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Deserteur-Denkmäler in der Geschichtskultur der Bundesrepublik Deutschland

von Marco Dräger (Autor:in)
©2017 Dissertation 706 Seiten

Zusammenfassung

Im Kontext von Nachrüstungsdebatte und Friedensbewegung kam zu Beginn der 1980er Jahre in einigen Städten die Forderung nach der Errichtung von Denkmälern für Deserteure auf. Das kontrastierte scharf mit der bisherigen Sichtweise auf Deserteure: Bis dato wurden sie in der Öffentlichkeit als Feiglinge und Drückeberger betrachtet. Die Untersuchung thematisiert nicht allein die Errichtung solcher Denkmäler, sondern allgemeiner die öffentliche Wahrnehmung des Phänomens Desertion − insbesondere im Kontext des Nationalsozialismus. Die Studie analysiert den Wandel dieses Diskurses in den 1980er und 1990er Jahren. Sie verbindet anhand zweier exemplarischer Denkmalsdiskussionen die lokale Mikro-Ebene mit der bundesrepublikanischen Makro-Ebene und zeigt deren Zusammenhang auf.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Deserteur-Denkmäler – „abstruse idee“ und „hypothetisches gedankenspiel“?
  • 1.1 Zum Forschungsstand
  • 1.2 Theoretischer Rahmen, Fragestellung und Hypothesen
  • 1.3 Operationalisierung der Fragestellung und Gliederung der Arbeit
  • 2. Theorie
  • 2.1 Generation
  • 2.1.1 Das Generationen-Modell von Karl Mannheim
  • 2.1.2 Potential und Risiko des Ansatzes Generation
  • 2.1.3 Generationsobjekte
  • 2.1.4 Generationen in Deutschland im 20. Jahrhundert
  • 2.2 Gedächtnis
  • 2.3 Denkmal
  • 2.3.1 Definition, Funktionen und Quellenwert von Denkmälern
  • 2.3.2 Geschichte der Kriegerdenkmäler
  • 2.3.3 Das Ende klassischer Denkmalsformen und die Entstehung von Gegendenkmälern
  • 2.3.4 Der Stellenwert des Denkmals in Forschung und kollektivem Gedächtnis
  • 2.3.5 Der generationell bedingte Wandel von kollektivem Geschichtsbewusstsein und die Konsequenzen daraus für den Umgang mit anachronistischen Denkmälern
  • 2.4 Zur Terminologie: Geschichtskultur, Erinnerungskultur und kollektives Gedächtnis
  • 2.4.1 Genese, Entstehung, Entwicklung und Geschichte von „Geschichtskultur“ sowie Abgrenzung zu „Erinnerungskultur“
  • 2.4.2 Geschichtskultur als Teil der Geschichtsdidaktik
  • 2.4.3 Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft und kollektives Gedächtnis
  • 3. Diskursanalyse
  • 3.1 Methodik und Material
  • 3.1.1 Erhebung des Quellenmaterials und Corpusbildung
  • 3.1.2 Auswertung
  • 3.2 Medien und Diskurse
  • 4. Die Ausgangssituation: Die sozialen Rahmenbedingungen und der historisch-politische Kontext Deutschlands in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren
  • 4.1 Langfristige Veränderungen im sozialen Bezugsrahmen: Der „Wertewandel“
  • 4.2 Kurzfristige Veränderungen im sozialen Bezugsrahmen: Filbinger-Affäre, Holocaust-Fernsehserie, NATO-Doppelbeschluss und Friedensbewegung
  • 4.2.1 Die Friedensbewegung in Deutschland
  • 4.2.2 Die Akteure der Friedensbewegung, ihr Sozialprofil und ihr Alter
  • 4.2.3 Die Sprache der Friedensbewegung
  • 4.2.4 Desertion im Diskurs der Friedensbewegung
  • 4.2.5 Die Friedensbewegung und die Angst
  • 4.2.6 Die Strategie der Friedensbewegung
  • 4.2.7 Die Deserteur-Initiativen als spezieller Teil der Friedensbewegung
  • 4.2.8 Der Stationierungsbeschluss: Politische Lehren aus der Geschichte
  • 4.2.9 Die Friedensbewegung nach dem Stationierungsbeschluss
  • 5. Fallbeispiel Kassel
  • 5.1 Das Ehrenmal in der Kasseler Karlsaue von seiner Entstehung bis 1945
  • 5.2 „Als wäre nichts geschehen“ – Die 1950er Jahre
  • 5.3 Das Ehrenmal in den 1960er und 1970er Jahren
  • 5.4 Die Friedensbewegung in Kassel in den 1980er Jahren
  • 5.4.1 Der Beginn der Diskussion über ein Deserteur-Denkmal in Kassel
  • 5.4.2 Die parlamentarische Debatte über eine Gedenktafel für Deserteure in der Kasseler Stadtverordnetenversammlung 1981
  • 5.4.3 Die provisorische Gedenktafel für Deserteure am Kasseler Rathaus und die Gründung der Kasseler Reservistenverweigerer-Gruppe im November 1981
  • 5.4.4 Die weitere Behandlung des Themas in den politischen Gremien
  • 5.4.5 Reaktionen auf die Dokumentation zu Kasseler Opfern der Wehrmachtjustiz
  • 5.4.6 Vom Beschluss der Gedenktafel im Jahr 1985 bis zu ihrer Einweihung im Jahr 1987
  • 5.4.7 Die Einweihung der Gedenktafel am 9. Mai 1987
  • 5.4.8 Der Widmungstext der Kasseler Gedenktafel – Formulierungen als Fallstricke und die Schwierigkeit von political correctness
  • 5.4.9 Kunst oder Grabschändung? – Die Rezeption des Ehrenmals von den 1990er Jahren bis in die Gegenwart
  • 6. Fallbeispiel Göttingen
  • 6.1 Das Ehrenmal des Infanterie-Regiments Nr. 82 von seiner Entstehung bis 1945
  • 6.2 Das Ehrenmal in den 1950er Jahren
  • 6.3 Das Ehrenmal in den 1960er und 1970er Jahren
  • 6.4 Die Friedensbewegung in Göttingen in den 1980er Jahren
  • 6.4.1 Der Streit um das Ehrenmal in den 1980er Jahren
  • 6.4.2 Ein (Gegen-)Denkmal für Deserteure – Der Beginn der Göttinger Initiative
  • 6.4.3 Die Ereignisse des Jahres 1988
  • 6.4.4 Die Diskussionen des Jahres 1989
  • 6.4.5 Ein zweiter Anlauf
  • 6.4.6 Die politische Renaissance des Themas im Frühjahr 1990
  • 6.4.7 Die Einweihung des Denkmals am 1. September 1990
  • 6.4.8 Deserteur-Gedenken von den 1990er Jahren bis in die Gegenwart
  • 6.4.9 Zwischenfazit: Vom „Helden“ zum Deserteur – Der Wandel von lokaler Geschichtskultur im Wechsel der Generationen
  • 7. Der Wandel in Deutschland von den 1980er Jahren bis in die 2010er Jahre
  • 7.1 Die parlamentarische Situation bis zur Wiedervereinigung
  • 7.2 Die 12. Legislaturperiode (1990–1994)
  • 7.2.1 Das Urteil des Bundessozialgerichts vom September 1991
  • 7.2.2 Die politischen Folgen des Urteils
  • 7.3 Die 13. Legislaturperiode (1994–1998)
  • 7.3.1 Die Sitzung des Rechtsausschusses im November 1995
  • 7.3.2 Das Urteil des Bundesgerichtshofes vom November 1995
  • 7.3.3 Das Jahr 1996 – eine lange Durststrecke und zwei Paukenschläge
  • 7.3.4 Die Initiative des Bundesrates
  • 7.3.5 Die Evangelische Kirche in Deutschland und die Wehrmacht-Deserteure
  • 7.3.6 Die „Wehrmachtsausstellung“
  • 7.3.7 Die Entschließung des Bundestages vom Mai 1997
  • 7.3.8 „Großer Wurf“ und „Bauernopfer“ – Die zähen Verhandlungen über einen Gesetzentwurf in den Jahren 1997 und 1998
  • 7.4 Die 14. Legislaturperiode (1998–2002)
  • 7.4.1 Ein neuer Anlauf – Der Regierungswechsel 1998
  • 7.4.2 Die Diskussion des Gesetzentwurfs der Bundesregierung im Jahr 2002
  • 7.5 Die Wanderausstellung „,Was damals Recht war …‘ – Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht“
  • 7.6 Die Rehabilitierung der „Kriegsverräter“
  • 7.7 Der Bundestag und die Opfer der Wehrmachtjustiz – ein Zwischenfazit
  • 8. Die Diskussion über das Verhältnis von Desertion und Widerstand
  • 8.1 Die Deserteure und die Friedensbewegung
  • 8.2 Die Anfänge der historischen Erforschung der Deserteure in den 1980er Jahren
  • 8.3 Die Erforschung der Motive der Deserteure in den 1990er und 2000er Jahren
  • 8.4 Desertion und Widerstand
  • 9. „Wo sind die Deserteure?“ – Fazit
  • 9.1 Von 1945 bis in die 1980er Jahre im „Dialog“ zweier Wehrmacht-Deserteure
  • 9.2 Empirische Befunde
  • 9.2.1 Chronologie der Deserteur-Denkmäler
  • 9.2.2 Akteure in der Diskussion um Deserteur-Denkmäler
  • 9.3 Pragmatische Befunde
  • 9.4 Theoretische Befunde
  • 9.4.1 Geschichtsbewusstsein, Geschichtskultur und „Geschichtskommunikation“
  • 9.4.2 Modelle zur Analyse von Geschichtskultur
  • 9.4.3 Das Paradigma „Generation“ als Instrument zur Analyse von Geschichtskultur
  • 9.5 Tradition?
  • 10. Abbildungen und Abbildungsverzeichnis
  • 11. Quellen- und Literaturverzeichnis
  • 11.1 Quellen
  • 11.1.1 Ungedruckte Quellen
  • 11.1.1.1 Archive
  • 11.1.1.2 Parlamentsprotokolle und parlamentarische Drucksachen
  • 11.1.1.3 Internetressourcen
  • 11.1.2 Gedruckte Quellen
  • 11.2 Literatur

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1. Deserteur-Denkmäler – „abstruse idee“ und „hypothetisches gedankenspiel“?

„abstruse idee: könnte es einmal eine zeit geben, wo deserteure ein denkmal erhalten? aber das ist ein hypothetisches gedankenspiel.“1

Dem Deserteur ein Denkmal2 lautete der Titel eines der ersten Flugblätter der Göttinger Gruppe kriegsdienstverweigernder Reservisten vom November 1987. Zwei Jahre zuvor hatte Otl Aicher (1922–1991) eine derartige Forderung noch als „abstruse idee“ charakterisiert und keinerlei Möglichkeit gesehen, ein solches Vorhaben jemals zu realisieren. Die folgende Studie begibt sich auf die Suche nach dieser von Aicher angesprochenen Zeit und geht den Fragen nach, wann und vor allem warum Wehrmacht-Deserteure denkmalswürdig wurden, so dass das Gedenken an sie kein „hypothetisches gedankenspiel“ mehr blieb, welche Akteure diesen historischen Wandel einforderten, ob und ggf. wie sich solche Denkmäler im kollektiven Gedächtnis etablierten und wie sich Geschichtskultur im Laufe der Zeit aufgrund der Veränderungen der sozialen und historischen Rahmenbedingungen wandelte. Dabei wird die Wechselwirkung von Generation, kollektivem Gedächtnis und Denkmal untersucht; ein (Groß-)Teil der Antwort auf die gesuchte Zeit lautet nämlich „Generation“ und geht von Unterschieden zwischen den Generationen sowie den daraus resultierenden Konsequenzen für die Sphären kollektives Gedächtnis und Denkmal aus. Die in Generationen gemessene Zeit und der damit verbundene soziokulturelle und soziopolitische Wandel werden im Folgenden analysiert als Generator für kollektive Identitäten, die historische (Selbst- und Fremd-)Verortung ermöglichen. Dabei werden exemplarisch verschiedene Generationen untersucht, die ihre kollektive Identität sowie ihre Geschichtsdeutungen mit dem Medium Denkmal als Teil der Geschichtskultur artikulieren und die dabei in Konflikt mit anderen Generationen geraten. Mit dem Ansatz, Geschichtskultur und Generation miteinander zu verbinden, möchte dieser Beitrag ein Konzept für geschichtskulturelle ← 13 | 14 → Fragestellungen fruchtbar machen, das innerhalb der Geschichtsdidaktik bislang kaum wahrgenommen worden ist.3

1.1 Zum Forschungsstand

Der Begriff „Deserteur“ leitet sich vom lateinischen Verb deserere ab, was so viel heißt wie „verlassen“, „im Stich lassen“, „abtrünnig werden“ oder „eine Pflicht nicht erfüllen“. Desertion stellt in allen Armeen zu allen Zeiten ein schwerwiegendes Verbrechen dar, das drakonisch bestraft wird. Der Terminus ist überaus negativ konnotiert; Deserteure gelten seit jeher als gewissenlose Drückeberger, Feiglinge, „Kameradenschweine“ und Vaterlandsverräter.

Die in der Bundesrepublik geführten Debatten über die Rehabilitierung von Deserteuren und über Denkmäler zur Erinnerung an sie waren (und sind nach wie vor) einmalig und einzigartig, international gab und gibt es keine auch nur annähernd vergleichbar intensive Diskussion. Intensität, Vehemenz und Dauer der deutschen Debatten sind nur vor dem historischen Hintergrund des Zweiten Weltkrieges zu verstehen, dessen Erblast in Form der Wehrmacht-Deserteure in der Bundesrepublik „bewältigt“ werden musste, was sehr spät geschah. Die aus dieser besonderen historischen Situation heraus entstandenen, bislang unerforschten Diskussionen stellen deshalb ein höchst interessantes Untersuchungsobjekt dar.

Die DDR kann in der folgenden Betrachtung dagegen unberücksichtigt bleiben, denn dort hatte es zu keiner Zeit eine öffentliche Debatte über diese – im Osten wie im Westen gleichermaßen von Entschädigungs- und Versorgungsleistungen ausgeschlossene – Opfergruppe gegeben.4 Die Themen Desertion und Militärjustiz wurden immer nur im Kontext des antifaschistischen Widerstandes behandelt. Beispiele hierfür sind Forschungsarbeiten zur Strafdivision 999, in der politische Gegner des Nationalsozialismus den Militärdienst ableisten mussten, ← 14 | 15 → oder zum „Nationalkomitee Freies Deutschland“.5 Nur in wenigen Einzelfällen unmittelbar nach Kriegsende bis Anfang der 1950er Jahre war es diesen Opfern gelungen, in der SBZ bzw. DDR als „Kämpfer des Faschismus“, „Opfer des Faschismus“ oder „Verfolgter des Naziregimes“ anerkannt zu werden und die hohen bürokratischen Hürden einer solchen Antragstellung zu überwinden. Eine solche Anerkennung konnte allerdings jederzeit widerrufen werden, sie war vom Wohlverhalten gegenüber Staat und Partei abhängig.6

Erst in der Spätphase der DDR wurden Deserteure zu einem Thema, wenngleich es ein marginales blieb. Im Mai 1989 errichtete der „Freundeskreis Wehrdienst-Totalverweigerer“ vor der evangelischen Samariterkirche in Berlin-Friedrichshain ein Denkmal zur Erinnerung an die Wehrmacht-Deserteure des Zweiten Weltkrieges. Es fungierte zugleich als Symbol der ostdeutschen Friedens- und Oppositionsbewegung.7 Von dieser Episode abgesehen entfaltete die DDR-spezifische Behandlung dieser Thematik ihre Dynamik erst nach Mauerfall und Wiedervereinigung, sie hallte in der „Berliner Republik“ nach. Denn im Einigungsvertrag übernahm die Bundesrepublik die Zahlung von Ehrenpensionen für in der DDR anerkannte Opfer bzw. Verfolgte des Nationalsozialismus. Als im Mai 1992 das „Entschädigungsrentengesetz für NS-Verfolgte aus dem Beitrittsgebiet“ in Kraft trat und die Zahlungen neu regelte, erhielten die anerkannten ostdeutschen Opfer der Wehrmachtjustiz eine monatliche Rente in Höhe von 1400 DM. Dies privilegierte sie gegenüber den westdeutschen Angehörigen dieser Opfergruppe deutlich und hatte eine politische Initiative zur Gleichbehandlung aller Opfer dieser Gruppe in Ost und West zur Folge.8

Aufgrund der oben genannten Charakterisierung von Deserteuren erscheinen sie auf den ersten Blick also als ziemlich unsympathische und pflichtvergessene Subjekte und die Forderung, Denkmäler zu ihrem Gedenken zu errichten, wirkt auch heute noch zunächst verwunderlich und äußerst befremdlich.

Dies war auch in den 1980er Jahren der Fall, als Teile der Friedensbewegung erstmals Denkmäler für die Deserteure des Zweiten Weltkrieges forderten. Eine solche Position war damals weder gesellschaftlich konsens- noch politisch mehrheitsfähig. Dennoch regte diese Initiative aus der Friedensbewegung zur historischen Aufarbeitung jenes lange Zeit tabuisierten Themas an. Aufgrund der mit ← 15 | 16 → den oben genannten Konnotationen verbundenen Stigmatisierung wurde Desertion in der historischen Forschung nämlich lange Zeit nur unter dem Aspekt der Abweichung von einer Norm bzw. des unerwünschten Fehlverhaltens betrachtet, das durch die Ursachenerforschung „korrigiert“ werden könne und müsse.9 Erst Fragestellungen aus der Kulturgeschichte und der neuen Militärgeschichte veränderten den Fokus und machten Deserteure im Zeitalter des so genannten „Zweiten Kalten Krieges“ (1979–1987) zu „salonfähigen“ Forschungsobjekten.10 Seitdem attestiert die Forschung der NS-Militärjustiz einen „Terrorcharakter“11 in Bezug auf die Verfolgung von Deserteuren und sieht in deren Urteilspraxis eine „typische nationalsozialistische Gewaltmaßnahme“12 im Vergleich zur Militärjustiz der westalliierten Kriegsgegner.13

In der Geschichtswissenschaft ist die Erforschung von Denkmälern ein junges Forschungsgebiet.14 Denkmäler wurden ab den 1970er Jahren vereinzelt ← 16 | 17 → thematisiert,15 erst mit der kulturgeschichtlichen Wende sowie der Wiederentdeckung der Theorien zum kollektiven bzw. sozialen Gedächtnis in den 1990er Jahren rückten sie vermehrt ins Zentrum von Forschungen und begründeten ein eigenes, expandierendes Arbeitsfeld. Von zwei Aufsätzen16 abgesehen existieren keinerlei Forschungen zu Deserteur-Denkmälern.

Wie in der Geschichtswissenschaft hat die Behandlung von Denkmälern auch in der Geschichtsdidaktik keine allzu lange Tradition, dort konzentrierte sich die Forschung lange Zeit hauptsächlich auf Kriegerdenkmäler.17 Erst allmählich gerieten die unmittelbar zeitgenössischen Denkmäler für die Opfer des Nationalsozialismus in den Blick. Die bislang einzige geschichtsdidaktische Thematisierung ← 17 | 18 → von Denkmälern als Teil der Geschichtskultur in Form einer Monographie stammt von Holger Thünemann.18 In seiner Dissertation befasste er sich mit den Holocaust-Denkmälern in Berlin und Wien. Auf eine sehr sorgfältige Analyse beider Denkmäler folgt allerdings ein recht schmales und allgemein gehaltenes Fazit, das seine eingangs aufgestellten Thesen genauso thesenartig bestätigt. Seine Schlussfolgerungen – Rekontextualisierung der Denkmäler, Stärkung des kognitiven Zugangs und Rückbindung der Kontroversen an die Denkmäler im Rahmen „musealer Informationseinrichtungen“, die bei den jeweiligen Denkmälern ja schon vorhanden seien19 – sind trotz ihrer Konkretheit wenig überraschend und wiederholen überdies schon oft gestellte Forderungen.20

In Unterrichtszeitschriften finden sich bislang nur wenige Beiträge zu Deserteuren bzw. Deserteur-Denkmälern.21 Auch im Schulbuch sind die Deserteure und die zu ihrem Gedenken errichteten Denkmäler noch nicht angekommen, obwohl diesem Thema erhebliches Potential im Hinblick auf die Ausbildung sowohl von Sach- als auch von Werturteilskompetenz innewohnt.22 Es existiert lediglich ein einziger Beitrag, der noch nicht einmal eine halbe Seite umfasst und darüber hinaus noch Fehlinformationen bietet.23 Wie aus den Ausführungen zum ← 18 | 19 → Forschungsstand deutlich wird, ist also eine Bearbeitung dieses Themas auf den drei geschichtsdidaktischen Arbeitsgebieten von Theorie, Empirie24 und Pragmatik dringend geboten. ← 19 | 20 →

Die vorliegende Dissertation ist somit ein Desiderat und betritt wissenschaftliches Neuland. Bisherige Auseinandersetzungen mit diesem Thema bleiben auf der Ebene der „Betroffenheitsliteratur“, weil sie von ehemaligen Deserteuren verfasst wurden, die ihr eigenes Schicksal schildern, oder sie fallen in die Kategorie des politischen Aktivismus, indem sie im Rahmen von Rehabilitierungsbemühungen entweder pauschal Deserteur-Denkmäler fordern oder die Chronologie ihrer Etablierung aus einem politikwissenschaftlichen Blickwinkel, d. h. ohne historische Tiefenschärfe, Differenzierung oder Kategorien, referieren.25 Das Innovationspotential dieser Arbeit besteht hingegen darin, durch sehr genaue Sprach- und Textanalysen den Wandel des Diskurses über die Wehrmacht-Deserteure und die daraus resultierenden Veränderungen im kollektiven Gedächtnis und in der Geschichtskultur zu untersuchen und diese Veränderungen an das Paradigma Generation zurückzubinden.

Sehr gut erforscht hingegen ist mittlerweile die nationalsozialistische Militärjustiz; ihr Unrechtscharakter wurde klar herausgearbeitet.26 Diese Forschungsergebnisse bilden die Basis für die gegenwärtige Forderung nach Deserteur-Denkmälern. Erstaunlich ist jedoch die Diskrepanz zwischen dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand und der öffentlichen Meinung, die Deserteur-Denkmälern eher indifferent bis ablehnend gegenübersteht.

1.2 Theoretischer Rahmen, Fragestellung und Hypothesen

In dieser Studie gehe ich der Frage nach, warum Deserteure ab den 1980er Jahren „denkmalswürdig“ wurden, wie und von wem dieser historische Wandel eingefordert sowie begründet wurde und wie sich solche Denkmäler im Laufe der Zeit etablieren konnten – oder auch nicht. Für die theoretische Rahmung meiner Untersuchung verwende ich die beiden Forschungsparadigmata Generation27 und Gedächtnis. Durch die Kombination dieser beiden Konzepte möchte ich herausarbeiten, wie sich Generationen und Gedächtnisse gegenseitig beeinflussen und bedingen. Ausgehend von Maurice Halbwachs’ Überlegungen zum ← 20 | 21 → „Gedächtnis und seinen sozialen Bedingungen“28, die in Deutschland vor allem durch die Arbeiten von Aleida und Jan Assmann bekannt geworden und seitdem breit rezipiert worden sind,29 lautet meine These, dass verschiedene Generationen aufgrund der unterschiedlichen historisch-sozialen Rahmenbedingungen,30 unter denen sie aufwachsen, jeweils eigene Geschichtsbilder besitzen.31 ← 21 | 22 →

Sie artikulieren diese in der Geschichtskultur und versuchen, ihre Vorstellungen als allgemein verbindlich durchzusetzen, ihnen Dauerhaftigkeit zu verleihen und sie über die eigene Lebenszeit hinaus als weiterhin gültige, verpflichtende Vergangenheitsinterpretation zu tradieren und im kulturellen Gedächtnis in Form von Objektivationen zu etablieren. Sowohl in der kommunikativen als auch in der kulturellen „Gedächtnishälfte“32 kommt es dabei zu Konflikten mit anderen Generationsgedächtnissen, die dasselbe Ziel verfolgen, und deren Geschichtsbildern. Welche Konflikte auftreten, wie sich der Übergang der kommunikativen Kontroversen in den kulturellen Teil des kollektiven Gedächtnisses gestaltet, mit welchen Strategien, Mitteln und Medien er vollzogen wird, in welchem „Bezirk“33 – d. h. ob im Speicher- oder Funktionsgedächtnis – die Vergangenheitsvorstellungen „eingelagert“ und verankert werden, welcher Wert ihnen dort beigemessen wird, ob und wie sie ggf. aktualisiert werden, innerhalb welches historisch-politischen Kontextes und in welchem geistigen Klima dies geschieht, dies möchte meine Studie exemplarisch an Denkmälern für die Wehrmacht-Deserteure des Zweiten Weltkrieges untersuchen.

Denkmäler34 dienen nämlich zum einen zur Artikulation von Geschichtsbewusstsein, zum anderen sind sie Speichermedien für Geschichtsbilder und die ← 22 | 23 → sozialen bzw. kollektiven Gedächtnisse der Generationen; denn als Objektivationen garantieren sie sowohl Dauerhaftigkeit als auch Präsenz im und Macht über den öffentlichen Raum. Die voneinander abweichenden Geschichtsbilder und Zukunftsvorstellungen der Generationen35 werden an zwei unterschiedlichen Denkmalstypen deutlich: Die älteren Generationen der Teilnehmer und Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges gedachten der Toten dieses Krieges ganz traditionell an klassischen Kriegerdenkmälern und betonten mit dieser Art von Gedenken zugleich die Aufrechterhaltung des Friedens durch Verteidigungsbereitschaft. Dagegen grenzte sich die jungen Generationen der nach dem Zweiten Weltkrieg Geborenen ab; sie protestierten gegen solche Rituale und entwickelten ‒ geprägt von den zeitgenössischen politischen und sozialen Rahmenbedingungen der 1980er Jahre sowie den Zielen der Friedensbewegung ‒ eigene Vorstellungen, wie der Frieden zu retten sei. Sie suchten abseits des soldatischen Heldentodes nach neuen erinnernswerten Vorbildern, die eher zu ihrer pazifistischen Orientierung passten.

Diese entdeckten die jungen Generationen in den Deserteuren des Zweiten Weltkrieges. Deren historische Verweigerung erschien ihnen beispielhaft für die Gegenwart. Deshalb setzten sie sich für die juristische Rehabilitation der Deserteure ebenso ein wie für die Erinnerung an sie in Form von Denkmälern, ← 23 | 24 → welche seit Mitte der 1980er Jahre vereinzelt in der Bundesrepublik entstanden und mit denen Abrüstung und Verzicht auf militärische Gewalt gefordert wurde. Dadurch, dass nun statt Treue, Gehorsam und Opferbereitschaft „neue Werte“36 wie individuelle Willens- und Entscheidungsfreiheit öffentlich diskutiert und propagiert wurden, artikulierte sich Kritik am herrschenden, „martialischen“ Geschichtsbild der älteren Generationen und der damit einhergehenden, etablierten Geschichtspolitik. Unerfüllt blieb die Hoffnung der Initiatoren, dass durch die Reflexion über Desertion in der Geschichte unter der Leitfrage, in welcher Tradition man stehe und welches Gewicht man dem Militär beimesse, die Beschäftigung mit der aktuellen Frage nach der Legitimität von staatlichen Zielen und Handlungen angeregt werde. Genauso ungeklärt blieben die damit verbundenen emanzipatorischen Wünsche, das Verhältnis zwischen Individuum und Staat zu bestimmen, um eine Positionierung in der Gegenwart vorzunehmen oder eine eigene moralische Urteilsbildung zu ermöglichen. Stattdessen verdeutlichte die Diskussion über Deserteure als neue Elemente für die kollektive Erinnerung einen Generationenkonflikt; denn eine Mehrheit der Gesellschaft war zum damaligen Zeitpunkt keineswegs bereit, Desertion anzuerkennen und positiv zu würdigen. Gerade durch die Anerkennung historischer Deserteure befürchtete man eine Schwächung der Bundeswehr.

Die Deutung der jüngeren Vergangenheit und deren unterschiedliche Bewertung entzündete eine Kontroverse. Sowohl Kriegerdenkmäler als auch Deserteur-Denkmäler dienten als exponierte Symbole, anhand derer eine vehemente Stellvertreter-Debatte über den Umgang mit Geschichte und ihren Beitrag zur Lösung gegenwärtiger Probleme geführt wurde. Die Rezeption der Denkmäler, die Aktivitäten an ihnen und die Debatten vor allem über die Errichtung von Deserteur-Denkmälern illustrieren als kommunikative Bestandteile der Geschichtskultur die vielfältigen Strömungen von Geschichtsbewusstsein, die in den 1980er Jahren nebeneinander existierten. Im Spannungsfeld von Erinnerung, Geschichtskultur und Geschichtspolitik kämpften generationell heterogene Geschichtsbilder und Friedenskonzeptionen im öffentlichen Raum um Anerkennung und Deutungshoheit.

Aufgrund ihrer unterschiedlichen sozialen Bezugsrahmen, in denen sie aufwuchs und die ihre Perspektive prägte, bevorzugte nämlich jede Generation andere Aspekte der Vergangenheit, akzentuierte diese unterschiedlich und maß ← 24 | 25 → ihnen verschiedene Potentiale für die Lösung von Gegenwartsproblemen bei. Sie betrachtete die jeweils anderen Generationen skeptisch, beargwöhnte und misstraute deren für sie unverständlichen Konzepten und Verhaltensweisen. Die jeweiligen Generationen hatten zwar mit der Bewahrung des Friedens ein gemeinsames Ziel und äußerten ihre Geschichtsbilder und Zukunftsvorstellungen sogar mit dem gleichen Medium, dennoch erkannten sie einander nicht als mögliche Partner im Hinblick auf die Verwirklichung dieses Ziels, sondern sie konkurrierten miteinander, um ihre jeweils spezifischen Vorstellungen aufrechtzuerhalten und durchzusetzen. Aus diesem Dilemma des mangelnden Konsenses und der unterschiedlichen Wahrnehmung von Vergangenheit und Gegenwart wurde bisweilen die Schlussfolgerung gezogen, dass man in einem „geschichtslosen Land“ lebe und es eines homogenen Geschichtsbildes bedürfe, um den sozialen Zusammenhalt weiterhin zu bewahren, damit der „Kampf der Generationen“ nicht eskaliere.37 Für die gesellschaftliche „Wiederentdeckung der Geschichte landauf, landab“ bot der Historiker Michael Stürmer zwei komplementäre Deutungen an: zum einen Orientierungsverlust, zum anderen Identitätssuche. Als Konsequenz dieser Zeitstimmung für die Politik schlussfolgerte er, „dass in geschichtslosem Land die Zukunft gewinnt, wer die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet“. Aus diesem Diktum leitete Stürmer die „Suche nach der verlorenen Geschichte“ als Kernaufgabe der Politik ab, da – nur durch die Hochschätzung von Geschichte – die „innere Kontinuität der deutschen Republik und ihre außenpolitische Berechenbarkeit“ erhalten bleibe, zumal sich bereits zeige, dass „jede der in Deutschland lebenden Generationen unterschiedliche, ja gegensätzliche Bilder von Vergangenheit und Zukunft mit sich“ trage. Er warnte davor, dass „in einem Land ohne Erinnerung alles möglich“38 sei. Stürmer plädierte für eine historisch fundierte kollektive Identität als Garant für politische Stabilität und sah im Verlust von Geschichte bzw. im Verzicht auf Erinnerung eine Gefahr für Gegenwart und Zukunft. Eine solche Gefahr bestünde im Stürmerschen Sinne jedoch auch, wenn „das Falsche“ erinnert würde. Deshalb entspann sich ab den 1980er Jahren eine kontroverse Debatte darüber, welche historischen Inhalte als Tradition die Basis für Gegenwart und Zukunft bilden können. Dass dies nicht nur eine Aufgabe von Politikern oder Historikern, sondern eine gesamtgesellschaftliche war, wird an Ausmaß und Intensität der Debatte um die Errichtung ← 25 | 26 → von Deserteur-Denkmälern deutlich, die als pars pro toto für die Deutung der gesamten jüngeren, vor allem militärischen, Vergangenheit geführt wurde.

1.3 Operationalisierung der Fragestellung und Gliederung der Arbeit

Um die oben genannten, zentralen Fragen meiner Untersuchung zu beantworten und die Hypothesen zu verifizieren bzw. zu falsifizieren oder ggf. zu spezifizieren, sollen die vier Bereiche Akteure, Kontexte, Phasen und Medien genauer betrachtet werden, die Edgar Wolfrum für die Untersuchung von Geschichts- bzw. Erinnerungskultur empfiehlt.39

Bei den Akteuren geht es vor allem darum, herauszufinden, welche Personen, Gruppen, Institutionen oder Organisationen – evtl. im Bewusstsein oder mit dem Anspruch, als generationeller Akteur (ggf. gegen andere Generationen) aufzutreten und zu handeln – diesen Wandel getragen haben bzw. noch immer tragen, welche historischen Bestandteile für sie zentral, welche marginal sind, welche Motive sie dafür hatten bzw. haben – sei es wissenschaftliches Ethos, geschichtspolitische Lobbyarbeit, Emanzipation, demokratische Selbstbestimmung, politische Teilhabe oder Kritik am politischen System. Ferner ist relevant, welche Ziele sie vertreten, welche Adressaten sie ansprechen wollen und welche Taktiken und Strategien sie anwenden, um für ihre Positionen zu werben. Außerdem geht es auch um die Beurteilung ihres Erfolges, nämlich ob sie die Öffentlichkeit und politische Entscheidungsträger in ihrem Sinne beeinflussen konnten, so dass tatsächlich ein Wandel eingetreten ist. Daran schließt sich an, ob es regionale, nationale oder internationale Austauschprozesse mit gleichgesinnten Partnern gegeben hat bzw. gibt und, wenn ja, welche Wechselwirkungen bis hin zum „Export“ neuer Sichtweisen diese gehabt haben bzw. haben.

Bei den Kontexten stellt sich vor allem die Frage nach den politischen, rechtlichen und sozialen Rahmenbedingungen, nach der Wichtigkeit von Ideologien, dem Stellenwert von Kirche und Religion40. Es ist von Bedeutung, welche Rolle die Politik bei der Frage nach der „richtigen“ Erinnerung spielt (z. B. ← 26 | 27 → Parlamentsdebatten und -entscheidungen), ob sie Erinnerung „verordnet“ und, wenn ja, wie sie dies tut und ob sie damit erfolgreich ist – d. h. ob also die offizielle Gedenkpolitik mit dem dazugehörigen Geschichtsbewusstsein der Gesamtbevölkerung bzw. einzelner Bevölkerungsgruppen kongruent ist – und ob demzufolge spezielle Erinnerungsorte bzw. „Denkmalslandschaften“ existieren. Ebenso relevant ist die Berücksichtigung der Frage nach der wissenschaftlichen Erforschung der Vergangenheit, ihrer Strukturierung, Institutionalisierung, Finanzierung und der Vermittlung ihrer historischen Erkenntnisse. Sollte eine Diskrepanz zwischen wissenschaftlichem Erkenntnisstand und öffentlicher Meinung bzw. den individuellen Erfahrungen und privaten Erinnerungen von Zeitgenossen zutage treten, muss diese Diskrepanz erklärt und erörtert werden, wie sie sich durch didaktische Vermittlung beseitigen lässt.

Bei einer zeitlichen Gliederung von Geschichts- und Erinnerungskultur in Phasen stellen sich die Fragen, ob Generationswechsel – z. B. in den Eliten von Politik, Justiz, Verwaltung und Forschung – die Aufarbeitung und kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit begünstigen, welche besonders erfolgreichen Überlieferungsformen und -strategien evtl. existieren. Ebenso ist zu fragen, auf welche Weise sowie unter welchen Bedingungen eine solche generationelle Tradition und Akkulturation problemlos gelingt bzw. wann nicht und ob es zu Transformationen kommt, weil tradierte Geschichtsbilder auf Widerstand und Ablehnung stoßen und bislang kritiklos hingenommene und unhinterfragte Gedenkrituale und Inszenierungen plötzlich auf Kritik stoßen und ihre Gültigkeit verlieren, weil auf einmal alternative, scheinbar „unzeitgemäße“ Deutungen angeboten werden, die sich etablieren können und welche die „Grundzüge“ der jeweils zeitgebundenen „dominanten Narrative“ ins Wanken bringen können, indem sie als „Gegenerzählungen“ dazu fungieren.41

Im Bereich Medien ist deren prinzipielle Bedeutung für das kollektive Gedächtnis aufgrund der Medialität bzw. der Notwendigkeit medialer Präsentabilität von Geschichtsvermittlung ebenso zu thematisieren wie die konkreten Maßnahmen, die angewandt werden, um Geschichtsbilder und Erinnerungen an nachfolgende Generationen zu tradieren, zu transportieren und dauerhaft zu speichern. Die Wahl des Mediums hat als äußere Form dabei durchaus Konsequenzen für die zu erinnernden Inhalte. Ist gar das Medium die (eigentliche) ← 27 | 28 → Botschaft?42 Ferner stellt sich die Frage, ob durch Medien eine Kommerzialisierung von Erinnerung stattfindet und, wenn ja, wem diese dient.

Zur Beantwortung der oben aufgeworfenen Fragen gliedert sich die Arbeit folgendermaßen: An die erforderlichen theoretisch-konzeptionellen Darlegungen zu den Begriffen Generation, Gedächtnis, Denkmal, Geschichts- und Erinnerungskultur sowie Erläuterungen zum methodischen Vorgehen der historischen Diskursanalyse schließt sich zunächst die Darstellung der sozialen Rahmenbedingungen und des historisch-politischen Kontextes der Bundesrepublik Deutschland in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren an.

Darauf folgt die Untersuchung der Denkmalskontroversen und -errichtungen in den beiden Städten Kassel und Göttingen,43 um zu zeigen, wie sich Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur im Laufe von Generationen und den damit einhergehenden Veränderungen der sozialen und historischen Rahmenbedingungen wandelten. Ich frage dabei jeweils ebenso nach den Akteuren, Phasen, Kontexten und Medien dieses Prozesses, in dem neue Bestandteile in das soziale bzw. kollektive Gedächtnis aufgenommen werden, welche die lokale Gedenkkultur verändern sollten, wie nach dem dabei zutage tretenden sozialen Konfliktpotential und den lokalen Konsequenzen. Die genannten Städte sind für einen Vergleich nicht nur besonders geeignet, weil beide Großstädte und Oberzentren sind, Universitäten haben und über eine kritische Öffentlichkeit verfügen, sondern auch aufgrund ihrer geographischen Lage. Sie sind für eine regionale Studie nahe genug gelegen, zugleich aber auch weit genug voneinander entfernt, um lokale Spezifika auszubilden. Darüber hinaus ist Kassel der Ursprung für die gesamte deutsche Diskussion, dort wurde im Jahr 1981 in einer Sitzung der Stadtverordnetenversammlung erstmals überhaupt über Deserteur-Denkmäler diskutiert, im Jahre 1987 wurde eine Gedenktafel realisiert. Auch in ← 28 | 29 → Göttingen begann die Diskussion bereits in den 1980er Jahren und mündete im Denkmal „Die Kirschen der Freiheit“, das im September 1990 eingeweiht wurde. Für Göttingen stellt sich daher besonders die Frage nach lokalen Austauschprozessen und der Rezeption des Kasseler Vorbildes. Beide Städte gehören zur ersten Dekade, sie sind in der Frühphase der Rehabilitation angesiedelt.

Aufbauend auf die beiden lokalen Beispiele in Kassel und Göttingen wird in einem weiteren Schritt die nationale Ebene in den Blick genommen. Die Diskussion über Deserteur-Denkmäler beschränkte sich nämlich nicht mehr nur auf einzelne Kommunen, sondern erfasste allmählich die gesamte Bundesrepublik. Denn im vorherrschenden geschichtspolitischen Diskussionsklima der damaligen Zeit, das andere Geschichtsbilder nicht anerkennen wollte und marginalisierte, entwickelte sich eine Auseinandersetzung um Anerkennung und Durchsetzung eben dieser anderen Geschichtsbilder. Exemplarisch dafür steht hier das Gedenken an die Deserteure des Zweiten Weltkrieges. Politisch, juristisch, wissenschaftlich und medial wurde die Frage nach der Rehabilitation von Deserteuren des Zweiten Weltkrieges überaus vehement und kontrovers erörtert. Hierbei zeigen sich die bereits erörterten generationellen Unterschiede deutlich daran, dass die Protagonisten im Diskurs die Elemente Lebensalter und Generationszugehörigkeit mit Nachdruck betonten. Die zu untersuchenden Parlamentsprotokolle, Gerichtsurteile und Zeitungsartikel etc. dokumentieren diese Debatte. Sie geben einen Einblick in die Argumentation und erlauben Rückschlüsse auf die Geschichtsbilder, Wertvorstellungen sowie Zukunftsvorstellungen der Diskutanten und den damit verbundenen gesellschaftlichen Meinungswandel. Ferner sind die gesellschaftlichen Bereiche Politik, Justiz, Wissenschaft und Medien von zentraler Bedeutung, sowohl als Handlungsfelder als auch als Akteure, die sich gegenseitig beeinflussen, da die in der jeweiligen Arena ausgetragenen Diskurse und getroffenen Entscheidungen Rückwirkungen auf die anderen Felder haben. Daran schließt sich ein Kapitel zum Wandel des Deserteur-Bildes in der Historiographie, speziell in der Widerstandsforschung, an. In einem abschließenden Kapitel werden die Ergebnisse der Arbeit und die daraus resultierenden Konsequenzen für die Vermittlung von Geschichte und die Analyse von Geschichtskultur erläutert.


1 Aicher, innenseiten des kriegs, S. 240. Aicher desertierte selbst aus der Wehrmacht und verarbeitete seine Erlebnisse und Erfahrungen in den „innenseiten des kriegs“ literarisch.

2 Flugblatt „Dem Deserteur ein Denkmal“ der Göttinger Gruppe kriegsdienstverweigernder Reservisten vom November 1987 (PAES, Kopie im Besitz des Verfassers).

3 Saskia Handro bietet eine geschichtsdidaktische Thematisierung des Generationenbegriffs. Sie prüft dessen Erklärungspotential im Hinblick auf Genese und Morphologie von Geschichtsbewusstsein und skizziert drei forschungspragmatische Ansatzpunkte, nämlich die Untersuchung der Unterrichtsfachgeschichte, die Erforschung der Lehrerschaft unter Beachtung generationeller Zusammenhänge sowie die Berücksichtigung von Generationengeschichte in Lehrplänen und Curricula. Handros konstruktive Vorschläge fokussieren allerdings auf das schulische „Standbein“ der Geschichtsdidaktik, das außerschulische, geschichtskulturelle „Spielbein“ wird in ihren Überlegungen nicht berücksichtigt (Handro, Geschichtsbewußtsein und Generation, S. 171–183).

4 Vgl. Hammer/Stein, Die Entschädigung von Opfern der NS-Militärjustiz in beiden deutschen Staaten, S. 114 und 129.

5 Herbst, NS-Deserteure in der DDR, S. 52.

6 Vgl. Hammer/Stein, Die Entschädigung von Opfern der NS-Militärjustiz in beiden deutschen Staaten, S. 114–119.

7 Anon., Skulptur für unbekannte Deserteure, S. 10.

8 Vgl. Hammer/Stein, Die Entschädigung von Opfern der NS-Militärjustiz in beiden deutschen Staaten, S. 119 und 125–130.

9 Vgl. hierzu die Bibliographie für Militärsoziologie, in der Desertion im Abschnitt „Abweichendes Verhalten im Militär“ zusammen mit Alkoholismus, Aggression, Drogenkonsum, Kriminalität, Selbstmord, Homosexualität und psychischen Erkrankungen aufgeführt wird (Klein/Kriesel/Lippert, Militär und Gesellschaft, S. 38–43).

10 Exemplarisch für diese Entwicklung sei hier auf den Sammelband von Bröckling/Sikora, Armeen und ihre Deserteure verwiesen.

11 Paul, „Deserteure – Wehrkraftzersetzer – Kapitulanten“, S. 173.

12 Ebd., S. 173.

13 Im Ersten Weltkrieg sprach die deutsche Militärjustiz insgesamt 18 Todesurteile wegen Desertion aus. Während des Zweiten Weltkrieges desertierten ca. 35.000 deutsche Soldaten, von denen etwa 20.000 von Militärgerichten zum Tode verurteilt wurden. Ungefähr 15.000 Todesurteile wurden vollstreckt. Die USA verurteilten im Zweiten Weltkrieg einen einzigen Soldaten wegen Desertion zum Tode, in Großbritannien gab es keine Todesurteile wegen Desertion (Paul, „Deserteure – Wehrkraftzersetzer – Kapitulanten“, S. 168–173).

14 Vgl. Schmid, Denkmäler als Zeugnisse der Geschichtskultur, S. 55. Als „Geburtsstunde“ gilt gemeinhin Thomas Nipperdeys Aufsatz aus dem Jahr 1968, der den Fokus auf die Nationaldenkmäler des 19. Jahrhunderts richtete (Nipperdey, Nationalidee und Nationaldenkmal, S. 529–585). Er betrachtete Denkmäler als „Symbole, in denen ein politischer, religiöser, kultureller historischer Bewußtseinszustand anschaulich geworden“ sei (ebd., S. 529), für ihn waren Denkmäler mithin „objektiv gewordene Äußerungen von Ideen“ (ebd., S. 530). Allerdings schränkte er dies dahingehend ein, dass erstens Denkmäler lediglich die Ansicht der Herrschenden zeigten und dass zweitens die Kunst über einen autonomen Charakter verfüge, so dass man sich davor hüten solle, Denkmäler „vorschnell mit den herrschenden Tendenzen des Nationalbewußtseins zu parallelisieren“ (ebd., S. 531). Dennoch sei es möglich, „zwischen den im Kunstwerk objektivierten Form- und Weltideen und den nationalen Ideen Entsprechungen aufzuweisen“ (ebd., S. 532), was er im Folgenden auch tat. „Ideen“ und „Denkmälern“ entsprechen in der Geschichtsdidaktik die Termini Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur. Ihr Verhältnis zueinander ist allerdings nicht unumstritten. Jörn Rüsen folgt der Nipperdeyschen These, dass Geschichtskultur die Artikulation des Geschichtsbewusstseins sei. Er spricht von Geschichtskultur als „praktisch wirksame[r] Artikulation von Geschichtsbewußtsein im Leben einer Gesellschaft“ (Rüsen, Was ist Geschichtskultur?, S. 5); Geschichtskultur sei „durch das Geschichtsbewußtsein geleistete historische Erinnerung“ (ebd., S. 11). Holger Thünemann negiert eine solch schlichte Gleichsetzung (Thünemann, Holocaust-Rezeption und Geschichtskultur, S. 20–22). Zudem ist Thünemanns Konzept von Geschichtskultur weniger auf bewusste Intentionalität fokussiert; Geschichtskultur erscheint bei ihm nicht zwangsläufig als rationale Ausdrucksform von Geschichtsbewusstsein bzw. als dessen unveränderte Umsetzung, emotional-ästhetische Aspekte kommen darin ebenso zur Geltung wie ungeplante Verschiebungen im Laufe des Realisierungsprozesses. Es umfasst daher „sowohl zufällige und ungewollte Repräsentationen […] als auch bewusste Rekonstruktionen von Vergangenheit sowie intentionale Inszenierungen von Geschichte, die nicht unbedingt einem bestimmten Niveau, Tendenzen oder gar Hauptsträngen von Geschichtsbewusstsein im Leben einer Gesellschaft entsprechen müssen“ (ebd., S. 22).

15 So z. B. von Reinhart Koselleck, der sich auf Kriegerdenkmäler konzentrierte (Koselleck, Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen der Überlebenden, S. 255–276).

16 Müller, Ein Lob der Feigheit, S. 262–269 und Welch, Commemorating ‘Heroes of a Special Kind’, S. 370–401.

17 Von den zahlreichen Unterrichtsbeiträgen, Lexikon- und Handbuch-Artikeln zu (Krieger-)Denkmälern belegt dies am eindrucksvollsten Gerhard Schneiders Eintrag über „Kriegerdenkmäler als Unterrichtsquellen“ im Handbuch „Medien im Geschichtsunterricht“, der im Original 1985 erschienen ist und noch 2011 in der mittlerweile sechsten Auflage des Handbuchs textlich nahezu unverändert abgedruckt ist, sofern man von einem vorangestellten Forschungsüberblick, einer aktualisierten Bibliographie, einigen hinzugefügten bzw. geänderten Abbildungen sowie dem Wechsel des Verlags absieht (Schneider, Kriegerdenkmäler als Unterrichtsquellen, S. 557–610).

Details

Seiten
706
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783631719725
ISBN (ePUB)
9783631719732
ISBN (MOBI)
9783631719749
ISBN (Hardcover)
9783631719718
DOI
10.3726/b10933
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Juli)
Schlagworte
Deserteur Rehabilitierung von NS-Opfern Generation Kollektives Gedächtnis Diskursanalyse Friedensbewegung
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2017. 706 S., 24 s/w Abb., 11 farb. Abb.

Biographische Angaben

Marco Dräger (Autor:in)

Marco Dräger studierte an der Georg-August-Universität Göttingen Geschichte und Latein und lehrte dort vor seiner Promotion als wissenschaftlicher Mitarbeiter Geschichtsdidaktik.

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Titel: Deserteur-Denkmäler in der Geschichtskultur der Bundesrepublik Deutschland
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