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Kriegserklärung an das alte Europa

Literarische, historiographische und autobiographische Sichtweisen auf den Ersten Weltkrieg

von Monika Kucner (Band-Herausgeber:in) Agnieszka Godzisz (Band-Herausgeber:in) Piotr Zawilski (Band-Herausgeber:in) Elżbieta Katarzyna Dzikowska (Band-Herausgeber:in)
©2017 Sammelband 249 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch untersucht anhand literarischer, historiographischer sowie autobiographischer Werke unterschiedliche interdisziplinäre Sichtweisen auf den Ersten Weltkrieg. Die Zäsur, die der Erste Weltkrieg in der europäischen Geschichte darstellt, veränderte das Leben der Menschen und setzte neue Maßstäbe in vielen Lebensbereichen. Die alten Monarchien wurden abgelöst und durch neue Staaten ersetzt. Durch die rasante Modernisierung und Technisierung veränderte sich die Form der Kriegsführung. Die Einführung neuer Waffen kostete Millionen Menschen das Leben. Die Autorinnen und Autoren der einzelnen Beiträge repräsentieren verschiedene wissenschaftliche Disziplinen, die eine historische sowie literatur- und kulturwissenschaftliche Herangehensweise ermöglichen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • „Der Krieg ist doch etwas ganz anderes, als ich gedacht hatte.“ Die Belagerung der Festung Przemyśl in weiblicher Erinnerung (Monika Mańczyk-Krygiel)
  • Küstenland: Kriegsalltag in Görz-Gradisca (Manuela-Claire Warscher)
  • Zwischen Kriegsbejahung und -verneinung: Ernst Wichert und Agnes Miegel (Anna Gajdis)
  • Kriegsbilder eines Pazifisten. Max Herrmann-Neißes Gesellschaftskritik in der Erzählung Die Klinkerts (Beata Giblak)
  • Individuelles Zeugnis versus Kriegspropaganda. Der Erste Weltkrieg in Edlef Köppens Heeresbericht (1930) (Gerda Nogal)
  • ‚Zwischen den Nationen‘. Annette Kolb und der Erste Weltkrieg in Briefen einer Deutsch-Französin (Stefan Lindinger)
  • Die Sache Brandes’ – ‚sprawa Brandesa‘. Georg Brandes’ Presseartikel über die Zustände in Polen am Anfang des Ersten Weltkrieges im Spiegel einiger Zeitzeugnisse (Iwona Kotelnicka)
  • Zur Frage der Wiederherstellung Polens nach dem Ersten Weltkrieg. Analyse der sprachlichen Handlungen in Polenberichten der „Danziger Neuesten Nachrichten“ (Jan Sikora)
  • Der Erste Weltkrieg in Osteuropa in den Reportagen von John Reed (Paweł Brudek)
  • Die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges in der Poesie der Lodzer Deutschen (Monika Kucner)
  • Erzähltes Weltkriegsgeschehen im Lodzer Nahraum als politische Projektionsfläche. Deutsch-polnische Synthesen in Max Geißlers Grenzlandroman „Die Wacht in Polen“ (1915) (Andrea Rudolph)
  • Judenpolitik der deutschen Besatzungsmacht in Kongresspolen im Ersten Weltkrieg (Arkadiusz Stempin)
  • Die Juden im Weltkrieg. Das Bild der Ostjuden in der deutsch-jüdischen Presse aus der Zeit des Ersten Weltkrieges (Izabela Olszewska)
  • Jude-Gefangener-Schriftsteller. Perec Opoczyńskis Erzählungen aus der Zeit des Ersten Weltkrieges. Ein Abriss (Monika Polit)
  • Technische Realutopie und utopische Politik, H. G. Wells und die britische Luftkriegsstrategie gegen Deutschland im Ersten Weltkrieg (Joachim Kuropka)
  • Süd- und Südwestafrika in der deutschen Kulturpropaganda (1914–1918) (Paweł Zajas)
  • Bibliografie

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Vorwort

Der Erste Weltkrieg stellt eine wichtige Zäsur in der europäischen Geschichte dar. Er veränderte das Leben der Menschen und setzte neue Massstäbe in vielen Lebensbereichen. Mit dem Krieg endete das lange 19. Jahrhundert. Die alten Monarchien wurden gestürzt und neue Staaten geboren. Durch die rasante Modernisierung und Technisierung änderte der Krieg sein Gesicht. Die Einführung neuer Waffen kostete Millionen Menschen das Leben. Viele Opfer gab es auch unter der Zivilbevölkerung.

Der vorliegende Band setzt sich zum Ziel, anhand der Untersuchung literarischer, historiographischer sowie autobiographischer Werke (Tagebücher, Briefe), unterschiedliche Sichtweisen auf den Ersten Weltkrieg zu behandeln. Zu beachten ist ferner der interdisziplinäre Ansatz. Die Autorinnen und Autoren der einzelnen Beiträge repräsentieren verschiedene wissenschaftliche Fachbereiche, die historische sowie literatur- und kulturwissenschaftliche Herangehensweise ermöglichen.

Das Buch etstand im Rahmen eines Projekts, das an der Universität Łódź in Verbindung mit der Universität Gießen, dem Historischen Institut (Fachbereich: Osteuropäische Geschichte) durch das Interdisziplinäre Zentrum für die Erforschung von Multikulturalität und Multiethnizität der Stadt und Region Łódź in Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl für Literatur und Kultur Deutschlands, Österreichs und der Schweiz sowie mit dem Institut für Geschichte und dem Staatsarchiv Łódź angeregt und koordiniert wurde. Es konnte durchgeführt werden dank der Förderung durch die Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit, das Österreichische Kulturforum in Warschau, die Stadtverwaltung von Łódź, den Lehrstuhl für Literatur und Kultur Deutschlands, Österreichs und der Schweiz sowie das Prüfungszentrum des Goethe-Instituts in Łódź. Allen diesen Institutionen sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Dankesworte schulden wir auch Prof. Dr. Przemysław Waingertner vom Historischen Institut der Universität Łódź sowie PD Dr. habil. Frank Michael Schuster von der Universität Gießen für die wissenschaftliche und organisatorische Unterstützung unseres Vorhabens sowie Frau Dorota Cygan und Herrn Heinrich Hoffmann für die Übersetzung und Korrekturen.

Die Herausgeber

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Monika Mańczyk-Krygiel

Lehrstuhl für Literatur und Kultur Deutschlands, Österreichs und der Schweiz des 19. und 20. Jahrhunderts
Universität Wrocław

„Der Krieg ist doch etwas ganz anderes, als ich gedacht hatte.“ Die Belagerung der Festung Przemyśl in weiblicher Erinnerung

Abstract: Die Autorin erforscht die Kriegsdarstellungen in der weiblichen Diaristik aus Galizien im Hinblick auf die Erfahrung der Stadtbelagerung. Sie analysiert zwei Tagebücher Dziennik z oblężonego Przemyśla 1914–1915 (Tagebuch aus dem belagerten Przemyśl 1914–1915) von Helena Jabłońska (1994) und Im belagerten Przemysl. Tagebuchblätter aus großer Zeit (1914–15); 1915/ poln. 2010 von Ilka von Michaelsburg (eigtl. Ilka Künigl-Ehrenburg). Beide Texte ermöglichen die Problematik aus polnischer und österreichischer Perspektive zu betrachten. Die Autorin richtet den Fokus auf die Neudefinierung persönlicher Identität, ausgelöst durch den Zusammenbruch bisheriger Sicherheiten und verstärkt durch das Belagerungstrauma.

Der vorliegende Beitrag setzt sich zum Ziel, die Kriegsdarstellungen in der weiblichen Diaristik aus Galizien im Hinblick auf die Erfahrung der Stadtbelagerung zu erforschen. Die vergleichende Analyse zweier Tagebücher: Dziennik z oblężonego Przemyśla 1914–1915 (Tagebuch aus dem belagerten Przemyśl 1914–1915) von Helena Jabłońska (1994) und Im belagerten Przemysl. Tagebuchblätter aus großer Zeit (1914–15) von Ilka von Michaelsburg (eigtl. Ilka Künigl-Ehrenburg; 1915 / polnisch 2010) gewährt – nicht zuletzt durch die doppelte, nämlich die polnische und die österreichische Perspektive – aufschlussreiche Einblicke in die Krisenzeit der galizischen Vielvölkerstadt. Von besonderem Interesse ist dabei die Um-/Neudefinierung persönlicher Identität, ausgelöst durch den Zusammenbruch bisheriger Sicherheiten und verstärkt durch das Belagerungstrauma. Des Weiteren interessieren genuin weibliche Erlebnisse und (neue) Lebensentwürfe in der Welt des „modernen“, totalen Krieges, die die weibliche Alltagserfahrung im Krieg sowie individuelle Überlebensstrategien während der Belagerung der Festung Przemyśl umfassen.

Beiden gesichteten Texten wohnt eine spezielle Perspektive inne, nämlich die einer Besucherin auf Zeit, die sich freiwillig in der Stadt niederlässt. Die eigentlich in Sanok ansässige Helena Jabłońska verwaltete in Przemyśl zur Zeit der Belagerung ← 9 | 10 → die Immobilien ihrer Familie. Die Stadt selbst war ihr wohlbekannt, denn dort befand sich das Familiengrab und viele Verwandte lebten noch da. Ilka Künigl-Ehrenburg kam nach Przemyśl zusammen mit ihrem Mann, einem Sanitätsoffizier, und arbeitete ehrenamtlich im Militärkrankenhaus. Aufgrund der beruflichen Verpflichtungen ihres Ehemannes war sie oft allein und nutzte ihre Freizeit nach dem Dienst im Lazarett, um die fremde und für sie exotische Stadt zu erkunden. Diese besondere Position wirkt sich auf die Wahrnehmung beider Diaristinnen aus: Auch wenn sie in das Kriegsgeschehen involviert sind, die Zerstörung der Stadt dokumentieren und bedauern, so bedeutet dies für sie keinen Heimatverlust im eigentlichen Sinne. Im Hinblick auf die hier anvisierten Gesichtspunkte entwerfen sie ein facetten- und aufschlussreiches Bild.

Das polnisch-galizische Narrativ

Die insgesamt 13 Hefte der Erinnerungen von Helena Jabłońska enthalten eine Beschreibung der Belagerung der Festung Przemyśl, ihre Besatzung durch die Russen und die anschließende Rückeroberung der Stadt durch vereinte deutsche und österreichisch-ungarische Kräfte (August 1914–August 1915). Was in ihren Schilderungen auffällt, ist die Tatsache, dass ihre persönliche Kriegserfahrung von nationalen und politischen Zuschreibungen unabhängig ist und einen quasi übernationalen Charakter hat. In den beiden von der Diaristin verwalteten Gebäuden wurden zuerst „eigene“ Soldaten (Italiener und Ungarn) einquartiert, die die gepflegten Häuser rasch verkommen ließen. Die bedrückende Erfahrung von Zerstörung, Schmutz und Gestank wurde für die Autorin zum Alltag, unabhängig davon, ob Freunde oder Feinde bei ihr wohnten, denn Ähnliches erlebte sie auch während der russischen Besatzung. Unter den extremen Bedingungen in der Festung wurden die schlimmsten Instinkte ihrer Bewohner freigesetzt und eben diese allgemeine, um sich greifende Entmenschlichung machte Jabłońska besonders zu schaffen:

Bombardierungen, Hunger, Krankheiten, Verzweiflung, Plünderungen und permanente Ungewissheit im Hinblick auf die Zukunft bestimmten in dieser Zeit das Leben der Autorin. Mit der Zeit stellte sich zwar eine gewisse Abstumpfung ein, doch die Belagerten konnten die Konsequenzen der modernen, industrialisierten Kriegsführung und die Erfahrung der Einkesselung nur schwer bewältigen:

Das Schlimmste für Jabłońska war ihre Einsamkeit. Die 50-jährige Witwe trauerte bereits seit anderthalb Jahren um den geliebten Ehemann und wurde nun noch von der übrigen Familie getrennt. Des Weiteren litt sie unter der Veränderung ihrer Lebensumstände, unter der ungewohnten körperlichen Anstrengung sowie der Ohnmacht den Einquartierten gegenüber. Die unermüdliche Sorge um den Familienbesitz hat die Diaristin am Leben erhalten und die Ausrichtung ihrer Handlungen auf die Belange des Alltags hat sich als lebensrettend erwiesen. Die verkehrte Welt des Krieges hat der sonst so bedeutungslosen Alltagsroutine3 neues Gewicht verliehen. Sie bestätigt nun quasi die Existenz des Individuums in der Welt – selbst durch die unbedeutendsten Tätigkeiten, durch das sonst herablassend als stumpfsinnig abgestempelte weibliche „Herumhantieren“ resp. „Herumwirtschaften“. Wie Jolanta Brach-Czaina bemerkt, wohnt zuweilen der Alltagstristesse ein aufwühlender Aspekt inne: „Wenn ich die Alltagskleinigkeiten betrachte, kommt es mir vor, als würde ich im Hintergrund einen Hufschlag vernehmen. Als würde der Todesengel rasen. Und der Engel des Lebens wüten.“4 Und tatsächlich ist selbst die durch den alltäglichen Überlebenskampf erzeugte Müdigkeit als eine Bestätigung des Daseins der Schreiberin in einer von Tod und Schrecken erfüllten Welt zu sehen: „Denn obgleich ich allein bin, habe ich viel Arbeit. Selbst putzen, waschen, bügeln, scheuern, nähen und kochen, spülen, Brot und Brötchen backen für mich und den Rittmeister, in verschiedenen Angelegenheiten herumrennen, zum Friedhof und zur Maiandacht. Ich bin müde.“5 Insgesamt hat sie ihre eigene ← 11 | 12 → Leistung als außerordentlich eingeschätzt, da in diesen chaotischen Zeiten nicht jeder einer solchen Herausforderung gewachsen gewesen wäre:

Wie belastend aber diese Lage für sie im Grunde genommen war, beweisen die aufkommenden Selbstmordgedanken. Die Einsamkeit der Autorin wurde durch die ständige Sehnsucht nach dem Verstorbenen intensiviert, sie schwankte zwischen der Todessehnsucht und einer übermäßigen Lebensbejahung. Dank ihrem Tagebuch lernte sie, mit all diesen widersprüchlichen Gedanken umzugehen und selbst negativen Gefühlen wie Melancholie und Nostalgie etwas Gutes abzugewinnen. Sie verstand mit der Zeit, dass das Leben ohne ihren Liebsten keineswegs eine Lebensentsagung, sondern vielmehr den Mut zum Leben bedeutete – trotz des ständigen Bewusstseins des erlittenen Verlustes.7

Ihr Bewegungsradius in der belagerten Stadt beschränkte sich auf einige signifikante Punkte: Haus, Verwaltungsgebäude, Kirche und Friedhof, wobei dem ersten und dem letzten eine besondere Bedeutung zukommt. Sie versuchte nämlich unermüdlich der Verwüstung der Häuser durch die einquartierten Soldaten entgegenzuwirken. Es ging ihr dabei nicht ausschließlich um die Verpflichtung der Familie gegenüber, sondern mit der Zeit schien diese Aufgabe für sie eine symbolische Komponente zu bekommen. Da durch die Stadtbelagerung jegliche überindividuelle (etwa durch den Staat garantierte) Sicherheit verschwand, wollte sie wohl unbedingt das Haus in seiner Funktion als Geborgenheit spendender Ort und Zuflucht vor der äußeren, feindlichen Welt erhalten.8 Instinktiv schien sie zu ← 12 | 13 → ahnen, dass ein verwahrlostes, verlassenes Haus leicht zu einem dämonischen Ort werden und einer chaotischen Unordnung anheimfallen könnte, sollte sie sich nicht darum sorgen. Die bereit erschütterte Weltordnung würde auf diese Weise vollkommen und für immer aus den Fugen geraten. Durch ihre Bemühungen wollte sie also verhindern, dass das Haus zu einem Ort des Todes, zu einem Reich der Verstorbenen wird. Das Haus sollte ferner nicht gänzlich verwahrlosen, weil dies ebenso einen langsamen Heimverlust symbolisiere9 und der Mensch so mit der Vorahnung der eigenen Vergänglichkeit konfrontiert werde. Die unermüdlich betriebenen Reparaturen und Reinigungsarbeiten wirkten dem eventuellen Zustand der Verlassenheit und somit der eigenen Angst vor Einsamkeit, Tod und Vergessenheit entgegen.

Denn auch draußen versinnbildlichten überall kriegsbedingte Veränderungen im städtischen Raum, wie etwa Bombenkrater, Ruinen und ausgebrannte Ställe, eindringlich die (innere) Unsicherheit und die Vergänglichkeit und machten so die ganze Stadt für die Diaristin zu einer Nekropolis: Durch den Krieg funktionierte der Stadtorganismus nicht mehr wie gewohnt und sein jetziger Zustand wurde durch Mangel, Leere und Abwesenheit bestimmt.10 Und erstaunlicherweise wurde Jabłońskas zweitwichtigster Bezugspunkt in der belagerten Stadt der Friedhof (also der Ort des Todes par exellence) mit dem Familiengrab, in dem all ihre Liebsten – Vater, Bruder und Ehemann – ruhten. Weder körperliche Schmerzen noch Beschuss oder Luftangriffe vermochten sie daran zu hindern, regelmäßig diesen Ort aufzusuchen – in ihrem „persönlichen“ Kriegsraum wurde dem Friedhof paradoxerweisen (in ihren Augen) die Rolle des Stadtzentrums zugewiesen. Gemäß der Logik einer solchen verkehrten Welt wurde der Friedhof für die Diaristin seltsamerweise auch zu einem Ruhepol, an dem sie aus den Gesprächen mit dem verstorbenen Ehemann immer wieder neue Lebenskraft schöpfen konnte. Die Toten gewährten die einzige Sicherheit der Unveränderlichkeit, so dass selbst der Gedanke an eine Flucht aus der Festung zu einer ungeheuren Belastung wurde: „Ich ging zum Friedhof, mich ausheulen, nach dem Rat fragen. Nein, ich kann mich von den Meinen in einem solchen Augenblick nicht trennen, mein Herz würde zerbrechen. Wenn die Unseren es nicht geschafft hätten und die Festung eingenommen worden wäre, hätte ich vielleicht diese Gräber nicht mehr gesehen“.11 ← 13 | 14 →

Angesichts dieser beiden Bezugspunkte ihrer neuen Welt verlor die übrige Stadt an Bedeutung. Die materiellen Zerstörungen wurden zwar registriert, doch ohne eine besondere Anteilnahme. Viel wichtiger schien die veränderte Atmosphäre zu sein: „Die Stimmung sehr ernst. Alles eilt, schweigt. Man sieht keine Frauen, keine Kinder. Es bilden sich keine Gruppen. Eine gewisse Bedrücktheit und Nervenzerrüttung, das sieht man, das spürt man“12 Waren sich bisher in dieser Stimmung Vertreter aller Nationalitäten in der Stadt einig, so veränderte sich das nach der Übergabe der Festung an die Russen drastisch. Die nationalen Ressentiments gewannen wieder an Bedeutung, die bisherige Solidarität im Leid wurde aufgehoben. Sowohl die Ruthenen als auch die Polen ließen ihren niedersten Instinkten freien Lauf, der Überlebenskampf entmenschlichte alle gleichermaßen. Die Nekropolis hielt letztendlich auch in die Gemüter der Menschen Einzug: „Man lebt wie in der Hölle, Grauen von allen Seiten“.13

Ungeachtet der komplizierten persönlichen Lage beschäftigte sich Jabłońska mit dem Schicksal und der Zukunft ihrer Heimat, die für sie vor allem Galizien war. Dabei sah sie sich verschiedenen Loyalitäten verpflichtet, die sich aber gegenseitig keineswegs ausgeschlossen haben. Jabłońska hat die Polnischen Legionen finanziell unterstützt und sich über die Einnahme von Warschau gefreut. Andererseits bezeichnete sie die österreichische Armee als „die unseren“ und begrüßte ihre Erfolge an der Front. Des Weiteren betrauerte sie die kriegsbedingten Zerstörungen in Galizien zutiefst und ergriff mutig das Wort gegen die Schmähungen ihrer Heimat gegenüber: „Ich hätte nicht gedacht, dass ich so eine österreichische Patriotin bin. Es schmerzt mich, wenn die Deutschen Galizien beschimpfen und uns ihre Hilfe unter die Nase reiben. Heute war ich schon so verärgert, dass ich laut protestierte, obwohl ich dabei eine Verhaftung riskiert habe.“14 Sie sah aber ein, dass ihre Heimat der Vorkriegszeit – etwa Städte, in denen verschiedene Nationalitäten zusammenlebten – unwiederbringlich ausgelöscht wurde. Es verbitterte sie in höchstem Maße, dass ehemalige Nachbarn zu Feinden wurden, dass Nation auf einmal mehr als Heimat wog. Die Zukunft des geliebten Galiziens schien ihr ungewiss zu sein, ein Spielball von Weltmächten, die sich der Eigenart dieser Region gar nicht bewusst waren:

Aus dem Ganzen geht hervor, dass Österreich und Deutschland viel mehr Feinde haben als diese, die gegen sie bereits kämpfen. Und wir Polen am meisten, das heißt, dass wir in diesem österreichischen Konglomerat allen verhasst sind, zur Beute freigegeben. Alle ← 14 | 15 → Schuld, Schmach und Verrat haften uns an. Man unterscheidet nicht zwischen Ruthenen, Polen und Juden, sondern mit einem Wort; Galizien – das sind einfach Polen!.15

Letztendlich ließ sie sich durch nichts entmutigen, weder durch die Verwüstungen in Przemyśl noch die Zerstörung ihres eigenen Hauses in Sanok. Sofort schmiedete sie Pläne der Sanierung und schöpfte daraus neue Kraft. Die Belagerung hat sie stark gemacht. Und sobald sie mit ihrer Familie wieder vereint war, konnte sie optimistisch in die Zukunft sehen.

Das österreichisch-deutsche Narrativ

Details

Seiten
249
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783631719176
ISBN (ePUB)
9783631719183
ISBN (MOBI)
9783631719190
ISBN (Hardcover)
9783631716625
DOI
10.3726/b10914
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Februar)
Schlagworte
Erster Weltkrieg Geschichte Literatur Kultur
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 249 S.

Biographische Angaben

Monika Kucner (Band-Herausgeber:in) Agnieszka Godzisz (Band-Herausgeber:in) Piotr Zawilski (Band-Herausgeber:in) Elżbieta Katarzyna Dzikowska (Band-Herausgeber:in)

Monika Kucner ist Kultur- und Literaturwissenschaftlerin und arbeitet an der Universität Łódź. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der deutschsprachigen Literatur aus Łódź im 19. und 20. Jahrhundert sowie der Geschichte und Kultur der Łódźer Minderheit. Agnieszka Godzisz ist Literaturwissenschaftlerin und arbeitet an der Universität Łódź. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind österreichische Literatur, Wiener Moderne und Expressionismus. Piotr Zawilski ist Direktor des Staatsarchivs in Łódź und Vizepräsident der Vereinigung der polnischen Archivare. Elżbieta Katarzyna Dzikowska ist Literatur-und Kulturwissenschaftlerin und arbeitet an der Universität Łódź. Ihre Forschungsschwerpunkte sind deutschsprachige Literatur im 20. Jahrhundert, deutsch-polnische Komparatistik und die Gender-Problematik.

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