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Vorkoloniale Afrika-Penetrationen

Diskursive Vorstöße ins «Herz des großen Continents» in der deutschen Reiseliteratur (ca. 1850–1890)

von Florian Krobb (Autor:in)
©2017 Monographie 500 Seiten

Zusammenfassung

Die Studie untersucht, wie Reiseberichte und verwandte Publikationen diskursiv einen Sog nach Afrika erzeugten. Zentrale Verfahren sind die Inszenierung der eigenen Pionierleistung, der Rivalität mit Konkurrenten um Zugriff auf Afrika und der gegenseitigen Überbietung und Vermächtniserfüllung. Weiterhin werden thematische Bereiche – wie Sklaverei oder Despotismus in afrikanischen Gesellschaften und die Geschichtlichkeit Afrikas – behandelt, welche Begründungen bereitstellten, die das deutsche Eingreifen in afrikanische Belange nicht nur rechtfertigten, sondern angeblich erforderten. Solche Mechanismen der zunächst diskursiven Bemächtigung des Kontinents erklären, warum sich in der Beschleunigungs- und Intensivierungsphase deutscher Beschäftigung mit Afrika in den Jahrzehnten nach 1850 ein Einstellungswandel in der deutschen Öffentlichkeit vollzog, der die Inbesitznahme weiter afrikanischer Landstriche durch das Deutsche Reich 1884/85 ermöglichen half.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Abstracts
  • Vorkoloniale Afrika-Penetrationen: Diskursive Vorstöße ins „Herz des großen Continents“ in der deutschen Reiseliteratur (ca. 1850–1890)
  • Pre-Colonial Penetrations of Africa: Discursive Incursions into the “Heart of the Great Continent” in German Travel Writing (c. 1850–1890)
  • Percées précoloniaux en Afrique: incursions textuelles “au cœur du Grand continent” dans les récits de voyage allemands (1850–1890)
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorbemerkung
  • Einleitung„die große Aufgabe der Zeit“Afrika im Visier der Deutschen ca. 1850–1890
  • 1. Vorgeschichte und Vorbereitung
  • 2. Forschungsreisen und Reisediskurse
  • 3. Konstruktion und Anziehungskraft
  • Kapitel I „Schachte und Stollen“ Physische, diskursive und metaphorische Zugangswege
  • 1. Vogel als Katalysator: Topoi und Verfahren
  • 2. Vielfalt und Vereinheitlichung
  • 3. Zirkulationsformen: Progression und Verästelung
  • 4. Reihenbildung und Textverfahren
  • Kapitel II „gewissermaassen den Vorläufer zu machen“ Sog und Überbietung
  • 1. Stammbäume und Verästelungen
  • 2. Rufen und Gerufenwerden
  • 3. Überbietung
  • Kapitel III „Die Hülfe muß von außen kommen“ Verschollenheit, Martyrium, Gefangenschaft
  • 1. Abgrenzung und Anpassung
  • 2. Verschollenheit und Martyrium
  • 3. Gefangenschaft: Immersion als Politikum
  • Kapitel IV „Meine Hauptpassion ist die Jagd“ Inszenierung und Funktion von Tierbegegnungen
  • 1. Selbstdarstellung, Metonymisierung, Aufbruch
  • 2. Jagd und Wissenschaft
  • 3. Erhabenheit und Respekt: Zum Ethos afrikanischer Jagd
  • 4. Jagd im Koordinatensystem des Indigenen
  • Kapitel V „Das klassische Land der Sklaverei“ Zur Bewältigung afrikanischer Unfreiheit
  • 1. Koordinaten des deutschen Sklavereidiskurses
  • 2. Verwirrende Befunde, schiefe Vergleiche
  • 3. Ratlosigkeit
  • 4. Sklavereibekämpfung als kolonialpolitische Aufgabe
  • Kapitel VI „Solche Gedanken beschäftigen mich des Abends“ Durchquerung, Verbindung, Begegnung
  • 1. Durchquerung
  • 2. Begegnung
  • Kapitel VII „knechtische Unterwürfigkeit“ Despotismus als Signatur Afrikas
  • 1. Despotismus und afrikanischer Despotismus
  • 2. Ausprägungsformen und Bewertungen
  • 3. Bürgerliche Tugend und Zusammenarbeit
  • Kapitel VIII „Aber Deutschland wird das Versäumte nachholen“ Rivalität, Vorbild, rhetorische Konkurrenzausschaltung
  • 1. Koordinaten
  • 2. Schmähungen und Positionierungen
  • 3. Rivale und Vorbild: Großbritannien
  • Kapitel IX „das Eindringen von Feuchtigkeit und schädlichen Insecten […] verhindern“ Stillstellung, Befriedung, Sanitierung
  • 1. Zwischen Transitorik und Permanenz
  • 2. ‚Wissenschaft‘ als Stillstellung
  • 3. ‚Eingeborenen‘-Politik
  • Kapitel X „auf strahlenförmig den Centren […] zulaufenden Pfaden“ Von der Linie zur Fläche, vom Itinerar zum Territorium
  • 1. Leere, Füllung, Gliederung
  • 2. Horizontverschiebung und Territorialisierung
  • 3. Überformungen des Indigenen
  • Kapitel XI Die „Langeweile der Jahrhunderte“ Afrikas (Un-) Geschichtlichkeit
  • 1. Afrika als geschichtsloser Raum
  • 2. Einpassung in europäische Geschichtskategorien
  • 3. Afrika als Geschichtsprovinz
  • 4. Entdeckungs- und Kolonialgeschichte als afrikanische Geschichte
  • Kapitel XII Die „ganze Energie eines deutschen Mannes“ Emin Pascha als Kristallisationsfaktor, Diskursverknüpfung bei Karl May
  • 1. Emin Pascha, idealtypischer deutscher ‚Afrikaner‘
  • 2. Handlungsanweisungen: Karl May
  • Abbildungen
  • Literaturverzeichnis
  • Quellen
  • Forschungsliteratur
  • Register

Vorbemerkung

Die Sprachverwendung bei der Behandlung präkolonialer, kolonialer und kolonialistischer Sachverhalte wirft insofern Schwierigkeiten auf, als die Verwendung von Begriffen wie ‚Zivilisation‘ und ‚Zivilisierung‘ unter dem Vorbehalt geschehen muss, dass ‚Zivilsierung‘ in der Wortverwendung der Reisenden, Missionare und Befürworter des Ausgriffs ins Überseeische immer ‚Zivilisierung‘ im Sinne eines europäischen Verständnisses von Zivilisiertheit bedeutet, dass durch den Begriff schon allein den zu ‚Zivilisierenden‘ diese ‚Zivilisiertheit‘ abgesprochen wird bzw. andere als die eigenen europäischen Maßstäbe für ‚Zivilisiertheit‘ geleugnet werden.1 Andernorts müssen Begriffe verwendet werden, denen eine enorme Vereinfachung oder Beschönigung eines komplexen Sachverhalts innewohnt, etwa wenn von der ‚Öffnung‘ Afrikas und vom ‚Erwerb‘ von Landstrichen die Rede ist, aus denen später überseeische Protektorate hervorgingen. Oft, besonders wenn eine Aussage wertende Einschätzungen und Generalisierungen enthält, also etwas Anderes als eine rein geographische Designierung des Kontinents gemeint ist, muss auch die Bezeichnung ‚Afrika‘ mit demselben Vorbehalt, dass es sich um ein europäisches Konstrukt handelt, versehen werden. Solche Bedenken bedingen eine vielleicht etwas ausufernde Verwendung von Anführungsstrichen. Denn auf die Begriffe selbst ist der Historiker angewiesen, nicht nur, weil sie dem Sprachgebrauch der untersuchten Epoche entstammen, sondern auch, weil keine Alternativen zur Verfügung stehen.←11 | 12→

Die Schreibweise von afrikanischen Eigennamen variiert erheblich; in den Quellen finden sich oft große Abweichungen nicht nur zwischen verschiedenen Verfassern, sondern manchmal selbst innerhalb eines Textes. Der Grund ist die Praxis, eine phonetisch plausible Umschrift für das Gehörte zu finden, Namen so aufzuzeichnen, „wie man sie hört, und zwar in der Schreibweise und mit den Buchstaben, dessen sich der Reisende, als seiner Nationalität nach bedient“.2 Diese Schreibweise jedoch divergierte nicht nur je nach Sprachempfinden des Hörenden, sondern auch nach Aussprache des örtlichen Informanten, der oft selbst aus einer ihm fremden Sprache vermitteln musste. In Zitaten sind natürlich die originalen Schreibweisen samt all der vornehmlich als Aussprachehilfen gedachten diakritischen Zeichen beibehalten; im Text dagegen wurde eine geläufige moderne Schreibweise gewählt, wie sie auch in gängigen Nachschlagewerken Anwendung findet. Da es in dieser Studie jedoch weniger auf die Spezifik in bestimmten Regionen oder auf die letztgültige Bezeichnung von natürlichen wie menschlichen Erscheinungen ankommt als auf die Einstellungen, die in der beschreibenden Anverwandlung Afrikas zum Ausdruck gelangen, ist die Frage der ‚Korrektheit‘ der Bezeichnung von untergeordneter Bedeutung.

Erklärungen zu den Afrikareisenden, ihrer Herkunft, ihrem Werdegang und ihren Entdeckungs-‚Leistungen‘, erübrigen sich in Zeiten allgegenwärtiger elektronischer Nachschlagewerke. Nützliche und zuverlässige Orientierung bieten weiterhin konventionelle Hilfsmittel wie Dietmar Heinzes Enzyklopädie der Entdecker und Erforscher der Erde.3

Die Arbeit an diesem Buch wurden ermöglicht durch ein Forschungsjahr, das mir die National University of Ireland Maynooth außerplanmäßig gewährte. Ein Großteil der Niederschrift erfolgte während eines Aufenthaltes an der Unversiteit Stellenbosch im Rahmen meiner Ernennung zum Extraordinary Professor im dortigen Department of Modern Foreign Languages. Nur wenige vorher veröffentlichte Arbeiten, und auch diese nicht in Gänze←12 | 13→ und verbatim, sind in die vorliegende Arbeit eingeflossen. Sie sind am jeweils angebrachten Ort nachgewiesen.

Allen Beteiligten und Ermöglichern, besonders den ‚Afrikanern‘ unter meinen Freunden und Kollegen, darunter den Gesprächspartnern in Dublin, Stellenbosch, Berlin und anderswo, sei mein herzlicher Dank ausgesprochen. Uwe Puschner gilt mein Dank für die Aufnahme des Bandes in die Reihe Zivilisationen & Geschichte, den Mitarbeitern des Peter Lang-Verlages für professionelle Betreuung und Herstellung. Sabine und mein afrikanischer Sohn Jomi verdienen eine besondere Erwähnung: erstere für ihre unfehlbare Umsicht, ihren nie nachlassenden Zuspruch, ihre abgeklärte Geduld; letzterer, weil er seinen eigenen Weg nach Afrika gefunden hat.

Dublin, im Oktober 2016 Florian Krobb

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1 Boris Barth: Die Grenzen der Zivilisierungsmission. Rassenvorstellungen in den europäischen Siedlungskolonien Virginia, den Burenrepubliken und Deutsch-Südwestafrika. In: Boris Barth und Jürgen Osterhammel (Hg.): Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert. Konstanz: UVK, 2005, S. 201–228, hier S. 201: „Zivilisierungsmission beinhaltete die Vorstellung, fremden Völkern oder entfernten Kulturen in Übersee eigene Wertvorstellungen, religiöse Glaubensgrundsätze oder kulturelle Normen vermitteln zu müssen, die als überlegen eingeschätzt wurden. Dies war verbunden mit einem ausgeprägten Sendungsbewusstsein.“ Diese pejorativ-hierarchische Bedeutung muss gegenüber einer wertneutral-deskriptiven Wortverwendung deutlich markiert werden.

2 Vgl. Gerhard Rohlfs: Über die Schreibweise geographischer etc. Eigennamen. In: Petermann’s Mittheilungen 25 (1879), S. 347–349, hier S. 348 (Hervorhebung im Original).

3 Dietmar Heinze: Enzyklopädie der Entdecker und Erforscher der Erde. 5 Bde. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2011 [1983].

Einleitung
„die große Aufgabe der Zeit“
Afrika im Visier der Deutschen ca. 1850–1890

In nur etwa einer Generation vollzog sich in Deutschland ein mächtiger Umbruch, was das Verhältnis der Deutschen zu Afrika und insbesondere zu dem Afrika außerhalb des Geltungsbereiches altägyptischer, hellenistischer und römischer Kulturen anbelangte. War um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts Afrika jenseits der Küstenstreifen, Ägyptens und der Kapkolonie weitgehende Terra incognita, interessierte sich zu diesem Zeitpunkt nur eine kleine Gruppe von Experten überhaupt für Afrika, so setzte sich im Jahrzehnt nach der Reichsgründung sehr schnell die ‚Erschließung‘ Afrikas als nationale Aufgabe durch, nahmen breite Bevölkerungskreise Anteil an den deutschen Maßnahmen zur ‚Öffnung‘ des Kontinents, zur Erforschung seiner Geheimnisse und zur ‚Zivilisierung‘ seiner Bevölkerung. Erst dieses umfassende Interesse ermöglichte von 1884 an die Inbesitznahme von Kolonien, die das Deutsche Reich innerhalb weniger Monate zur drittgrößten Kolonialmacht auf dem afrikanischen Kontinent machte. Von den zahlreichen Faktoren, die diese Entwicklung begünstigten und ermöglichten, verdient der Diskurs, der von den Reise- und Forschungsberichten über Afrika seinen Ausgang nahm, besondere Aufmerksamkeit. Denn hier wurde das Bild eines ‚Afrika‘ entworfen, das zum Eingriff aufforderte, das der deutschen Öffentlichkeit eine Berechtigung, ja sogar Pflicht nahelegte, dort tätig zu werden – den Kontinent zu erforschen, zu ‚erschließen‘ und schließlich zu beherrschen. Die Reiseliteratur und ihre Ableger inszenierten den Ruf nach Afrika. Dazu musste ‚Afrika‘ als kolonialer Raum konstruiert werden, als einer, der europäischer und insbesondere deutscher Führung bedurfte, ja danach verlangte. Um einige Aspekte des Diskurses, der dieses Einverständnis schuf, geht es in der vorliegenden Studie.←15 | 16→

1. Vorgeschichte und Vorbereitung

Im neunzehnten Jahrhundert wird, selbst vor dem Erwerb eines Kolonialreiches ab 1884, auch in Deutschland zunehmend ‚die ganze Welt‘ als politischer Aktionsraum wahrgenommen. Die Verwobenheit heimischer und globaler Angelegenheiten und die Rolle europäischer Kultur in globalen Kontexten wird schon am Anfang des Jahrhunderts Gegenstand historisch-systematischer Behandlung. Arnold Alexander Ludwig Heeren bietet in seinem Handbuch der Geschichte des Europäischen Staatensystems und seiner Kolonien (1809) nicht nur eine von ihrem Nutzen bestimmte Systematik und Definition der verschiedenen Kolonie-Typen, er vermittelt auch den Eindruck der Möglichkeiten und Aufgaben, die der europäische Zugriff auf „fremde Welttheile“ bietet: „Wer mochte aber von diesem Allen das letzte Ziel berechnen; wer die Grenzen der unermeßlichen Aussicht bestimmen, die sich eröffnet hatte?“ Konkret lenkt Heeren das Augenmerk auf Afrika und gibt damit dem deutschen Überseeinteresse eine seiner Hauptblickrichtungen für die nächste Zukunft vor: „Ueberhaupt aber wurde in dieser Periode [um 1800] Africa weit mehr in den Gesichtskreis der Europäer gezogen, als je vorher. Die Erforschung seines Innern ward die große Aufgabe der Zeit.“1 Natürlich schwingt in dieser Einschätzung ein Reflex auf die Exkursion Napoleons nach Ägypten 1798–1799 mit, welche Edward Said als Ausgangspunkt des modernen expansiven europäischen Orientalismus – in vieler Hinsicht ein Paradigma des weltumspannenden Kolonialismus – auffasst;2 vielleicht hatte Heeren aber auch Friedrich Hornemann im Sinn, der 1797 in die Sahara aufgebrochen war, wo er seit 1803 als verschollen galt, oder Mungo Park, der 1806 bei der Erforschung des Verlaufs des Niger ums Leben kam. Auf jeden Fall zeigt sich hier eine Kontinuitätslinie zwischen der Lenkung des Interesses auf Afrika in einem Werk über europäische Geschichte als Weltgeschichte und der Aufteilung des Kontinents unter die europäischen Mächte, an der sich das Deutsche Reich tatkräftig beteiligte. Das Interesse galt demjenigen Kontinent, der in Europa seit dem←16 | 17→ Altertum als der geheimnisvollste galt, von dem sich – obgleich Europa gegenüber gelegen und mit seinen nördlichen Rändern über Jahrhunderte hinweg dem europäisch-mediterranen Kulturbereich angehörend – fast das gesamte Binnenland jenseits eines verschieden tiefen Küstenstreifens gegen europäische Kenntnis sperrte. Die Überwindung dieser Hemmschwelle, das Vordringen in ‚innere‘ Regionen, gehört zur Vor- und Ermöglichungsgeschichte der kolonialen Machtergreifung. Die forscherische Penetration Afrikas setzten sich Deutsche, hierin Heerens Anweisung folgend, zur besonderen „Aufgabe“.

Als das Besondere an Afrika galt – im Gegensatz zu anderen kolonialen Räumen – die Ungewissheit, die jenseits der Küstenstreifen wartete. Das unbekannte Innere, im Sinne einer bewussten Erzeugung von Nicht-Wissen als ‚Leere‘ designiert,3 schien nach ‚Füllung‘ zu verlangen; es präsentierte sich als Handlungsraum, weckte Begehrlichkeiten, hielt Aufgaben und Möglichkeiten bereit, versprach Entdeckerruhm, Bewährung, Abenteuer, Reichtum, Erfüllung des christlichen Missionsauftrages – jedenfalls Tätigwerden einer einzigartigen Intensität. Afrika wurde in der europäischen Imagination als Aufgabe, Verlockung und Gegenstand der Anverwandlung konstruiert, lange bevor sich eine Besitzergreifung und direkte Herrschaftsausübung über ein demarkiertes afrikanisches Territorium überhaupt nur als Möglichkeit, als denkbares Ziel politischen Handelns abzeichnete.

Der deutsche Kolonialismus brach nicht aus heiterem Himmel, als draufgängerische Abenteurer bzw. abenteuernde Unternehmer Bismarck davon überzeugten, die von ihnen ‚erworbenen‘ afrikanischen Landstriche unter Reichsschutz zu stellen und Deutschland mit diesen Akten offiziell in die Riege der europäischen Kolonialmächte einzureihen. Die pro-kolonialistische öffentliche Meinung und der Einfluss kolonialistisch gesinnter Interessengruppen hatten nicht über Nacht so an Boden gewonnen, dass die offizielle Reichspolitik sie nicht mehr ignorieren konnte. Die Reichseinigung erlaubte es den Deutschen, als Nation Kolonialambitionen zu hegen, wo man vorher zwar im Namen seiner Nation reisen, forschen und ‚Kultur‘ bringen, nicht jedoch im Sinne internationaler (europäischer) Rechtsnormen politisch←17 | 18→ handeln konnte. Die 1870er Jahre markierten denn auch eine merkliche Zunahme und Intensivierung kolonialistischer Agitation, die allerdings deshalb auf fruchtbaren Boden fallen konnte, weil Afrika als „die große Aufgabe der Zeit“ bereits tief im kollektiven deutschen Bewusstsein verankert war. Von den vielfältigen Initiativen des Zeitraumes zwischen Reichsgründung und Erwerb von Kolonialbesitz seien zwei Aspekte hervorgehoben: (a) Die Intensivierung einer publizistischen Kampagne, für die die einflussreiche Schrift von Friedrich Fabri Bedarf Deutschland der Colonien? (1879) beispielhaft ist. Andere Beiträger hatten schon früher den Erwerb von Kolonien in Afrika propagiert, so Johann Jakob Sturz in seinem Pamphlet Der wiedergewonnene Welttheil. Ein neues gemeinsames Indien (1876). (b) Wohl als Reaktion auf die intensive, staatlich geförderte Kampagne britischer Reisender, deren Protagonisten oft unverstellt die Annektierung der durchreisten Gebiete empfahlen,4 und die Initiativen des Belgierkönigs Leopolds II., der seit Mitte der 1870er Jahre über Organisationen wie die Commission internationale d’exploration et de civilisation de l’Afrique centrale seine Hand nach dem Kongobecken ausstreckte, organisierten sich die←18 | 19→ deutschen Afrika-Interessen zunächst 1873 in der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung Äquatorialafrikas (bekannt als ‚Afrikanische Gesellschaft‘, eine Initiative von acht regionalen geographischen Gesellschaften unter Federführung der 1828 gegründeten Gesellschaft für Erdkunde Berlin), dann 1876 in dem deutschen Zweig der Association internationale africaine, der Deutschen Afrikanischen Gesellschaft, dann 1878 im Zusammenschluss der beiden Vereine in der Afrikanischen Gesellschaft in Deutschland. Unter der Ägide dieser Organisationen fanden bis in die späten 1880er Jahre zahlreiche Expeditionen in Regionen statt, die von besonderem Interesse für das Deutsche Reich waren, um dort deutsche Präsenz zu zeigen und deutsche Interessen geltend zu machen. Zu einem großen Teil mit staatlichen Geldern finanziert, dienten diese Unternehmen sichtbar kolonialistischen Zielen.5

Aber der deutsche Kolonialismus hat eine durchaus längere ‚Vorgeschichte‘, als die Konzentration auf diese unmittelbare Vorbereitungsphase des deutschen Kolonialismus (als offizielle staatsrechtlich wirksame Machtergreifung und Herrschaftsausübung über ein überseeisches Territorium) zu erkennen gibt. Üblicherweise beschränken sich Kolonialismushistoriker darauf‚ die frühneuzeitlichen kolonialen ‚Besitzungen‘ einzelner deutscher Staaten oder Privatinteressen sowie die Akteure und Gruppen, die im kolonialen Raum tätig wurden, zur ‚Vorgeschichte‘ des deutschen Kolonialismus zusammenzufassen: so die Plantagenwirtschaft der Augsburger Kaufmannsfamilie der Welser im heutigen Venezuela (1529–1556), die Handelsniederlassungen der Brandenburgischen Afrika-Gesellschaft an der westafrikanischen Küste (Groß-Friedrichsburg, 1683–1717), den von Dänemark gepachteten kurbrandenburgischen Stützpunkt St. Thomas auf der gleichnamigen Karibikinsel während des gleichen Zeitraums und herzoglich-kurländische Versuche, in Tobago und an der Gambia-Mündung Niederlassungen zu errichten. Weiterhin werden die in ein weltumspannen←19 | 20→des Wirtschaftssystem mit Handelsinteressen in Afrika investierten Reedereien und Handelshäuser wie Godefroy, Woermann, William O’Swald, Gaiser & Witte u. a. und die Missionsgesellschaften, die wie die Rheinische in Südwestafrika und wie die Norddeutsche in Togo seit den 1840er Jahren in Afrika aktiv waren, als Vorläufer und Wegbereiter des Kolonialismus betrachtet. Pläne für Siedlungskolonien wie das Unternehmen des als Adelsverein bekannten Vereins zum Schutze deutscher Einwanderer in Texas, Landerwerbspläne an der Küste Mexikos und die Debatte um die Lebensbedingungen von deutschen Auswanderern in Argentinien und Brasilien gehören ebenfalls in diesen Zusammenhang, zählte doch Auswanderung insgesamt während des gesamten neunzehnten Jahrhunderts zu den Themen, die den Blick weiter Bevölkerungsteile, politischer und wirtschaftlicher Kreise auf überseeische Belange lenkten. Nicht zuletzt gilt auch die Forschungstätigkeit der reisenden Wegbereiter der Afrika-Penetration als ‚vorkolonialistische‘ Aktivität,6 insofern diese Pioniere nicht nur Routen fanden und ‚öffneten‘, sondern ihre Kenntnisse des kolonialen Raumes für nichtwissenschaftliche Nutzanwendungen zur Verfügung stellten, Einstellungen gegenüber dem Afrikanisch-Indigenen prägten und weitergehendes Engagement bis hin zu direkter Herrschaftsausübung anregten und rechtfertigten.7

Einer einzigen Kraft hier ein Primat zuzubilligen (etwa dass die ‚Vorgeschichte‘ des Kolonialismus allein von „der Entfaltung des Kapitalismus der freien Konkurrenz“ getrieben und auf „Ausplünderung und Ausblutung“ gerichtet sei),8 erscheint kurzsichtig. Eher ist von einer Interessenkoalition←20 | 21→ zwischen den genannten Gruppen auszugehen, einer wechselseitigen Ermöglichung, Unterstützung und Bestätigung. Die geographischen Aufschlüsse der Forschungsreisenden sollten Informationen zu Verkehrs- und damit Handelswegen, vorhandenen Produkten und den Produktionsbedingungen für zusätzliche kommerziell verwertbare Erzeugnisse liefern; der „christlich-humanitäre Motivationskomplex der missionstragenden Gruppen entsprach weitgehend der sozio-ökonomischen Interessenlage bürgerlicher Schichten“: „Zwischen der modernen Missionsbewegung des 19. Jahrhunderts und dem Expansionismus des Freihandels bestand bereits vor der Zeit des eigentlichen Kolonialismus ein enger Zusammenhang“.9 Die Förderung von Handel und Gewerbe galt als zentrale Planke der ‚Zivilisierungsanstrengungen‘. Andersherum drangen Missionare weit in bisher ‚unerschlossenes‘ Gebiet vor und beteiligten sich über ihre Berichte an der wissenschaftlichen Erfassung des Kontinents; ihre Missionsstationen stellten Stütz- und Ausgangspunkte für wissenschaftliche Expeditionen wie für Handelsunternehmungen bereit; die Mitteilungen von Johannes Rebmann und Johann Ludwig Krapf, deutsche Missionare in Diensten von englischen Missionsgesellschaften, über schneebedeckte Berge und riesige Inlandseen im ostafrikanischen Binnenland aus den 1840er Jahren10 lösten die Expeditionswelle aus, die Richard Burton, John Henning Speke, James Grant, Albrecht Roscher, Claus von der Decken und viele andere in das Hinterland Ostafrikas lockte. Mission und Forschung bildeten Faktoren in lokalen wirtschaftlichen Zusammenhängen, als Konsumenten lokaler Produkte und Dienstleistungen, als Verbindungsglieder begrenzter Ökonomien zum Welthandel.

Sebastian Conrad insistiert auf der relativen Bedeutungslosigkeit solcher ‚Vorläufer‘, Projekte und Entwicklungen; für ihn ist die eigentliche Besitzergreifung und der dann folgende zielstrebige Ausbau des deutschen Kolonialreiches in Gestalt der Ersetzung eines Schutzbriefregimes durch←21 | 22→ formale Kolonialherrschaft und spätere Unterstellung der Protektorate unter das Reichskolonialamt auf einen weltpolitischen Kontext zurückzuführen, dessen entscheidende Faktoren weltwirtschaftliche Konkurrenz und imperialistische Rivalität der europäischen Großmächte seien.11 Doch damit solche Kräfte wirksam werden konnten, mussten ihre Protagonisten entsprechend disponiert sein.

Die in einem eifrigen Afrika-Diskurs erzeugten Haltungen trugen sicherlich maßgeblich dazu bei, dass politische und wirtschaftliche Handlungsspielräume auf eine bestimmte Weise genutzt wurden. In Selbstpositionierungen der deutschen Forschungsreisenden gegenüber ihren europäischen Rivalen, im Abstecken von „Interessensphären der Missionsgesellschaften“12 und in der Interaktion mit örtlichen Machthabern wurden schon lange vor der Kolonialzeit Szenarien weltwirtschaftlicher Konkurrenz und politischer Rivalität durchgespielt, Argumentationsmuster und Rechtfertigungsstrategien für die eigenen Ansprüche eingeübt. Die Forderungen und Ansprüche der verschiedenen Parteien bedingten und verstärkten sich wechselseitig; sie repräsentieren in ihrer Gesamtheit einen mächtigen Komplex an Meinungen, Haltungen und Gesinnungen, die von einer breiten Koalition von Akteuren und Interessengruppen vertreten wurden. In dieser Konstellation entstand eine Dynamik, die andere Handlungsoptionen als den Schritt von ‚vorläufiger‘ Durchdringung Afrikas zum Erwerb von Kolonien in Afrika zunehmend marginalisierte. Bismarcks Gesinnungswandel vom Gegner zum Befürworter dieses Schritts zwischen 1883 und 1884 markiert in dieser Hinsicht lediglich die Manifestation eines Konsenses, die Konsequenz einer allgemeinen Kolonialbereitschaft, die sich über Jahrzehnte hinweg aufgebaut hatte, im vorhergehenden Jahrzehnt immer prononcierter geworden war und nach Realisation drängte.

Als Protagonisten der Herausbildung einer kolonialistischen Kollektivmentalität müssen abgesehen von Wortführern aus mächtigen gesellschaftlichen Interessensgruppen wie Wirtschaft und Handel, Sozialpolitikern als Auswanderungsplanern, Kirchen als Fürsprechern von Missionierungs- und←22 | 23→ damit ‚Zivilisierungs‘initiativen die Forschungsreisenden gelten. Dass die „wissenschaftliche Vermessung Afrikas […] bekanntlich im sogenannten ‚Scramble for Africa‘“ „münd[e]“, wird heutzutage meist vorausgesetzt.13 Unbeantwortet bleibt allerdings die Frage, welche Rolle die Protagonisten der geographischen ‚Erschließung‘ des Kontinents genau spielten und worin die Kontinuitätslinien zwischen ihren Reisen, Messungen und Sammlungen auf der einen Seite und den Annexionen von Territorium denn bestanden. Der ‚Wissenschaft‘ kam insofern eine Schlüsselrolle zu, als sie sich als ökonomisch und politisch desinteressiert gerieren konnte und eine unbestreitbare, überparteiliche Autorität genoss. Die Wissenschaft und ihre Vertreter stützten sich auf allgemein akzeptierte Ideale besonders der tonangebenden bürgerlichen Schichten: Ideale des Wissenserwerbs, des Verstehens von bisher Unverstandenem, des Vermessens von bisher Unvermessenem. Die Afrikanische Wissenschaft war ein Feld mit weitreichender Strahlkraft, denn die Träger des bürgerlichen Forschungsethos’ vor Ort waren gleichzeitig Abenteurer, Gefahrenbesteher, Pioniere mit Ehre, Entschiedenheit, Mut und Tatkraft, die für breite Schichten als Vorbilder, Leit- und Identifikationsfiguren attraktiv waren und die dem deutschen Bürgertum als seine Vertreter auf internationaler Bühne genehm sein konnten. Sie selbst konnten sich mit Recht als Repräsentanten des deutschen ‚Volkes‘, seiner Kultur und seines politischen Geschickes fühlen und entsprechend auftreten.

Die Berichte von Forschungsreisenden erfüllten aber noch andere Funktionen: Sie füllten das Imaginarium ‚Afrika‘ nicht nur mit Landschaften, Fauna, Vegetation, Klima und Bewohnern, sondern auch mit Abenteuer, Gefahr und Bewährung, Ambition und Erfolg – und über diese Komponenten mit Einstellungen, Wertungen, Wissen und Gewissheit. Der Kolonialismus der Reiseliteratur trug zur tatsächlichen Kolonialbereitschaft entscheidend bei; er ermöglichte das Durchspielen kolonialistischer Szenarien und das Einspielen eines kolonialistischen Selbstverständnisses avant la lettre; er erlaubte es, sich ohne Notwendigkeit der Umsetzung in der Realität als←23 | 24→ Akteur im kolonialen Raum zu versuchen.14 Seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts liefern die Berichte von Forschungsreisenden ihrem heimischen Publikum den Stoff für koloniale Phantasien – oft ganz direkt, indem die Lebensgeschichten hervorragender Afrika-Pioniere zu abenteuerlichen Nacherzählungen Anlass gaben und tatsächliche Begebenheiten zu Handlungsmotiven in der fiktiven Abenteuerliteratur wurden. Die Reiseliteratur konstruiert ‚Afrika‘, sie ist Wissensreservoir über ‚Afrika‘, prägt Einstellungen und nimmt damit gewissermaßen die Rolle eines Ankers des Diskurses ein, an den sich zahlreiche Anschlussmöglichkeiten knüpfen. Der Reisebericht ist eine literarische Gattung; im Reisebericht ist ‚Afrika‘ narrativiert, in Sprache und Bilder umgesetzt, aufgelöst in eine Handlung, die dem Gegenstand Sinn appliziert.

Es gibt selbstverständlich ein vorkoloniales deutsches Schrifttum zu den Landstrichen, die später zu Deutsch-Südwestafrika wurden, zur gesamten westafrikanischen Küste und deren Hinterland von Marokko bis Angola, zum Horn von Afrika (also Äthiopien und Somalia) und zum südlichen Afrika von der Kapkolonie bis zum Sambesi. 1874 konstatiert der Kartograph Heinrich Kiepert, der „Arbeitsantheil der Deutschen“ an der Erforschung Afrikas seien „alle Theile des Continents mit Ausnahme des nordwestlichen Theils“ (womit er Westafrika etwa zwischen Marokko und dem Golf von Guinea meint).15 Der zeitgenössischen Aufmerksamkeitspräferenz folgend steht hier allerdings die ‚Entdeckungs‘geschichte des mittleren und östlichen Sudan im Vordergrund, also der Sahelzone etwa vom Nigerbogen bis zum Zusammenfluss von Weißem und Blauem Nil, der im Südwesten daran angrenzenden Länder der Wasserscheide zwischen Kongobecken und dem Einzugsgebiet des Weißen Nil sowie der Regionen, die später zu Deutsch-Ostafrika wurden, und der im Westen und Nordwesten daran angrenzenden Gebiete der großen Seen und der Kongo- und Nil-Zuflüsse, die in der Vorstellung der deutschen Öffentlichkeit zunehmend das ‚eigentliche‘ Innere Afrikas verkörperten, das lange Zeit auf den Landkarten als weiß und leer verzeichnet blieb.←24 | 25→

2. Forschungsreisen und Reisediskurse

Die für die imaginative Literatur fruchtbar gemachte Einsicht, dass Bilder und Diskurse, Figurenkonstellationen und Beschreibungen nicht nur die Einstellungen der Verfasser und ihrer Sprecher im Text verraten, sondern dass die Darstellung den kolonialen Raum erst bedeutungsvoll entwirft, strukturiert und interpretiert,16 kann ebenso auf nichtfiktionale Literatur angewandt werden, denn auch sie (besonders im Genre des Reiseberichts) konstruiert durch die Geschichte, die sie erzählt, den Raum, in dem sie spielt, und verleiht den Bewohnern und anderen Attributen dieses Raumes Bedeutung durch die Rolle, welche diese in der Handlung und für die Handlung erfüllen. Der Reisebericht ist ein Stoff- und Motivreservoir, eine Plattform für die Inszenierung ‚Afrikas‘, die Schlüsselgattung des einschlägigen Diskurses, die nicht nur die Phantasie befruchtet, sondern auch das Wissen für andere Publikationsformen, Kompendien und Nachschlagewerke, populäre Aufbereitungen und wissenschaftliche Systematisierungen bereitstellt. Als Protagonist seiner Geschichte und als Mittelsmann zwischen Afrika und Europa besitzt der reisende Autor eine Autorität, die sich auf den Gehalt und auf die Art der Darstellung erstreckt.

Das Unternehmen Forschungsreise hat Eigenschaften, die es für ein bürgerlich-gebildetes und zunehmend für ein noch breiteres Publikum attraktiv machen. Die Berichte von Afrikareisenden fungierten als Brennpunkte des Afrikadiskurses der vorkolonialen Zeit; durch sie, das heißt durch die Narrativierung von Expeditionserlebnissen und -ergebnissen, rückte Afrika in diskursiver Form, als Repräsentation und als Gegenstand von Wissen und Erlebnis ins kollektive Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit. Deshalb können der Reisebericht und seine Prä-, Post- und Metaformen (Vorabdrucke von Korrespondenzen und Zwischenmeldungen in einschlägigen Periodika, mehrbändige Werke mit Reisebeschreibungen und wissenschaftlichem Apparat, Auswertungen von Reisergebnissen in Kompendien und Anthologien, popularisierende Nacherzählungen, Artikel in nichtspezialisierten Wochen- und Monatsschriften) als Medien gelten, die←25 | 26→ mehr als andere das ‚Bild‘ von Afrika prägten und Einstellungen formten. Natürlich überlappen sich Inhalte, Darstellungsweisen und Wirkungen mit Missionsberichten und Auswanderererlebnissen; auch füttert der tatsachenbasierte Reisebericht fiktives Reise- und Abenteuerschrifttum. Diese Formen bevölkern gemeinsam das Diskursfeld ‚Afrika‘. Der Reisebeschreibung wohnt jedoch eine ganz besondere Qualität inne, da sie eine Mischform darstellt: Sie ist Ausweis und Protokoll der wissenschaftlichen Tätigkeit – was ihr Autorität und Ansehen verleiht – sowie Bericht der Handlungen und Ereignisse, in deren Kontext diese wissenschaftliche Tätigkeit verläuft. Der letztere Aspekt bedeutet Sensation, Exotik, Bewährung, Begegnung mit dem Fremden; er ergänzt die forscherische Dimension um eine unterhaltende und um eine emotionale, zur Identifikation einladende, identitätsstiftende.

Die Idealität macht das Spektakuläre respektabel. Umgekehrt verleiht das Abenteuer der Wissenschaft Breitenwirkung. Die Didaxe (Vorbildlichkeit der Leistung) und die implizite Rechtfertigung (das Reisen steht neben dem Wissenserwerb im Dienst eines moralischen Zieles, den Weg für ‚Zivilisation‘ und ‚Humanität‘ zu bereiten), garantierten moralische Akzeptanz und Legitimität. Details der Planung und Durchführung einzelner Unternehmungen mögen Anlass zur Kritik gegeben haben, Beobachtungen und Bewertungen mögen im Prozess der Auswertung von Reiseergebnissen kontrovers aufgenommen worden sein – die Berechtigung des reisenden Ausgriffs an sich, die Kulturtechnik Reisen als solche stand jedoch nie zur Debatte.17 In der Durchdringung beider Dimensionen liegt die Attraktivität des Genres und der Tätigkeit, die es spiegelt, begründet. Reiseberichte bedienen und prägen eine mittlere Interessenlage des Ausgleichs und verkörpern ein kollektives Selbstbild der Deutschen. Christof Hamann hat dieses Selbstbild als das Ideal eines „Realidealismus“ beschrieben, der sich „in Figuren, Topoi und Kollektivsymbolen aktualisiert, so auch in der Figur des Entdeckungsreisenden“.18 Der Forschungsreisende hält seine im weiteren←26 | 27→ Sinne europäischen, jedoch zunehmend als spezifisch deutsch ausgestalteten Ideale der Wissenschaft, der ‚Zivilisation‘ und des ‚Humanismus‘ hoch, beweist aber gleichzeitig seine Fähigkeiten in einer Umwelt, die weltfremden Kontemplatismus nicht zulässt, sondern in der praktische Fähigkeiten und charakterliche Eigenschaften gefragt sind, oftmals schon um das eigene Überleben sicherzustellen.

Afrikanische Reisetätigkeit und Reiseberichterstattung erlebten in den 1850er Jahren einen Aufschwung. Nachdem Friedrich Hornemann in den letzten Jahren des achtzehnten Jahrhunderts und Johann Ludwig Burckhardt im zweiten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts in Sahara und untere Nilländer aufgebrochen, in den darauffolgenden Jahrzehnten mehrere deutsche und österreichische Reisende weiter ins nordöstliche und südliche Afrika vorgedrungen waren (um nur einige wenige zu nennen: Werner Munzinger, Joseph Russegger, Ferdinand Werne, Wilhelm von Harnier im Norden; Hinrich Lichtenstein, W. von Meyer vom Kap der Guten Hoffnung aus), setzt die Geschichte der deutschen Afrikaforschung vehement mit Heinrich Barth ein. Barth bereiste zwischen 1850 und 1855 zunächst als Begleiter des englischen Missionars James Richardson, nach dessen Tod als Leiter der Expedition mit verschiedenen Kollegen vom Sultanat Bornu westlich des Tschad-Sees aus ein großes Gebiet des mittleren Sudan. Diese Unternehmung galt als erster erfolgreicher deutscher Vorstoß in das tiefe Innere von Afrika. Sein 1857–58 erschienenes fünfbändiges Reisewerk setzte Maßstäbe für die wissenschaftliche Beschreibung Afrikas. Für Jahrzehnte galten Barths Forschungen, Erkenntnisse und Erklärungen als bahnbrechend; seine Leistung wurde zum Vorbild für deutsche Forschertätigkeit auf dem afrikanischen Kontinent. Barth reiste allerdings im Auftrag der britischen Regierung. Erst das Schicksal Eduard Vogels, eines seiner Begleiter, der als Ersatz für den 1852 verstorbenen Astronomen Adolf Overweg zu Barth stieß, 1854 in das geheimnisumwitterte Sultanat Wadai östlich des Tschad-Sees aufbrach und seither als verschollen galt, spornte die deutsche Öffentlichkeit zu Unternehmungen im Namen der gesamten Nation an. Im Zuge der enormen Aufmerksamkeit, die die Initiativen im Namen Vogels auf sich zogen, stiegen Barth und seine Nachfolger zu Nationalhelden auf.←27 | 28→

Auch aus anderen Perspektiven kann man die Mitte des Jahrhunderts, die Revolutions- und Reaktionszeit, als Beginn einer unmittelbaren vorkolonialen Epoche ansetzen.19 Anthropologie und Ethnographie begannen sich als ‚globale‘ Wissenschaften zu konstituieren;20 Auswanderungsangelegenheiten drängten im Gefolge der politischen Auswanderung der 1840er Jahre und der ökonomisch bedingten Auswanderungswelle der 1850er Jahre ins Licht der Öffentlichkeit; technische und infrastrukturelle Neuerungen zeitigten einen Globalisierungsschub, der ferne Weltgegenden dem heimischen Publikum ein gutes Stück näher rückten.21 Die Erzählliteratur des Zeitraumes (insbesondere von Autoren des ‚Bürgerlichen Realismus‘) gibt Zeugnis von der Globalität des Bewusstseins selbst in der tiefsten deutschen Provinz.22 Ein ursächlicher oder kompensatorischer Zusammenhang zwischen der Stagnation innerer Entwicklung und der Aufmerksamkeitsverlagerung auf das Überseeische ist wahrscheinlich: Gerade für das Bürgertum eröffnete der koloniale Raum ein weites, lohnendes, vielfachen Bedürfnissen entgegenkommendes, aber zunächst – weil vor der Reichseinigung ohne politische Implikationen – unverfängliches Interessenfeld. Die Gründung von Zeitschriften, die dieses Interesse bedienten, belegt die globale Horizonterweiterung des deutschen Lesepublikums. Zu Cottas Das Ausland←28 | 29→ (1828) gesellten sich 1855 Petermanns Mitteilungen aus Justus Perthes geographischer Anstalt (das ‚Hausorgan‘ für Barth und mehrere andere berühmte Afrikareisende), 1862 Viewegs Globus und 1870 im Berliner Paetel-Verlag das ‚illustrierte Familienblatt für Länder-und Völkerkunde‘ (so der Untertitel) Aus allen Weltteilen.

Der Anstieg des Ausstoßes an Material kann als Manifestation eines Prozesses der Beschleunigung und der Verdichtung bestimmt werden, in deren Zuge ‚Afrika‘ immer reicher bebildert und mit Vorstellungen, Begriffen, Repräsentationen und Zuschreibungen gefüllt wird, die in erster Linie den Perspektiven, Bedürfnissen, Beschreibungsmöglichkeiten sowie Kategorien der Reisenden verpflichtet sind – und zwar nicht nur den Reisenden als Inaugenscheinnehmern, Landvermessern, Sammlern usw., sondern auch den Reisenden als bürgerlichen Akademikern und Autoren, die sich von ihren Werken Anerkennung in ihrer Zunft und (kommerziellen) Erfolg auf dem Buchmarkt erhoffen.23 Die Tendenz hin zur publikumswirksamen Verwertung des Fundus’ an Reiseerlebnissen ist Teil der Verdichtung des Diskursfeldes Afrika.

Details

Seiten
500
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783631716748
ISBN (ePUB)
9783631716755
ISBN (MOBI)
9783631716762
ISBN (Hardcover)
9783631716731
DOI
10.3726/b10755
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Juli)
Schlagworte
Entdeckungsgeschichte Sklaverei Kartographie Jagd Expedition Imperialismus
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2017. 500 S., 4 s/w Abb., 8 farb. Abb.

Biographische Angaben

Florian Krobb (Autor:in)

Florian Krobb ist Professor of German an der National University of Ireland Maynooth und Extraordinary Professor im Department of Modern Foreign Languages der Universität Stellenbosch (Südafrika).

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Titel: Vorkoloniale Afrika-Penetrationen
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