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Die Transgressionen der Bibelfiguren in der Prosa von Georg Trakl

von Andrzej Pilipowicz (Autor:in)
©2017 Monographie 245 Seiten

Zusammenfassung

Dieses Buch analysiert die Modelle der biblischen Gestalten in der Prosa von Georg Trakl. Für Trakl gilt die Bibel nicht nur als eine große Inspirationsquelle. Sie ist auch als ein ständiger Bezugspunkt zu betrachten, der ihn seine eigene Position in der Welt bestimmen lässt. Der Autor untersucht auch die Prosadichtungen, die in formaler Hinsicht den Charakter der Prosa aufweisen. Mit der Aufnahme der Gedichte zielt der Autor nicht nur darauf ab, die behandelte Problematik in möglichst vollem Umfang darzustellen, sondern auch Trakls Rezeption des Christentums in ihrem chronologischen Verlauf zu erfassen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Einführung
  • Problem
  • Ziel
  • Methode
  • Forschungsstand
  • 1. Bibel und Mythologie
  • 1.1. Traumland
  • Exkurs: „(…) als wäre sie gestorben ohne sichtbare Ursache – ein Rätsel“
  • 1.2. Aus goldenem Kelch
  • 1.2.1. Barrabas
  • 1.2.2. Maria Magdalena
  • 1.3. Verlassenheit
  • 1.3.1. „Nichts unterbricht mehr das Schweigen der Verlassenheit“
  • 1.3.2. „Niemand vermag mehr in den Park einzudringen“
  • 1.3.3. „Und droben in einem rissigen Turmgemach sitzt der Graf“
  • 2. Religion und Inzest
  • 2.1. Verwandlung des Bösen
  • 2.2. Winternacht
  • 2.3. Traum und Umnachtung
  • 2.3.1. „Am Abend ward zum Greis der Vater“
  • 2.3.2. „Niemand liebte ihn“
  • 2.3.3. „O des verfluchten Geschlechts“
  • 2.3.4. „Tief ist der Schlummer in dunklen Giften (…)“
  • 3. Apokalypse und Eschatologie
  • 3.1. Offenbarung und Untergang
  • 3.1.1. „Seltsam sind die nächtigen Pfade des Menschen“
  • 3.1.2. „Schweigend saß ich in verlassener Schenke (…)“
  • 3.1.3. „Am Saum des Waldes will ich ein Schweigendes gehn“
  • 3.1.4. „Friedlose Wanderschaft durch wildes Gestein (…)“
  • 3.1.5. „Da ich in den dämmernden Garten ging“
  • 3.1.6. „Mit silbernen Sohlen stieg ich die dornigen Stufen hinab (…)“
  • 3.2. Brief vom 27. Oktober 1914
  • 3.2.1. Klage
  • 3.2.2. Grodek
  • Zusammenfassung
  • Bibliographie
  • Primärliteratur
  • Sekundärliteratur

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Einführung

Problem

Die Texte von Georg Trakl (1887–1914) beziehen sich nicht nur auf die Unmöglichkeit, die Distanz zwischen dem Menschen und der Welt zu vermindern, sondern drücken auch sein Verhältnis zur christlichen Religion aus, wodurch er seinen Beitrag zu der um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert geführten Polemik mit dem Christentum (Leppmann 2005: 101) leistet. In der Zeitwende, die eine symbolische Trennungslinie zwischen der die Tradition versinnbildlichenden Welt des vergehenden Jahrhunderts und der die Technisierung des Lebens anstrebenden Welt des kommenden Jahrhunderts markiert, spiegelt sich auch der Tod von Trakl wider, weil seine Existenz von der die Achse der Symmetrie bildenden Jahrhundertwende ‚entzweigebrochen‘ wird und in zwei fast gleiche Teile zerfällt: in eine dreizehnjährige Periode vor und in eine vierzehnjährige Periode nach dem Jahr 1900. Als Beispiel für das oppositionelle Denken an die Religion kann das Werk Antichrist von Friedrich Nietzsche angegeben werden, in dem die Rezeption des Christentums einer tiefgründigen Kritik unterzogen wird. Nietzsche bezeichnet die Begrenzungen, die den Menschen von der christlichen Religion auferlegt werden, als lebenswidrig (Nietzsche 1988d: 189) und stellt das Jenseits, auf das ihre Existenz von der Religion ausgerichtet wird, mit dem Nichts gleich (Nietzsche 1988d: 217), wodurch er dagegen auftritt, das Leben nur auf den vom Jenseits intensivierten Tod zurückzuführen und es als einen im Moment der Geburt beginnenden Prozess des Sterbens zu betrachten.

Unter zahlreichen Bibelgestalten, die als literarisches Motiv besonders häufig aufgegriffen werden und auch Trakls Werke durchziehen – die Gottesmutter Maria, Jesus Christus, Maria Magdalena, Rahel, Jakob und Barabbas –, verdient Salome eine große Beachtung, weil sie das künstlerische Leben jener Epoche wesentlich prägt. Sie erscheint in dem 1891 verfassten Drama Salome (Salomé) von Ocar Wilde, wodurch sie zu der bedeutsamsten Figur wird, deren Wirkung die 1905 von Richard Strauss komponierte und sich auf Wildes Text stützende Oper Salome noch verstärkt.1 Die Weise, in der man an die in der Bibel dargestellten ← 7 | 8 → Probleme herangeht, ändern die psychoanalytischen Forschungen von Sigmund Freud, wodurch die Semantik der biblischen Metaphern vertieft wird. Dadurch, dass der Existenzbereich des Menschen in das Es, das Ich und das Über-Ich (Freud 2007: 253–295) eingeteilt wird, wird der Mensch als ein Wesen definiert, das der Wirkung vieler antagonistischer Kräfte ausgesetzt wird. Deswegen tragen besonders die Forscher, die sich mit den psychoanalytischen Untersuchungen befassen, zu der Herausbildung einer neuen Perspektive bei, aus der die Welt und der Mensch betrachtet werden (Rieder 1971: 218). Um die Wirklichkeit der Innenwelt zu erfassen, suchen die Schriftsteller nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten, weil sich der bisherige Umgang mit der Sprache nur in Bezug auf die Wiedergabe der Außenwelt als zuverlässig erwiesen hat. Einerseits verraten ihre Werke einen deutlichen Hang zur Abstraktion, mit der man die seelischen Zustände nach außen zu bringen versucht. Andererseits gewinnt das einzelne Wort, das aus dem Inneren des seine Existenz tief erlebenden Menschen herausgeholt wird, den Status eines Zauberwortes, weil in ihm das Geheimnis des Individuellen verschlüsselt ist (Rieder 1971: 222–223). Dadurch, dass die Seele ins Zentrum des Interesses rückt, bestimmen die religiösen Themen, die die vom Geist konstituierte Innenwelt ansprechen, die Aufgaben der Literatur. Das Wort, das als Beweis für das Leben der Innenwelt gilt, geht mit dem biblischen Wort einher, das vom Leben Christi und seiner dem Tod folgenden Auferstehung gefüllt wird. Die den Untergang der Österreichisch-Ungarischen Monarchie verkündende Stimmung und die Atmosphäre des Nihilismus verleiten den Menschen dazu, zu seinem Inneren Zuflucht zu nehmen. Die durch die Unsicherheit der Existenz bedingte Hinwendung zu sich selbst, wovon die düsteren Visionen in Trakls Werken zeugen, lässt nicht nur neue Aspekte der menschlichen Natur entdecken, sondern auch die Unvereinbarkeit einzelner, sich oft auf die Sexualität beziehender Existenzelemente mit der biblischen Axiologie feststellen. Deswegen unterscheidet sich die expressionistische Religiosität, die sich an Gott wendet, aber den Menschen nicht aus dem Blickfeld verliert, von der mittelalterlichen Religiosität, die sich Gott bedingungslos ← 8 | 9 → zukehrt, aber von der Wirklichkeit abwendet. Die Überschwänglichkeit und die Unbezähmbarkeit der Emotionen (Sydow 2007: 204) verbindet die expressionistische Religiosität mit der barocken Religiosität, mit der der Mensch seine geistige Hingabe zu Gott demonstriert, aber das geistige Potenzial seiner Persönlichkeit nicht entwickelt. Die Aufmerksamkeit der expressionistischen Schriftsteller konzentriert sich daher nicht auf Gott, sondern auf den Menschen, der seine Beziehung zu Gott in Anlehnung an seine Natur entwickelt (Huebner 2007: 38). Die Umkehrung der Ordnung, in der jeder Mensch Gott in sich selbst erschafft, betont das Bedürfnis des Individuums, einen nicht institutionalisierten Kontakt mit Gott aufzunehmen. Die Nähe zu Gott wird von dem immer realer werdenden Gespenst des Kriegs provoziert, der als ein an den Tod erinnerndes Phänomen die Zersprengung der erstarrten Vorstellung von Gott stimuliert (Huebner 2007: 44). In der Atmosphäre der Gefährlichkeit nimmt der Mensch nicht nur Zuflucht zu Gott, sondern er wird auch mit sich selbst konfrontiert, was ihm die Kompliziertheit seines Wesens vor Augen führt. Der von Karl Otten formulierte Satz „Das Erlebnis des Einzelnen (…) ist Gott!“ (Otten 2007: 121) bezieht sich auf den Glauben an sein Ich, das in Bezug auf seine Authentizität Gott nicht nachsteht.

Trakl dekonstruiert die sich angesichts der Krise der Werte kaum noch bewährenden Dogmen und variiert ihre Bestandteile, so dass neue Konfigurationen der biblischen Motive entstehen. Solch eine Verfahrensweise lässt Trakl Gefahr laufen, der Blasphemie bezichtigt zu werden, an die auch die den Gedichtzyklus Christus. Elf Visionen bildenden Texte von Rainer Maria Rilke grenzen.2 Der neue Blick auf die dogmatischen Glaubensprinzipien, die vor allem mit ← 9 | 10 → der Gestalt von Christus zusammenhängen und oft eine verschleierte Form aufweisen, bedingt die Möglichkeit, die Kraft der christlichen Ideen, die wegen der verbrauchten und missbrauchten Rezeptionsformeln desaktiviert werden, aufs Neue zu beleben. Der innovative Charakter der biblischen Konstellationen, die Trakls Werken zu entnehmen sind, besteht darin, dass der Inhalt der Christus-Idee beibehalten wird, während ihre Form weitreichenden Modifikationen unterzogen wird, wodurch sie ihre bisher verborgene Bedeutung enthüllt. Die einzelnen Komponenten der Dogmen werden kaleidoskopisch zu unterschiedlichen Mustern zusammengefügt, in denen die mit den Errungenschaften der Zivilisation konfrontierten Menschen ihre existenzielle Situation erkennen. Das Christentum wird von Trakl weder negiert noch glorifiziert, was seine Werke für ein apologetisches Traktat über die Religion halten lässt. Neben zwei existenziellen Akten – dem Akt der Geburt und dem Akt des Todes – finden auch zwei dogmatische Akte – der Akt der Jungfräulichen Empfängnis und der Akt der Auferstehung – in der Prosa von Trakl ihre Widerspiegelung und werden als konstitutive Elemente betrachtet, die die quasiapokryphischen Texte von Trakl mit dem Text der Bibel korrespondieren lassen.

Von dem großen Interesse Trakls an der Bibel zeugen seine zwei Prosatexte, die zu seiner frühen Schaffensperiode zählen und den Zyklus Aus goldenem Kelch formen: Barrabas (Mai/Juni 1906) und Maria Magdalena (Juni/Juli 1906). Beide Werke werden den Figuren aus dem Neuen Testament gewidmet und können den Einfluss bestätigen, den auf Trakl die am 6. März 1906 im Salzburger Theater stattgefundene und in einer seiner Rezensionen beschriebene Inszenierung des sich auf eine Bibelgeschichte stützenden Dramas Salome von Oscar Wilde ausübte. Auch zwei andere Prosatexte – Traumland (Frühling 1906) und Verlassenheit (2. Hälfte des Jahres 1906) – stehen im engen Zusammenhang mit den biblischen Geschichten, deren Elemente die Form vielschichtiger Allusionen annehmen. Im Werk Traumland ist das Motiv der Jungfräulichen Empfängnis erkennbar, die die Gestalt der Gottesmutter Maria evoziert. Das Werk Verlassenheit dagegen bezieht sich auf einen Grafen, dessen Einsamkeit nicht nur auf die letzten Tage der Welt, sondern auch auf deren erste Tage hinweist, wodurch in ihm der erste Mensch Adam zu erblicken ist. In der späteren Schaffensperiode von Trakl entstehen Werke, in denen die Gestalt von Christus trotz seiner Verschlüsselung in Symbole und Metaphern deutlicher zum Ausdruck kommt. Anhand der Prosadichtungen kann man die Tendenz Trakls verfolgen, die Episoden aus dem Leben Christi mit der ← 10 | 11 → eigenen Existenzsituation zu verbinden, die in großem Maße durch die Inzestliebe zu seiner Schwester Margarete (1891–1917) bestimmt ist. Das Werk Verwandlung des Bösen (September 1913) ist als Trakls Versuch aufzufassen, den gesellschaftlich negierten und als Böses abgestempelten Inzest zu positivieren. Indem er sein Leiden auf das Leiden Christi projiziert, verleiht er seiner Existenz einen Sinn, der nicht nur seine Einsamkeit vermindert, sondern auch seine Person an den christlichen Kulturkreis, aus dem er wegen des Inzests verstoßen wird, noch stärker bindet. Im Werk Winternacht (November 1913) wird die Parallelität zwischen der Existenz Christi und der Existenz des Protagonisten erweitert, wodurch die Wechselbeziehung zwischen dem Leben und dem Tod dynamisiert wird. Die Verkopplung beider Figuren macht auch den Mechanismus sichtbarer, der sie zwischen dem Diesseits und dem Jenseits ‚pendeln‘ lässt. Die biblischen Szenen, die mit den autobiographischen Elementen durchsetzt werden, tauchen ebenso deutlich im Werk Traum und Umnachtung (Januar 1914) auf, wo die christliche Idee der Nächstenliebe revidiert wird. Deswegen nimmt die fehlende Einwilligung des Protagonisten in die inzestbedingte Ausschließung aus dem christlichen Bereich einen blasphemischen Ton an, mit dem sein Bedürfnis nach der Integration in das christliche Gedankengut manifestiert wird. Im Text Offenbarung und Untergang (April/Mai 1914) werden die Existenz Christi und die Existenz des Protagonisten noch enger miteinander verknüpft, weil beide Gestalten vor dem Hintergrund der Apokalypse dargestellt werden, die keine Hoffnung auf eine Erneuerung der Welt zulässt. Die zwei letzten Werke von Trakl – Klage und Grodek – bilden einen integralen Teil des am 27. Oktober 1914 an Ludwig von Ficker geschriebenen und mit seiner Teilnahme am Ersten Weltkrieg im Zusammenhang stehenden Briefs, wodurch beide Gedichte eine zwar zufällige, aber seltsame Zugehörigkeit zu der von der Briefform vertretenen Prosa aufweisen und als Zeitdokumente gelten können, die von dem sich im Krieg äußernden Weltuntergang Zeugnis ablegen. Wird der Tod im Gedicht Klage als ein geheimnisvolles Phänomen dargestellt, in dem sowohl das Ende der Existenz als auch deren Anfang mitschwingt, so fällt der Tod im Gedicht Grodek wegen seiner destruktiven Kraft auf, der Grausamkeit und Rücksichtslosigkeit innewohnen. Beide Texte sind insofern für die untersuchte Problematik wichtig, als sie die Entwicklung von Trakls Verhältnis zum Christentum vervollständigen, weil der die Krise der Existenz enthüllende Krieg den Glauben an Gott auf die Probe stellt (Heidegger 1985: 72). Zwar ist es sehr schwer, das literarische und persönliche Verhältnis Trakls zum Christentum eindeutig zu definieren, weil die semantischen Grenzen der von Trakl verwendeten Termini mit den Bedeutungsgrenzen der von der Theologie benutzten Begriffe nicht identisch sind (Heidegger 1985: 72), aber die spürbare Distanz Trakls zu ← 11 | 12 → dem Christentum scheint sich aus der Erfahrung der Unmöglichkeit zu ergeben, den Inzest in die Idee des Christentums zu integrieren.3

Ziel

Details

Seiten
245
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783631719251
ISBN (ePUB)
9783631719268
ISBN (MOBI)
9783631719275
ISBN (Hardcover)
9783631719244
DOI
10.3726/b10916
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Februar)
Schlagworte
Österreichische Literatur Expressionismus Christentum Antike Tod Krieg
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 245 S.

Biographische Angaben

Andrzej Pilipowicz (Autor:in)

Andrzej Pilipowicz studierte an der Universität in Danzig und promovierte an der Universität in Thorn. Er ist Dozent an der Universität in Allenstein und beschäftigt sich mit der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts.

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