöchentlich im so genannten „Ständigen Rat“ zusammentreten. Im Schnitt zweimal jährlich findet ein Treffen der Außenminister statt sowie Ratstreffen der Verteidigungsminister. Zu besonderen Anlässen, wie zum Beispiel beim 60-jährigen Bestehen der Allianz in Straßburg/Kehl, nehmen daran die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten teil. Im Untersuchungszeitrum der Studie sind vor allem die hochrangig besetzten Außenministertreffen von Bedeutung. Bei der Erforschung des Konsultationsprozesses stehen Entscheidungsfindung, Argumentationsweisen und die Beratung über Sicherheitsinteressen der Mitgliedstaaten im Vordergrund.40 Nach dem institutionellen Design der Allianz gilt Einstimmigkeit als Grundlage für Entscheidungen im Rat, wodurch die Souveränität der Allianzmitglieder immer gewahrt bleibt.41

Da die NATO über keine Autorität verfügt, den Mitgliedstaaten Entscheidungen zu diktieren, kann sich im NAC die Suche nach einem Konsens innerhalb des Bündnisses oftmals mühsam und langwierig gestalten, in Einzelfällen sogar nicht erreicht werden. Aber dieser Entscheidungsweg „signalisiert (…) ein Höchstmaß an Glaubwürdigkeit bezüglich der Entschlossenheit der Allianz.“42 ← 15 | 16 → Dem Rat steht der Generalsekretär vor – seit Gründung bisher immer ein europäischer Politiker –, der Themen vorschlagen, aber keine Entscheidungen für das Bündnis treffen kann. Für die Konsultationen selbst bietet Harlan Cleveland, amerikanischer NATO-Botschafter von 1965 bis 1969, vier Kategorien an: reiner Informationsaustausch, Konsultationen über nationale Handlungen, Konsultationen mit dem Ziel entsprechender nationaler Handlungen und Standpunkte sowie Konsultationen mit dem Ziel eines gemeinsamen Vorgehens.43

Die 1950er und 1960er Jahre standen am Endpunkt der jahrhundertelangen Geschichte des europäischen Kolonialismus. Da der Ursprung der out-of-area-Frage in den belgischen, britischen, französischen, niederländischen und portugiesischen Kolonialkrisen liegt, gilt es, das Verhältnis zwischen Kolonien und Kolonialmächten während des Kalten Krieges zu erläutern. Um diese Kolonialkrisen im Rahmen der Atlantischen Allianz genauer zu erforschen, soll daher der Begriff Kolonialismus definiert und vom Imperialismus und der europäischen Expansion abgegrenzt werden. Während sich imperialistische Vorgänge durch ein expansives Verhalten von Kolonialmächten gegenüber staatenlosen Räumen oder fremden Kultur- und Herrschaftsgebieten definieren lassen und damit eine erkennbar hierarchische Struktur in sich tragen, beinhaltet der Begriff des Kolonialismus eine differenzierte Herangehensweise: Koloniale Strukturen zwischen Zentrum und Peripherie können nicht immer klar in eine Hierarchie oder Dominanz einer Akteursgruppe eingeteilt werden. Die vielfältigen Austauschprozesse zeigen eine erkennbare Verschmelzung wirtschaftlicher Interessen, kultureller Unterschiede und politischer Zielsetzungen zwischen den Kolonialherren und den Kolonialisierten. Als theoretischen Unterbau der Arbeit bieten sich für den Kolonialismus und Postkolonialismus die Konzepte von Jürgen Osterhammel, Sebastian Conrad und Shahki Randeria an.44

Kolonialismus ist zwar ein gängiger Begriff in Sprachgebrauch und Literatur, doch eine historische Definition sind Wissenschaftler lange schuldig geblieben. ← 16 | 17 → Die Schwierigkeiten beginnen bereits mit dem sehr langen Untersuchungszeitraum. Die Kontinente Amerika, Afrika, Asien und Teile des Orients befanden sich zwischen 1500 und 1945 überwiegend unter Kontrolle der Europäer und Japaner, einschließlich der russischen Kolonisierung Sibiriens. Während dieser Jahrhunderte kam es zu Prozessen der Landnahme, der Kolonisation, zu langwierigen gesellschaftlichen und politischen Verbindungen, zur Gründung von Kolonien und zu unterschiedlichen Herrschaftsverhältnissen. Lässt sich der Imperialismus als umfassendere Bedeutung definieren, wie es Osterhammel vorgibt, kann der Kolonialismus davon abgegrenzt werden. Diese Unterscheidung belegt der Historiker mit folgenden Beispielen: die USA und Großbritannien waren imperialistische Mächte, da sie weltweite Interessen durchsetzen und Wirtschaftsräume durchdringen konnten, wobei die USA wiederum die Sonderolle eines „Imperialismus ohne Kolonialimperium“45 einnahmen. „Frankreich, Deutschland, Russland (bzw. die Sowjetunion) und Japan waren zu wechselnden Zeitpunkten Träger von Imperialismus im eingeschränkten Sinne.“46 Die europäischen Kolonialmächte stellten den Regelfall da, waren sie doch „Kolonialimperien ohne Imperialismus“47, da sie außerhalb ihrer Kolonien nur über begrenzte Machtmittel verfügten und ihr weltpolitischer Machtanspruch stark eingeschränkt war.48

Der Begriff Dekolonisierung, der die schrittweise Los- und Auflösung der Kolonialreiche beschreibt, birgt in sich selbst ein Problem, denn die historischen Erfahrungen in Asien und Afrika folgten nicht einer gemeinsamen Zeitlinie. Der Prozess der Dekolonisierung wird üblicherweise in drei Abschnitte gegliedert: dabei stellte die Unabhängigkeit Nord- und später Südamerikas (1776 und 1825) die erste große Abspaltung ehemaliger Kolonien vom europäischen Zentrum dar. Lateinamerikas Unabhängigkeit war somit 1825 weiter ausgeprägt, während in Asien und Afrika die Dekolonisierung erst begann.49 Die Umwandlung Kanadas, Australiens und Neuseelands in souveräne Mitglieder des britischen Dominions ← 17 | 18 → erfolgte schrittweise von 1839 bis 1907. Der letzte und für die Studie bedeutende Abschnitt ist die Dekolonisierung Afrikas und Asiens von 1945 bis 1975, da er mit der Entstehung und Etablierung der NATO in Nordamerika und Westeuropa zusammenfiel. Abgesehen vom irischen „Home Rule“, eine koloniale, aber doch eher inner-europäische Angelegenheit, war vor allem die Zusage des amerikanischen Kongresses 1933 an die Philippinen für diesen Prozess von Bedeutung gewesen. Die philippinische Unabhängigkeit hatte eine Signalwirkung in vielen asiatischen und afrikanischen Ländern ausgelöst: Nach zehn Jahren sollten die Philippinen ihre Unabhängigkeit erhalten, was sich wegen des Krieges im Pazifik bis zum 4. Juli 1946 verschob. Davon angestoßen, vollzog sich ein Machttransfer von den europäischen Imperien zu einer vollen Unabhängigkeit der Kolonien vom Zweiten Weltkrieg bis in die 1960er Jahre hin. Nach den 1960er Jahren verblieben zahlenmäßig weltweit nur noch wenige Kolonien, wie z.B. Angola, weshalb die Amtszeit John F. Kennedys das Ende des Untersuchungszeitraums darstellt.50

Die „unterschiedlichen Expansionen einer Gesellschaft über ihren angestammten Lebensraum hinaus“51, wie Osterhammel schreibt, lassen sich nicht nur in zeitliche Phasen, sondern auch in Kategorien mit unterschiedlicher Qualität einteilen: Totalmigration, massenhafte Individualmigration, Grenzkolonisation, überseeische Siedlungskolonisation, reichsbildende Eroberungskriege und die Stützpunktvernetzung. Für die nach dem Zweiten Weltkrieg übrig gebliebenen Kolonien der Europäer ist die Struktur der überseeischen Siedlungskolonisation sowie die im 18. Jahrhundert erfolgte Stützpunktvernetzung zur Wahrung von Handelsinteressen und geostrategischen Punkten von Bedeutung. Das französische Indochina ebenso wie das britische Ägypten waren Beherrschungskolonien, die aufgrund von Bodenschätzen, imperialer Politik und Prestige vom Mutterland autokratisch regiert wurden. Das portugiesische Malakka, das niederländische Batavia und die britischen Dependancen Hongkong und Singapur entstanden als Ergebnis von Flottenaktionen. Seitdem dienten diese Stützpunktkolonien der kommerziellen Erschließung des Hinterlandes und der Absicherung der maritimen Macht. Als dritte Form galten die Siedlungskolonien, in denen weiße Farmer und Kolonialherren sich die Arbeitskraft vor Ort zu Nutze machten, ohne der indigenen Bevölkerung dieselben Rechte wie den Kolonisatoren zuzugestehen. Dieser afrikanische Typ der überseeischen Siedlungskolonie ← 18 | 19 → war zum Beispiel in Algerien und Südrhodesien sichtbar. Der karibische Typ unterschied sich von dieser Struktur nur im Import von landfremden Arbeitssklaven in Kolonien wie Barbados, Saint-Domingue oder Brasilien.52

In der Studie soll die gängige Dichotomie zwischen dem „Westen“ und dem „Rest“ der Welt vermieden werden. Diese Gegenüberstellung tauchte in vielen Arbeiten auf, die sich mit Imperialismus und Kolonialismus auseinandergesetzt hatten. Auch beschränkten sich frühere Arbeiten über das imperialistische Verhalten von Staaten auf die Analyse höherer, politischer Ebenen.53 Die Austauschprozesse zwischen Kolonie und Mutterland entsprechen einer „entangled history“54 und bedürfen keiner unnötigen Trennung. Goscha und Ostermann unterstreichen dieses Argument in den neuesten Forschungen über den Kalten Krieg und Südostasien. Anstatt den Westen und die Dritte Welt als zwei voneinander getrennte historische Räume anzugehen, fordern sie von einer neuen Geschichte des Kalten Krieges einen Fokus auf Verbindungen und Schnittpunkte zwischen Kolonialismus und Kalten Krieg.55

Eine Konzentration auf Machtpolitik und „Große Mächte“, so wie sie dem deutschen Historiker Leopold von Ranke zugeschrieben wird, erscheint damit nicht mehr angemessen für die Bipolarität des Kalten Krieges und den Auswirkungen des europäischen Kolonialismuses. Eine solche Herangehensweise ist durch die Erneuerungen der Geschichte der internationalen Beziehungen ins Wanken ← 19 | 20 → geraten und spätestens durch den „cultural turn“ unvollständig. Gesellschaftliche Faktoren sowie eine kulturelle Dimension sind mittlerweile fester Bestandteil bei den Erforschungen der internationalen Beziehungen geworden.56 In einer Veröffentlichung des Politikwissenschaftlers Rupert Emerson wurde 1963 auf die Herausforderung hingewiesen, der Vielzahl an Einstellungen und Positionen gerecht zu werden, welche die neuen unabhängigen Staaten von der atlantischen Gemeinschaft trennen bzw. sie mit ihr verbinden. Sollte man die atlantische Gemeinschaft als eine Zusammenkunft alter imperialistischer Mächte betrachten, die sich gegen die neuen Staaten positionierten? Eine solche Betrachtung wurde laut Emerson durch sowjetische Propaganda genährt, aber auch durch die anglo-französische Intervention in Suez, die von den USA unterstützte Schweinebuchtinvasion, die französische Aktion bei Bizerta, die Kolonialkriege in Indochina, Indonesien, Algerien und Angola. Daher waren Afrikaner und Asiaten nicht zu Unrecht davon überzeugt, ihre Anliegen bezüglich Unabhängigkeit und Menschenrechte, wie z.B. in Südafrika, würden weniger Beachtung finden als die westliche Angst vor Moskau, wie sie sich in den Berlin-Krisen und in Ungarn 1956 ausdrückte.57

Details

Seiten
VII, 428
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783631715024
ISBN (ePUB)
9783631715031
ISBN (MOBI)
9783631715048
ISBN (Hardcover)
9783631715017
DOI
10.3726/b10639
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (November)
Schlagworte
Kalter Krieg Dekolonisation Sicherheitspolitik Internationale Politik Neueste Geschichte
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. VII, 428 S., 3 s/w Abb.

Biographische Angaben

Moritz Pöllath (Autor:in)

Moritz Pöllath studierte an der Universität zu Köln Anglo-Amerikanische Geschichte, Mittlere und Neue Geschichte sowie Anglistik. An der Hawai’i Pacific University spezialisierte er sich auf das Gebiet der Diplomacy and Military Studies. Seine Forschungsinteressen gelten der NATO, den internationalen Beziehungen sowie der außereuropäischen Geschichte Afrikas und Asiens.

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Titel: Eine Rolle für die NATO out-of-area?
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