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Zu den Entscheidungsnormen bei Aussage gegen Aussage

von Eliane Haustein (Autor:in)
©2017 Dissertation 260 Seiten

Zusammenfassung

Der rechtsgenügende Beweis wirft seit jeher eine zentrale Frage im Strafverfahren auf: Unter welchen Bedingungen ist der Beweis der schuldhaften Tatbegehung als erbracht anzusehen? Die Autorin widmet sich diesem Thema, indem sie am Beispiel der Aussage-gegen-Aussage-Fälle Entscheidungsnormen entwickelt und diese zur Diskussion stellt. Sie berücksichtigt aussagepsychologische Grundsätze und lehnt Sachverständigengutachten als alleinige Grundlage für Entscheidungsnormen ab. Anhand der «Corroboration»-Regel des schottischen und U.S.-amerikanischen Strafverfahrensrechts untersucht sie, ob eine Verurteilung das Vorliegen mindestens eines zusätzlichen bestätigenden Beweismittels erfordert oder bereits in einer glaubhaften Zeugenaussage eine tragfähige Verurteilungsgrundlage zu sehen ist.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • A. Einführung
  • I. Die Bedeutung des rechtsgenügenden Beweises im Strafverfahren
  • II. Regeln über den rechtsgenügenden Beweis als Alternative zum traditionellen Konzept
  • III. Die Sonderstellung der Aussage gegen Aussage-Fälle
  • IV. Methoden zur Entwicklung von Regeln über den rechtsgenügenden Beweis und Gang der Untersuchung
  • B. Erster Teil: Notwendigkeit intersubjektiv begründeter Regeln über den rechtsgenügenden Beweis
  • I. Historischer Hintergrund
  • 1. Die Constitutio Criminalis Carolina
  • a) Die Entstehungsgeschichte
  • b) Das Beweisrecht
  • c) Die Bedeutung
  • 2. Die Entstehung des Grundsatzes der freien richterlichen Beweiswürdigung
  • a) Humanisierungstendenzen in der Aufklärung
  • b) Entstehung der freien richterlichen Beweiswürdigung in Frankreich
  • c) Die Rechtslage in Deutschland: Theorienstreit
  • d) Fazit
  • 3. Das Verständnis des § 261 StPO in der Rechtsprechung des Reichsgerichts
  • II. Das Verständnis des § 261 StPO in der aktuellen Rechtsprechung und Lehre
  • 1. Anforderungen an den rechtsgenügenden Beweis
  • 2. Beweismaßtheorien
  • a) Subjektive Theorie
  • aa) Die subjektive Theorie in Rechtsprechung und Literatur
  • bb) Kritik an der subjektiven Theorie
  • b) Objektive Wahrscheinlichkeitstheorie
  • c) Kombinationstheorie
  • aa) Grundlagen
  • bb) Subjektive Überzeugung
  • cc) Objektive Grundlage
  • dd) Kritik an der Kombinationstheorie
  • 3. Elemente und Grenzen der freien Beweiswürdigung nach der h.M.
  • a) Elemente
  • b) Grenzen der freien Beweiswürdigung
  • aa) Verfassungsrechtliche und einfachgesetzliche Grenzen
  • bb) Grundsätze der Rechtsprechung
  • cc) Revisionsrechtliche Kontrolle
  • 4. Fazit zur aktuellen Rechtsprechung und Literatur betreffend § 261 StPO
  • III. Notwendigkeit von Regeln über den rechtsgenügenden Beweis
  • 1. Optimale Richtigkeitsgewähr als Ziel des Strafverfahrens
  • 2. Notwendigkeit der Legitimation von Fehlverurteilungsrisiken
  • 3. Regeln über den rechtsgenügenden Beweis als Mittel zur Legitimation von Fehlverurteilungsrisiken
  • a) Legitimation von Fehlverurteilungsrisiken durch rechtliche Regeln
  • b) Die im Strafverfahren relevanten Normen
  • aa) Erfordernis der Verfolgung eines legitimen (Rechtsgüterschutz-)Zwecks als Ausgangspunkt
  • bb) Unterschiedlicher Rechtsgüterschutz durch Verhaltens- und Sanktionsnormen
  • cc) Rechtsnatur der Entscheidungsnormen
  • dd) Strukturgleichheit von Verhaltens- und Entscheidungsnormen
  • c) Vorteile der Entwicklung von Entscheidungsnormen
  • d) Maßgebliche Perspektive bei der Entwicklung von Entscheidungsnormen
  • e) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Leitlinie für die Entwicklung von Entscheidungsnormen
  • aa) Legitimer Zweck
  • bb) Geeignetheit zur Zweckerreichung
  • cc) Erforderlichkeit für die Zweckerreichung
  • dd) Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne)
  • (1) Erfordernis der Güter- und Interessenabwägung
  • (2) Diskursive Elemente des Strafverfahrens
  • f) Verhältnis zum Prinzip der freien Beweiswürdigung – Ausblick auf das „Common Law“
  • C. Zweiter Teil: Die Verfahrenssituation „Aussage gegen Aussage“
  • I. Begriffsbestimmung
  • 1. Der Angeklagte bestreitet den Tatvorwurf
  • 2. Der Angeklagte lässt sich nicht oder nur durch seinen Verteidiger ein
  • 3. Es sind mehrere Zeugen aus „demselben Lager“ vorhanden
  • 4. Es sind weitere (unmittelbar tatbezogene) Indizien vorhanden
  • 5. Definition
  • II. Die Würdigung von Zeugenaussagen
  • 1. Allgemeines zur Glaubwürdigkeit von Zeugen
  • a) Bedeutung der Glaubwürdigkeit für den rechtsgenügenden Beweis
  • b) Unterscheidung zwischen Glaubwürdigkeit und Glaubhaftigkeit
  • c) Glaubhaftigkeitsprüfung als „ureigene Aufgabe des Tatrichters“
  • d) Kriterien für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit nach der Rechtsprechung
  • 2. Mögliche Fehlerquellen auf Seiten des Zeugen
  • 3. Mögliche Fehlerquellen bei der Würdigung durch die vernehmende Person
  • 4. Wechselseitige Beeinflussungen
  • III. Die Bedeutung der Einlassung des Angeklagten im Strafverfahren
  • IV. Der Umgang der Rechtsprechung mit den Aussage gegen Aussage-Fällen
  • 1. Erfordernis der „besonders sorgfältigen Glaubwürdigkeitsprüfung“
  • a) Anforderungen der Rechtsprechung
  • b) Analyse der Kriterien im Einzelnen
  • aa) „Sorgfältige Gesamtwürdigung aller relevanten Umstände“
  • bb) Besondere Anforderungen an die Aufklärungspflicht
  • cc) Darstellungs- und Begründungspflicht
  • dd) Konsequenzen für den rechtsgenügenden Beweis
  • 2. Umgang mit besonderen Fällen
  • a) Der „kranke Zeuge“
  • aa) Fallgruppen
  • bb) Erfordernis der „Außenkriterien von besonderem Gewicht“
  • (1) Vorgaben der Rechtsprechung
  • (2) Sonderfall: Aussagepsychologisches Gutachten
  • (3) Vorteile der Berücksichtigung weiterer objektiver Umstände neben der Zeugenaussage
  • b) Aussage eines Mitangeklagten oder tatbeteiligten Belastungszeugen
  • c) Wiedererkennung des Angeklagten durch den Zeugen
  • 3. Rechtsnatur der revisionsrechtlichen Vorgaben
  • 4. Zwischenergebnis
  • D. Dritter Teil: Analyse möglicher Regeln über den rechtsgenügenden Beweis in den Aussage gegen Aussage-Fällen
  • I. Leitlinien für die Analyse möglicher Regeln
  • 1. Berücksichtigung der Besonderheiten der Verfahrenssituation
  • 2. Unterscheidung formaler Voraussetzungen und Regeln über den rechtsgenügenden Beweis
  • II. Aussagepsychologische Begutachtung durch einen Sachverständigen
  • 1. Voraussetzungen für die Einholung eines Sachverständigengutachtens
  • 2. Methoden der Begutachtung
  • 3. Probleme im Zusammenhang mit der aussagepsychologischen Begutachtung
  • a) Allgemeine Fehlerquellen
  • b) Besonderheiten der Aussage gegen Aussage-Situation
  • c) Diskussionswürdige Lösungsansätze
  • aa) Zurückdrängung des Sachverständigen aus dem Strafverfahren?
  • bb) Integration der Aussagepsychologie in die juristische Ausbildung
  • cc) Formale Erweiterungen bei der Einholung der Gutachten
  • dd) Formale Einschränkungen bei der Einholung der Gutachten
  • (1) Vorherige Bekanntgabe der Person des Gutachters
  • (2) Änderung der Nr. 70 Abs. 3 RiStBV
  • (3) Anonymisierung der Gutachten
  • (4) Einigung bei Gutachten mit unterschiedlichen Ergebnissen
  • (5) Einschränkung des Akteneinsichtsrechts des Zeugen
  • ee) Mehrfachbegutachtung
  • ff) Zwischenergebnis
  • 4. Eignung aussagepsychologischer Gutachten als Kriterium einer Regel über den rechtsgenügenden Beweis
  • a) Obligatorische Begutachtung in der Aussage gegen Aussage-Situation
  • aa) Gutachten als Mittel zur Akzeptanz des Urteils
  • bb) Gutachten als Mittel zur Erkennung psychischer Krankheiten
  • b) Verbindlichkeit von Gutachten als Element einer Regel über den rechtsgenügenden Beweis
  • c) Freiwillige Glaubhaftigkeitsbegutachtung
  • aa) Ermöglichung der Begutachtung des Angeklagten durch das Gericht
  • bb) Regeln über den rechtsgenügenden Beweis bei beiderseitiger Begutachtung
  • d) Fazit
  • III. Einsatz von Polygraphentests
  • 1. Die Funktionsweise von Polygraphentests
  • 2. Die Haltung der Rechtsprechung und Lehre zum Einsatz von Polygraphen
  • a) Normative Fragestellungen
  • b) Technische Zuverlässigkeit
  • aa) Der Kontrollfragentest
  • bb) Der Tatwissentest
  • 3. Problemstellungen im Zusammenhang mit der Entwicklung von Regeln über den rechtsgenügenden Beweis
  • a) Einsatz zur Entlastung des Angeklagten
  • aa) Rückgriff auf nicht sicher nachweisbare Wahrscheinlichkeitswerte
  • bb) Fehleranfälligkeit und mangelnde Überprüfungsmöglichkeit durch das Gericht
  • cc) Willkürliche Ergebnisse bei Kenntnis der Funktionsweise des Kontrollfragentests
  • b) Einsatz beim Zeugen
  • c) Fazit: Keine Eignung als Kriterium einer Regel über den rechtsgenügenden Beweis
  • 4. Alternative: Die Verwendung von hirnbildbasierten Detektionstechnologien
  • IV. Erfordernis mindestens eines weiteren Beweismittels
  • 1. Historische „Zwei-Zeugen-Regel“
  • a) Ursprünge der Regel
  • b) Regelungszweck
  • 2. Die „Corroboration“-Regel im „Common Law“
  • a) „Corroboration“ im schottischen Recht
  • aa) Allgemeines zum schottischen Strafverfahrensrecht
  • bb) Die Besonderheit des „Corroboration“-Grundsatzes
  • cc) Definition von „Corroboration“ im schottischen Recht
  • dd) Anwendungsbereich und Umfang von „Corroboration“
  • ee) Regelungszweck und Vorteile einer allgemein geltenden „Corroboration“-Regel
  • (1) Verringerung des Fehlverurteilungsrisikos
  • (2) Ausgleich eines Ungleichgewichts bei der Sachverhaltsermittlung
  • (3) Beruhigung der Verfahrensbeteiligten
  • (4) Ausgleich für das Fehlen von Sicherungsmechanismen gegen Fehlverurteilungen im schottischen Strafverfahrensrecht
  • (a) Fehlende Haftentschädigung
  • (b) Fehlende Verjährungsregeln und andere Strafverfolgungshindernisse
  • (c) Besetzung der Gerichte durch Laien-Richter und fehlende Begründungspflicht
  • (d) Fehlende Ermessensbegrenzung durch Regelungen wie die RiStBV
  • (e) Hohe Hürden für Rechtsmittel
  • (f) Veraltete Vernehmungsmethoden
  • (g) Zwischenfazit
  • ff) Reformvorhaben und Nachteile einer „Corroboration“-Regel
  • (1) Die „Carloway Review“
  • (2) Kritikpunkte
  • (a) Gefährdung Dritter durch die Inkaufnahme von fehlerhaften Freisprüchen
  • (b) Bloß zahlenmäßige Gewichtung von Beweismitteln
  • (c) Notwendigkeit extensiver Auslegung der Regel
  • (d) Erschwernisse im Rahmen der Strafverfolgung
  • gg) Konsequenzen für das deutsche Strafverfahren
  • b) „Corroboration“ im US-amerikanischen Strafverfahrensrecht
  • aa) Allgemeines zum US-amerikanischen Strafverfahrensrecht
  • bb) Definition von „Corroboration“ im US-amerikanischen Recht
  • cc) Anwendungsbereiche von „Corroboration“
  • (1) Delikte, die weitere Beweismittel erfordern können
  • (a) Hochverrat
  • (b) Meineid
  • (c) Vergewaltigung
  • (2) Prozesssituationen, die weitere Beweismittel erfordern können
  • (a) Mittäter
  • (aa) Ausprägungen und Begründung einer „Corroboration“-Regel in den USA
  • (bb) Diskussion um die Einführung einer solchen Regel im deutschen Recht
  • (cc) Stellungnahme
  • (b) Diskussion in der Literatur: Wiedererkennung durch Augenzeugen
  • (aa) Erfordernis weiterer Beweismittel für Delikte mit hoher abstrakter Strafandrohung?
  • (bb) Erfordernis weiterer Beweismittel für alle Delikte?
  • (cc) Möglicher Anwendungsbereich der Regel und formale Voraussetzungen für die Gegenüberstellung
  • (c) Geständnis
  • dd) Anforderungen an das bestätigende Beweismittel
  • ee) Alternative verfahrensrechtliche Lösungen
  • ff) Umsetzungsmöglichkeiten
  • gg) Konsequenzen für das deutsche Strafverfahren
  • V. Erfordernis eines Zeugen, bei dem keine besonderen Gründe vorliegen, an der Glaubhaftigkeit seiner Aussage zu zweifeln
  • 1. Die einzige Zeugenaussage als vollwertiges Beweismittel
  • 2. Korrektiv durch die Erfassung besonderer Umstände
  • 3. Fallgruppen
  • a) Der Angeklagte lässt sich zu den Tatvorwürfen ein
  • aa) Die Einlassung des Angeklagten kann widerlegt werden, die Zeugenaussage nicht
  • bb) Die Zeugenaussage kann widerlegt werden
  • cc) Weder die Zeugenaussage noch die Einlassung des Angeklagten kann eindeutig widerlegt werden
  • b) Der Angeklagte schweigt
  • c) Fallgruppen, die unabhängig vom Prozessverhalten des Angeklagten auftreten können
  • aa) Der Zeugenaussage soll nur in Teilen gefolgt werden
  • bb) Wiedererkennung durch Augenzeugen
  • cc) Eigeninteresse des Mitangeklagten oder tatbeteiligten Zeugen
  • d) Sonderfall des Strafunmündigen
  • 4. Bei der Beurteilung der Angaben nicht zu berücksichtigende Umstände
  • 5. Verhältnis des hier entwickelten Konzepts zum Ansatz der Rechtsprechung
  • VI. Konsequenzen für den Gesetzgeber
  • E. Zusammenfassung und Regelungsvorschläge
  • F. Literaturverzeichnis

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A. Einführung

I. Die Bedeutung des rechtsgenügenden Beweises im Strafverfahren

„Die Frage ist aber, ob sich die Strafprozeßordnung damit befassen sollte, die Kraft der Beweise, die Bedingungen, unter welchen eine Thatsache ein Richter als wahr anzunehmen befugt sein solle, durch spezielle Regeln genauer zu bestimmen.“1

So lautet eine zentrale Frage Friedrich Carl von Savignys, die dieser in seiner Abhandlung „Über Schwurgerichte und Beweistheorie im Strafprozesse“ von 1858 aufwarf. Es handelt sich dabei um eines der zentralen Themen des Strafprozesses: den rechtsgenügenden Beweis. Dieser wird in der Wissenschaft auch oftmals unter dem Namen des Beweismaßes diskutiert. Der vorliegenden Untersuchung soll indes der Begriff des rechtsgenügenden Beweises zugrunde gelegt werden, da er die wesentliche Fragestellung deutlicher zum Ausdruck bringt: In welchen Fällen genügen die vorliegenden Beweise den Anforderungen, die das Recht an eine Verurteilung stellt? Ist insoweit ein regelhafter Umgang möglich? Von Savigny griff das Thema allerdings nicht erstmalig auf. Die Anforderungen an eine zur Verurteilung genügende Beweislage waren bereits in der Frühen Neuzeit wegen des formellen Beweisrechts der Constitutio Criminalis Carolina (CCC) von Interesse. Von Savignys Abhandlung war vielmehr eine bedeutende Stellungnahme zu der im 19. Jahrhundert höchst umstrittenen eingangs zitierten Fragestellung. Damit war er Wegbereiter für die heute geltende Fassung des § 261 StPO. Die Frage nach dem rechtsgenügenden Beweis ist damit allerdings längst nicht beantwortet.

II. Regeln über den rechtsgenügenden Beweis als Alternative zum traditionellen Konzept

Das bisherige Konzept bezieht sich im Wesentlichen auf die Auslegung des § 261 StPO. Danach entscheidet das Gericht über das Ergebnis der Beweisaufnahme nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung. Damit wurde der Grundsatz der freien Beweiswürdigung normiert. Mehrheitlich setzt sich die Forschung damit auseinander, welcher Stellenwert der persönlichen Überzeugung zukommt und inwieweit diese durch eine objektive ← 17 | 18 → Beweisgrundlage ergänzt werden muss.2 Soweit hierzu Vorgaben entwickelt werden, handelt es sich dabei hauptsächlich um die Möglichkeit korrigierender Eingriffe, in denen das Revisionsgericht die Beweiswürdigung für fehlerhaft erklärt. Es werden jedoch in den meisten Fällen keine Entscheidungshilfen gegeben, wie das Gericht in bestimmten Fällen urteilen kann. Dadurch wird deutlich, dass die Auseinandersetzung mit dem rechtsgenügenden Beweis im Vergleich zum materiellen Strafrecht nur wenig Raum einnimmt.3

Diesem Defizit will die vorliegende Arbeit zumindest ansatzweise abhelfen, indem sie ein anderes Konzept für den rechtsgenügenden Beweis verfolgt. Der Verweis auf die Überzeugung des Gerichts birgt die Gefahr, dass die Entscheidung in bestimmten Fällen in die eine oder andere Richtung ausfallen kann. Letztlich könnte somit ein nicht unerheblicher Bereich des rechtsgenügenden Beweises regellos bleiben. Ein solcher regelloser Raum ist jedoch vor dem Hintergrund eines fairen, rechtsstaatlichen Verfahrens eine schwer hinnehmbare Situation. Es soll deshalb untersucht werden, ob es möglich ist, in diesen offenen Beweissituationen Entscheidungshilfen zu formulieren.

Eine Möglichkeit hierfür bietet die Einführung von Regeln über den rechtsgenügenden Beweis. In Rechtsprechung und Literatur wird insoweit häufig der Begriff der „Beweisregeln“ verwendet, dem jedoch unterschiedliche Bedeutungen beigemessen werden.4 Darunter werden oftmals ungenau Regeln zur Beweiserhebung sowie zum Beweismaß gleichermaßen erfasst.5 Mit den Regeln über den rechtsgenügenden Beweis sind im Folgenden nur diejenigen Vorgaben gemeint, die auch als Beweismaßregeln bezeichnet werden. Dies sind Normen darüber, wann ein Beweis durch mittelbare oder unmittelbare Tatsachenfeststellung als erbracht gilt.6 Der Begriff der „Beweisregeln“ wird daher nur dann eingesetzt, wenn er als Oberbegriff für Beweiserhebungsregeln und Regeln über den rechtsgenügenden Beweis gemeint ist. Entsprechend dem üblichen Sprachgebrauch sollen auch die aus der CCC bekannten Regeln hier als „Beweisregeln“ bezeichnet werden. Dies verfolgt auch den Zweck, eine Abgrenzung zwischen den hier zu entwickelnden Regeln und den „starren“ Beweisregeln der CCC zu unterstreichen. Da die Regeln über den rechtsgenügenden Beweis als Entscheidungsregeln ← 18 | 19 → für das Gericht dienen, können sie auch als Entscheidungsnormen bezeichnet werden.7

Historisch sieht die Strafprozessordnung eine Abkehr von starren Beweisregeln vor.8 Dabei werden freie Beweiswürdigung und Regeln über den rechtsgenügenden Beweis oftmals als Antagonisten aufgefasst.9 Bei der Entwicklung soll allerdings nicht pauschal auf starre Beweisregeln zurückgegriffen werden, wie sie etwa das Gemeine Deutsche Strafrecht kannte. Die Regeln müssen vielmehr anhand des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes für den jeweiligen Fall diskutiert werden. Im Folgenden soll dargelegt werden, dass sie nicht nur mit dem geltenden Verfassungsrecht kompatibel sind, sondern ein faires Strafverfahren solche sogar erfordert. Zur Herleitung existieren bereits einige wenige Untersuchungen in der Literatur, auf denen insoweit aufgebaut werden kann.10 Bei den meisten dieser Abhandlungen handelt es sich aber nur um grundlegende Erwägungen, die noch der Konkretisierung bedürfen.11

III. Die Sonderstellung der Aussage gegen Aussage-Fälle

Aufgrung ihrer Vielfalt ist es schlicht nicht möglich, sämtliche Beweiskonstellationen in dieser Arbeit zu untersuchen. Daher soll eine Fokussierung auf die Verfahrenssituation „Aussage gegen Aussage“ erfolgen. Es handelt sich um eine der prozessual anspruchsvollsten Konstellationen, da sie von nur einem einzigen Beweismittel, dem Zeugenbeweis, abhängt. Erschwerend kommt hinzu, dass dieser gemeinhin als das schlechteste Beweismittel verrufen ist. Gerade aufgrund der Defizite menschlicher Wahrnehmungs- und Erinnerungsfähigkeit haben sich Rechtsprechung und Literatur aber besonders intensiv mit dieser ← 19 | 20 → Prozesslage befasst. Insofern wird eine nähere Untersuchung der speziellen Problematik erleichtert.

Arbeiten, die sich mit der Aussage gegen Aussage-Konstellation im Zusammenhang mit § 261 StPO befassen, legen den Fokus vor allem auf Fragen der Beweiswürdigung. Die Ausführungen erschöpfen sich meist in Angaben dazu, welche Probleme sich bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Zeugenaussagen stellen. Mit der Akzentuierung auf den rechtsgenügenden Beweis verfolgt diese Arbeit aber einen anderen Ansatz. Genauso wie es rechtliche Regelungen dazu gibt, wann ein festgestellter – erwiesener – Sachverhalt die Voraussetzungen einer Straftat erfüllt, werden Regeln dafür benötigt, wann der Beweis als erbracht anzusehen ist. Die Aussage gegen Aussage-Fälle unterscheiden sich insoweit von anderen Prozesslagen, als die Rechtsprechung hierzu teils sehr konkrete Vorgaben für die Beweiswürdigung entwickelt hat. Über deren rechtliche Einordnung herrscht aber Unklarheit. Es wird mehrheitlich geleugnet, dass es sich dabei um Regeln über den rechtsgenügenden Beweis handele.12 Die vorliegende Untersuchung verfolgt damit auch das Ziel, die Rechtprechung daraufhin zu überprüfen, ob sie – ohne dies auszusprechen – Regeln über den rechtsgenügenden Beweis verwendet. Erweist sich dies als richtig, muss umso eher eine Auseinandersetzung mit vorhandenen Widersprüchen sowie einer dogmatischen Begründung der Vorgaben erfolgen.

IV. Methoden zur Entwicklung von Regeln über den rechtsgenügenden Beweis und Gang der Untersuchung

Im ersten Teil soll auf die Notwendigkeit von Regeln über den rechtsgenügenden Beweis unter Einbeziehung des historischen Hintergrunds sowie einer Analyse der Rechtsprechung eingegangen werden (B.). Die Darstellung erscheint vor dem Hintergrund unverzichtbar, als sie eine Abgrenzung zu den starren Beweisregeln der frühen Neuzeit ermöglicht. Dies hilft, den Charakter der Leitlinien herauszustellen. Im zweiten Teil soll die spezielle Verfahrenssituation „Aussage gegen Aussage“ untersucht werden (C.). Hierbei wird eine kritische Analyse der Rechtsprechung erforderlich sein. Da die Beurteilung des Zeugenbeweises hier einen breiten Stellenwert einnimmt, soll insbesondere auf aussagepsycholgische Grundsätze eingegangen werden. Im dritten Teil (D.) wird die Frage aufgeworfen werden, wie Regeln über den rechtsgenügenden Beweis in den Aussage gegen Aussage-Fällen entwickelt werden könnten. Dabei wird zunächst zu untersuchen ← 20 | 21 → sein, ob mit Mitteln der Psychologie – wie etwa Gutachten oder Polygraphentests – ein regelhafter Umgang mit den Aussage gegen Aussage-Fällen geschaffen werden könnte (D. II. und III.).

Neben diesem naturwissenschaftlich beeinflussten Ansatz soll auch eine Untersuchung anderer Rechtsordnungen alternative Herangehensweisen beleuchten (D. IV. 2.). Hierbei ist in erster Linie die schottische Rechtsordnung zu nennen. Sie sieht für das gesamte Strafverfahren vor, dass ein Beweismittel immer durch mindestens ein weiteres Beweismittel bestätigt werden muss (sogenannte „Corroboration“-Regel). Als gleichermaßen wertvoll können sich Untersuchungen des US-amerikanischen Rechts erweisen. Dort findet sich in einzelnen Rechtsordnungen in Bezug auf bestimmte Prozesssituationen oder Delikte das Erfordernis bestätigender Beweismittel. Der Analyse werden dabei Gesetzestexte, Rechtsprechung, Aufsätze sowie Monographien zugrunde gelegt, die größtenteils im Rahmen eines Aufenthalts an der Library of Congress in Washington, D.C. recherchiert wurden.

Alternativ zum generellen Erfordernis eines die belastende Zeugenaussage irgendwie bestätigenden Beweismittels soll im letzten Abschnitt die Frage aufgeworfen werden, ob der Zeugenbeweis regelmäßig eine Verurteilung tragen könnte, sofern nicht besondere Gründe dagegen sprechen. (D. V.). Dieser Teil erfordert eine dogmatische Herangehensweise, indem die Bedeutung des Zeugenbeweises innerhalb der StPO genauer beleuchtet werden muss.


1 Von Savigny, GA 6 (1858), 469, 481.

2 S. dazu näher unten B. II. 2.

3 MünchKomm.StGB/Freund, Vor §§ 13 ff. Rn. 402.

4 Vgl. ausführlich zur Verwendungsweise des Begriffs Meurer, FS Oehler, S. 357, 360 ff.

5 Die Notwendigkeit dieser Differenzierung stellt auch Meurer, FS Oehler, S. 357, 364 heraus.

6 Meurer, FS Oehler, S. 357, 363.

7 Diese Begrifflichkeit findet sich auch bei Freund, FS Meyer-Goßer, S. 409, 426; Stein, „Gewißheit“ und „Wahrscheinlichkeit“, S. 233, 244.

8 Eine Darstellung der historischen Entwicklung von Beweisregeln und Regeln über den rechtsgenügenden Beweis findet sich bei Sarstedt, FS Hirsch, S. 171 ff.; Meurer, FS Oehler, S. 357 ff.; vgl. zur aktuellen Rechtslage BGH Beschl. v. 19.8.1993 – 4 StR 627/92, NJW 1993, 3081, 3082: „An gesetzliche Beweisregeln ist er [der Richter, Vf.] nicht gebunden.“.

9 S. zum Verhältnis der beiden Ansätze zueinander näher unten B. III. 3. f).

10 Freund, Normative Probleme der „Tatsachenfeststellung“, S. 1 ff., ders., FS Meyer-Goßner, S. 409 ff., Sommer, FS Rieß, S. 585, 600; Stein, „Gewißheit“ und „Wahrscheinlichkeit“, S. 233 ff.

11 Eine Ausnahme stellt insoweit Freund, Normative Probleme der „Tatsachenfeststellung“, dar, der die Fragestellung in Bezug auf den subjektiven Tatbestand untersucht.

12 S. dazu näher unten C. III. 3.

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B. Erster Teil: Notwendigkeit intersubjektiv begründeter Regeln über den rechtsgenügenden Beweis

I. Historischer Hintergrund

Die freie Beweiswürdigung gilt im Allgemeinen als Reaktion auf die gesetzlichen Beweisregeln des Inquisitionsprozesses.13 Wenn es um die Einführung von Beweisregeln gleich welcher Art geht, wird in der Diskussion regelmäßig auf das Beweisrecht der Consitutio Criminalis Carolina von 1532 (CCC oder Carolina) hingewiesen. Bevor auf die Entwicklung solcher Regeln eingegangen werden kann, ist deshalb eine Einordnung in den historischen Kontext unerlässlich.

1. Die Constitutio Criminalis Carolina

a) Die Entstehungsgeschichte

Details

Seiten
260
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783631721315
ISBN (ePUB)
9783631721322
ISBN (MOBI)
9783631721339
ISBN (Paperback)
9783631721308
DOI
10.3726/b11043
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (April)
Schlagworte
Beweisregel Aussagepsychologie Corroboration Sachverständigengutachten Beweismaß Rechtsgenügender Beweis
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 260 S.

Biographische Angaben

Eliane Haustein (Autor:in)

Eliane Haustein studierte Rechtswissenschaften in Köln, Paris, Gießen und Marburg. Sie wurde am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie der Universität Marburg promoviert.

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