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Rechtliche Funktionsbedingungen von Märkten und Formen der Konfliktbeilegung in China und Europa

von Jochen Glöckner (Band-Herausgeber:in) Reinhard Singer (Band-Herausgeber:in) Astrid Stadler (Band-Herausgeber:in) Xujun Gao (Band-Herausgeber:in)
©2017 Sammelband 244 Seiten

Zusammenfassung

Die Beiträge in diesem Sammelband befassen sich mit den rechtlichen Rahmenbedingungen für Wettbewerb und Markt in China und Europa. Dies umfasst die gesellschafts-, arbeits- und wettbewerbs- bzw. kartellrechtlichen Bedingungen, das Wirtschaftsstrafrecht sowie die Ausgestaltung des Rechts des geistigen Eigentums sowie des Verbraucherschutzes. In- und ausländische Marktteilnehmer müssen sich dabei nicht nur auf stabile rechtliche Verhältnisse verlassen können, sondern haben größtes Interesse an einem funktionierenden und verlässlichen Gerichtssystem bzw. außergerichtlichen Mechanismen der Konflikt- und Streitbeilegung. Die Beiträge analysieren Unterschiede und Entwicklungstendenzen in rechtsvergleichender Perspektive.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Die Regelungen gegen Falschangaben nach dem chinesischen Wertpapiergesetz (WGC) (Xujun Gao)
  • The Practice of Mediation in Chinese Civil and Commercial Judicial Proceedings and its Problems (Xujun Gao)
  • “Par Condicio Concurrentium” – Equal Treatment in Competition as a Fundamental Principle of Market Economies (Jochen Glöckner)
  • Geistiges Eigentum – Wirtschaftsfaktor oder Wirtschaftsbremse? Entwicklungspotentiale und ihre Grenzen im Bereich des Urheberrechts (Eva Inés Obergfell)
  • Die Bedeutung von Compliance-Maßnahmen aus dem Blickwinkel des Wirtschaftsstrafrechts (Rudolf Rengier)
  • Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen und Unternehmern (Rudolf Rengier)
  • Verbraucherschlichtung in Deutschland (Reinhard Singer / Benjamin Beck)
  • Gerichtliche Rechtsdurchsetzung im Wirtschaftsrecht - Schutz subjektiver Rechte und Bewährung objektiven Rechts (Astrid Stadler)
  • Codes of Conduct and Criminal Law (Hans Theile)
  • Die Arbeitnehmervertretung im Aufsichtsrat und Vorstand von GmbH und Aktiengesellschaft in China (Qian Wang)
  • Wirtschaftsrecht als Infrastruktur (Christine Windbichler)
  • The Criminal Issue in China’s Capital Market - The Boundary between Private Lending and Illegal Fundraising (Yan Xie)
  • The Enforcement of Anti-Monopoly Law in China – IP Related Cases (Xinmiao Yu)
  • Die Schutzanforderungen des Designs im deutschen und chinesischen Recht: Eine rechtsvergleichende Untersuchung (Balduin Benesch)
  • Party Autonomy and its Limitations in International Commercial Arbitration in Mainland China under the CIETAC Arbitration Rules (Benjamin Budke)
  • Celebrities’ Name Right Protection and Promotion in the People’s Republic of China (Henry Neulitz)

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Xujun Gao

Die Regelungen gegen Falschangaben nach dem chinesischen Wertpapiergesetz (WGC)

Abstract: This article analyzes the application of Chinese security law with respect to the obligation of listed companies to disclose relevant information and the liability for disclosing false information. It explains the concept of “false information disclosure”, and introduces the provisions of Chinese security law. It analyses the actual status of the application of these provisions in practice based on the result of empirical studies. The author also tries to explain the background and the reasons for the current status and he offers suggestions on how to reform the application.

I. Einleitung

24 Jahre sind seit der offiziellen Öffnung der Börsen in Shanghai und Shenzhen vergangen, in denen sich der chinesische Börsenmarkt in den zweitgrößten Börsenmarkt in der Welt entwickelt hat, der über mehr als 2600 börsennotierte Unternehmen verfügt und einen Verkehrswert von über 36 Billionen Renminbi hat.1 Der Börsenmarkt dient vielen chinesischen Unternehmen der Finanzierung, gleichzeitig den Investoren als Investitionsplattform. Eine regulierte und stabile Entwicklung des Börsenmarkts liegt daher nicht nur im Interesse der börsennotierten Unternehmen und Inverstoren, sondern beeinflusst auch die Stabilität und die gesunde Entwicklung der chinesischen Volkswirtschaft. Anhand des Börsenabsturzes vom Juni 2015 in China lässt sich das obengenannte Argument leicht erhärten. Eine der wichtigsten Maßnahmen, die im Wertpapiergesetz Chinas (WGC)2 verankert ist, um ein geordnetes Funktionieren und eine stabile Entwicklung des Wertpapiermarktes zu gewährleisten, ist die Verpflichtung jedes an der Börse notierten Unternehmens, wichtigen Informationen rechtzeitig, genau und vollständig offenzulegen. Im WGC werden nicht nur die Offenlegungsverpflichtungen der börsennotierten Unternehmen und der entsprechenden Emittenten geregelt, sondern auch deren Haftung für Schadensersatz. Darüber hinaus werden Verwaltungsstrafen für Falschangaben festgesetzt. Die Folgen beschränken sich nicht auf Emittenten und die börsennotierten Unternehmen, sondern sie gelten auch persönlich für die Vorstands- und ← 13 | 14 → Aufsichtsmitglieder und die anderen sog. „senior officers“.3 Wie sieht allerdings die Anwendung dieser Vorschriften in der Praxis aus? Dies ist eine wichtige Frage, die mit dem Schutz der Interessen der börsennotierten Unternehmen und Investoren im engen Zusammenhang steht und bei der sich daher eine tiefergehende Diskussion lohnt. Der vorliegende Beitrag gewährt einen Einblick in diese Frage aus den folgenden vier Perspektiven: dem Begriff der Falschangaben, den entsprechenden rechtlichen Vorschriften, deren Anwendung und den Gründen für die bestehenden Probleme bei der Anwendung dieser Vorschriften. Aus Platzgründen kann auf die Anwendungsstudien über die Voraussetzungen der zivil- oder verwaltungsrechtlichen Haftung von Unternehmen oder Vorstandsmitgliedern sowie die Beziehungen zwischen der Haftung von Unternehmen einerseits und Vorstandsmitgliedern andererseits trotz ihrer Wichtigkeit nicht eingegangen werden.

II. Der Begriff der Falschangaben und deren gesetzliche Regelung

1. Definitionen

Was versteht man unter dem Begriff „Falschangaben“ oder „falsche Informationen“? Obwohl man die Definition des Begriffs im WGC nicht findet, hat eine offizielle Auslegung des Obersten Volksgerichts im Jahre 2003 („Einige Reglungen über die Behandlung von Zivilrechtsfällen bezüglich des Schadensersatzes wegen Falschangaben“ – im Folgenden: EROV2003) diesen Begriff deutlich definiert. Nach Artikel 17 EROV2003 sind Falschangaben auf dem Börsenmarkt dadurch gekennzeichnet, dass ein zur Offenlegung Verpflichteter während der Wertpapierausgabe oder des Wertpapierhandels entgegen der Vorschriften des WGC wahrheitswidrige Berichte oder irreführende Aussagen über wichtige Ereignisse4 publiziert oder bedeutsame Auslassungen in der Offenlegung macht bzw. wichtige Informationen nicht angemessen offenlegt. Basierend auf dieser prinzipiellen Definition werden im Folgenden die Begriffe „wahrheitswidrige Berichte“, „irreführende Aussagen“, „bedeutsame Auslassung“ und „unangemessene Offenlegung“ weiter definiert. Danach beziehen sich „wahrheitswidrige Berichte“ auf Berichte, die erfundene Informationen beinhalten; „irreführende Aussagen“ sind die in den offengelegten Berichten oder Medien abgegebenen Aussagen, die bei Inverstoren falsche Vorstellungen herbeiführen und dadurch erheblichen Einfluss auf die Entscheidungen der Investoren ausüben können. „Bedeutsame Auslassungen“ sind schließlich solche Informationen, die vollständig oder teilweise nicht in ← 14 | 15 → den Offenlegungsdokumente enthalten sind; unter „unangemessenen Offenlegungen“ sind solche zu verstehen, die nicht innerhalb gesetzlich festgelegter Fristen oder nicht in ordnungsgemäßer Weise bekanntgemacht worden sind.5

Aufgrund dieser gesetzlichen Festlegung im WGC beschränkt sich der vorliegende Beitrag auf die genannten vier Arten von Falschangaben. Nicht behandelt wird hingegen der Fall, der durchaus vorkommt, dass ein nicht zur Offenlegung Verpflichteter wichtige und wahrheitswidrige Informationen über börsennotierte Unternehmen zusammenstellt und offenlegt.

2. Die gesetzlichen Regelungen von „Falschangaben“

Wie werden die Falschangaben der börsennotierten Unternehmen in dem WGC geregelt? Das WGC regelt einerseits die Verpflichtung zur Information, andererseits die Haftungsfrage.

a) Verpflichtung, die Informationen wahrheitsgemäß, genau und vollständig offenzulegen

Nach Artikel 63 WGC müssen die gesetzlich offenzulegenden Informationen wahrheitsgemäß, genau und vollständig sein. Wahrheitswidrige Berichte, irreführende Aussagen und bedeutsame Auslassungen sind nicht erlaubt. Ausgehend von dieser allgemeinen Verpflichtung werden daneben noch unterschiedliche spezielle Verpflichtungen bei und nach der Wertpapierausgabe im WGC geregelt. Bei der öffentlichen Ausgabe vom Wertpapieren müssen die Emittenten und die Unternehmen einen Börsenprospekt veröffentlichen. Wenn es sich dabei um die Ausgabe neuer Aktien oder Schuldverschreibungen handelt, sind Finanz – und Rechnungsbücher (财务会计报告) nach Artikel 64 ebenfalls zu veröffentlichen. Nach der Ausgabe von Wertpapieren sind die börsennotierten Unternehmen fortlaufend zur Offenlegung der relevanten Informationen verpflichtet und zwar in der Form von Quartalberichten, Halbjahresberichten (Artikel 65), Jahresberichten (Artikel 66) und Zwischenberichten bei wichtigen Ereignissen (Artikel 67). Alle Berichte gehören zu den Informationen im Sinne des Artikel 63 und müssen wahrheitsgemäß, genau und vollständig sein. Daraus ergibt sich, dass die börsennotierten Unternehmen zur Offenlegung der wahrheitsgemäßen Informationen verpflichtet sind. Falschangaben verstoßen gegen die gesetzlichen Regelungen und sind daher rechtswidrig. ← 15 | 16 →

b) Haftung bei Falschangaben

Da Falschangaben gesetzwidrig sind, sollten die zur Offenlegung Verpflichteten dafür haftbar gemacht werden. Nach den entsprechenden Vorschriften des WGC haften die betreffenden Unternehmen, die Emittenten, die Vorstandmitglieder des Unternehmens usw. wie folgt:

aa) Schadensersatzhaftung

Nach Artikel 69 WGC müssen die Emittenten und die börsennotierten Unternehmen den Investoren Schadensersatz leisten, wenn diese Verluste im Wertpapierhandel erleiden, die durch wahrheitswidrige Berichte, irreführende Aussagen und bedeutsamen Auslassungen herbeigeführt werden. Die Vorstands- und Aufsichtsmitglieder, sowie die „senior officers“, die anderen „direkt Verantwortlichen“ des Emittenten und des notierten Unternehmens, Sponsoren (保荐人) und Konsignatäre („underwriting security companies“ - 承销的证券公司) werden mit den Emittenten und dem notierten Unternehmen für die Verluste der Investoren gesamtschuldnerisch haftbar gemacht, es sei denn, sie können beweisen, dass der Schaden ohne ihr Verschulden entstanden ist. Wenn die herrschenden Aktionäre bzw. die „faktischen Aktionäre“6 des Emittenten und des börsennotierten Unternehmen daran schuld sind, müssen sie mit den Emittenten und den Unternehmen die gesamtschuldnerische Haftung übernehmen. Daraus ergibt sich, dass die Emittenten und das betreffende Unternehmen hauptsächlich für die Verluste der Investoren wegen Falschangaben haften sollen. Falls es notwendig ist, müssen die Mitglieder des Vorstands bzw. Aufsichtsrats und die herrschenden bzw. „faktischen“ Aktionäre des notierenden Unternehmens gesamtschuldnerisch für die Verluste der Investoren haften.

bb) Die verwaltungsrechtliche Haftung

Artikel 193 WGC regelt die Verwaltungsstrafe für Falschangaben aus zwei Perspektiven. Einerseits soll den Emittenten und den Unternehmen nach Artikel 193.1 WGC von der zuständigen Behörde durch eine Anordnung aufgegeben werden, die falschen Angaben zu korrigieren und gleichzeitig soll ihnen eine Geldstrafe auferlegt werden, die von 300.000 bis zu 600.000 RMB betragen kann. Über die Führungskräfte und die anderen Personen, die direkt für die Falschangaben verantwortlich sind, soll eine Verwarnung und gleichzeitig eine Strafe, die von 30.000 bis zu 300.000 RMB reichen kann, verhängt werden. Andererseits sollen die oben genannten Personen und das Unternehmen nach Artikel 193.2 WGC die gleiche verwaltungsrechtliche Verantwortlichkeit übernehmen, wenn sie die obligatorischen Berichte nicht abgegeben haben oder die abgegebenen Berichte wahrheitswidrige Angaben, missverständliche Aussagen und bedeutsamen Auslassungen beinhaltet ← 16 | 17 → haben. Nach einem Urteil des Beijinger Ersten Mittelgerichts im Fall der Xintai AG im Jahre 2008 zählt ein Vorstandsmitglied auch zum Kreis der Führungskräfte und den direkt Verantwortlichen im Sinne von Artikel 193.2. Deshalb müssen auch die Vorstandsmitglieder die Strafe bezahlen, wenn die Anwendungsvoraussetzungen von Artikel 193 erfüllt sind.7

cc) Strafrechtliche Sanktionen

Artikel 231 WGC sieht strafrechtliche Sanktionen vor. Danach sollen Zuwiderhandlungen gegen das WGC strafrechtlich verfolgt werden, falls sie zugleich gegen das Strafgesetz verstoßen. Zusammenfassend gelten Falschangaben also als eine gesetzwidrige Handlung, die dazu führt, dass der Emittent und das notierte Unternehmen nicht nur die Verluste der Investoren ersetzen müssen, sondern auch einer Verwaltungsstrafe unterliegen. Darüber hinaus müssen die Vorstandsmitglieder der Emittenten und des Unternehmens für den Schaden der Investoren gesamtschuldnerisch haften, sowie die Verwaltungsstrafen übernehmen und sogar mit einer strafrechtlichen Verfolgung rechnen.

III. Die Anwendung der gesetzlichen Vorschriften in der Praxis

Wie sieht die Anwendung der obengenannten Vorschriften des WGC in der Praxis aus? Wie viele Unternehmen, Emittenten, Vorstandsmitglieder der Unternehmen und sonstige Seniorgeschäftsführende sind praktisch wegen Falschangaben zivilrechtlich, verwaltungs- oder strafrechtlich verfolgt worden? Hierauf eine präzise Antwort zu geben, ist fast unmöglich. Chinesische Gerichte haben seit Jahren zwar die meisten ihrer Urteile auf der Website des Gerichts veröffentlicht, aber die zur Verfügung stehenden Recherchemethoden sind unwissenschaftlich und nicht systematisch. Man kann ein Urteil auf des Gerichtswebsite Chinas nicht durch Schlagwörter herausfinden, sondern nur, wenn man das exakte Aktenzeichen des Urteils kennt. Trotz aller Schwierigkeiten ist es einem Wissenschaftler aus Hongkong gelungen, eine Studie über die Fälle von Falschangaben nach dem WPC durchzuführen, die sich auf den Zeitraum vom Anfang 2002 bis Ende 2011 erstreckt. Die Fälle sind entweder von den Gerichten im chinesischen Festland entschieden worden oder von der Staatlichen Kommission für die Überwachung und Verwaltung des Wertpapierhandels (CSRC) durch eine verwaltungsrechtliche Strafe geahndet worden. Die Genauigkeit dieser Studie ist vielleicht noch zu prüfen, die Studie spiegelt aber im Wesentlichen die Anwendung der obengenannten Artikel des WGC wider. Der nachfolgende Teil stützt sich daher wesentlich auf diese Studie. ← 17 | 18 →

1. Schadensersatzfälle nach Artikel 69 WPC

Wie in der Tabelle 1 unten aufgezeigt, hatten die Gerichte Chinas von 2002 bis 2011 insgesamt nur 65 Fälle zu behandeln, die sich auf die Schadensersatzansprüche wegen Falschangaben nach dem WPC beziehen. Im Anfangsjahr 2002 wurde noch kein einziger solcher Fall vor Gericht gebracht. In den folgenden Jahren behandelten die chinesischen Gerichte jedes Jahr im Durchschnitt nur 7 solcher Fälle. Im Jahre 2005 und 2007 tauchten insgesamt nur 5 Fälle auf und die höchste Zahl von 10 erscheint im Jahre 2011. Daraus ergibt sich, dass alle Gerichte in China innerhalb von 10 Jahren den Artikel 69 des WGC nur in 65 Fällen zur Anwendung brachten und über die notierten Unternehmen sowie Emittenten eine Schadensersatzhaftung verhängt haben. Es ist noch darauf hinzuweisen, dass die Beklagten in den 65 Fällen nicht nur die notierten Unternehmen, Emittenten, sondern auch deren Vorstandsmitglieder und „senior officers“ waren. Aber nach allen Urteilen haften nur die Unternehmen und Emittenten gesamtschuldnerisch für die Verluste der Investoren. Obwohl die Vorstandsmitglieder der beklagten Unternehmen nach Artikel 69 WGC auch als Gesamtschuldner haften sollten, hat der Autor noch kein solches Urteil gefunden. In manchen Fällen ist eine solche Mithaftung absolut notwendig, denn manche beklagte Unternehmen waren während des Prozesses bereits in die Insolvenz geraten und konnten ihre Verbindlichkeiten nicht vollständig erfüllen. Trotzdem wurden die Vorstandsmitglieder in diesen Fällen nur zu einem Strafgeld verurteilt.

Tabelle 1: Die Zahl der gerichtlich behandelten Schadensersatzfälle wegen Falschangaben8

Aus der vorliegenden Statistik lässt sich jedoch nicht der Schluss ziehen, dass sich nur 65 Fälle von Falschangaben durch börsennotierte Unternehmen während des genannten Zeitraums in China ereignet haben. Dafür gibt es drei Gründe. Erstens zeigt die Statistik im Jahre 2002, dass in diesem Jahr kein Fall der Falschangaben vor die Gerichten gebracht wurde. Aber dies ist kein Hinweis darauf, dass sich die notierten Unternehmen Chinas weder in dem Jahr noch in den vorigen Jahren vorbildlich benommen haben. Es verhält sich gerade umgekehrt: Falschangaben kamen auf dem Börsenmarkt Chinas häufig vor. Obwohl die Investoren wegen ihrer Verluste die Unternehmen und Vorstandsmitglieder auch vor Gericht brachten, wurden ihre Schadensersatzansprüche von dem Gericht abgewiesen, weil es damals noch keine entsprechenden gesetzlichen Vorschriften gab. Von den 1999 in Kraft getretenen neuen Vorschriften des Gesellschaftsrechts wurde sie nicht erfasst; in dem 1998 ← 18 | 19 → erlassenen WGC wurden kapitalmarktrechtliche Falschangaben zwar geregelt, aber das WGC wurde nur mit den verwaltungs- und strafrechtlichen Sanktionen versehen. Darin befand sich keine Vorschrift über Schadensersatzklagen von Investoren. Erst seit 2003, als das Oberste Volksgericht EROV2003 erließ, fingen die Gerichte an, solche Fälle zuzulassen.

Zweitens hat die staatliche Kommission CSRC nach der Untersuchung des gleichen Wissenschaftlers aus Hongkong in der gleichen Zeit, zwischen 2002 und 2011, in insgesamt 192 Fällen den Unternehmen und den Vorstandsmitgliedern Verwaltungsstrafe auferlegt.9 In allen diesen 192 Fällen lagen bereits die Tatbestände der Schadensersatzhaftung nach Artikel 69 WGC und EROV2003 vor.10 Wie oben dargestellt, wurden jedoch darunter nur 65 Fälle von den Investoren vor Gericht gebracht.

Drittens ist es auch bemerkenswert, dass nicht alle geschädigten Investoren ihre Schadensersatzansprüche vor Gericht gebracht haben. Sogar in den obengenannten 65 Fällen haben nur rund 10.000 Aktieninhaber, die 5% aller betroffenen Aktionäre ausmachen, die betreffenden Regelungen des WGC gegen die Unternehmen geltend gemacht.11 Das zeigt, dass die allermeisten Aktionäre auf die Durchsetzung ihres Anspruchs verzichteten. Wenn sie sich dazu entschieden hätten, ihre Ansprüche gerichtlich geltend zu machen, hätte sich ein beträchtlicher Anstieg der Fälle von Schadensersatzklagen ergeben.

Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass die gegenwärtige Anwendung von Artikel 69 nicht ideal ist, weil viele Investoren in Fällen, in denen die Anwendungsvoraussetzungen dieser Vorschrift eigentlich vorliegen, ihre Ansprüche aus unterschiedlichen Gründen nicht geltend gemacht haben, oder die Ansprüche von den Gerichten (ohne Angabe von Gründen) nicht zugelassen wurden. In diesen Umständen sind die Zuwiderhandlungen der Unternehmen unbestraft und die Investoren ersatzlos gelassen worden.

2. Verwaltungsstrafen nach Artikel 193 WGC durch die CSRC

Details

Seiten
244
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783631715710
ISBN (ePUB)
9783631715727
ISBN (MOBI)
9783631715734
ISBN (Hardcover)
9783631715703
DOI
10.3726/b10683
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Februar)
Schlagworte
chinesisches Wirtschaftsrecht Wirtschaftsstrafrecht chinesisches Urheberrecht chinesisches Antimonopolgesetz chinesische Schiedsgerichte Verbraucherschlichtung
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 244 S., 3 farb. Abb., 2 s/w Tab.

Biographische Angaben

Jochen Glöckner (Band-Herausgeber:in) Reinhard Singer (Band-Herausgeber:in) Astrid Stadler (Band-Herausgeber:in) Xujun Gao (Band-Herausgeber:in)

Jochen Glöckner ist Inhaber des Lehrstuhls für deutsches und Europäisches Privat- und Wirtschaftsrecht an der Universität Konstanz. Reinhard Singer ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Arbeitsrecht, Anwaltsrecht, Familienrecht und Rechtssoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Astrid Stadler ist Inhaberin des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht, Rechtsvergleichung und Internationales Privatrecht an der Universität Konstanz. Xujun Gao ist Direktor des Sino-German Institute für Internationales Wirtschaftsrecht an der Law School/CDHK, Tongji Universität, China.

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