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Selbstverständnis im Spannungsfeld zwischen Diesseits und Jenseits

Die Lübecker Ratsherrenwitwen Telse Yborg (gest. vor 1442), Wobbeke Dartzow (gest. 1441/42) und Mette Bonhorst (gest. 1445/46)

von Ulrike Förster (Autor:in)
©2017 Dissertation 262 Seiten
Reihe: Kieler Werkstücke, Band 13

Zusammenfassung

Die Frauen der spätmittelalterlichen Ratsherren und Hansekaufleute wurden in der sozial- und wirtschaftshistorischen Forschung bisher kaum berücksichtigt. Ausgehend von diesem Defizit beschäftigt sich die Studie mit den Testamenten von drei Lübecker Ratsherrenwitwen. Dabei werden auch kultur- und literaturwissenschaftliche Fragestellungen aufgegriffen. Die Autorin analysiert die Vermächtnistexte – wegen ihrer kommunikativen Funktion in Anlehnung an die neuere Forschung auch als Selbstzeugnisse gedeutet – vor dem Hintergrund der von ihr ermittelten Biographien der Testatorinnen und mit Blick auf zeitgenössische konventionelle Handlungsmuster und Rollenbilder, um Personenaspekte der drei Frauen ableiten und ihnen als historischen Personen «ein Gesicht» geben zu können.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung
  • 1.1 Fragestellung, Zielsetzung und Abgrenzung des Themas
  • 1.2 Quellen
  • 1.3 Forschungsstand
  • 1.4 Methodisches Vorgehen
  • 2. Die Textsorte Testament als historische Quelle
  • 2.1 Testamente als Rechtsinstrument
  • 2.2 Testamente als kulturelle Praxis und Teil der sozialen Kommunikation
  • 2.3 Testamente als Selbstzeugnisse
  • 3. Die Lebenswelt der Testatorinnen
  • 3.1 Zeitgeschichtlicher Hintergrund
  • 3.2 Sozialer Status
  • 3.3 Biographischer und sozioökonomischer Hintergrund
  • 3.3.1 Telse Yborg, geb. Rutensten, verw. Erp (* ~ 1355, 1441 †)
  • 3.3.2 Wobbeke Dartzow, geb. Nyebur, verw. vam Zee (* 1373/82, 1442 †)
  • 3.3.3 Mette Bonhorst, geb. N.N., verw. van Mynden (* ~ 1365, 1446 †)
  • 4. Vergleichende Analyse der Testamente
  • 4.1 Die Testamente
  • 4.1.1 Das Testament der Telse Yborg vom 7. August 1421
  • 4.1.2 Das Testament der Wobbeke Dartzow vom 27. März 1437
  • 4.1.3 Das Testament der Mette Bonhorst vom 4. Mai 1443
  • 4.2 Beziehungsaspekte
  • 4.2.1 Lebensgeschichtliche Einblicke
  • 4.2.2 Sachgutverfügungen
  • 4.2.3 Bezugnahmen auf verwandtschaftliche und sonstige soziale Beziehungen
  • 4.2.4 Anbindung an Kirchen, religiöse Gemeinschaften und karitative Einrichtungen
  • 4.3 Handlungsbezogene Aspekte
  • 4.3.1 Handlungskompetenz und kommunikative Möglichkeiten
  • 4.3.2 Handlungsräume und -schwerpunkte
  • 4.3.3 Handlungsstrategien und -motive
  • 4.3.4 Töchter und Klöster
  • 4.4 Rekonstruktion von Personenaspekten
  • 4.4.1 Rollenkonzepte und Selbstdarstellung
  • 4.4.2 Das Bild der Mette Bonhorst in den Testamenten ihrer Ehemänner
  • 4.4.3 Sprachliche Aspekte der Selbstdarstellung
  • 4.4.4 Identifikation und Selbstverständnis
  • 5. Einordnung der Ergebnisse
  • 5.1 Umgang mit dem Rechtsinstrument Testament
  • 5.2 Selbstverständnis im Spannungsfeld zwischen Diesseits und Jenseits
  • 5.3 Die Frauen hinter den Testamenten oder: Den Frauen ein Gesicht geben
  • 6. Fazit
  • 7. Anhang
  • 7.1 Prosopographischer Katalog
  • 7.1.1 Die Testatorinnen
  • 7.1.1.1 Mette Bonhorst (geb. N.N., verw. van Mynden, * ~1365, 1446 †)
  • 7.1.1.2 Wobbeke Dartzow (geb. Nyebur, verw. vam Zee, * 1373/82, 1442 †)
  • 7.1.1.3 Telse (Elisabeth) Yborg (geb. Rutensten, verw. Erp, * ~ 1355, 1441 †)
  • 7.1.2 Väter und Ehemänner
  • 7.1.2.1 Marquard Bonhorst († 1432)
  • 7.1.2.2 Johan Dartzow (* um 1360, † 1434)
  • 7.1.2.3 Hinrik (Heyne, Hinricus) Erp (* vor 1340, † 1380/82)
  • 7.1.2.4 Thideman van Mynden (* vor 1340, † 1393/96)
  • 7.1.2.5 Johan Nyebur († 1399)
  • 7.1.2.6 Herman Yborg (* vor 1350, † 1410 in Lüneburg)
  • 7.1.2.7 Johan vam Zee (* ~1370, †1405)
  • 7.2 Regesten der Testamente
  • 7.2.1 Die Testamente der Erblasserinnen
  • 7.2.1.1 Das Testament der Mette Bonhorst vom 4. Mai 1443
  • 7.2.1.2 Das Testament der Wobbeke Dartzow vom 27. März 1437
  • 7.2.1.3 Das Testament der Telse Yborg vom 7. August 1421
  • 7.2.2 Die Testamente der Ehemänner
  • 7.2.2.1 Das Testament des Marquard Bonhorst vom 4. Juni 1406
  • 7.2.2.2 Das Testament des Thidemann van Mynden vom 31. Oktober 1381
  • 7.2.2.3 Das Testament des Thidemann van Mynden vom 25. September 1393
  • 7.2.2.4 Das Testament des Johan vam Zee vom 6. Juni 1397
  • 7.2.2.5 Das Testament des Johan vam Zee vom 25. Februar 1399
  • 7.2.3 Ausgewählte Testamente anderer verwitweter Frauen
  • 7.2.3.1 Das Testament der Hillegund Dartzow vom 14. August 1380
  • 7.2.3.2 Das Testament der Taleke Gropegheter vom 14. Juli 1435
  • 7.2.3.3 Das Testament der Elisabeth Lange vom 28. Februar 1383
  • 7.2.3.4 Das Testament der Heyleke Schraghe vom 9. August 1428
  • 7.3 Die Testamente der Telse Yborg, Wobbeke Dartzow und Mette Bonhorst
  • 7.3.1 Tab. 1: Textstruktur
  • 7.3.2 Tab. 2: Sachgutangaben
  • 8. Literatur- und Quellenverzeichnis
  • 8.1 Abkürzungen
  • 8.2 Ungedruckte Quellen
  • 8.3 Gedruckte Quellen
  • 8.4 Hilfsmittel
  • 8.5 Sekundärliteratur
  • 8.6 Online-Publikationen
  • 9. Personen- und Ortsregister

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1.  Einleitung

Abstract: This study draws a picture of three widows of councillors, who lived in the late-medieval city of Lübeck, analyzing their last wills against the background of their biographies, social contacts and the then prevailing societal conventions. The paper is mainly based on sources which are available in the municipal archives of Lübeck.

„Der Mensch ist das Maß der Geschichte, ihr einziges Maß. Mehr noch, ihr Existenzgrund […]. Die Menschen sind die einzigen Objekte der Geschichte – einer Geschichte, deren Interesse […] Menschen im Plural [gilt], als Mitglieder bestimmter Gesellschaften in einer bestimmten Epoche ihrer Entwicklung – Menschen mit vielfältigen Funktionen, unterschiedlichen Tätigkeiten, verschiedenen Vorlieben und Fähigkeiten, die durcheinanderwimmeln, einander stoßen und letztlich einen Kompromißfrieden schließen, einen modus vivendi, der Alltag heißt“ (Lucien Febvre)1.

Mit der damit umschriebenen Thematik beschäftigen sich im Rahmen der Sozialgeschichtsschreibung seit den 1970er Jahren die Alltags- und die Mentalitätsgeschichte sowie die Historische Anthropologie. Während die Alltagsgeschichte unter anderem die sozialen Praktiken der Menschen, ihre materielle Kultur, ihren Umgang mit den und ihre Einflussmöglichkeiten auf die gesellschaftlichen Strukturen in Form einer subjektorientierten Lebensweltanalyse in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses stellt,2 beschäftigt sich die Mentalitätsgeschichte mit den kollektiven Inhalten des Denkens und Empfindens, welche die Menschen einer Gemeinschaft zu einer bestimmten Zeit prägten, sich in Handlungen manifestierten und damit Bestandteil der jeweiligen Kultur waren.3 Auch die Historische Anthropologie stellt „den konkreten Menschen mit seinem Handeln und Denken, Fühlen und Leiden in den Mittelpunkt der historischen Analyse“, indem sie nach sozialen Praktiken, Handlungsmustern, Verhaltensweisen, Routinen und Ritualen und damit nach dem Selbstverständnis und der Handlungsfähigkeit der Menschen in ihrer Abhängigkeit von ← 11 | 12 → Gesellschaft und kultureller Tradition fragt.4 Im Gegensatz zum Historismus, der ebenfalls die Individualität des Menschen betonte, gehen diese Forschungskonzepte jedoch von einer Teilhabe aller Menschen an geschichtlichen Prozessen aus und begreifen folglich nicht nur die Personen im Zentrum der Macht, sondern auch das ‚einfache Volk‘ als Konstituenten von Geschichte.5

Im Gegensatz zu den makrohistorischen Betrachtungsweisen einer vor allem an Klassen, Schichten und den strukturellen Bedingungen des gesellschaftlichen Wandels interessierten (älteren) Sozialgeschichte arbeiten die Alltags- und Mentalitätsgeschichte sowie die Historische Anthropologie mit einem mikrohistorischen Ansatz, um so lebensweltliche Aspekte und damit verbunden „historische Subjektivitäten“ an kleinen Räumen auf der Ebene der Alltäglichkeit menschlichen Verhaltens zu untersuchen.6 Als Konsequenz der mikrohistorischen Perspektive und ausgehend von einem erweiterten Verständnis menschlicher Spuren als Quellen für die historische Forschung im Sinne M. Blochs sind seit den 1990er Jahren verstärkt nichtnormative Zeugnisse in den Fokus der Geschichtswissenschaft geraten, die „einen möglichst direkten Zugriff auf individuelle und kollektive Deutungen, Wertungen oder soziales Wissen ermöglichen“.7 Dazu gehören neben Zeitzeugenberichten auch bildliche Darstellungen, materielle Überreste und überlieferte Aufzeichnungen, in denen ein Mensch in irgendeiner Form „Auskunft über sich selbst gibt“. Letztere werden von W. Schulze, der um eine Ausweitung des Quellenbegriffs vor allem in Hinblick auf die Frühe Neuzeit bemüht ist, in ihrer Gesamtheit als „Egodokumente“ bezeichnet und umfassen literarische Texte wie beispielsweise die autobiographische Dichtung, Gebrauchsschriften wie etwa Briefe, Rechnungs- und Tagebücher, aber auch im Rahmen jurisdiktioneller Vorgänge erfolgte Aufzeichnungen wie zum Beispiel Prozessakten oder Testamente.8 ← 12 | 13 →

Nach 1970 gerieten – zunächst unter einem feministischen und politisch motivierten Ansatz – auch Frauen verstärkt in den Blick der Geschichtswissenschaft, ab den 1990er Jahren zudem im erweiterten Rahmen der Gender-Forschung.9 Die heutige Frauen- und Geschlechtergeschichte setzt sich, meist ebenfalls unter einer mikrohistorischen, oft lokal ausgerichteten Perspektive, „mit den Bedingungen realhistorischen Frauenlebens wie Rechtssituation, Erwerbsmöglichkeiten und Geschlechterbeziehungen“ sowie den Konzepten von Weiblichkeit und Individualität in verschiedenen sozialen Kontexten auseinander.10 Derartige Untersuchungen sind jedoch im Hinblick auf das Spätmittelalter mit dem Problem konfrontiert, dass zwar normative Quellen wie zum Beispiel Stadtrechtsaufzeichnungen recht zahlreich überliefert sind, jedoch sehr selten literarische Zeugnisse, in denen Frauen ihr Leben mit autobiographischem Bezug thematisierten.11 In Anbetracht der ungünstigen Quellenlage und im Kontext der Deutung autobiographischer Texte als eine Weiterentwicklung der im städtischbürgerlichen Umfeld entstandenen Familienbücher und Kaufmannsaufzeichnungen bezieht die neuere Forschung auch (nicht-literarische) Alltagsschriften mit selbstreferentiellem Charakter in ihre Untersuchungen ein.12 Dazu gehören im persönlichen Bereich entstandene Textsorten wie Briefe, Kaufmanns- und Tagebücher, aber auch chronikalisches bzw. rechtliches Schriftgut, dessen Überlieferungssituation aufgrund der städtischen Archivierung deutlich besser ist.13 ← 13 | 14 →

1.1  Fragestellung, Zielsetzung und Abgrenzung des Themas

Die vorliegende Arbeit stellt, angelehnt an das Konzept der Historischen Anthropologie und unter einem mikrohistorischen Ansatz, mit Telse Yborg, Wobbeke Dartzow und Mette Bonhorst drei Frauen in den Mittelpunkt der Untersuchung, die mit Lübecker Ratsherren verheiratet waren und als Witwen in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts ihr Testament errichteten.14 Während spätmittelalterliche Ratsherren und Hansekaufleute schon des Öfteren unter verschiedenen Fragestellungen im Zentrum geschichtswissenschaftlicher Studien standen,15 fanden deren Ehefrauen bisher meist nur im Zusammenhang mit sozialen Netzwerken und unter dem Aspekt des Konnubiums vor allem im Rahmen der Hanseforschung sowie in Arbeiten zur Lübecker Oberschicht Erwähnung.16

Unter spezifischen Fragestellungen beschäftigten sich erstmals B.-J. Kruse und S. Rüther explizit mit letztwilligen Verfügungen Lübecker Frauen in der frühen Neuzeit und dem Spätmittelalter. Im Gegensatz zu den Aufsätzen der beiden Autorinnen versucht die vorliegende Arbeit, die Biographien der drei Ratsherrenwitwen so weit wie möglich zu rekonstruieren und über eine Analyse der von ihnen errichteten Testamente Einblicke in ihr jeweiliges Selbstverständnis zu geben.17 Dabei wird von der Überlegung ausgegangen, dass ← 14 | 15 → Lebensgeschichte und Verhalten in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen,18 das folglich auch bei der Errichtung einer letztwilligen Verfügung anzunehmen ist. Ziel ist es, die drei Testatorinnen vor dem Hintergrund ihrer Lebensgeschichte, ihres sozialen Umfeldes und gesellschaftlicher Konventionen als Individuen im Rahmen ihrer Handlungsmöglichkeiten und der von ihnen ausgestalteten Handlungsräume sichtbar zu machen. Im Mittelpunkt der Arbeit steht dabei nicht nur das Bemühen, den Lebensweg der drei Frauen nachzuzeichnen, sondern vor allem die Frage, ob und in welchem Ausmaß sich aus dem Testierverhalten der Telse Yborg, Wobbeke Dartzow und Mette Bonhorst vor der Folie der jeweiligen Lebensgeschichte, aber auch der zeitgenössischen Erwartungen Personenaspekte der Erblasserinnen ableiten lassen.

Im Einzelnen wird zum einen danach gefragt, welche Faktoren innerhalb des sozialen Umfelds so bedeutend für die Lebensgeschichte der jeweiligen Erblasserin waren, dass sie einen Niederschlag in den Testamenten fanden. In diesem Kontext ist vor allem darauf zu achten, welche Personen und Aspekte in Bezug auf die Legatsvergabe den Witwen zum Zeitpunkt der Testamentserrichtung besonders wichtig waren – vor allem angesichts der Tatsache, dass alle drei Frauen durch Herkunft und zweimalige Heirat im Laufe ihres Lebens mehreren Familienverbänden angehörten. Zum anderen wird der Frage nachgegangen, welches Bild von sich selbst die Erblasserinnen in ihren Testamenten vermitteln (wollten) und welche Rollenkonzepte bzw. sprachlichen Mittel sie dafür verwendeten. Von Interesse ist dabei auch, in welchem Rollenzusammenhang die drei Frauen in den letztwilligen Verfügungen ihrer Ehemänner erscheinen und inwieweit die Selbstdarstellung der Testatorinnen von allgemeinen Rollenerwartungen, aber auch solchen, die an ihren Status als Ratsherrengattin bzw. -witwe geknüpft waren, beeinflusst wurde.

Im Korpus der von G. Meyer edierten Testamente der Jahre 1400 bis 1449 finden sich sechsundzwanzig letztwillige Verfügungen, die von weiblichen Erblassern errichtet wurden, darunter elf Vermächtnisse, die mit Sicherheit von verwitweten Frauen stammen.19 Dass für die vorliegende Studie drei Testatorinnen ← 15 | 16 → ausgewählt wurden, die mit Ratsherren verheiratet gewesen waren, hat unter anderem pragmatische Gründe: Bei Angehörigen der spätmittelalterlichen Lübecker Oberschicht – zumal wenn es sich dabei um Ratsmitglieder handelt – kann davon ausgegangen werden, dass die Quellensituation für eine Rekonstruktion der Biographien und des sozialen Umfelds auch im Hinblick auf deren Ehefrauen besonders günstig ist und sich daher möglicherweise vielfach die Art der Beziehung zu den in den Testamenten genannten Personen erschließen lässt.20 Hinzu kommt, dass sich durch einen Vergleich der drei Vermächtnisse, die im Witwenstand und vor einem ähnlichen gesellschaftlichen und ökonomischen Hintergrund errichtet wurden, individuelle Züge des Testierverhaltens herausarbeiten lassen, die möglicherweise Aussagen über das jeweilige Selbstverständnis bzw. über bestimmte Personenaspekte der Erblasserinnen erlauben. Daneben ist die Auswahl der Frauen jedoch durch das Interesse motiviert, am Beispiel der Telse Yborg, Wobbeke Dartzow und Mette Bonhorst den Frauen neben den Männern, welche das politische Geschehen in Lübeck um 1400 mitbestimmten, zumindest ansatzweise ein Gesicht zu geben.

Folglich legt die vorliegende Arbeit trotz der schicht- und standesspezifischen Auswahl der Erblasserinnen das Hauptaugenmerk nicht auf die Gemeinsamkeiten im Testierverhalten von Ratsherrenwitwen, sondern beleuchtet vielmehr kontrastierend die jeweils verwendeten Rollenkonzepte und besonderen Aspekte der Legatsvergabe, mittels derer diese drei Frauen versuchten, „eine Spur von sich in die Zeit zu legen, in der [sie] nicht mehr leben würde[n]“.21 Auch wenn im Rahmen der Untersuchung Lebenswirklichkeiten, Handlungsmöglichkeiten und Handlungsräume von Frauen sowie deren Umgang damit betrachtet werden, versteht sich diese Studie nur insofern als Beitrag zur Gender-Forschung, als sie beispielhaft die Selbstdarstellung, das Lebensumfeld sowie die sozialen Beziehungen von drei Ratsherrenwitwen um ← 16 | 17 → 1400 analysiert und damit lediglich einen begrenzten Einblick in das Leben spätmittelalterlicher Lübecker Stadtbürgerinnen gibt, die der sozialen Oberschicht angehörten.

1.2  Quellen

Sich der Biographie einzelner (historischer) Menschen zu nähern, wird umso schwieriger, je weiter man in der Geschichte zurückgeht. Zwar hatte ab dem Hochmittelalter eine zunehmende Verbreitung der Schriftlichkeit in den landesherrlichen und städtischen Verwaltungen, aber auch im privaten Bereich für einen kontinuierlichen Anstieg der schriftlichen Quellen gesorgt, in denen ereignis-, objekt- und personenbezogen zeitgenössisches Geschehen, Verwaltungs- und Rechtsakte oder geschäftliche Aktivitäten festgehalten wurden. Jedoch waren derartige Aufzeichnungen als Folge ihrer Entstehungsbedingungen dem Überlieferungszufall unterworfen und sind daher oft lückenhaft, im Hinblick auf Alltagsschriften nur selten überliefert.22

Von den Lübecker Stadtbürgern, die in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts in unterschiedlicher Form am städtischen Alltag teilhatten und so dessen gesellschaftliche und rechtliche Rahmenbedingungen modifizierten, wird nur ein Teil in den überlieferten städtischen Quellen sichtbar. Dabei handelt es sich meist lediglich um die Angabe des Namens im Zusammenhang mit einem Ereignis, Verwaltungs- oder Rechtsakt.23 Vor allem ab dem Spätmittelalter nutzten allerdings viele Bewohner – darunter auch Frauen – die Möglichkeit, ein Testament zu errichten, um über die Weitergabe von Besitz ihre finanziellen Verhältnisse, ihr Nachleben sowie ihre sozialen Beziehungen zu regeln, und machten dabei auch in unterschiedlichem Ausmaß Angaben zur eigenen Person. Mit dem umfangreichen, ab 1278 in Lübeck überlieferten Korpus letztwilliger Verfügungen ← 17 | 18 → steht deshalb neben den städtischen Verwaltungs- und Rechtsaufzeichnungen weiteres, eher personenzentriertes Quellenmaterial zur Verfügung, das sich für die vorliegende Arbeit nutzen lässt.24

Über die Personenkartei des Archivs der Hansestadt Lübeck lassen sich Informationen zum Lebenslauf, familiären Umfeld und ökonomischen Status vieler spätmittelalterlicher Stadtbewohner erschließen, die unter anderem auf den im Archiv verwahrten Regesten der Oberstadtbücher sowie Einträgen in den Niederstadtbüchern beruhen.25 Mit der Führung eines Stadtbuchs, in das unterschiedliche Verwaltungs- und Rechtsakte eingetragen wurden, ← 18 | 19 → welche die Bewohner Lübecks betrafen, begann der Rat, nachdem die Stadt die Reichsfreiheit erreicht hatte. Ab 1284 wurde für Grundstücksangelegenheiten ein eigenes Buch angelegt, das sogenannte Oberstadtbuch, während sonstige Rechtsakte, die dem Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit zugeordnet werden können, in einem als Niederstadtbuch bezeichneten Amtsbuch schriftlich festgehalten wurden.26 Dabei handelt es sich unter anderem um private Schuldverhältnisse und die Gründung von Handelsgesellschaften, aber auch um die Beilegung von Streitfällen, die Ausführung von Testamenten sowie Vormundschafts- und Erbangelegenheiten.27

Mit Hilfe der Stadtbucheinträge lassen sich nicht nur die sozialen Beziehungen, sondern ansatzweise auch die ungefähren Todesjahre der wichtigsten Familienangehörigen rekonstruieren. Ein weiteres Hilfsmittel stellen in diesem Kontext die überlieferten Mitgliederverzeichnisse von Bruderschaften dar, die zudem ebenso wie eine Mitgliedschaft in der Lübecker Zirkelgesellschaft auf den sozialen Status der Betreffenden verweisen können.28 Da der Erwerb von Häusern bzw. Grundstücken in Lübeck an den Besitz des Bürgerrechts gebunden war, geben die im Oberstadtbuch eingetragenen Immobilienangelegenheiten auch Aufschluss darüber, ab wann eine Person in der Stadt als Bürger nachgewiesen ist. Für den Zeitraum von 1317 bis 1356 liegen zudem die von der Kämmerei geführten Neubürgerlisten, die sogenannten ‚Civilitates‘, in der Edition von O. Ahlers vor.29

Angaben zur Ratsherrentätigkeit der Ehemänner oder sonstiger Familienangehöriger der Telse Yborg, Wobbeke Dartzow und Mette Bonhorst sowie Hinweise zu politischen Ereignissen, die möglicherweise Einfluss auf das ← 19 | 20 → Leben der drei Frauen hatten, finden sich auch in den überlieferten Lübecker Urkunden, die städtische Belange oder Angelegenheiten der Bewohner betrafen. Diese sind für den Zeitraum bis 1350 vollständig, danach in Auswahl (bis 1470) in der ersten Abteilung des Lübeckischen Urkundenbuchs ediert.30

1.3  Forschungsstand

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Quellengruppe der Testamente begann im 19. Jahrhundert und konzentrierte sich – vorwiegend unter prosopographischen sowie rechts- und verfassungsrechtlichen Fragestellungen – zunächst vor allem auf die letztwilligen Verfügungen mittelalterlicher Kleriker und Herrscher.31 Erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts wandte sich das Interesse der Geschichtswissenschaft im Kontext sozial-, kultur-, alltags- und mentalitätsgeschichtlicher Fragestellungen zunehmend den letztwilligen Verfügungen der spätmittelalterlichen Stadtbewohner zu. Testamente zählen wegen ihrer dichten Überlieferung über einen langen Zeitraum hinweg zu den wichtigsten städtischen Schriftquellen. Derartige Arbeiten werten meist unter Verwendung eines quantitativen methodischen Ansatzes die Testamente eines bestimmten Zeitraums oder einer Region seriell aus:32 Speziell mit den spätmittelalterlichen Vermächtnissen des Hanseraums haben sich auf diese Weise unter anderem R. Lusiardi, J. Schildhauer, B. Klosterberg, S. Mosler-Christoph, M. Riethmüller und S. Weglage beschäftigt;33 bezüglich der letztwilligen Lübecker Verfügungen sind in dieser Hinsicht beispielsweise H. Dormeier, R. Ehrhardt, A. Eßmann, G. Meyer, B. Noodt, und C. Selch Jensen zu nennen.34 ← 20 | 21 →

Einen „Mittelweg zwischen quantitativer und qualitativer, biographisch orientierter Testamentsforschung“, die den Fokus speziell auf die Personen und deren soziales Umfeld legt, verfolgt G. Signori in ihrer Untersuchung Baseler Testamente und weiterer Formen rechtlicher Verfügungen.35 Mit einer Mischung aus quantitativen und qualitativen Untersuchungsmethoden arbeitet auch L. Guzetti, die allerdings aus einer geschlechterspezifischen Forschungsperspektive spätmittelalterliche Vermächtnisse aus Venedig unter anderem im Hinblick auf weibliche Entscheidungsbereiche und Handlungsräume untersucht.36 Einen methodischen Ansatz, der sich nur auf die qualitative Analyse von Einzeltestamenten im Hinblick auf bestimmte lebensweltliche Aspekte bezüglich des jeweiligen Erblassers konzentriert, verwendete in den 1980er Jahren H. Boockmann. Neuere Arbeiten mit ähnlicher Vorgehensweise liegen beispielsweise von K. Dronske, K. Militzer, F. Machilek und M. Schulte vor.37 Die beiden Letztgenannten stellen dabei die Vermächtnistexte einer in einem Pfarrhaushalt angestellten Frau aus Frensdorf/Bamberg bzw. einer Bürgermeisterswitwe aus Minden in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung.

Ausschließlich mit den letztwilligen Verfügungen von Frauen aus Lübeck bzw. Lüneburg, Hamburg und Wien beschäftigen sich die Arbeiten von S. Rüther und K. Pajcic, die jedoch den Schwerpunkt ihrer Analysen unter anderem auf die von den Erblasserinnen in den Vermächtnissen verwendeten Rollenkonzepte und deren Personenaspekte sowie auf mögliche Hinweise zu deren Selbstverständnis legen.38 K. Pajcic wertet viele der von ihr untersuchten Testamente bezüglich dieser Zielsetzungen qualitativ aus, weist jedoch zudem mittels einer seriellen Betrachtung, eines literaturwissenschaftlichen Ansatzes und in Anlehnung an das Konzept der Sprechakttheorie den Selbstzeugnischarakter der von Frauen errichteten Vermächtnisse über deren ← 21 | 22 → Kommunikationsfunktion nach.39 Auch P. Baur betont in seiner Untersuchung spätmittelalterlicher Konstanzer Vermächtnisse, dass letztwillige Verfügungen wegen der in ihnen enthaltenen persönlichen Aussagen als Selbstzeugnisse anzusehen und daher vor allem auch im Hinblick auf frauengeschichtliche Fragestellungen besonders wertvoll seien.40 D. Andreetti deutet bezüglich seiner Auswertung Baseler Testamente des 17. und 18. Jahrhunderts derartige Texte ebenfalls als Selbstzeugnisse.41

1.4  Methodisches Vorgehen

Die vorliegende Arbeit versteht wie S. Rüther letztwillige Verfügungen von Frauen nicht nur als Rechtsinstrument, sondern auch als Selbstzeugnisse weiblicher Autoren mit selbstreferentiellem Charakter, die Aussagen zu deren Selbstverständnis enthalten (können), und sieht in Anlehnung an K. Pajcic derartige Schriften als sprachliches Handeln im Rahmen der sozialen Kommunikation und damit als kulturelle Praxis an.42 Im Gegensatz zu diesen beiden Autorinnen werden jedoch die Testamentstexte der Telse Yborg, Wobbeke Dartzow und Mette Bonhorst ausschließlich qualitativ und vor deren jeweiligem biographischen Hintergrund untersucht. Die gewählte Forschungsperspektive knüpft dabei insbesondere an die Aufsätze von K. Dronske, F. Machilek und K. Militzer an, die ebenfalls Einzeltestamente exemplarisch auswerten.

Da die vorliegende Studie bezüglich ihrer Zielsetzung – Rekonstruktion der jeweiligen Biographien und Interpretation der Testamentstexte vor deren Hintergrund – zwei Ansätze verfolgt, gliedert sich die Arbeit in zwei aufeinander aufbauende Teile, in denen methodisch unterschiedlich vorgegangen wird. Während im ersten Abschnitt unterschiedliche Quellen, aber auch Angaben in der Sekundärliteratur bezüglich der in ihnen enthaltenen, für die Fragestellung relevanten Informationen ausgewertet werden, zielt der zweite Teil der Studie auf eine eher als interdisziplinär zu bezeichnende analytische Vorgehensweise: ← 22 | 23 → Mit der vergleichenden Interpretation der Testamentstexte in Bezug auf die von den Erblasserinnen gewählte Form der Selbstdarstellung werden Verfahren angewendet, die eher in der Textlinguistik gebräuchlich sind, während die Untersuchung der dabei verwendeten zeitgenössischen Rollenkonzepte an sozialhistorische Fragestellungen anschließt. Die vorliegende Untersuchung nimmt dabei einerseits den Ansatz K. Dronskes auf, die sich in einem Aufsatz unter Verwendung zusätzlichen biographisch ausgewerteten Quellenmaterials mit dem Testament eines Lübecker Stadtbürgers beschäftigt, um so mögliche Motive für dessen Testierverhalten aufzeigen zu können.43 Andererseits rekurriert die Arbeit auch auf die Veröffentlichungen von S. Rüther und K. Pajcic, indem sie die Vermächtnistexte der drei Frauen im Hinblick auf die in ihnen erkennbaren Personenaspekte bzw. auf Anhaltspunkte für das jeweilige Selbstverständnis der Erblasserinnen untersucht.44

Im ersten Teil der Untersuchung werden vorrangig Lübecker Quellen ausgewertet, die entweder im Archiv der Hansestadt eingesehen werden können oder in edierter Form vorliegen, um die Biographien, die sozialen Beziehungen und den sozioökonomischen Hintergrund der drei Frauen zu ermitteln.45 Entsprechendes gilt für die Feststellung von Todesdaten und den Erwerb des Bürgerrechts,46 während für Angaben über die berufliche Tätigkeit, gegebenenfalls auch die Ratszugehörigkeit der Väter und Ehemänner neben Einträgen im Niederstadtbuch vor allem die Veröffentlichungen von E.F. Fehling, M. Lutterbeck, M. Burkhardt und D.W. Poeck herangezogen werden.47

Der zweite Abschnitt befasst sich mit der Beschreibung und Interpretation der von den drei Testatorinnen überlieferten Vermächtnistexte und mit den ← 23 | 24 → in ihnen enthaltenen Bestimmungen.48 Dabei werden die drei Erblasserinnen bezüglich der untersuchten Aspekte nur teilweise getrennt behandelt. Die Ergebnisse der Analyse werden jedoch für die Frauen jeweils getrennt in einem eigenen Abschnitt zusammengefasst, in dem auch auf generelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Testierverhalten der Ratsherrenwitwen verwiesen und auf die Resultate anderer Studien Bezug genommen wird. Im Hinblick auf die mit den Testamentserrichtungen verknüpften Handlungsaspekte werden die Vermächtnisse auf eventuell erkennbare Motive und Strategien analysiert, aber auch mit Blick auf die Handlungsräume und -schwerpunkte, welche die Erblasserinnen im Rahmen der ihnen zugestandenen rechtlichen Möglichkeiten nutzten oder gar setzten. Um Personenaspekte der drei Frauen rekonstruieren zu können, wird zum einen untersucht, mit welchen sprachlichen Mitteln und Rollenkonzepten die Testatorinnen ihre Selbstdarstellung realisierten, zum anderen wird deren Umgang mit den zeitgenössischen gesellschaftlichen Rollenerwartungen analysiert, um eventuell Aussagen über individuelle Wahrnehmungsmuster und Verhaltensweisen, aber auch über das Selbstverständnis der Erblasserinnen treffen zu können.

Details

Seiten
262
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783631718612
ISBN (ePUB)
9783631718629
ISBN (MOBI)
9783631718636
ISBN (Hardcover)
9783631718513
DOI
10.3726/b10887
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Februar)
Schlagworte
Biographien Testamente soziale Beziehungen weibliche Rollenkonzepte Selbstverständnis Selbstzeugnisse
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 262 S., 2 s/w Tab.

Biographische Angaben

Ulrike Förster (Autor:in)

Ulrike Förster studierte Skandinavistik und Geschichte an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.

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