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Völlerei und Adelsnation in der englischen Literatur der Frühen Neuzeit

von Thomas Schneider (Autor:in)
©2017 Dissertation 536 Seiten

Zusammenfassung

Dieses Buch beleuchtet das Motiv der Völlerei in der englischen Literatur der Frühen Neuzeit. Der Autor untersucht, wie die klassische Todsünde zur Beschreibung des Eigenen und Fremden genutzt wird, um durch Selbstüberhöhung und Fremdabwertung die nationale Identität zu stärken. Sein Analysemodell vereint Erkenntnisse aus der Systemtheorie mit zentralen Befunden der Nationenforschung. Dadurch kann er die Komplexität der englischen Gesellschaft abbilden und verschiedene Arten von Identität und Alterität herausarbeiten. Das Buch wirft einen detaillierten Blick auf Eliten, soziale Restriktionen, den Kampf gegen das Fremde und das Erwachen einer jungen Nation.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung
  • 1.1 Aktueller Forschungsstand
  • 1.2 Theoretische Fundierung
  • 1.3 Untersuchungsmethodik
  • 1.4 Quellenlage und Datenauswahl
  • 1.5 Zielsetzung und Hypothese
  • 2. Konzeptionalisierungen der Völlerei: Ein historischer Überblick
  • 2.1 Das Konzept der Sieben Todsünden
  • 2.1.1 Die anachoretische Achtlasterlehre als Ursprung der Sieben Todsünden
  • 2.1.2 Die Adaption der Achtlasterlehre im frühmittelalterlichen Christentum
  • 2.1.3 Die Systematisierung der Lasterkataloge in der hochmittelalterlichen Scholastik
  • 2.1.4 Die Sieben Todsünden als populärtheologisches Konzept im Spätmittelalter
  • 2.1.5 Die Marginalisierung der Sieben Todsünden in der Frühen Neuzeit
  • 2.2 Die Todsünde der Völlerei
  • 2.2.1 Die Völlerei als dämonischer Störfaktor im anachoretischen Mönchtum
  • 2.2.2 Die Völlerei als Ausdruck persönlicher Schwäche im frühchristlichen Denken
  • 2.2.3 Die Völlerei als religiöse Verfehlung in der mittelalterlichen Moraltheologie
  • 2.2.4 Die Völlerei als soziale Belastung für die mittelalterliche Gesellschaftsordnung
  • 2.2.5 Zur Entwicklung der Völlerei in der Frühen Neuzeit
  • 3. Theoretische Grundlagen
  • 3.1 Soziologischer Ausgangspunkt: Das Eigene und das Fremde
  • 3.1.1 Konstruktivistische Perspektive: Das Eigene und Fremde als Konstruktion
  • 3.1.2 Machtsoziologische Perspektive: Das Eigene und Fremde als Machtparameter
  • 3.1.3 Systemtheoretische Perspektive: Das Eigene und Fremde im historischen Wandel
  • 3.1.3.1 Zum systemtheoretischen Konzept gesellschaftlicher Differenzierungsformen
  • 3.1.3.2 Differenzierungsformen als Mittel der historischen Fremdheitsbeschreibung
  • 3.1.3.3 Das Eigene und Fremde in der Frühen Neuzeit
  • 3.2 Geschichtswissenschaftlicher Ausgangspunkt: Nationale Identitätsbildung
  • 3.2.1 Zum Begriff des Nationalen in der Frühen Neuzeit
  • 3.2.2 Englands nationale Ausrichtung in der Frühen Neuzeit
  • 4. Analyse: Völlerei und Adelsnation
  • 4.1 Der literarische Blick auf das Eigene
  • 4.1.1 Stratifikatorische Konturierung
  • 4.1.1.1 Völlerei und Hofkritik: Die Grenzen der höfischen Ernährungskultur
  • 4.1.1.2 Völlerei und Standesbewusstsein: Das Vertrauen in die adlige Selbstbeherrschung
  • 4.1.1.3 Völlerei und Herrschergier: Der Weg zur staatspolitischen Krise
  • 4.1.1.4 Völlerei und Prinzenerziehung: Der Weg zur staatspolitischen Perfektionierung
  • 4.1.1.5 Völlerei und Genuss: Der Traum vom sinnlichen Naturerlebnis
  • 4.1.2 Segmentäre Konturierung
  • 4.1.2.1 Völlerei und Heimatgefühl: Der Traum vom adligen Landleben
  • 4.1.2.2 Völlerei und Gemeinwesen: Die Angst vorm sozialen Niedergang
  • 4.2 Der literarische Blick auf das Fremde
  • 4.2.1 Stratifikatorische Grenzziehung
  • 4.2.1.1 Völlerei und Mittelschicht: Das Problem des sozialen Aufsteigers
  • 4.2.1.2 Völlerei und Unterschicht: Das Problem der städtischen Verrohung
  • 4.2.2 Segmentäre Grenzziehung
  • 4.2.2.1 Völlerei und Religion: Das Problem der konfessionellen Devianz
  • 4.2.2.2 Völlerei und Politik: Das Schreckgespenst der spanischen Aggression
  • 5. Schlussbetrachtung
  • 6. Anhang
  • 6.1 Verzeichnis der nicht-fiktionalen Quellentexte
  • 6.1.1 Predigten
  • 6.1.2 Erbauungsliteratur
  • 6.1.3 pastorale Handbücher
  • 6.1.4 Ratgeberliteratur
  • 6.1.5 konfessionelle Schmähschriften
  • 6.1.6 medizinische Lehrbücher
  • 6.1.7 Emblemliteratur
  • 6.1.8 sozialkritische Texte
  • 6.1.9 Nachschlagewerke
  • 6.2 Verzeichnis der fiktionalen Quellentexte
  • 6.2.1 Drama
  • 6.2.2 Lyrik
  • 6.2.3 Prosa
  • 6.3 Verzeichnis der frühneuzeitlichen Urteile über Folgeerkrankungen der Völlerei
  • 6.3.1 Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems
  • 6.3.2 Erkrankungen des Verdauungs- und Urogenitalsystems
  • 6.3.3 Erkrankungen der Haut und des äußeren Erscheinungsbildes
  • 6.3.4 Erkrankungen des Nervensystems
  • 6.3.5 Erkrankungen des Atmungssystems
  • 6.3.6 Erkrankungen der Sinnesorgane
  • 6.3.7 Erkrankungen humoralpathologischer Natur
  • 6.3.8 Allgemeinsymptome und sonstige Erkrankungen
  • 7. Bibliographie
  • 7.1 Primärwerke
  • 7.2 Sekundärwerke
  • Reihenübersicht

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1.  Einleitung

Abstract: This chapter introduces the research topic, identifies the key points of concern and provides evidence for the significance of the study. It argues that literary depictions of gluttony in the early modern period promote the construction of national self-awareness and strengthen the position of the nobility.

Auf den ersten Blick mag es ungewöhnlich erscheinen, sich mit der Völlerei in der englischen Literatur der Frühen Neuzeit zu beschäftigen. Zwar ist übermäßiges Essen und Trinken in der damaligen Bevölkerung weit verbreitet, doch wird das Phänomen von den meisten Autoren nur als marginales Sujet behandelt. Dies kann man gerade an den Klassikern der Renaissanceliteratur sehr gut ablesen. Denn häufig bleibt in den großen Rachetragödien, Schäferromanzen und Liebesgedichten nur wenig Raum für die „banalen“ Belange der zeitgenössischen Ernährungskultur. Entsprechend leichtfertig lässt sich auch der Fehlschluss ziehen, dass die Völlerei zu Beginn des 16. Jahrhunderts aus dem Bewusstsein der Menschen verschwunden sei. Oder mit den voreiligen Worten von Morton Bloomfield: „The tradition of the Sins was dead; they no longer evolved; they no longer inspired great writing.“1

Betrachtet man jedoch die vielen Bezüge zur Maßlosigkeit im prosaischen Schrifttum und die Freude am Umgang mit korpulenten Figuren in der Lyrik und auf der Theaterbühne, offenbart sich ein völlig anderes Bild: Dann erweist sich die Völlerei als ein fester Bestandteil im religiösen Kanon des Alltagswissens. Selbst wenn es sich dabei in vielen Fällen nur um randständige Bemerkungen handelt, kann man dennoch von einer Manifestation der frühneuzeitlichen Weltdeutung sprechen.

Die literarische Umsetzung der Völlerei weist dabei eine Besonderheit auf, die von weitreichender Bedeutung für die englische Gesellschaft ist. So sind die entsprechenden Texte in einen übergeordneten Diskurs des Eigenen und Fremden eingebettet, der zwischen einer selbstkritischen Auseinandersetzung mit dem Thema im eigenen Land und einer polemischen Anprangerung von Völlerei bei Fremden oszilliert. Folglich stellt die Völlerei-Literatur in der Frühen Neuzeit nicht nur eine Form der moralischen Maßregelung dar, sondern trägt letztlich auch zum Prozess der nationalen Identitätsbildung bei. Die gesellschaftlichen Implikationen ← 13 | 14 → dieser Verknüpfung aus Völlerei, Literatur und dem Themenkomplex des Eigenen und Fremden sind wissenschaftlich bisher nicht untersucht worden. Das ist erstaunlich, weil gerade der Prozess der nationalen Identitätsbildung in der Frühen Neuzeit entscheidende Impulse erhält.2 Folglich ist es angezeigt, dieses Thema im Hinblick auf seine sozialhistorische Relevanz zu analysieren, wobei eine theoretische Basis zugrunde gelegt werden muss, die sowohl den literarischen als auch den soziologischen Implikationen des Themas gerecht wird.

1.1  Aktueller Forschungsstand

Abstract: This chapter focuses on the background literature related to the research problem. It evaluates the existing findings on gluttony from the fields of cultural studies, social history, theology, and literary criticism. And it discusses the lack of investigation on the topic, thus providing the rationale for the following argument.

Wie Laszlo Vaskovics betont, ist bei der Beurteilung der Völlerei „zwischen der Sache selbst (also dem alltäglichen Verhalten), seiner begrifflichen Bezeichnung und seiner gesellschaftlichen Wertung und Normierung“3 zu unterscheiden. Diese Differenzierung des Untersuchungsgegenstands lässt sich auch in der wissenschaftlichen Fachliteratur beobachten, die sozialhistorische, theologische und kulturwissenschaftliche Ausprägungen aufweist und darin den Dreiklang aus Sachbezug, Begriffsdeutung und Gesellschaftsanalyse widerspiegelt.

Die erste Gruppe der sozialhistorischen Studien bemüht sich um eine historische Aufarbeitung des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Ernährungsverhaltens.4 Das Phänomen der Völlerei wird bei diesen Studien auf zweifache Weise erklärt: Im Umfeld der Unterschicht hält man übermäßiges Essen aufgrund von landwirtschaftlichen Abhängigkeiten für eine jahreszeitliche Besonderheit, ← 14 | 15 → die nach erfolgreichen Ernten zutage tritt und zu Phasen der ritualisierten Maßlosigkeit führt.5 Bei der Oberschicht betrachtet man übermäßiges Essen als eine sozialverbindliche Verhaltensnorm, die in üppigen Feiern ihren Ausdruck findet und der Zurschaustellung des eigenen Wohlstands dient.6

Die zweite Gruppe der theologischen Studien bemüht sich hingegen um eine historische Deutung der Todsünde sowie deren Einordnung in die katholische Moraltheologie, wobei mittelalterliche Schriften wichtiger Kleriker wie Johannes Cassian, Gregor der Große oder Thomas von Aquin besondere Aufmerksamkeit erhalten.7 Die Völlerei gilt in diesem Kontext als willentliche Abwendung von Gott durch Fokussierung auf ein übersteigertes individuelles Genuss-Streben.8 Diese theologischen Analysen des Sündenkatalogs markieren den Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Lasterlehre, die im 19. Jahrhundert beginnt und bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts die Forschungslandschaft dominiert. Erst danach öffnet sich die Wissenschaft neuen Gegenstandsbereichen9 und wendet sich vermehrt den gesellschaftlichen Dimensionen der Todsünde zu.10 ← 15 | 16 →

Das Interesse dieser dritten Gruppe der kulturwissenschaftlichen Studien gilt der anthropologischen Analyse der Laster, die anhand von literarischen und theologischen Texten auf ihre Funktionalität hin untersucht werden.11 Der Predigtgegenstand der Völlerei wird vor diesem Hintergrund als ein stabilisierendes Instrument verstanden, das einerseits einen maßvollen Umgang mit knappen Nahrungsmitteln ermöglicht, andererseits die Wertvorstellungen der katholischen Kirche ideologisch bestätigt.12

Wenngleich die Erforschung der Völlerei im mittelalterlichen Kontext weit vorangeschritten ist,13 fehlen entsprechende Studien für die Frühe Neuzeit fast vollständig. Die wenigen Arbeiten in diesem Bereich sind in der Regel literaturwissenschaftlich basiert und beschäftigen sich mit Erscheinungsformen der Völlerei in Einzeltexten prominenter Autoren wie Henry Medwall, Christopher Marlowe ← 16 | 17 → oder William Shakespeare.14 Eine übergreifende Analyse zur Entwicklung der Völlerei in der Frühen Neuzeit gibt es hingegen nicht.15 Auch die wenigen Studien, die den Wandlungsprozess der Völlerei vom Mittelalter bis zur Neuzeit nachzeichnen und die These vertreten, dass sich die Völlerei von einer spirituellen zu einer normativen Sünde gewandelt habe, bieten keine tiefgehende Analyse der literarischen und theologischen Quellen zur Völlerei aus der Frühen Neuzeit.16

1.2  Theoretische Fundierung

Abstract: This chapter introduces the research paradigm and explains the assumptions of the study. It argues that literature is always embedded in a social and historical construction process. It appraises the importance of interpretive methods for decoding cultural artefacts. And it offers an anthropological approach to examine the functions of gluttony.

Die vorliegende Arbeit ist als literaturanthropologische Studie konzipiert, deren Ausgangspunkt ein bewusst weit gefasstes Literaturverständnis darstellt. Demnach werden literarische Texte nicht als autonome und selbstreferenzielle Kunstwerke verstanden, die in „ästhetischer Distanz“17 zur alltäglichen Lebenswelt stehen und als Ausdruck eines individuellen Schöpfergeistes zu deuten sind. Vielmehr werden sie als fester Bestandteil des menschlichen Kulturschaffens gedeutet, das eng mit den historischen und kulturellen Bedingungen der jeweiligen Entstehungszeit ← 17 | 18 → verbunden ist. Die anthropologische Relevanz der Literatur offenbart sich dabei in ihrem poietischen Potenzial zur Erzeugung menschlicher Wirklichkeitskonstruktionen, die sich in Wertvorstellungen, Denkschemata und Deutungsmustern offenbaren.

Die Texte gelten vor diesem Hintergrund als symbolische Handlungsformen, deren primäre Funktion in der Erzeugung von Sinnsystemen begründet liegt.18 Dies geschieht auf zweifache Weise, nämlich erstens durch das Transportieren bereits bestehender Sinninhalte einer Gesellschaft und zweitens durch die Erzeugung neuartiger Sinnaspekte. Nach Clifford Geertz handelt es sich demnach um symbolische Darstellungsformen „of reality“, da sie Wirklichkeit repräsentieren, und „for reality“, da sie Wirklichkeit erzeugen.19 Einen wichtigen Aspekt dieses Ansatzes stellen die Wechselbeziehungen zwischen Text und Geschichte dar. Deren Verflechtungen gelten als ausschlaggebend für das Aufdecken der zeitgenössischen Bedeutungsmuster zur Völlerei in den entsprechenden Texten und werden folglich bei der Untersuchung durch eine Analyse intertextueller Bezüge berücksichtigt.20

Im Hinblick auf die theoretische Fundierung des Projektes ist es außerdem notwendig, zwischen dem anvisierten literaturanthropologischen Konzept und der sogenannten „Anthropologie der Literatur“ zu unterscheiden, die sich in den vergangenen Jahren als eigenständiger Ansatz entwickelt hat.21 Bei dieser Forschungsrichtung, die stärker auf empirisch arbeitende Disziplinen wie zum Beispiel die Evolutionsbiologie zurückgreift, steht die Untersuchung anthropologischer Universalien in der Literatur im Mittelpunkt. Das Interesse gilt dabei der Ergründung der pragmatischen Dimensionen von Literatur. Entsprechend werden grundlegende Fragen nach der Notwendigkeit und Funktionalität von ← 18 | 19 → Literatur für den Menschen erörtert.22 Demgegenüber beschäftigt sich der hier vertretene Ansatz eher mit semantischen Dimensionen der kulturellen Konstruktion von Weltdeutungen und bemüht sich dabei um eine Analyse der „Weisen der Welterzeugung“23.

1.3  Untersuchungsmethodik

Abstract: This chapter introduces the research design and the implemented methodology. It proposes a social constructivist framework with a focus on critical readings. It argues for a broad analysis including fictional and non-fictional material. And it prefigures a methodological combination of textual and contextual aspects.

Methodisch lässt sich die Arbeit als qualitativ-hermeneutische Studie beschreiben, wobei hermeneutisch in diesem Zusammenhang ein verstehendes Auslegen und Deuten der inhärenten Sinnstrukturen des Untersuchungsgegenstands meint.24 Die Analyse erscheint dadurch als Verstehensprozess, dessen Aufgabe darin besteht, die semantischen Dimensionen der literarischen Konstruktionsprozesse aufzudecken und historisch zu verorten.

Wichtig ist dabei die Berücksichtigung inter- und kontextueller Bezüge durch einen methodischen Ansatz, der das klassische Oppositionsverhältnis aus realem und fiktivem Text auflöst, um eine gemeinsame Betrachtung von literarischen und nicht-literarischen Quellen zu ermöglichen.25 Nur auf diese Weise kann die Verwobenheit der einzelnen Texte erkannt und das Untersuchungsthema umfassend analysiert werden. Diese Herangehensweise impliziert zugleich, dass bei der Textanalyse nicht nur inhaltliche, sondern auch formale Aspekte betrachtet werden, sodass etwa gattungsspezifische Unterschiede erklärt werden können und das Untersuchungsergebnis nicht verfälscht wird. Für das analytische Vorgehen sind demnach die folgenden Fragen forschungsleitend: ← 19 | 20 →

  1. Wie wird das Thema Völlerei thematisch aufbereitet? (inhaltliche Perspektive)
  2. Wie wird das Thema Völlerei gattungsspezifisch umgesetzt? (formale Perspektive)
  3. Welche ideengeschichtlichen Zusammenhänge gibt es? (kontextuelle Perspektive)
  4. Welche intertextuellen Verknüpfungen gibt es? (intertextuelle Perspektive)

1.4  Quellenlage und Datenauswahl

Abstract: This chapter presents the primary sources of the project consisting of 53 fictional and 71 non-fictional texts. It shows the wide range of materials used, including poems, plays, invectives, sermons, primers, satires, and commonplace books, samples of which will be chosen for closer reading in the following chapters.

Da die Arbeit einen transgenerischen Ansatz verfolgt, werden sowohl dramatische als auch lyrische und narrative Texte in den Untersuchungskorpus einbezogen. Die Zusammenstellung des Untersuchungsmaterials orientiert sich dabei an zwei Auswahlkriterien: Erstens werden gattungsübergreifend alle Texte aufgenommen, die sich unmittelbar mit dem Thema Völlerei beschäftigen. Hierunter fallen nicht nur realprosaische Schriften, die eine inhaltliche Erörterung der Sündenthematik darbieten, sondern auch literarische Texte, in denen die Völlerei zum Gegenstand der Betrachtung wird. Hierzu zählen insbesondere die frühneuzeitlichen morality plays, in denen eine allegorische Völlerei-Figur in Erscheinung tritt. Zweitens werden alle Texte aufgenommen, die sich direkt oder indirekt mit alimentärer Maßlosigkeit beschäftigen. Hierunter fallen auch jene literarischen Texte, in denen maßlose Figuren auftreten. Entsprechend dieser Kriterien umfasst der Gesamtkorpus 71 nicht-fiktionale26 und 53 fiktionale27 Texte aus dem Untersuchungszeitraum. Für die Analyse wird aus dieser Gesamtmenge eine exemplarische Auswahl getroffen, die für die Entwicklung der Völlerei in der Frühen Neuzeit signifikant ist. Die verbleibenden Texte werden allerdings nicht ausgeschlossen, sondern fungieren im Gesamtkorpus als Referenzpunkt, der bei der Einzelanalyse stets berücksichtigt wird, um eine ausgewogene Betrachtung zu gewährleisten.

Der zeitliche Rahmen der Studie erstreckt sich vom Beginn des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts und umfasst mit der Tudor- und Stuartzeit somit zwei Phasen der traditionellen geschichtswissenschaftlichen Epocheneinteilung. Der Untersuchungszeitraum wird dennoch als eine Epoche verstanden und begrifflich als Frühe ← 20 | 21 → Neuzeit gefasst, um einen „übergreifenden, wenn auch vielfach geschichteten und gebrochenen Entwicklungszusammenhang“28 zu umschreiben.

1.5  Zielsetzung und Hypothese

Abstract: This chapter summarises the purpose of the study and substantiates the main argument. It propounds that depictions of gluttony in the early modern period promote the rise of the English nationhood in two ways: First, they increase the national self-awareness of the nobility. Second, they foster the invention of national demarcation lines.

Im Rahmen der Analyse stehen die Verknüpfungen zwischen dem Völlerei-Diskurs und dem Themenkomplex des Eigenen und Fremden im Vordergrund. Dabei soll herausgearbeitet werden, auf welche Weise die Völlerei in der englischen Literatur eingesetzt wird, um Formen des Eigenen und Fremden zu inszenieren und dadurch die nationale Identitätsbildung zu fördern. Die Ausgangshypothese lässt sich in Anlehnung daran wie folgt formulieren:

Die literarische Repräsentanz der Völlerei stellt für die Gesellschaft der Frühen Neuzeit einen funktionalen Bezugspunkt dar, dessen Wirkungspotenzial in der sukzessiven Stärkung des englischen Nationalbewusstseins begründet liegt. Das Thema Völlerei wird literarisch im Kontext des Eigenen und Fremden verortet, was einerseits zur Aushandlung kollektiver Wertmaßstäbe anregt, andererseits durch Grenzziehungen nach innen und außen die Konsolidierung bestehender Herrschaftsstrukturen forciert und dadurch insgesamt zu innergesellschaftlichen Strukturierungsprozessen in der Frühen Neuzeit beiträgt.

Die nachfolgende Studie muss sich demzufolge mit vier Aspekten beschäftigen. Erstens gilt es, die Völlerei in ihren historischen und theologischen Dimensionen zu beleuchten, um den geistesgeschichtlichen Rahmen abzustecken, der für die Deutung des Themas erforderlich ist (Kapitel 2). Zweitens gilt es, sich mit den zentralen Positionen der Identitäts- und Alteritätsforschung vertraut zu machen, um die Begriffe des Eigenen und Fremden aus einer soziologischen Perspektive definieren zu können (Kapitel 3.1). Drittens gilt es, die geschichtswissenschaftliche Nationenforschung zu konsultieren, um die Entstehung des englischen Nationalbewusstseins im 16. Jahrhundert erklären zu können (Kapitel 3.2). Und viertens gilt es, die ausgewählten Texte aus dem Untersuchungskorpus einer literaturanthropologischen Analyse zu unterziehen, um den Beitrag der Völlerei zur Etablierung von Eigen- und Fremdkonstruktionen beurteilen zu können (Kapitel 4). ← 21 | 22 →


1 Bloomfield, Morton (1952): The Seven Deadly Sins. An Introduction to the History of a Religious Concept, with Special Reference to Medieval English Literature. East Lansing: Michigan State College Press, S. 243.

2 Vgl. Hahn, Alois (1997): „Identität, Nation und das Problem der Fremdheit in soziologischer Sicht.“ In: Fernuniversität Hagen (Hg.): Reader: Strukturen und theoretische Konzepte zum Kulturtourismus. Kultur – Tourismus – Management. Hagen: Fernuniversität/Gesamthochschule, S. 221–254.

3 Vaskovics, Laszlo (2007): „Beschädigung des Körpers. Völlerei und Unkeuschheit.“ In: Bellebaum, Alfred; Herbers, Detlef (Hg.): Die sieben Todsünden. Über Laster und Tugenden in der modernen Gesellschaft. Münster: Aschendorff Verlag, S. 87–103, S. 89.

4 Für allgemeine Studien zum europäischen Essverhalten, siehe Hirschfelder, Gunther (2001): Europäische Esskultur. Eine Geschichte der Ernährung von der Steinzeit bis heute. Frankfurt am Main: Campus Verlag; Montanari, Massimo (1993): Der Hunger und der Überfluß. Kulturgeschichte der Ernährung in Europa. München: Beck (Europa bauen); Mennell, Stephen (1988): Die Kultivierung des Appetits. Die Geschichte des Essens vom Mittelalter bis heute. Frankfurt am Main: Athenäum.

5 Vgl. Leimgruber, Walter (2005): „Zwischen Fasten und Völlerei. Essen und Trinken als Thema der Kulturwissenschaft.“ In: Muri, Gabriela; Renggli, Cornelia; Unterweger, Gisela (Hg.): Die Alltagsküche. Bausteine für alltägliche und festliche Essen. Zürich: Volkskundliches Seminar der Universität Zürich, S. 16–24, S. 17.

6 Vgl. Sim, Alison (1997): Food and Feast in Tudor England. Thrupp: Sutton Publishing, S. 3ff.

7 Siehe hierzu Wibbing, Siegfried (1959): Die Tugend- und Lasterkataloge im Neuen Testament und ihre Traditionsgeschichte unter besonderer Berücksichtigung der Qumran-Texte. Berlin: Töpelmann (Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche; 25); Okholm, Dennis (1998): „Gluttony. Thought for Food.“ In: The American Benedictine Review, Nr. 49.1, S. 33–59.

8 Vgl. Schallenberg, Peter (2007): „Die sieben Todsünden. Geistesgeschichtliche und moraltheologische Einordnung.“ In: Bellebaum, Alfred; Herbers, Detlef (Hg.): Die sieben Todsünden. Über Laster und Tugenden in der modernen Gesellschaft. Münster: Aschendorff Verlag, S. 21–28, S. 23f.

9 Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die literaturwissenschaftliche Monografie The Seven Deadly Sins von Morton Bloomfield, die nicht nur die Ursprünge des christlichen Völlerei-Konzeptes aufzeigt, sondern auch die von ihm untersuchten Texte an gesellschaftliche Entwicklungen anbindet. Siehe Bloomfield (1952). Vgl. außerdem Wenzel, Siegfried (1968): „The Seven Deadly Sins. Some Problems of Research.“ In: Speculum, Nr. 43.1, S. 1–22, S. 1.

10 Das theologische Interesse an der Völlerei verschwindet dadurch allerdings nicht komplett und findet auch heute noch in religiös geprägten Studien seinen Niederschlag. Siehe stellvertretend hierzu LaMothe, Ryan (2004): „A Ponderous and Ravenous Faith. Gluttony in Pastoral Counseling.“ In: American Journal of Pastoral Counseling, Nr. 7.3, S. 3–22.

11 Stellvertretend sei an dieser Stelle auf den Sammelband von Richard Newhauser verwiesen, in dem die Todsünden im Kontext des Social Constructionism analysiert werden. Siehe Newhauser, Richard (Hg.) (2007): The Seven Deadly Sins. From Communities to Individuals. Leiden: Brill (Studies in Medieval and Reformation Traditions. History, Culture, Religion, Ideas; 123), S. 2f.

12 Vgl. Hill, Susan (2007): „‘The Ooze of Gluttony.’ Attitudes towards Food, Eating, and Excess in the Middle Ages.“ In: Newhauser, Richard (Hg.): The Seven Deadly Sins. From Communities to Individuals. Leiden: Brill (Studies in Medieval and Reformation Traditions. History, Culture, Religion, Ideas; 123), S. 57ff. Siehe außerdem Vaskovics (2007): S. 87ff. Nicht selten werden in diesem Zusammenhang auch die machtsoziologischen Erwägungen des Völlerei-Diskurses kritisch beleuchtet. Siehe hierzu Schulze, Gerhard (2008): Die Sünde. Das schöne Leben und seine Feinde. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag; Klotter, Christoph (1994): „Mächtiges Fressen. Adipositas als historisches Dispositiv.“ In: Schuller, Alexander; Kleber, Jutta (Hg.): Verschlemmte Welt. Essen und Trinken historisch-anthropologisch. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Sammlung Vandenhoeck), S. 132–149.

13 Siehe hierzu Geith, Karl-Ernst (2003): „Die Sünde der Völlerei (gula) in deutschen Predigten des Mittelalters.“ In: Grewe-Volpp, Christa; Reinhart, Werner (Hg.): Erlesenes Essen. Literatur- und kulturwissenschaftliche Beiträge zu Hunger, Sattheit und Genuss. Tübingen: Gunter Narr Verlag (Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft; 55), S. 314–330; Kleber, Jutta Anna (1994): „Zucht und Ekstase. Maßregeln des klösterlichen Essens.“ In: Schuller, Alexander; Kleber, Jutta Anna (Hg.): Verschlemmte Welt. Essen und Trinken historisch-anthropologisch. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 235–253; Shaw, Teresa (1998): The Burden of the Flesh. Fasting and Sexuality in Early Christianity. Minneapolis: Fortress Press; Metteer, Charles (2000): „Between Gluttony and Rigorous Fasting.“ In: Sobornost, Nr. 22.1, S. 21–38.

14 Siehe McCutchan, J. Wilson (1949): „Similarities between Falstaff and Gluttony in Medwall’s Nature.“ In: Shakespeare Association Bulletin, Nr. 24, S. 214–219; Stock, Lorraine Kochanske (1982): „Medieval Gula in Marlowe’s Doctor Faustus.“ In: Bulletin of Research in the Humanities, Nr. 85.4, S. 372–385; Shirley, John (1938): „Falstaff, An Elizabethan Glutton.“ In: Philological Quarterly, Nr. 17.3, S. 271–287.

15 Nennenswert ist hier lediglich die literaturwissenschaftliche Studie von Elena Levy-Navarro, die eine thematisch verwandte Analyse von Texten aus der Frühen Neuzeit vornimmt, sich aber stärker auf den Aspekt der Fettleibigkeit bezieht und die Völlerei nur randständisch berührt. Siehe Levy-Navarro, Elena (2008): The Culture of Obesity in Early and Late Modernity. Body Image in Shakespeare, Jonson, Middleton, and Skelton. New York: Palgrave Macmillan.

16 Siehe Miller, William Ian (1999): „Gluttony.“ In: Solomon, Robert (Hg.): Wicked Pleasures. Meditations on the Seven “Deadly” Sins. Lanham: Rowman & Littlefield Publishers, S. 19–49; Prose, Francine (2003): Gluttony. The Seven Deadly Sins. New York: Oxford University Press (The New York Public Library); Haslam, David; Haslam, Fiona (2009): Fat, Gluttony and Sloth. Obesity in Medicine, Art and Literature. Liverpool: Liverpool University Press.

17 Riedel, Wolfgang (2004): „Literarische Anthropologie. Eine Unterscheidung.“ In: Braungart, Wolfgang; Ridder, Klaus; Apel, Friedmar (Hg.): Wahrnehmen und Handeln. Perspektiven einer Literaturanthropologie. Bielefeld: Aisthesis, S. 337–366, S. 351.

18 Die konzeptionelle Nähe des vorliegenden Literaturverständnisses zum interpretativen Zweig der Kulturanthropologie à la Clifford Geertz, der Sinnbildungsprozesse in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses stellt, ist hier deutlich erkennbar. Siehe Assmann, Aleida; Gaier, Ulrich; Trommsdorff, Gisela (Hg.) (2005): Zwischen Literatur und Anthropologie: Diskurse, Medien, Performanzen. Tübingen: Gunter Narr Verlag (Literatur und Anthropologie; 23), S. 32.

19 Vgl. Geertz, Clifford (1975): The Interpretation of Cultures. London: Hutchinson, S. 113f.

20 An diesem Punkt lässt sich die Nähe des Projektes zum New Historicism erkennen, der ebenfalls eine Verflechtung von historischen und literarischen Texten betont und darin Formen der Welterzeugung analysiert. Zum Zusammenhang von Literaturanthropologie und New Historicism, siehe stellvertretend Riedel (2004): S. 343f.

21 Vgl. Zymner, Rüdiger; Engel, Manfred (2004): „Nichtkunst und Dichtkunst. Einige vorauseilende Bemerkungen.“ In: Zymner, Rüdiger; Engel, Manfred (Hg.): Anthropologie der Literatur. Paderborn: Mentis, S. 7–10, S. 8f.

22 Vgl. Assmann; Gaier; Trommsdorff (2005): S. 29.

23 Siehe Goodman, Nelson (1990): Weisen der Welterzeugung. Übers. von Max Looser. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 863).

24 Vgl. Stichwort „Hermeneutik“ in: Hillmann, Karl-Heinz (Hg.) (2007): Wörterbuch der Soziologie. 5. Auflage. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag, S. 335.

25 Vgl. Assmann; Gaier; Trommsdorff (2005): S. 49.

26 Siehe Kap. 6.1 im Anhang.

27 Siehe Kap. 6.2 im Anhang.

28 Pfister, Manfred (1999): „Die Frühe Neuzeit. Von Morus bis Milton.“ In: Seeber, Hans Ulrich (Hg.): Englische Literaturgeschichte. 3. Auflage. Stuttgart: Metzler, S. 43–148, S. 44.

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2.  Konzeptionalisierungen der Völlerei: Ein historischer Überblick

Abstract: The following two chapters delineate the history of the seven deadly sins and the history of gluttony. In both cases special emphasis is placed on theological, social, and cultural aspects. The overview comprises developments from Early Christianity to the early modern period.

Das nachfolgende Kapitel ist als Einführung in die Völlerei-Thematik konzipiert und zielt darauf ab, die theologischen Grundlagen des Themas zu erschließen. Der Fokus wird dabei zunächst auf die Entwicklung der Sieben Todsünden gerichtet, um den geistesgeschichtlichen Rahmen abzustecken, der für die Entstehung der Völlerei verantwortlich zeichnet (Kapitel 2.1). Anschließend wird die motivgeschichtliche Entwicklung der Völlerei beleuchtet und im Hinblick auf ihre religiöse Bedeutung für die vorliegende Studie verortet (Kapitel 2.2).

2.1  Das Konzept der Sieben Todsünden

Abstract: This chapter focuses on the history of the seven deadly sins. It introduces the anchoritic concept of eight evil thoughts by Evagrius Ponticus. It describes the mediaeval change of the concept into a moral code of seven vices. And it traces the gradual decline of the teaching over the course of the early modern period.

Betrachtet man die zahlreichen religiösen Schriften, die sich im Mittelalter mit den Sieben Todsünden beschäftigen, wird die theologische Bedeutung des klassischen Sündenkatalogs deutlich erkennbar. In Traktaten, Lehrbüchern und Predigten werden die Todsünden immer wieder aufgegriffen und in Bezug auf ihr individuelles und kollektives Gefährdungspotenzial untersucht.1 Es handelt sich dabei folglich um ein universelles Glaubenskonzept, das fest im religiösen ← 23 | 24 → Ideenhaushalt des Mittelalters verankert ist und auch im Alltag der Menschen eine wesentliche Rolle spielt.2 Die Entwicklung der Sieben Todsünden ist dabei von diversen Brüchen gekennzeichnet und reicht historisch gesehen bis zum frühen Mönchtum zurück.3 Diese Entwicklungslinien sind Thema des folgenden Kapitels und sollen dazu beitragen, die historische und gesellschaftliche Bedeutung des Sündenkonzeptes zu erhellen.

Zuvor gilt es jedoch, einige theologische Begriffe genauer zu bestimmen, um potenzielle Unklarheiten in der Nomenklatur zu vermeiden. Diese definitorische Sorgfalt erweist sich gerade im Umgang mit den Sieben Todsünden als unerlässlich, weil darin gleich zwei verschiedene theologische Konzepte miteinander verbunden sind. Zum einen beziehen sich die Sieben Todsünden auf die Lasterlehre des frühen Christentums und können deshalb aus historischer Perspektive auch als Hauptlaster bezeichnet werden.4 Zum anderen verweist der Sündenkatalog auf das theologische Konzept der Todsünde, das für dessen Namensgebung im Spätmittelalter verantwortlich zeichnet.5 Aus diesem Grund empfiehlt es sich, zunächst die unterschiedlichen Begrifflichkeiten darzulegen, um trennscharf zwischen den Ausdrücken Todsünde und Hauptlaster unterscheiden zu können.

Aus theologischer Perspektive stellt die Beziehung zwischen Gott und dem Menschen das entscheidende Qualitätskriterium dar, um ein sinnerfülltes Leben im religiösen Sinne führen zu können. Folglich gilt der Gläubige erst dann als wahrer Christ, wenn er sich in vollem Maße schöpfungsgemäß verhält und sein Leben konsequent auf die göttliche Liebe ausrichtet.6 Wendet er sich hingegen von seinem Schöpfer ab und widerstrebt dem vorgesehenen Heilsplan, verstößt er gegen das göttliche Gesetz und macht sich einer sündhaften Verfehlung schuldig.7 Demzufolge verweist der Sündenbegriff auf eine nachhaltige Störung der Gottesbeziehung, die in der menschlichen Abkehr vom ← 24 | 25 → allumfassenden Schöpfungsplan begründet liegt: „Sünde ist ein theologischer Begriff und bezeichnet das verkehrte Verhältnis des Menschen zu Gott, mit dem ein verkehrtes Selbst- und Weltverhältnis einhergeht.“8

Im Hintergrund dieses Sündenverständnisses steht die theologische Vorstellung, dass der Mensch ein selbstständiges Wesen ist, das sich aus freien Stücken für das Gute oder Böse in seinem Leben entscheiden kann.9 Diese Wahlmöglichkeit, die im paradiesischen Baum der Erkenntnis ihren biblischen Ausdruck findet, erlaubt es dem Menschen, sich aus eigener Kraft für ein religiöses Leben zu entscheiden. Gleichwohl bringt sie aber auch die Gefahr der willentlichen Abkehr vom vorgesehenen Schöpfungsplan mit sich.10 Aus diesem Grund wird die Sünde auch als eine Form der subjektiven Schuld betrachtet, die in der bewussten Entscheidung für das Böse und der folgenden Verletzung des Gottesbezugs begründet liegt.11

Details

Seiten
536
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783631722138
ISBN (ePUB)
9783631722145
ISBN (MOBI)
9783631722152
ISBN (Hardcover)
9783631722121
DOI
10.3726/b11092
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (April)
Schlagworte
Sieben Todsünden Das Eigene und Fremde Nationenforschung Systemtheorie Hirtendichtung (pastoral) Maskenspiel (masque) Fürstenspiegel (mirrors for princes) Historiendrama (history play) Komödie (comedy) Komisches Epos (mock-epic) Country house poem Menippeische Satire
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 536 S., 20 s/w Tab.

Biographische Angaben

Thomas Schneider (Autor:in)

Thomas Schneider studierte Medienwissenschaft, Anglistik und Soziologie an der Universität Trier. Er promovierte am Lehrstuhl für Inneranglistische Komparatistik an der Universität Trier und war außerdem am dortigen Zentrum für Kanada-Studien (ZKS) tätig.

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Titel: Völlerei und Adelsnation in der englischen Literatur der Frühen Neuzeit
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