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Carl Leberecht Immermann

Eine Biographie

von Peter Hasubek (Autor:in)
©2017 Andere 690 Seiten

Zusammenfassung

Seit Benno von Wieses Werkmonographie und Harry Mayncs Biographie Immermanns sind fast 50 beziehungsweise 100 Jahre vergangen, so daß eine neue Biographie, deren Fehlen Friedrich Sengle schon 1971 monierte, dringend notwendig erscheint. Durch die Veröffentlichung der Briefe, Tagebücher und Werke sowie die literaturwissenschaftliche Forschung sind neue Materialien und Perspektiven zu Leben und Werk Immermanns erarbeitet worden, die diese Biographie erstmals auswertet. Im Fokus stehen dabei das Verhältnis von Autor, Werk und Öffentlichkeit, das soziale Umfeld der Familie Immermann, Freundeskreise sowie Beziehungen zu namhaften Zeitgenossen, zu Institutionen wie Verlagen und Zeitschriften. Durch Längsschnitte mit den Schwerpunkten Theater und Maskierung, Satire, Werk und Beruf kann diese Biographie Leben und Schaffen des Dichters sowie deren Darstellung strukturieren.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • I. Kindheit und Schulzeit in Magdeburg (1796–1813)
  • II. Studium und Frankreichfeldzug (1813–1817)
  • III. Oschersleben und Magdeburg – Berufliche Anfänge (1818–1819)
  • IV. Münster – Krisenjahre (1820/1821)
  • V. Das Jahr 1822
  • VI. Elisa von Lützow, geb. von Ahlefeldt
  • VII. Das letzte Jahr in Münster (1823)
  • VIII. Magdeburg (1824–1827)
  • IX. „Düsseldorfer Anfänge“ (1827)
  • X. Immermanns schwierige Integration in die Düsseldorfer Sozietät (1828)
  • XI. Kunstenthusiasmus, Literaturkontroverse und Satire (1829)
  • XII. Immermann und die Julirevolution von 1830
  • XIII. Trennung von Michael Beer – Neue Perspektiven: Tieck und Mendelssohn (1831)
  • XIV. Das ‚Goethe-Jahr 1832‘
  • XV. Immermanns Reform des Düsseldorfer Theaters 1832/33
  • XVI. „Ich wollte Ihnen rathen, das alte Buch nicht wieder zu lesen“ – Literarische Arbeiten 1833
  • XVII. Das Jahr 1834
  • XVIII. „Einer nimmt Abschied und der Andre kommt …“ – Das Düsseldorfer Stadttheater 1835
  • XIX. „ich erblicke ein verjüngtes Geschlecht“ – „Die Epigonen“
  • XX. „Bühnenschiffbruch“ – Das Ende des Düsseldorfer Stadttheaters unter Immermanns Leitung
  • XXI. „ich fürchte, daß sich sobald kein recht durchgreifendes geistiges Intereße wieder bei mir einstellen wird …“
  • XXII. „das Werk entfaltet seine Idee im Ganzen“ – „Münchhausen“
  • XXIII. Marianne Niemeyer
  • XXIV. Schmerz, Glück und Ende – Das letzte Jahr
  • XXV. Wirkung und Rezeption Immermanns im 19. Jahrhundert
  • Literaturverzeichnis
  • Verzeichnis der Abbildungen
  • Personenregister
  • Nachwort

Peter Hasubek

Carl Leberecht Immermann

Eine Biographie

Autorenangaben

Peter Hasubek studierte Germanistik, Geschichte, Philosophie und Pädagogik. Er war Ordentlicher Professor für Deutsche Literatur und deren Didaktik an der TU Braunschweig. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen die Literatur des 19. Jahrhunderts, Romantypologie und Romangeschichte, Rezeptionsforschung, Autobiographie sowie Fabel.

Über das Buch

Seit Benno von Wieses Werkmonographie und Harry Mayncs Biographie Immermanns sind fast 50 beziehungsweise 100 Jahre vergangen, so daß eine neue Biographie, deren Fehlen Friedrich Sengle schon 1971 monierte, dringend notwendig erscheint. Durch die Veröffentlichung der Briefe, Tagebücher und Werke sowie die literaturwissenschaftliche Forschung sind neue Materialien und Perspektiven zu Leben und Werk Immermanns erarbeitet worden, die diese Biographie erstmals auswertet. Im Fokus stehen dabei das Verhältnis von Autor, Werk und Öffentlichkeit, das soziale Umfeld der Familie Immermann, Freundeskreise sowie Beziehungen zu namhaften Zeitgenossen, zu Institutionen wie Verlagen und Zeitschriften. Durch Längsschnitte mit den Schwerpunkten Theater und Maskierung, Satire, Werk und Beruf kann diese Biographie Leben und Schaffen des Dichters sowie deren Darstellung strukturieren.

Zitierfähigkeit des eBooks

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Inhalt

I. Kindheit und Schulzeit in Magdeburg (1796–1813)

II. Studium und Frankreichfeldzug (1813–1817)

III. Oschersleben und Magdeburg – Berufliche Anfänge (1818–1819)

IV. Münster – Krisenjahre (1820/1821)

V. Das Jahr 1822

VI. Elisa von Lützow, geb. von Ahlefeldt

VII. Das letzte Jahr in Münster (1823)

VIII. Magdeburg (1824–1827)

IX. „Düsseldorfer Anfänge“ (1827)

X. Immermanns schwierige Integration in die Düsseldorfer Sozietät (1828)

XI. Kunstenthusiasmus, Literaturkontroverse und Satire (1829)

XII. Immermann und die Julirevolution von 1830

XIII. Trennung von Michael Beer – Neue Perspektiven: Tieck und Mendelssohn (1831)

XIV. Das ‚Goethe-Jahr 1832‘

XV. Immermanns Reform des Düsseldorfer Theaters 1832/33←5 | 6→

XVI. „Ich wollte Ihnen rathen, das alte Buch nicht wieder zu lesen“ – Literarische Arbeiten 1833

XVII. Das Jahr 1834

XVIII. „Einer nimmt Abschied und der Andre kommt …“ – Das Düsseldorfer Stadttheater 1835

XIX. „ich erblicke ein verjüngtes Geschlecht“ – „Die Epigonen“

XX. „Bühnenschiffbruch“ – Das Ende des Düsseldorfer Stadttheaters unter Immermanns Leitung

XXI. „ich fürchte, daß sich sobald kein recht durchgreifendes geistiges Intereße wieder bei mir einstellen wird …“

XXII. „das Werk entfaltet seine Idee im Ganzen“ – „Münchhausen“

XXIII. Marianne Niemeyer

XXIV. Schmerz, Glück und Ende – Das letzte Jahr

XXV. Wirkung und Rezeption Immermanns im 19. Jahrhundert

Literaturverzeichnis

Verzeichnis der Abbildungen

Personenregister

Nachwort←6 | 7→

I. Kindheit und Schulzeit in Magdeburg (1796–1813)

Seit Beginn der Französischen Revolution waren noch nicht sieben Jahre vergangen, als Carl Leberecht Immermann am 24. April 1796 in Magdeburg geboren wurde. Ein Jahr später bestieg in Preußen Friedrich Wilhelm III. den Thron, den er bis 1840, wenige Wochen vor Immermanns Tod, innehaben sollte. Immermann hatte fünf Geschwister, von denen zwei früh starben. Die Schwester Charlotte (1799–1875), der Bruder Ferdinand (1802–1847) und der jüngste Bruder Hermann (1807–1868) überlebten ihn.

Immermanns Geburtsstadt Magdeburg wurde im 18. Jahrhundert zu der wichtigsten Festung Preußens ausgebaut. Während des „Siebenjährigen Krieges“ (1756–1763) hielt sich König Friedrich II. dreimal in Magdeburg auf: Ende Oktober 1857 bis Januar 1858, Mitte August bis November 1759 und schließlich fast drei Jahre von März 1760 bis Februar 1763; er verlegte den Hof vorübergehend nach Magdeburg, deponierte in der Stadt große Teile seiner finanziellen Mittel und leitete von hier aus das Kriegsgeschehen. Die Festung Magdeburg war bei den Gegnern Preußens in den folgenden Kriegen so geachtet, ja gefürchtet, daß sie nie ernsthaft angegriffen wurde. Nach dem Dreißigjährigen Krieg, durch den Magdeburg im 17. Jahrhundert fast völlig zerstört worden war, entwickelte sich die Stadt allmählich neben Berlin zu einem bedeutenden Industriezentrum und, auf Grund der günstigen Lage an der Elbe, zu einem wichtigen Handelsplatz. Gelenkte Einwanderung, die sehr im Interesse des Großen Kurfürsten lag, führte bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zur Ansiedelung von Franzosen (Hugenotten), Pfälzern und Wallonen im Raum Magdeburg, die überwiegend deshalb zuwanderten, weil sie in ihrer Heimat nicht ihrem protestantischen Glauben nachgehen konnten. Nicht nur der Zuwachs an Bevölkerung, auch die Wirtschaftskraft dieser meist als Handwerker gut ausgebildeten Einwanderer brachte dem Land wirtschaftliche Fortschritte. Mit staatlichen Privilegien ausgestattet, wurden sogenannte Manufakturen errichtet, in denen Tuche, Strümpfe, Bänder und Seidenwaren hergestellt wurden. Neben die Erzeugung der Waren in Fabriken trat als nicht unwesentlicher Faktor die Produktion durch Heimarbeit, meist von Frauen und Kindern geleistet. Als dieser Produktionszweig bereits Ende des 17. Jahrhunderts durch Absatzschwierigkeiten in die Krise geriet, wurde nach anderen Möglichkeiten Ausschau gehalten und die Strumpfwirkerei favorisiert, wobei die schon früher erfundene Strickmaschine gute Dienste leistete. Dieser Industriezweig bot einer großen Zahl von Spinnerinnen Beschäftigung,←7 | 8→ die als abhängige Lohnarbeiter in Heim- und Nebenarbeit zum Erhalt der Familie beitrugen. Erneute Schwierigkeiten der Branche durch Überproduktion um die Mitte des 18. Jahrhunderts und den Siebenjährigen Krieg, von dem die Stadt Magdeburg nicht direkt tangiert wurde, führten zum Ausbau der Fayence- und Seidenfabrikation. Indes war auch dieser Produktionszweig zeitlich begrenzt: Im Textilgewerbe verringerte sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Zahl der Web- und Wirkstühle für Strümpfe, Tuche und Bänder von 1500 im Jahre 1802 auf nicht einmal 300 im Jahre 1811. „Die Dominanz der Textilproduktion im Magdeburger Wirtschaftsleben ging zu Ende.“1 Von Bedeutung wurde nun der Ackerbau, besonders der Tabakanbau und die Tabakverarbeitung, die schon auf das 17. Jahrhundert zurückgingen und durch König Friedrich Wilhelm II. durch die Aufhebung beschränkender Bestimmungen begünstigt wurden, sowie das Brauereigewerbe. Der Ackerbau wurde durch die ersten aus Frankreich kommenden Treibhäuser gefördert, wodurch auch Züchtungen besser ermöglicht wurden. Von dieser Entwicklung profitierte besonders Johann Gottlieb Nathusius, der nicht nur Kaufmann war, sondern auch als Ratsherr und enger Berater des Magdeburger Kammerpräsidenten und Ministers Graf von der Schulenburg großen Einfluß in der Politik besaß. Um 1800 war Nathusius zunächst durch Tabakanbau und Tabakverarbeitung der reichste Mann und größte Steuerzahler Magdeburgs geworden.2 Darüber hinaus schuf er ein bedeutendes, allgemein beachtetes „industriell-agrarisches Musterunternehmen“3. Nathusius stellte Lebensmittel wie Mehl, Gries, Stärke, Öle, Malz, Bier, Essig und Likör her, gründete Steingut- und Porzellanmanufakturen, eine Eisengießerei und Maschinenfabrik mit mehreren tausend Arbeitern und dem Einsatz von Dampfmaschinen. Sein Großunternehmen kam einem Staat im Staate gleich, in dem er wie ein König herrschte, ähnlich wie später der „Oheim“ in Immermanns Zeitroman „Die Epigonen“.4

Der industrielle Aufschwung Magdeburgs im 18. (und ebenso im 19.) Jahrhundert hatte aber auch bedenkliche negative Seiten. Der Verlust von Arbeitsplätzen und damit Verdiensten durch den wirtschaftlichen Wandel führte zur Verelendung und Proletarisierung der abhängigen Bevölkerung, da eine Umschichtung der Arbeitskräfte auf neue Produktionsweisen nicht immer möglich war. Ein besonderes Problem stellte die Kinderarbeit zum Erhalt der Familie dar, wodurch die Bildung der Kinder weitgehend stark vernachlässigt wurde.←8 | 9→ Einen geregelten Schulbesuch gab es nicht, wodurch die Proletarisierung der Bevölkerung voranschritt. Die zu den Gymnasien hinführenden Schulen waren überwiegend Privatschulen, die am Erhalt und Gewinn interessiert waren. Ein verbindlicher Lehrplan existierte nicht, die Lehrinhalte und Methoden waren weitgehend dem Zufall und der Improvisation der einzelnen Lehrer überlassen. Dazu kamen die Forderungen oftmals eigenwilliger Eltern und die unterschiedliche Leistungsfähigkeit der Schüler, auf welche sich die Lehrer einstellen mußten, sofern sie die Fähigkeit und Voraussetzung dazu besaßen. Ein Austausch über die Inhalte, Methoden und einzelne Schüler gab es zwischen den Lehrern oder gar den Schulen nicht.

Seit 1715 erschien in Magdeburg die „Magdeburgische privilegierte Zeitung“ die zeitweise (seit 1757) auch eine literarische Rubrik beinhaltete. Veröffentlicht wurden meist rührselige, moralische Schriften mit kurzer Lebensdauer von wenig bekannten Verfassern. Das literarische Leben im Magdeburg des 18. Jahrhunderts wurde von der Kirche unter pietistischem Einfluß bestimmt, der sich auch auf die städtischen Institutionen auswirkte. Das galt vor allem für das Theater, auf dem Wanderbühnen nur Stücke religiös-moralischen Inhalts aufführen durften. Erst in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts gelang es der „Döbbelinschen Theater-Gesellschaft“, andere Theaterstücke aufzuführen, wenn auch unter dem Protest der Kirche. Ein großer Schritt war es, als in den neunziger Jahren von Magdeburger Bürgern die Initiative verfolgt wurde, ein Schauspielhaus mit Konzertsaal auf Aktienbasis zu begründen, das 1795 mit Mozarts „Zauberflöte“ eröffnet wurde. Döbbelin der Jüngere spielte neben Singspielen Stücke von Iffland und Kotzebue. Und beinahe als eine Sensation ist die Aufführung von Lessings „Nathan der Weise“ 1801 durch Friedrich Ludwig Schmidt, mit dem Immermann später auch in Beziehung treten sollte, gegen die Proteste der Kirche einzustufen. Weitere Inszenierungen auf dem „Deutschen Theater der Stadt Magdeburg“ durch Schmidt waren „Hamlet“, „Minna von Barnhelm“, „Die Räuber“ und „Fiesco“.

Darüber hinaus wurde das kulturelle Leben Magdeburgs durch andere Akzente bereichert. Ende des 18. Jahrhunderts wurde das musikalische Leben der Stadt von der „Harmoniegesellschaft“ durch regelmäßig stattfindende Konzerte vorangetrieben, wobei es sicher in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein bedeutender Nachteil für das musikalische Leben in der Stadt war, daß ihr großer Sohn Georg Philipp Telemann schon in jungen Jahren Magdeburg verließ, seine Erfolge an anderen Orten errang und bis zu seinem Tode nicht mehr in seine Geburtsstadt zurückkehrte. Von Bedeutung für das gesellschaftliche Leben war die Gründung der Loge „Ferdinand zur Glückseligkeit“, der Immermann einige Jahre angehörte, und besonders der literarischen „Mittwochsgesellschaft“ 1760. Man las←9 | 10→ Texte miteinander und lud bekannte literarische Zeitgenossen als Gäste ein, die aus ihren Werken lasen: Gleim, Goeckingk, Sulzer und wiederholt Klopstock, der sich mehrere Wochen in Magdeburg aufhielt, an seinem „Messias“ schrieb und ungedruckte Teile daraus vorlas. Alle diese kulturellen Angebote waren jedoch der schmalen Schicht des Adels und der wohlhabenden und geistig interessierten Schicht des gehobenen Bürgertums vorbehalten.

Diese Verhältnisse bildeten die Folie, die historisch und gesellschaftlich den jungen Carl Immermann um 1800 umgab. Indes hatte er das Glück, in die gesellschaftlich gesicherte und angesehene, wohlhabende, bürgerliche Schicht Magdeburgs hineingeboren zu werden. Zu seinen Vorfahren und Verwandten gehörten überwiegend gebildete Menschen, Lehrer, Pfarrer und höhere Staatsbedienstete. Über die Vorfahren Immermanns und seine Jugend wissen wir nur wenig. Als Quelle ist hier lediglich das von Immermann mehrmals erwähnte und bei der Niederschrift seiner Jugenderinnerungen benutzte „Hausbuch“ der Familie zu nennen, das auch seiner Witwe und Gustav zu Putlitz in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts bei der Abfassung der Biographie Immermanns noch vorlag und dem wir wenige, aber wichtige Einzelheiten und Einschätzungen verdanken. 1863 verfaßte Hermann Immermann einen Bericht über das Leben des Bruders. Der unveröffentlichte Text5 stand auch Immermanns Frau Marianne und Gustav zu Putlitz bei der Niederschrift der Biographie Immermanns zur Verfügung. Authentisch wissen wir über die Jugend Immermanns nur das, was er in seiner autobiographischen Schrift „Die Jugend vor fünfundzwanzig Jahren“ berichtet.

Die uns bekannten Anfänge der Familie Immermann reichen bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts in die Zeit des „Dreißigjährigen Krieges“ zurück. Ein verdienstvoller Sergeant des schwedischen Königs Gustav II. Adolf namens Peter (richtig wohl: Carsten) Immermann, eine „respektable Figur“ in der Familiengeschichte, offenbar schwedischer Herkunft „war in Deutschland geblieben, hatte eine durch den Dreißigjährigen Krieg wüstgewordene Bauerstelle im Dorfe Etgersleben unweit Magdeburg in Besitz genommen, eine Bäuerin, namens Ilse geheiratet, und war so der Stammvater der Familie geworden […]“6. Der genaue Zeitpunkt der Ansiedlung im Raum Magdeburg ist nicht bekannt. Deren Sohn Martin (1640?-1713) ehelichte die Tochter eines Pastors aus Rodersdorf und ihr Sohn Peter Immermann (1672–1749) heiratete wiederum eine Pfarrerstochter namens Sophia Magdalena Walther (1681–1750) aus Wegenstedt. Deren Tochter Justine Sophie (1723–1779) heiratete den Kriegs- und Domänenrat Carl Julius←10 | 11→ Wilda (1710–1779) aus Magdeburg, den Urgroßvater Carl Immermanns mütterlicherseits. Peter Immermanns Sohn Ephraim (1713–1772), Rektor in Groß-Salze, war Immermanns Großvater väterlicherseits. Ein Sohn aus erster Ehe mit Anna Ehrentraud Oeltze (1724–1751) war der Kriegs- und Domänenrat Gottlieb Lebrecht Immermann (1750–1814), Immermanns Vater, der 1795 die Tochter des Domsyndikus Samuel Leberecht Wilda (1737–1800), Friederike Wilhelmine (1777–1846), zur Frau nahm.7 Die Familien Immermann und Wilda waren schon in der Zeit vor Immermann mehrfach miteinander verflochten. In Magdeburg und Umgebung existierte bereits im 18. und frühen 19. Jahrhundert eine große Zahl von Namensträgern „Immermann“ und „Wilda“, wie aus Kirchenbüchern der Stadt und der ländlichen Region zu ersehen ist. Richten wir nach diesem etwas knappen Überblick unseren Blick auf die Eltern Immermanns.

Gottlieb Lebrecht Immermann besuchte die drei obersten Lateinklassen der Schule des Waisenhauses der Franckeschen Stiftung in Halle und beendete sein Studium der Rechtswissenschaften in Halle mit dem Prädikat „sehr gut“. Seine erste Anstellung nahm er als Sekretär der Domvogtei in Magdeburg an, deren Domsyndikus Samuel Leberecht Wilda (1737–1800) war und zu dessen Familie sich enge Beziehungen ergaben, in deren Folge Immermann 1795, wie gesagt, die kaum 18jährige Tochter Friederike Wilhelmine heiratete. Nachdem er einige Zeit die Stelle eines Auditeurs innehatte, wurde er 1787 zum Königlichen Kriegs- und Domänenrat ernannt. Immermanns Vater war ernster und gerechtigkeitsliebender Natur, von starker Willenskraft und Leistungsfähigkeit, aber auch von besonderer Härte, wenn er seine Kinder strafte. Er gehörte zu den „wenigen Menschen, die von dem, was sie einmal ausgesprochen haben, nicht wieder abgehen […]“8. Das bekannte Beispiel für diese Einstellung war der Vorfall, daß er den nach Magdeburg zurückgekehrten Sohn, nachdem die Universität Halle im Sommer 1813 geschlossen worden war, wieder nach Halle zurückschickte, weil er ihm geboten hatte, ein Jahr von zuhause fern zu bleiben. Der autoritär gebietende Vater erschien den Kindern „wie ein Wesen höherer Art und Ordnung“9. Lachen und Humor waren im Hause des jungen Immermann angesichts des „martialischen Ernstes“ des Vaters allenfalls Randerscheinungen. Ausgelassene Stimmung war nur bei den Besuchen bei „Onkel Yorik“ in Holzzelle, dem Stiefbruder des Vaters, möglich, wie noch auszuführen sein wird. Andererseits war der Vater von einem großen Verantwortungs- und Pflichtgefühl←11 | 12→ der Familie gegenüber bestimmt. Seine großen geistigen und organisatorischen Fähigkeiten und seine berufliche Qualifikation hätten ihm sicher eine höhere berufliche Karriere ermöglicht. Aber er fühlte sich an den Magdeburger Raum und die Familie gebunden. In das „Hausbuch“ hatte er selbst eingetragen: „Meine Anhänglichkeit an meine Familie und der Wunsch derselben nach meinen Kräften nützlich zu werden, […] bestimmten mich in der Nähe derselben zu bleiben, ich lehnte also glänzendere Aussichten ab, und brachte meiner Familie dieses Opfer.“10 Und für ihn selbst höchst aufschlußreich fährt er fort: „Ich empfinde hierüber keine Reue, ich habe seitdem in der Familie viel Nutzen gestiftet, Manchen versorgt, die mehrsten Mitglieder der Familie haben Zutrauen zu mir und erfreuen mich durch die innigste und herzlichste Freundschaft, und hierdurch bin ich, da dieses Bedürfniß meines Herzens ist, hinlänglich für den Verlust eines äußern Glanzes entschädigt.“11 Das Verantwortungsgefühl zeigte sich ferner in der Mühe, die er sich mit der Erziehung seiner Kinder gab, und in der Vorsorge für die Existenzsicherung der Familie nach seinem Tode durch den Erwerb verzinslicher Schuldverschreibungen zum Beispiel, denn Gottlieb Lebrecht Immermann hatte 1800, als seine Kinder geboren wurden, schon das Alter von 50 Jahren erreicht. Die späteren Briefe Carl Immermanns gewähren wiederholt Einblicke in diese finanzielle Situation der Familie. Der autoritäre Erziehungsstil des Vaters konnte nicht ohne Wirkung auf die Kinder bleiben. Carl hat offenbar viele Jahre später noch unter den Folgen dieser autoritären, sicher gut gemeinten Erziehung gelitten, bis er sich erst in den dreißiger Jahren allmählich davon befreien konnte.12 In seinen literarischen Werken hat er wiederholt das Thema ‚Vater-Sohn‘ thematisiert. Immermann hat niemals gegen den Vater aufbegehrt, sondern war stets ein von Liebe und Achtung zu ihm bestimmter Sohn. Davon zeugt in späteren Jahren zum Beispiel das Geburtstagsgedicht von 1813 für den Vater, als sich der Sohn Carl in Halle zum Studium aufhielt:

In sanfter Feyer unter seinen Lieben

Steht jetzt ein Vater froh u voll Entzücken

[…]

Nur einer ist entfernt, nur einer fehlet

Nur Einen hältst Du nicht im Vaterarm

Den sonst im stillen Kreise Du gezählet

Ihn missest heute Du mit leisem Harm.

[…]←12 | 13→

Ich will Dich Vater nur und Vater nennen

Mit allem falschen Prunk und Glanze fort.

Wer kann die Flammen, die im Busen brennen

Hingießen in ein schwach ertönend Wort?13

Die Vorbilder, an denen sich Immermanns Erziehung orientierte, gehörten der geschichtlichen Vergangenheit an. Der Vater, unter Friedrich II. Herrschaft aufgewachsen, hatte unter General Friedrich Christoph von Saldern als Militärgerichtsjurist gedient und an vielen Manövern und Revuen teilgenommen.14 Friedrichs von den Untertanen erwartetes Pflichtethos hatte er verinnerlicht, den König zu einer übermenschlichen Größe überhöht und dieses Bild an seine Kinder vermittelt. Der herrschende König Friedrich Wilhelm III. spielte neben dem vergötterten Friedrich II. keine Rolle im Bewußtsein des Vaters. Dem Sohn Carl war Friedrich II. eine Autorität, die kritiklos angenommen, verehrt und nicht hinterfragt wurde. Insgesamt war die Weltanschauung des Vaters tief im 18. Jahrhundert verwurzelt, im Geist der Aufklärung einschließlich der religiösen und politischen Anschauungen seiner Vergangenheit. – Der zweite Pfeiler des geschichtlichen Gebäudes des Vaters war der schwedische König Gustav II. Adolf, der 1628 in den Dreißigjährigen Krieg eingriff und 1632 in der Schlacht bei Lützen gegen Wallenstein fiel. Als Gegenbild zu Tilly, dem „Teufel“, dem Zerstörer Magdeburgs von 1631, genoß Gustav II. Adolf bei dem Vater und in Magdeburg die höchste Verehrung als „Erretter Deutschlands“, so Immermann, der als Kind von der Schilderung des Geschehens in der „Geschichte der Stadt Magdeburg“ von Heinrich Rathmann bis zu Tränen gerührt wurde.15

Die Mutter Friederike Wilhelmine, geb. Wilda (1777–1846), war in der Familie im gewissen Sinne der ausgleichende und mildernde Gegenpol zu den Härten des Vaters. Ihre Eltern werden als wohlhabende Familie beschrieben, die der Poesie und den Künsten sowie dem erholsamen Landleben zugetan war. Die im Mai 1795 gefeierte Hochzeit der Tochter wurde deshalb als eine besondere „poetische Feier“16 gestaltet. Die Familie Immermann wohnte fortan in dem Haus Große Klosterstraße 18, das dem Domsyndikus Wilda gehörte, in guter Wohngegend Magdeburgs gelegen. Ein schwerer Schlag war es für Friederike Wilhelmine, als sie im Alter von 36 Jahren 1814 den Mann verlor und nun für die Erziehung der Kinder und ihren Lebensunterhalt bei einer geringen Pension selbst sorgen mußte. Was wir über die Mutter wissen, erfahren wir zum großen Teil aus dem←13 | 14→ Briefwechsel mit dem Sohn Carl. Danach war sie eine überwiegend lebenspraktische Natur, deren Denken und Handeln auf die Existenzsicherung und das Wohl der Familie gerichtet waren. Ihre Gedanken bewegten sich häufig um Geld und Lebensunterhalt, äußeres Wohlergehen, Probleme des Alltags wie eigene und anderer Krankheitszustände sowie familiäre und verwandtschaftliche Lebensverhältnisse. Zu dem Sohn Carl hatte sie ein gutes Verhältnis, das zwar vorübergehend getrübt werden konnte, aber durch ihre versöhnliche Einstellung, ihr Einsehen in Mißverständnisse und Fehleinschätzungen meist wiederhergestellt wurde. So etwa hinsichtlich Immermanns Verhältnis zu Elisa v. Ahlefeldt während deren Aufenthalt in Magdeburg (1825/26) nach ihrer Scheidung, bei dem Ausscheiden Immermanns aus dem Staatsdienst (1834) für ein Jahr anläßlich der Leitung des Düsseldorfer Stadttheaters und schließlich bei der entstehenden Liebe Immermanns zu Marianne Niemeyer 1838. Stets war die Einstellung der Mutter aber nicht eigennützig, sondern von dem Wunsch nach dem Wohlergehen der Kinder bestimmt. Daß die Mutter trotz ihres gefühlsbetonten Charakters letztlich in der Lage und willens war, die poetischen Ambitionen und Leistungen ihres Sohnes Carl nachempfinden und verstehen zu können, erscheint wenig wahrscheinlich.

Aus der Kindheit Immermanns kennen wir nur einige Episoden, die er selbst in seiner Autobiographie berichtet. Dazu gehört etwa die imposante Erscheinung des Domes, die ihm die große Vergangenheit Magdeburgs nahebrachte, die Berichte aus zweiter Hand über den Dreißigjährigen Krieg und vor allem der Besuch des preußischen Königspaares in Magdeburg im Sommer 1805, den der Knabe gegen das Gebot des Vaters heimlich miterlebte und der einen großen Eindruck auf ihn machte. Besonders die Volksverbundenheit und menschlich-warme Art der Königin Luise blieben eine unvergeßliche Erinnerung, so daß er sie in „Die Jugend vor fünfundzwanzig Jahren“ ausführlich schildert. Die bemerkenswerte Begebenheit und ihre Wirkung auf das Volk und ihn selbst faßt Immermann zusammen:

Alles dieses geschah in der Entfernung weniger Schritte von dem Platze, wo ich stand, so daß ich diese Einzelheiten genau merken konnte. Man begreift, welchen Eindruck der Vorgang im Volke machen mußte, bei dem eine Königin sich so lieblich mütterlich gegen ein fremdes Kind bezeigte. Es wurde nicht gerufen oder sonst eine laute Freude an den Tag gelegt, aber rings um mich her hörte ich murmeln, daß das doch noch eine Königin sei, wie sie sein müsse.17←14 | 15→

Zumindest unbewußt mußte dieses Erlebnis die Einstellung des neunjährigen Jungen für das preußische Königshaus beeinflussen. Der positive Eindruck Preußens wurde indes bald getrübt, als die ersten Nachrichten vom französisch-österreichischen Krieg mit der Niederlage bei Austerlitz (1805) und vor allem von der Niederlage Preußens bei Jena (1806) Magdeburg erreichten. Diese „große Weltbegebenheit“ prägte Immermanns Geschichtsverständnis entscheidend, und die Einstellung zu Frankreich und zu Napoleon hatte Nachwirkungen bis ins Alter. Von Immermann werden in der „Die Jugend vor fünfundzwanzig Jahren“ zwei Bilder Napoleons gegeneinandergestellt. Das eine ist das aus emotional-kindlicher Erfahrung geformte Bild des Zehnjährigen, wobei Einflüsse der Umwelt sicher mitgewirkt haben. Als die Kinder von allen Seiten den großen Napoleon, den Sieger von Austerlitz und Jena, rühmen hörten, zeichneten sie Landschaften und schrieben „Dedikationen“ darunter: „an Napoleon den Unüberwundenen und Unüberwindlichen“18. Napoleon, der „Virtuose“ seines „Metiers“19, wurde mit den größten Gestalten der Geschichte verglichen, so etwa mit Alexander dem Großen. Wenn indes Friedrich der Große vergleichend genannt wurde, rangierte Napoleon hinter diesem, da er die Methoden der Kriegführung nur von Friedrich erlernt haben konnte. Diese Momente der Verherrlichung werden indes durch solche der Herabsetzung, ja Diffamierung konterkariert. Mit Abscheu hörte Immermann über Napoleon als den „französischen Vergewaltiger“20 reden, dem anläßlich einer Abbildung seiner Kaiserkrönung das Epitheton des „Tollen“ zugewiesen wurde und „der sich zu seinem Vergnügen überall in der Welt herumhaue und herumschieße […]“21. Aufgrund der übertriebenen und fragwürdigen Verherrlichung Napoleons erschien er den Kindern durchaus als „etwas Lächerliches“22.

Das Moment des Lächerlichen ist schon die Vorwegnahme eines weiteren Bildes von Napoleon, das der spätere Immermann am Ende von „Die Jugend vor fünfundzwanzig Jahren“ präzisierend formuliert. Das „gotische Element“, wie es für das Empire charakteristisch sei, kam durch Napoleon zur Geltung. Nach Immermann ist das „gotische Element“ die Voraussetzung für die Einreihung eines Herrschers in die Kategorie der geschichtlichen Größen der Vergangenheit. Als dieses Element definiert Immermann eine „Begeisterung dunkeler, tatkräftiger, kriegerischer Naturen von sich selbst, welche sie treibt, in sich den Ausgangspunkt einer neuen Welt zu sehen, eine Begeisterung, zu welcher sich dann die←15 | 16→ getreue Heermannschaft bald hinzuzufinden pflegt“23. Es ist der „usurpatorische Drang“, der alle bedeutenden Herrscher der Weltgeschichte angetrieben habe, auch Napoleon. Indes fehle ihm Größe und Qualität zur Verwirklichung eines solchen Ziels. Aus dieser politisch-historischen Sicht wird Napoleon als Inbegriff von Egoismus und Despotismus interpretiert und verurteilt. Wie „ein Fluch“ folge seinem Handeln das „Komische“24. Wie den Zeitgenossen, so bleibt auch für Immermann Napoleon ein schwer zu erklärendes Phänomen: „Jener Mann,“ urteilt er pointiert in Gegensatzpaaren, „zusammengesetzt aus Mathematik und Phantasie, Penetration und äußerster Beschränktheit, Schwulst und Simplizität, jenes kalte Feuer, jene schwere Leichtigkeit, die Elastizität mit der Zähigkeit des Bleis, und wie sonst die Antithese sich schildernd an ihm abmühen möchte, wird noch lange ein Rätsel bleiben.“25

Ostern 1807 wurde Carl Immermann in das Gymnasium des „Klosters unserer Lieben Frauen“ in Magdeburg als Schüler der Klasse Oberquinta eingeschult, das er bis Ostern 1813 besuchte. Da die schulischen Verhältnisse in Magdeburg Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, wie gesagt, alles andere als erfreulich waren, was vor allem für das Elementarschulwesen zutraf – besser stand es hingegen mit den „Bürgerschulen“ und den beiden Gymnasien –, und daher eine ausreichende Vorbereitung der Grundschüler auf die weiterführenden Schulen nicht gegeben war,26 unterrichtete der Vater den Sohn Carl in den Elementarkenntnissen persönlich.

Das traditionsreiche Pädagogium des „Klosters unserer Lieben Frauen“ wurde 1698 als Unterrichtsanstalt des aus dem 11. Jahrhundert stammenden Prämonstratenserklosters gegründet, aber erst im 18. Jahrhundert unter der Leitung des Propstes Gotthilf Sebastian Rötgers, der der Anstalt bis 1831 vorstand, erlangte die Schule eine besondere Bedeutung. 1834 wurde sie in ein preußisches Landesgymnasium umgewandelt. Das Besondere des Gymnasiums bestand in der Einrichtung von sogenannten Sittenklassen 1–7, wobei in Klasse 1 die hervorragenden Schüler, in Klasse 7 die vom Abgang bedrohten Schüler eingeordnet wurden. Eine zweite Bestimmung zeugt von der Modernität des pädagogischen Denkens von Rötger, den Immermann sehr schätzte: Schüler konnten auf Grund ihrer Leistungen verschiedenen Klassenstufen angehören und wurden somit entsprechend gefördert.←16 | 17→

Um den Sohn Carl selbst zu unterrichten und ihn auf das Gymnasium vorzubereiten, erarbeitete der Vater ein aus mehreren Heften bestehendes Unterrichtswerk zum Unterricht des Sohnes und seiner anderen Kinder. Das Lehrbuch „Anleitung zur Natur-Geschichte zum Unterricht für meinen Sohn Carl Leberecht Immermann ausgearbeitet von mir seinem Vater dem Kriegs und Domänen Rath Gottlieb Leberecht Immermann, angefangen Ostern 1805“ (abgeschlossen am 3. März 1807) ist überliefert und in einem etwas gekürzten Nachdruck leicht zugänglich.27 Das Unterrichtswerk, das sich den Gliederungsprinzipien der Systematik Carl von Linnés anschließt, beinhaltet zum Beispiel die Rubriken: „A Das Pflanzenreich“, „B Das Thier-Reich“, „C Das Mineral-Reich“ usw. Die Zahl der Fragen zu den einzelnen Rubriken schwankt zwischen acht und 94 Fragen. Die Vermittlung des Wissens geschieht nach dem Prinzip von Frage und Antwort. Die der Frage folgende richtige Antwort wird als Lernerfolg des Schülers erwartet. Ein Beispiel möge zur Veranschaulichung des Ganzen genügen:

2. Welche Thier-Arth versteht man unter den Fischen, und durch welche Kennzeichen unterscheiden sich die Fische von den übrigen Thieren. A[ntwort] a. Unter Fische versteht man Thiere welche ein Herz mit einer Kammer, und einem Herz-[unleserlich], auch ein rothes kaltes Blut haben; durch Kiehmen aber nicht durch Lungen Athem holen, und nur allein im Waßer leben können[.] b. Der Körper derselben hat bald eine flache zusammen gedrückte, bald eine platt gedrückte, bald eine cylindrisch conische Figur. c. Der Körper ist gröstentheils bey allen Fisch-Arthen mit harten hornartigen Schuppen bedeckt; bey einigen wenigen aber sind die Schuppen außerordentlich klein, und so ist die Bedeckung einer Schleim artigen Haut ähnlich. […]

3. Wie viele Ordnungen der Fische giebt es nach dem Linneischen System[?] A[ntwort] Viere.

4. Wie heißen diese Vier Ordnungen[?] a. Apodes. b. Iugulares. c. Thoracici. d. Abdominale.28

Sehr komplexe Fragen und Antworten wechseln mit einfachen und sehr speziellen. Von einem etwa zehnjährigen Kind wurde damit ein erhebliches Wissen erwartet. Bewundernswert ist aber vor allem die Fülle des Wissens, das sich der Vater selbst bei der Vielzahl der Fragen zuvor neben der beruflichen Tätigkeit autodidaktisch angeeignet haben muß. Mit einem derartigen Wissen ausgestattet wird der junge Immermann bei dem Eintritt in das Gymnasium einen hervorragenden Eindruck gemacht haben. Überblickt man indes die häufigen Beurteilungen, die der Schüler Immermann in den sechs Jahren seines Gymnasialbesuches erhielt, so kann man doch erhebliche Schwankungen beobachten.←17 | 18→ Nach einer anfänglichen positiven Phase gehen seine Leistungen in einigen Fächern zurück, er erfährt Rügen, und in manchen Fächern – Mathematik und Französisch – sind seine Leistungen über einen längeren Zeitraum hin nicht erfreulich. Gerügt wird u. a. auch Immermanns Zuspätkommen zum Unterricht, da er häufig in den Pausen das jenseits der Straße gelegene Elternhaus aufsuchte. Obgleich er offenbar recht leicht lernte, hat sich Immermann selbst nicht als einen Musterschüler verstanden. Seine Distanz zur Schule resultiert aus einem Brief vom 9. August 1812 an den kranken Freund und Cousin Ferdinand Göring, der sich wohl über seine Schulversäumnisse Gedanken gemacht hatte: „Guter Freund laß die fahren! – Wie mancher würde gern Dir Dein Fieberchen abnehmen, wenn er dafür nur auf einige Wochen von der Marterbank der Schule losgeschmiedet, der lieben Faulheit opfern könnte!“29 Und etwas später liest man im Zusammenhang mit den Abiturprüfungen von 1812: „Wenn es doch mit uns auch erst so wäre. Denn das muß ich Dir sagen Freund, die Schule an sich ist mir jetzt sehr zu wieder.“30 Das sind deutliche Worte. In weiteren Briefen an Göring vom Herbst 1812 werden andere, zum Teil skandalöse Vorfälle mit Schülern am Gymnasium berichtet, an denen Immermann auch nicht ganz unbeteiligt war. Eines Abends – so berichtet er Göring im Brief vom 6. September 1812 – warf der sechzehnjährige Lümmel Carl zusammen mit zwei Komplizen die Fensterscheiben der Wohnung eines ungeliebten Lehrers ein: „Am Abend wagen Plock Keuffel und Ich, einen kühnen Coup, schleichen uns an Münnichs Thür, Keuffel schließt sie ab, und wir werfen ihm seine Kammerfenster ein.“31

Die erwähnten ausführlichen Beurteilungen Immermanns durch seine Lehrer während der Schulzeit 1807 bis 1813 sind höchst aufschlußreich als wichtige Quellen über den Schüler Immermann. Zum einen enthalten sie ausführliche Bewertungen seiner Leistungen, zum anderen vermitteln sie ein differenziertes, sonst nicht bekanntes Bild seines Charakters, seiner Fähigkeiten und Verhaltensweisen. So heißt es nach seinem Schuleintritt, daß er mit „mehr Gründlichkeit“ als andere Schüler auf das Gymnasium vorbereitet worden sei. Er sei ein eifriger, fleißiger Schüler, der seine Arbeiten „pünktlich“ und „sorgfältig“ erledige und „nicht unbedeutende Fortschritte“ mache.32 „Sein Betragen beweiset Ordnungsliebe und Genauigkeit in Erfüllung seiner Obliegenheiten, seine Aufmerksamkeit in den Lehrstunden ist gespannt, sein Fleiß bei seinen häuslichen Arbeiten←18 | 19→ ist emsig, und er lernt mit Ernst und Eifer.“33 Aber bereits ein Jahr später (1808) lassen seine Schulleistungen sowie sein Verhalten zu wünschen übrig:

Immermann ließ sich theils manchmal auf Unachtsamkeit ertappen, theils konnte er sich in manches gar nicht recht und nur langsam finden, und theils nahm er es mit seinem festen sicheren Lernen nicht genau genug. Er wurde vom Gedächtnisse im Stiche gelassen, kurz er machte wenig Fortschritte, verfehlte oft Antworten, und ließ sich dadurch wieder herunterbringen, wenn er auch, wie einige Mahle geschahe, hoch heraufgekommen war. Er machte höchstens mäßige, manchmal schlechte Exercitia, und war im Uebersetzen aus dem Lat. nicht sicher und taktfest genug.34

Zu diesem Zeitpunkt gehörte er der vierten Sittenklasse an, was nicht gerade rühmlich war. Ob der Vater angesichts solcher Leistungen mit seinem Sohn zufrieden war, kann man sich kaum vorstellen. In „Oberquarta“ soll er „der Erste“ gewesen sein, obwohl seine Leistungen in Mathematik unbefriedigend waren, weil er zum Erwerb solcher Kenntnisse „weder Lust noch Aufgelegtheit“ gezeigt habe, und im Französischen „sehr ungleiche Arbeiten“35 geliefert und „noch manches an sich und seinen Studien zu ändern und zu bessern“36 habe. Er bleibt deshalb in der vierten Sittenklasse. Auch im Sommer 1809 entsprach Immermann noch nicht den Erwartungen: in manchen Fächern fänden sich in seinen Arbeiten „bedeutende Fehler […] in Menge“. Eine Änderung im Lernverhalten Immermanns scheint zu Beginn des Jahres 1810 eingetreten zu sein. Neujahr 1810 wurde er in die Obertertia und Ostern 1810 aufgrund guter Leistungen in die Untersekunda versetzt. Im Lateinischen habe er viel dazugelernt und im Französischen gute Fortschritte gemacht. „Im Deutschen leistet er etwas weniger […]“37. Obwohl die Rügen hinsichtlich des Französischen und der Mathematik in der Zukunft andauern, scheint nun ein ständiger Aufwärtstrend in den schulischen Leistungen Immermanns eingetreten zu sein. Fleiß und gute Antworten sowie eine leichte Auffassungskraft und ein gutes Gedächtnis sind dabei hilfreich. Auch die Leistungen im Deutschen werden besser: bei deutschen „Stylübungen“ übertraf er sogar die anderen Schüler und in „deutschen Aufsätzen entwickelte er bis jetzt mehr Gewandtheit im Styl“38. Dank seiner geistigen Fähigkeiten zeichnen sich seine Aufsätze durch das „Treffen des Richtigen“ und die „Präzision des Ausdrucks“39←19 | 20→ aus. Ostern 1813 hat er schließlich die erste Sittenklasse erklommen, erhält ein recht gutes Abiturzeugnis und die zweite Schulprämie, das Buch seines Lehrers Ludwig Schaaf „Encyklopädie der klassischen Alterthumskunde, ein Lehrbuch für die oberen Klassen gelehrter Schulen“ (1807). Im „Neuen Jahrbuch des Pädagogiums zu L. Frauen in Magdeburg. Dritter Band“, herausgegeben von Rötger, die Schuljahre 1811 bis 1818 umfassend, ist die abschließende Beurteilung des Abiturienten Immermann publiziert: „Karl Leberecht Immermann, aus Magdeburg, 16 Jahre alt, ältester Sohn des nun verstorbenen Herrn Krieges- und Domainen, und damahligen Präfektur-Raths Immermann. Er schrit mit seltenem Glük und ausgezeichneter Schnelheit in 6 Jahren von Oberquinta an so fort, daß er im 15ten Jahre Primaner wurde und die Hälfte der dann noch übrigen 1 1/2 Jahre in Oberprima saß. Seine Kenntniße bestätigten sich bei dem Abiturienten-Examen als ganz vorzüglich im Deutschen – als vorzüglich im Lateinischen, in der Philosophie und in der Geschichte – als sehr gut im Französischen, in der Geographie und Statistik und in der Physik – als gut im Griechischen und in den theologischen Schulkenntnißen – als hinlänglich in der Mathematik. Ehe er uns 1813 verließ, und aus der ersten Censurklasse abging, konnte ihm die zweite dasmahlige Schulprämie zuerkannt werden.“40

Die Beurteilungen des Charakters und Verhaltens des Schülers Immermann bieten ein breites Spektrum seines Wesens, seiner Eigenschaften und Eigenheiten, die man zum Teil auch in den späteren Jahren des Juristen und Dichters wiedererkennen kann. Neben Fleiß, guter Auffassungsgabe und gutem Gedächtnis sowie gutem Betragen wird er anfangs als ein stilles, zurückgezogenes Kind geschildert, dem es an „Munterkeit“ und „Heiterkeit“ fehle. Auch in der vierten Klasse beklagen die Lehrer noch die Schüchternheit des Knaben im Umgang mit Erwachsenen, obwohl er „im Ganzen etwas munterer geworden“41 zu sein scheint. Auch zwischen ihm und den Mitschülern scheint es Distanz und Kontaktschwierigkeiten gegeben zu haben, fehlte ihm doch die Möglichkeit, auf andere einzugehen und Einfluß auf sie zu gewinnen.42 Die Stille und Zurückgezogenheit des Kindes Immermann wandelt sich allmählich zu dem Verhalten, den Unterricht durch Plauderhaftigkeit zu stören, Unaufmerksamkeiten in Folge wohl des Desinteresses am Unterricht. Mit kleinen Neckereien, Schwatzhaftigkeit, Zerstreutheit und der „Neigung zum Lachen“ fällt er häufig unangenehm auf.43 Die Lehrer ärgert offen←20 | 21→bar auch sein „vorlautes Reden“ und seine „wahrhaft naseweisen Aeußerungen“44. Deutlicher wird eine Beurteilung am Ende der dritten Klasse: „[…] sehr zu tadeln ist sein kindisches vorlautes Wesen, seine oftmalige Zerstreuung und seine unbescheidene Unmanierlichkeit.“45 Wesentlich auffälliger und bedenklicher ist indes der Umstand, daß sich Immermann in den Pausen durch „Thätlichkeiten“ Geltung zu verschaffen sucht, die er gegen „Schwächere“ mit „Härte“ ausübt. Hier zeigt sich offenbar ein Charakterzug, der über das übliche pubertäre Verhalten hinausgeht und seine Wurzeln möglicherweise in der autoritären Erziehungsmethode des Vaters hat. Carl wird ein Übergewicht an geistigen, rationalen Fähigkeiten attestiert, wodurch er nicht frei von „Eigenliebe“ sei. Er scheint durch seinen Charakter bei Lehrern und Schülern nicht immer beliebt gewesen zu sein. Die ihm fehlende „äußere Biegsamkeit“, gemeint ist wohl eine gewisse Gefälligkeit im Umgang mit Menschen, erwecke „keine Liebe“46. Und selbst in den höheren Klassen bestehen immer noch Kontaktschwierigkeiten im Umgang mit den Mitschülern, die ihn „meistens auf der Seite liegen“47 lassen. Der Schüler Immermann bietet sonach ein Bild, das kontrovers angelegt ist. Einesteils haben wir es mit einem geistig begabten Menschen zu tun, der es in einigen Bereichen zu beachtlichen Leistungen bringt, andererseits hat er im emotionalen und sozialen Bereich Defizite, die sich auch im späteren Leben als Härten im Umgang mit Menschen äußern können. Jene Seiten Immermanns, die sich später als Humor, Ironie und Satire äußern, scheinen in dem jungen Menschen noch zu schlummern. Man weiß, daß Immermann den Abituraufsatz im Fach Deutsch, der aber nicht überliefert ist, über das Thema „Welche Eigenschaften muß der Satiriker besitzen?“ verfaßte.48 Es wäre sicher sehr aufschlußreich, die Einstellung des jungen Immermann zur Satire zu kennen, um sie mit den späteren satirischen Praktiken in seinen literarischen Schriften vergleichen zu können.

Aus dem Umkreis der Schulzeit sind noch zwei Beobachtungen zu erwähnen, die für die Entwicklung Immermanns von Bedeutung waren. Hermann Immermann in seiner Lebensdarstellung über den Bruder wie auch Putlitz in der Biographie Immermanns berichten von der Neigung des Schülers Immermann zum dramatischen Spiel schon als Schüler. Offenbar hat er versucht, auf der Schulbühne des Klosters Aufführungen dramatischer Stücke mit Mitschülern zu inszenieren und damit auch einen gewissen Erfolg gehabt. Um welche Texte←21 | 22→ es sich dabei gehandelte, ist nicht bekannt. Der Bruder Hermann berichtet in Immermanns Lebenslauf: „Der ernste Vater war jedes Mal zugegen u. hatte auch hieran die größeste Freude.“ Als Kuriosität ist festzuhalten, daß eine Inschrift im Spielsaal auf Immermanns Tätigkeit verweist: „Immermann, dem es gelang, Thalia den Gürtel zu lösen“.

Aber auch der ‚Dichter‘ Immermann versuchte sich schon bei möglichen Anlässen im Kreis der Familie. Aus dem Jahre 1811 ist ein Geburtstagsspiel überliefert, das er anläßlich des Geburtstages seiner Tante, der Frau des Stiefbruders seines Vaters, Gottfried Reinhard Immermann, am 12. August 1811 dichtete. Der Text des Geburtstagsgedichts ist leicht zugänglich.49 Es handelt sich um ein Schäferspiel, ein Genre, mit dem Immermann seit der Kindheit vertraut war, wie er in der „Jugend vor fünfundzwanzig Jahren“50 berichtet. Für den damals 15jährigen Jungen ist das Verfassen eines derartigen Textes eine erstaunliche Leistung. Die überlieferte Handschrift trägt durchweg die Züge von Immermanns Hand, dennoch könnte er nicht der alleinige Verfasser des Textes gewesen sein. Da die Aufführung in Holzzelle stattfand, könnte auch der Oheim „Onkel Yorick“ Hand angelegt haben. Über die Besuche und Ferien bei dem Onkel in Holzzelle ist an späterer Stelle noch Genaueres zu sagen. Immermanns Geburtstagscarmen von 1811, ein dramatischer Text mit acht meist aus dem Verwandten- und Freundeskreis stammenden handelnden Personen, in die sich auch Immermann selbst einreiht, greift auf das Inventar und die Motivik des traditionellen Schäferspiels mit den typischen standardisierten Spielabfolgen, sprachlichen Mustern sowie Versatzstücken zurück. Die zwei Szenen des Textes sind durch Einfachheit in Aufbau und Sprache gekennzeichnet. Immermann wählt keine Reim- und Versform, die Figuren sind typenhaft konzipiert. Untermalende Musik wird nicht gefehlt haben.

Das Schäferspiel ist nicht mehr als eine erste poetische Fingerübung mit allen Anzeichen des Anfangs, des Tastens und Suchens. Der Text besitzt keinen großen literarischen Wert, aber einen biographischen und werkgeschichtlichen. Man weiß bei aller Lückenhaftigkeit dieses Wissens, daß bereits der 15jährige Immermann, vielleicht auch der noch jüngere, Beziehung zur Literatur und zu ihrer Produktion hatte. Man weiß auch, wo wichtige Impulse und Anregungen dazu herstammten. Daß anfangs dialogische Texte dominierten, mag als eine Prädisposition Immermanns zum dramatischen Text verstanden werden, einem Textbereich, der viele Jahre im Zentrum seines literarischen Schaffens stand.51 Dramatisierte Texte spielen←22 | 23→ und dramatische Texte verfassen sind unverkennbar die Wurzeln von Immermanns literarischem Schaffen. Das Geburtstagsgedicht für Sophie Friederike Rahel Immermann (1774–1831) läßt durchaus auf eine positive Einschätzung des jungen Immermann zu der Tante schließen. Später hat sich Immermanns Einstellung zu ihr, bedingt durch ihr Verhalten seiner Familie gegenüber, grundlegend geändert. Ihr Tod 1831 veranlaßte Immermann zu sehr negativen Urteilen in dem Brief vom 26. Mai 1831 dem Bruder Ferdinand gegenüber.

Der Immermann-Forscher Werner Deetjen berichtet über eine „Redeübung“ Immermanns, wie sie in den Gymnasien früher üblich war, aus dem Jahr 1811 oder 1812, in der sich der Schüler über das Thema „Glücklich ist der Staat dessen Oberhaupt eine vernünftige Duldung unterhält und befördert“52, eine fingierte, von einem Minister im Staatsrat gehaltene Rede, äußerte. Zentraler Gedanke des Redners ist die religiöse Toleranz. Diese Toleranz zu gewährleisten, sei die „eine unerläßliche Pflicht“ des Herrschers. Wer dies nicht tue, sei der „größten Strafe werth“53. Gedankengut der Aufklärung und Friedrichs II. erkennt man in solchen Thesen wieder. Die Folge der Toleranz als Ursprung aller anderen Werte sei die Beförderung des Guten, Schönen und der Freiheit. Aber die Verwirklichung der Toleranz kann nicht durch jeden beliebigen Einzelnen bewirkt werden, nur der Herrscher sei befähigt, diese Toleranz ‚von oben‘ einzuführen. Wie glücklich kann der (jetzige) Staat sein, einen solchen Herrscher zu haben. – Man merkt dem Idealismus der Rede an, daß hier inhaltliche Vorgaben und bestimmte Erwartungshaltungen eine Rolle spielten. Indes ist es erstaunlich, mit welcher Sicherheit der ungefähr Fünfzehnjährige mit schwierigen Inhalten aus philosophisch-politischen Bereichen umgeht und mit welcher zielbewußten Stringenz und sprachlichen Gewandtheit er das gewiß nicht leichte Thema abhandelt. Diese Sicherheit in der Darstellung sowie im Wissen Immermanns ist seiner Neigung zuzuschreiben, schon in der Kindheit und Jugend viel zu lesen. Bereits der zehnjährige Knabe las, wessen er „nur habhaft werden konnte“54. Vor allem waren es Reisebeschreibungen, auf die er wiederholt zurückkommt, ferner Biographien, Romane, Schauspiele, die in großer Zahl „verschlungen“ werden. Aber auch vor schwieriger Lektüre, etwa vor Büchern über die schlesische Landwirtschaft, schreckte der Vielleser Immermann nicht zurück und bewältigte sie in kurzer Zeit. Diese Lesewut mußte, wenn sie denn entdeckt wurde, zum Konflikt mit dem Vater führen. Als dies geschah, wurde der Junge dadurch gestraft, daß←23 | 24→ ihm die Lektüre vorgeschrieben und eine Rationierung – ein Buch pro Woche – vorgenommen wurde. Als dies nichts half, und Immermann bei heimlicher Lektüre ertappt wurde, folgte die harte Strafe auf den Fuß. Der Knabe wurde aus dem Kreis der Familie ausgeschlossen und durfte auch nicht mehr am Familientisch essen, was ihm die empfindlichste Strafe war.55 Der heimlichen Lektüre folgten bald, bedingt durch den Drang, der Entdeckung irdischer Geheimnisse auf die Spur zu kommen, Streifzüge auf dem Boden des Vaterhauses, um die Rätsel dort verborgener Schätze zu ergründen. Hanna Fischer-Lamberg hat im einzelnen gezeigt, welche Auswirkungen die beispiellose Härte des Vaters auf die Psyche des Sohnes, auf sein weiteres Leben und Dichten hatte.

Die gesamte Schulzeit Immermanns fällt in den Zeitraum des Niedergangs Preußens von 1806 bis zu den Befreiungskriegen von 1813, einer Phase, in der auch Magdeburg von den kriegerischen Ereignissen stark betroffen war, wenn auch die Stadt nicht zerstört wurde. Seit der österreichischen Niederlage bei Austerlitz 1805 wurden in Magdeburg durch Freilegungen bestimmter Flächen für mögliche Kampfhandlungen sowie Umbauten verstärkte Anstrengungen zur Sicherung der Festung unternommen. Immermann betrachtete diese Vorgänge zunächst mit einer gewissen Neugier und Verwunderung, da er hier Dinge sah, von denen er bisher keine Ahnung hatte, bald aber auch mit steigender Unruhe und Beklommenheit. Generell aber teilte auch er die allgemeine Ansicht, daß Preußen nicht zu schlagen sei. Erst als 1806 Nachrichten von der Niederlage Preußens bei Jena und dem Dorf Auerstedt durchsickerten, die man zunächst nicht glaubte, änderten sich nach dem schicksalhaften 14. Oktober seine Einstellung und sein Wissen schlagartig.56 Friedrich Wilhelm III. passierte durch Magdeburg, hielt es aber nicht für notwendig, konkrete Weisungen für die Verteidigung der Stadt zu hinterlassen, setzte seine Reise nach Berlin fort, von wo aus er sich mit der königlichen Familie und einem Teil des preußischen Hofes noch Ende Oktober 1806 nach Ostpreußen absetzte, quasi auf der Flucht vor Napoleon. Wenige Tage nach der katastrophalen Niederlage erreichten die ersten nach Norden fliehenden Soldaten des preußischen Heeres die Stadt Magdeburg und suchten Schutz und Hilfe in der Festung. Die Zustände in Magdeburg im Herbst 1806 schildert Immermann so:

Die armen Menschen suchten sich gegen die Herbstkälte in den Vorhallen der öffentlichen Gebäude, unter Schwibbögen, oder wo sonst ein Schutzdach überhing, zu bergen, wie es eben gehen mochte. Viele Tausende aber, die zu spät gekommen waren, lagen auf←24 | 25→ dem nackten Pflaster, und um wenigstens im Rücken einen Widerhalt zu haben, hatten sie sich zu beiden Seiten der Gassen gegen die Häuser gesetzt. So bildeten sie lange Spaliere Frierender, Hungernder, Murmelnder. In der Klosterstraße, worin das Haus meiner Eltern stand, war ein solches hauptsächlich aus Überbleibseln von polnischen Regimentern zusammengesetzt. Der Hunger quälte sie, und zwang manchen zur Befriedigung durch den verachtetsten Wegwurf, da die Mildtätigkeit der Einwohner einer solchen Menge doch nur spärliche Kost darreichen konnte. Am ersten und zweiten Tage mögen zwischen vierzig- und fünfzigtausend Mann in Magdeburg gewesen sein.57

Der „elfjährige Knabe“, der sich beständig auf der Straße aufhielt, zählte diese Eindrücke zu den nachhaltigsten Erlebnissen seiner Jugend. Der General, der für Magdeburgs Verteidigung verantwortlich war, Franz Kasimir v. Kleist, ein „halbkindisch gewordener Greis“58, hatte geschworen – mit einem geflügelten Wort von ihm – Magdeburg zu verteidigen, „bis das Schnupftuch in seiner Tasche brenne“59. Wenige Tage später jedoch trat er mit dem oberkommandierenden General Napoleons Michel Ney, mit dem Ehrentitel „Herzog von der Moskwa“, in Verhandlungen ein, die bald zur kampflosen Übergabe der Stadt an die Franzosen führten. Am 11. November 1806 marschierten die Franzosen in Magdeburg ein und begannen mit den Plünderungen, die nur durch die Zahlung einer erheblichen Summe durch die Magdeburger Bürger beendet werden konnten. Für Immermann und zahlreiche Magdeburger war der „Fall von Magdeburg […] schlimmer als die verlorene Schlacht“60.

Auf der Grundlage des von Napoleon Preußen und Rußland diktierten Friedens von Tilsit vom 9. Juli 1807 mußte Preußen alle westlich der Elbe gelegenen Gebiete abtreten, die zu dem Königreich Westphalen zusammengefaßt wurden, das bis 1813 von Napoleons Bruder Jérôme beherrscht wurde. Die französische Herrschaft hatte die Einführung der französischen Gesetzgebung, des „Code Napoleon“, zur Folge. Das bedeutete die Gewährung von Grundrechten und Grundfreiheiten für alle volljährigen männlichen Staatsbürger, die Unantastbarkeit des Eigentums, Gleichheit vor dem Gesetz, Gewerbe- und Religionsfreiheit sowie die Abschaffung der Leibeigenschaft und der Zünfte; alle Konfessionen wurden gleichgestellt, das metrische Maß- und Gewichtssystem wurde eingeführt. Justiz und Verwaltung wurden getrennt. Erstmals entstand auf mitteldeutschen Boden ein einheitliches Wirtschaftssystem ohne die bisher üblichen Binnenhandelsabgaben und vieles mehr.61 Das←25 | 26→ waren zweifellos Fortschritte, und Nathusius und Propst Rötger begrüßten die Veränderungen „als ein festes und lange Dauer verheißendes Wunderwerk“62.

Die Stadtverwaltung von Magdeburg wurde reformiert, ein Präfekt wurde eingesetzt. Die in den nächsten Jahren allmählich sich durchsetzenden Neuerungen veränderten das Leben in der Stadt Magdeburg. Das Bildungswesen schien indes am wenigsten davon betroffen zu sein, es nahm im wesentlichen seinen bisherigen Verlauf. Immermanns spätere Analyse der Zeit nach 1806 fällt indes recht pessimistisch aus: Die verordneten Veränderungen zerstörten bisherige Einrichtungen und Werte, was zu einer großen Verunsicherung der Zeitgenossen führte. „Ein Land, eine Provinz, der jeder höhere Lebensatem solcherweise abgeschnürt wurde, bietet den Anblick eines niedergetretenen Ameisenhaufens.“63 Der „Egoismus“ der Menschen nahm erheblich zu und zeigte sich von seiner „häßlichsten Seite“64. v. Kleist wird als „faselnder Greis“ karikiert, sein „Schnupftusch hing ihm lang aus der Tasche und ein französischer Soldat steckte es mit einem Fidibus hinterrücks in Brand“65. – Bald danach bricht Immermann die Darstellung der Zeit zwischen 1806 und 1813 ab und kommt auf andere Themen zu sprechen.

Nach dem Aufruf des preußischen Königs vom 17. März 1813 zum Widerstand gegen Napoleon – am 18. März erklärt Preußen Frankreich den Krieg – kommt es im Frühjahr und Sommer in der Umgebung von Magdeburg immer wieder zu meist kleinen Auseinandersetzungen zwischen Heeresabteilungen der Preußen und der Franzosen, bei denen Erfolge auf beiden Seiten zu verzeichnen sind, bis schließlich im September 1813 überraschend Kassel erobert und König Jérôme vertrieben wird. Nach der verlorenen Schlacht bei Leipzig zog sich Napoleon am 19. Oktober nach Frankreich zurück. Der Krieg gegen Frankreich war gewonnen, aber die Festung Magdeburg blieb weiterhin in der Hand der Franzosen. Dieser Zustand sollte noch bis Ende April 1814 andauern. Erst dann gaben die Franzosen auf. Ihnen wurde großzügig freier Abzug gewährt. Magdeburg war endlich frei. Im Mai folgten entsprechende Feiern der Bevölkerung über die endgültige Beendigung der französischen Fremdherrschaft. In Magdeburg und in Deutschland insgesamt wurden die meisten früheren Verhältnisse Schritt für Schritt wiederhergestellt. Die Restauration triumphierte, und die meisten der durch Napoleon vermittelten liberalen Ideen, politischen und sozialen Fortschritte wurden wieder abgeschafft.←26 | 27→


1 Asmus II, S. 206.

2 Ibid., S. 204.

3 Ibid., S. 254.

4 Ibid.

5 Klassik Stiftung Weimar, Goethe- und Schiller-Archiv, 49/441.

6 Werke IV, S. 376.

7 Cf. hierzu auch Herbst, Kötz, S. 13–17.

8 Ibid., S. 381.

9 Ibid., S. 383.

Details

Seiten
690
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783631719473
ISBN (ePUB)
9783631719527
ISBN (MOBI)
9783631719534
ISBN (Hardcover)
9783631719411
DOI
10.3726/b10923
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (April)
Schlagworte
Düsseldorfer Theater Theatergeschichte Theaterreform Romantik Immermanns Romanschaffen Heinrich Heine Junges Deutschland
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 690 S., 16 s/w Abb.

Biographische Angaben

Peter Hasubek (Autor:in)

Peter Hasubek war Ordentlicher Professor für Deutsche Literatur und deren Didaktik an der TU Braunschweig und studierte Germanistik, Geschichte, Philosophie und Pädagogik. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen die Literatur des 19. Jahrhunderts, Romantypologie und Romangeschichte, Rezeptionsforschung, Autobiographie sowie Fabel.

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Titel: Carl Leberecht Immermann
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