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Zur Bedeutung der nach § 130 OWiG verlangten Aufsichtsmaßnahmen für die Ausgestaltung eines Compliance-Systems im Unternehmen

von Marc Reichhardt (Autor:in)
©2017 Dissertation 326 Seiten

Zusammenfassung

Wirtschaftsstrafverfahren in jüngerer Zeit haben zu einer verstärkten Diskussion über die strafrechtlichen Risiken für Unternehmensleiter und Aufsichtspersonen wegen fehlender oder defizitärer Compliance geführt. Der Autor verfolgt in diesem Kontext das Anliegen, die Bedeutung des § 130 OWiG und hier insbesondere die Inhalte des Tatbestandsmerkmals «erforderliche Aufsichtsmaßnahmen» zu bestimmen und für die Ausgestaltung eines wirksamen Compliance Systems in Unternehmen nutzbar zu machen. Dies geschieht vor dem Hintergrund verfassungsrechtlicher Vorgaben und umfasst unter anderem auch Fragen der Erforderlichkeit eines Compliance-Beauftragten, eines Whistleblowing-Systems und von Unternehmensrichtlinien.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Einführung
  • Teil 1: Grundlagen von Compliance
  • A. Begriff, historische Entwicklung und Funktionen von Compliance
  • I. Der Begriff und die historische Entwicklung von Compliance
  • 1. Die Entwicklung von Compliance
  • a) Die Entwicklung von Compliance in den USA
  • aa) Die Anwendung der „respondeat superior“-Lehre im Unternehmensstrafrecht
  • bb) Die sog. „Electrical Cases“ in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts
  • cc) Die Einführung des Foreign Corrupt Practices Acts in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts
  • dd) Der „Wall-Street-Skandal“ in den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts
  • ee) Die Einführung der US Federal Sentencing Guidelines in den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts
  • ff) Die Bilanzskandale von Enron und WorldCom und die Einführung des Sarbanes-Oxley Acts zu Beginn des 21. Jahrhunderts
  • gg) Die Einführung des Dodd-Frank Acts zu Beginn des 21. Jahrhunderts
  • b) Die Entwicklung von Compliance in Deutschland
  • aa) Die Einführung der „Leitsätze für Mitarbeitergeschäfte“ in deutschen Kreditinstituten in den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts
  • bb) Das erste Compliance-System eines deutschen Kreditinstituts in den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts
  • cc) Die EG-Richtlinien und ihre Umsetzung in das Deutsche Recht
  • 2. Das rechtliche Begriffsverständnis von Compliance in Deutschland
  • a) Die deutschen Grundlagen für das rechtliche Begriffsverständnis von Compliance
  • b) Die Ausdehnung des traditionellen rechtlichen Begriffsverständnisses von Compliance
  • c) Das moderne rechtliche Begriffsverständnis von Compliance
  • d) Vorauseilender Gehorsam durch Compliance?
  • II. Die Funktionen von Compliance
  • B. Die rechtlichen Grundlagen von Compliance und die Rechtspflicht zur Einführung eines Compliance-Systems im deutschen Recht
  • I. Die rechtlichen Grundlagen von Compliance im deutschen Recht
  • 1. Die gesellschaftsrechtlichen Organisationspflichten
  • a) Die Geschäftsleiterverantwortung des Vorstands nach § 76 Abs. 1 i.V.m. § 93 Abs. 1 S. 1 AktG
  • b) Risikofrüherkennungs- und Überwachungssystem nach § 91 Abs. 2 AktG
  • 2. Die branchenspezifischen Organisationspflichten
  • a) Die „Compliance-Funktion“ nach § 33 Abs. 1 WpHG
  • b) Geschäftsorganisation und Risikomanagement nach § 25a KWG
  • c) Geschäftsorganisation und Risikomanagement nach § 64a VAG
  • d) Zur Problematik der Verfassungskonformität der BaFin-Richtlinien
  • e) Sonstige Rechtsgrundlagen von Compliance
  • 3. Die ordnungswidrigkeitenrechtlichen Organisationspflichten
  • II. Rechtspflicht der Unternehmensleitung zur Einführung eines Compliance-Systems und zur Straftatenverhinderung von Mitarbeitern im deutschen Recht?
  • 1. Rechtspflicht der Unternehmensleitung zur Einführung eines Compliance-Systems?
  • a) „Compliance-Pflicht“ im Wege einer Gesamtanalogie
  • b) Compliance-Pflicht als unternehmerisches Ermessen?
  • aa) Ermessen der Unternehmensleitung
  • bb) Indizien für Art und Umfang der Compliance gemessen an den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und Sorgfalt im Verkehr
  • 2. Generelle Garantenpflicht der Unternehmensleitung zur Verhinderung von Straftaten der Mitarbeiter?
  • a) Garantenpflichten nach § 13 Abs. 1 StGB
  • b) Die Garantenpflichten der Unternehmensleitung
  • aa) Keine Geschäftsherrenhaftung aufgrund der Eigenverantwortlichkeit der Mitarbeiter
  • bb) Geschäftsherrenhaftung wegen der Befehlsgewalt der Unternehmensleiter und der Gehorsamspflicht der Mitarbeiter
  • cc) Geschäftsherrenhaftung nur für besondere Betriebe, betriebstypische Gefährdungen oder betriebsspezifische Organisationsrisiken
  • C. Risiken einer fehlenden bzw. defizitären Compliance
  • I. Folgen einer fehlenden bzw. defizitären Compliance für Unternehmen
  • 1. Rechtliche Folgen für Unternehmen
  • a) Straf- und ordnungswidrigkeitenrechtliche Haftungstatbestände
  • aa) Haftung der Unternehmen aufgrund des Ordnungswidrigkeitenrechts
  • (1) Unternehmensgeldbuße nach § 30 OWiG
  • (2) Einziehung nach § 29 OWiG und Verfall nach § 29a OWiG
  • bb) Strafrechtliche Haftung des Unternehmens
  • b) Zivilrechtliche Haftungstatbestände
  • 2. Faktische Folgen für Unternehmen
  • II. Folgen einer fehlenden bzw. defizitären Compliance für Unternehmensleiter
  • 1. Rechtliche Folgen für Unternehmensleiter
  • a) Straf- und ordnungswidrigkeitenrechtliche Haftungstatbestände
  • b) Zivilrechtliche Haftungstatbestände
  • aa) Geschäftsleiterhaftung nach § 93 Abs. 2 AktG
  • bb) Weitere zivilrechtliche Haftungstatbestände und rechtliche Konsequenzen
  • 2. Faktische Folgen für Unternehmensleiter
  • III. Zusammenfassung
  • Teil 2: Aufsichtspflichtverletzung nach § 130 OWiG
  • A. Die Vorschrift des § 130 OWiG
  • I. Grundlegendes zu § 130 OWiG
  • 1. Funktion und Einordnung des § 130 OWiG in das Haftungssystem des Ordnungswidrigkeitenrechts
  • 2. Geschütztes Rechtsgut
  • II. Regelungsinhalt von § 130 OWiG
  • 1. Ahndungsvoraussetzungen des § 130 OWiG
  • a) Objektiver Tatbestand: Aufsichtspflichtverletzung des Unternehmensinhabers
  • aa) Täterkreis des § 130 OWiG: Inhaber eines Betriebes oder Unternehmens
  • bb) Tathandlung des § 130 OWiG: Aufsichtspflichtverletzung
  • b) Subjektiver Tatbestand
  • c) Objektive Bedingung der Ahndung: Zuwiderhandlung gegen Pflichten, die den Inhaber treffen
  • aa) Zuwiderhandlung
  • bb) Pflichten, die den Inhaber treffen
  • cc) Kausalität zwischen der Aufsichtspflichtverletzung und der konkreten Zuwiderhandlung
  • 2. Rechtsfolge des § 130 OWiG
  • B. Konkretisierung des objektiven Tatbestandserfordernisses der „erforderlichen Aufsichtsmaßnahmen“ nach § 130 OWiG
  • I. Die „erforderlichen Aufsichtsmaßnahmen“ nach dem Gesetzeswortlaut
  • II. Konkretisierung der „erforderlichen Aufsichtsmaßnahmen“
  • C. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Vorschrift des § 130 OWiG
  • I. Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz nach Art. 103 Abs. 2 GG
  • 1. Anwendbarkeit von Art. 103 Abs. 2 GG auf das Ordnungswidrigkeitenrecht
  • 2. Grundlegendes zu Art. 103 Abs. 2 GG
  • 3. Das Bestimmtheitsgebot und die Vereinbarkeit mit § 130 OWiG
  • II. Compliance und Selbstregulierung in Unternehmen
  • III. Verstoß gegen das Schuldprinzip
  • 1. Anwendbarkeit des Schuldprinzips im Ordnungswidrigkeitenrecht
  • 2. Grundlegendes zum Schuldprinzip
  • 3. Vereinbarkeit von § 130 OWiG mit dem Schuldprinzip
  • Teil 3: Zur Bedeutung der „fünf Aufsichtsmaßnahmen des § 130 OWiG“ für die Ausgestaltung eines Compliance Systems im Unternehmen
  • A. Grundlegendes
  • B. Ausgangsphase: Risikoanalyse der konkreten Compliance-Risiken in einem Unternehmen (sog. Risikomanagement)
  • I. Risikoidentifikation
  • II. Risikobewertung
  • III. Risikobewältigung
  • C. Ausgestaltungsphase: Die Vermeidung von Compliance-Verstößen durch die Konkretisierung der „fünf Aufsichtsmaßnahmen des § 130 OWiG“
  • I. Sorgfältige Auswahl durch den Unternehmensinhaber bei der Neueinstellung von Personal
  • 1. Allgemeines
  • 2. Anforderungen an die sorgfältige Auswahl des Bewerbers
  • a) Kontaktaufnahme des Bewerbers
  • b) Bewerbungsgespräch
  • c) Nach der Einstellung eines Bewerbers
  • II. Sachgerechte Organisation und Zuständigkeitsverteilung im Unternehmen
  • 1. Allgemeines
  • 2. Zuständigkeitsverteilung
  • a) Horizontale normative Abschichtung von Verantwortungsbereichen
  • b) Vertikale normative Abschichtung von Verantwortungsbereichen
  • 3. Die Compliance-Abteilung im Unternehmen
  • a) Die Standortbestimmung einer Compliance-Abteilung im Unternehmen
  • b) Der Compliance-Beauftragte
  • aa) Die Aufgaben eines Compliance-Beauftragten
  • (1) Implementierung und Weiterentwicklung eines Compliance-Systems
  • (2) Berichterstattungspflicht gegenüber der Unternehmensleitung
  • (3) Unterstützung und Beratung der Unternehmensleitung
  • (4) Implementierung von Unternehmensrichtlinien
  • (5) Schulung der Mitarbeiter
  • (6) Einrichtung einer Beratungs- bzw. Hinweisgeberstelle
  • (7) Durchführung von Kontrollen
  • (8) Entwicklung eines Konzepts für den Krisenfall
  • (9) Aufgaben gegenüber Unternehmensexternen
  • (10) Dokumentation
  • bb) Anforderungsprofil eines Compliance-Beauftragten
  • cc) Rechte des Compliance-Beauftragten
  • dd) Pflicht und / oder Recht zur Meldung von Gesetzesverstößen?
  • ee) Sonderfall: Ein Compliance-Beauftragter als strafrechtlicher Garant im Sinne des § 13 StGB und Verantwortlicher nach §§ 130 i.V.m. 9 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 OWiG
  • (1) Zum Sachverhalt: Die BSR-Entscheidung des BGH vom 17.07.2009
  • (2) Zu den zentralen Aussagen des BGH in der BSR-Entscheidung
  • (3) Zur Rezeption der BSR-Entscheidung in Theorie und Praxis
  • (aa) Garantenpflicht eines Compliance-Beauftragten aufgrund seiner Verantwortlichkeit für das Verhalten von Unternehmensmitarbeitern?
  • (bb) Garantenpflicht eines Compliance-Beauftragten durch die freiwillige Übernahme der Verkehrssicherungspflicht?
  • (cc) Rechtspolitische Einordnung
  • ff) Ordnungswidrigkeitenrechtliche Risiken eines Compliance-Beauftragten
  • III. Angemessene Instruktion und Schulung des Personals
  • 1. Regelmäßige Schulungen der Unternehmensmitarbeiter
  • a) Qualifiziertes Personal für die Schulungen
  • b) Inhalt und Form der Schulungen
  • 2. Ausgestaltung und Implementierung von Unternehmensrichtlinien
  • a) Inhalt von Unternehmensrichtlinien
  • b) Implementierung von Unternehmensrichtlinien
  • aa) Grundlegendes
  • bb) Gesetzliche Pflicht zur Implementierung von Unternehmensrichtlinien?
  • IV. Ausreichende Kontrolle und Überwachung des Personals
  • 1. Allgemeine Anforderungen an die Überwachungspflicht nach § 130 OWiG
  • 2. Spannungsfeld Compliance und Datenschutz
  • a) Verfassungsrechtlicher Rahmen und Datenschutz
  • b) Die Novelle des Beschäftigtendatenschutzes vom 01.09.2009
  • c) Rechtpolitische Perspektiven
  • 3. Zur Zulässigkeit einzelner Ermittlungsmaßnahmen bei Verdacht von Compliance-Verstößen
  • aa) Allgemeine Kontrollen am Arbeitsplatz
  • bb) Kontrolle und Auswertung von Akten und Unterlagen
  • (1) Datenschutzrechtliche Grundlagen
  • (2) Strafbarkeitsrisiken
  • cc) Kontrolle und Auswertung von E-Mails
  • (1) Datenschutzrechtliche Grundlagen
  • (2) Strafbarkeitsrisiken
  • dd) Telefonüberwachung
  • (1) Datenschutzrechtliche Grundlagen
  • (2) Strafbarkeitsrisiken
  • ee) Videoüberwachung
  • (1) Datenschutzrechtliche Grundlagen
  • (2) Strafbarkeitsrisiken
  • 4. Überwachung mittels eines Hinweisgeber-Systems (sog. „Whistleblowing-System“)
  • a) Begriff und Bedeutung von Whistleblowing
  • b) Anzeigepflicht der Arbeitnehmer zur Meldung von Rechtverletzungen?
  • c) Ausgestaltung von Whistleblowing-Systemen
  • d) Gesetzliche Pflicht zur Einführung von Whistleblowing-Systemen
  • aa) Deutsche Regelungen
  • bb) US-amerikanische Regelungen
  • cc) Auswirkungen der US-Reglungen auf die Einführung von Whistleblowing-Systemen in deutschen Unternehmen
  • V. Angemessenes Einschreiten bei Fehlverhalten des Personals
  • Teil 4: Zusammenfassung und rechtspolitischer Ausblick
  • Literaturverzeichnis
  • Quellenverzeichnis
  • Reihenübersicht

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Abkürzungsverzeichnis

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Einführung

„Es sollte eine Binsenweisheit sein, dass Unternehmen, ihre Organmitglieder und ihre Mitarbeiter im Einklang mit dem geltenden Recht handeln“.1

Die Aussage von Schneider scheint eine Selbstverständlichkeit wiederzugeben, welche seit einiger Zeit unter dem Stichwort „Compliance“ thematisiert wird. Dabei wird – vorbehaltlich einer differenzierten Begriffsklärung2 – Compliance im rechtlichen Zusammenhang als Rechtskonformität eines Unternehmens und seiner Mitarbeiter verstanden, weshalb manche Compliance sogar als „alten Wein in neuen Schläuchen“ bezeichnen, da die Einhaltung geltender Gesetze durch Unternehmen keine neue Erkenntnis darstelle.3

Angesichts von wirtschaftsstrafrechtlichen Verfahren der jüngeren Vergangenheit scheint Compliance in der Praxis allerdings keineswegs selbstverständlich zu sein. In diesem Zusammenhang wurde einigen Großunternehmen eine besondere Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und vor allem auch Medienöffentlichkeit zuteil: Genannt seien beispielhaft die spektakulären Fälle von Siemens4,5, Volkswagen6, MAN7, Deutsche Bahn8 sowie zwischen Volkswagen und Telekom9. Mal ging es in diesen Fällen um Bestechungshandlungen10, mal um das Einrichten schwarzer Kassen11 und mal um das pauschale Ausforschen von Mitarbeitern und deren Angehörigen12. In all diesen Verfahren sahen sich die Unternehmensführungen dem gleichen Vorwurf ausgesetzt: fehlendes bzw. defizitäres Compliance-System!

Eine besondere Bedeutung kommt dabei dem Fall Siemens zu, der die Diskussion über Compliance in vielfältiger Form vorangetrieben hat: Siemens wurde seitens der Staatsanwaltschaft München I vorgeworfen, zum maßgeblichen Zeitpunkt über kein effektives Compliance-System zu verfügen, ← 21 | 22 → das die Begehung von Rechtsverletzungen hätte aufdecken und verhindern können.13 Als Folge dessen wurde gegen Siemens eine Geldbuße in Höhe von 395 Mio. Euro wegen Verletzung der Aufsicht des Gesamtvorstands nach § 130 OWiG verhängt, da dieser die Einhaltung der Compliance im Unternehmen unzureichend überwacht habe.14

Für das Thema „Compliance“ hat der Fall Siemens wie ein „Paukenschlag“15 gewirkt: Nach Abschluss der Verfahren gegen Siemens im Jahr 200716 betonte dessen Vorstandsvorsitzender Peter Löscher, dass sein Konzern „kein gesetzeswidriges Verhalten dulde und Zuwiderhandlungen mit klaren Konsequenzen ahnde“. Er bekräftigte, dass zu diesem Zweck „der Bereich Compliance als wichtiger Teil der Unternehmens- und Führungskultur bei Siemens weiter gestärkt werde und ein Ausbau der internen Kontrollsysteme erfolge“17. Diese Aussage ist nicht als Plädoyer deutscher Unternehmen für eine moderne Selbstjustiz zu werten. Stattdessen ist sie ein Beispiel für die Ansätze zahlreicher deutscher Unternehmen in den letzten Jahren, aktiv die Prävention und Aufdeckung von Rechtsverletzungen anzugehen.18 Inzwischen haben Unternehmensleiter aus den verschiedensten Bereichen den sich hinter Compliance stehenden Grundsatz für sich gewonnen und nicht nur das, es geht sogar um die weitergehende Anforderung, Compliance durch organisatorische Maßnahmen unternehmensbezogen („Corporate“) umzusetzen. Angesichts neuer Gesetze und Rechtsprechung, die fast im Jahresrhythmus den Unternehmen und deren Leitern neue Organisationspflichten auferlegen, ist dies keine leichte Aufgabe. Die Anforderungen nehmen nochmals bedeutend zu bei internationalen Unternehmen, sei es, weil sie an einer Börse im Ausland gelistet sind, über ausländische Tochtergesellschaften verfügen oder geschäftliche Handlungen im Ausland vornehmen und dadurch etwa zusätzlich dem Foreign Corrupt Practices Act (FCPA) oder dem UK Bribery Act unterliegen. Mit dieser exterritorialen Wirkung internationaler Regelungen befassen sich deutsche Gerichte gegenwärtig nicht. Gleichwohl wird die Kenntnis über ← 22 | 23 → diese Wirkung von (ausländischen) Behörden bereits jetzt von einer modernen Compliance eines Unternehmens vorausgesetzt.19

Von den beispielhaft genannten Fällen Volkswagen, MAN, Deutsche Bahn und Telekom ist insbesondere die „Siemens-Entscheidung“ ein Beleg für die jüngsten Wirtschaftsstrafverfahren, bei denen die strafrechtlichen Risiken für Unternehmensleiter und verantwortliche Aufsichtspersonen verstärkt in den Vordergrund traten.20 Sie haben nicht nur Rechtsverstöße in den eigenen Reihen zu vermeiden, sondern auch auf die Rechtsbefolgung untergeordneter Mitarbeiter zu achten. Kommen sie dem nicht nach, stellt sich die Frage einer Verletzung der Aufsichtspflicht. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die Vorschrift des § 130 OWiG, die ein wesentliches Element des deutschen Wirtschaftsstrafrechts darstellt, obwohl es sich um eine Norm des Ordnungswidrigkeitenrechts handelt.21 Wirtschaftsstrafrecht – in einem weiteren Sinne der Pönalisierung von tatbestandlichen Erfolgen in wirtschaftsrechtlichen Vorgängen verstanden22 – erfasst notwendig das Ordnungswidrigkeitenrecht und vor allem die insoweit zentralen Vorschriften der §§ 130 und 30 OWiG. § 130 OWiG droht dem Unternehmensinhaber die Sanktionierung von Aufsichtspflichtverletzungen an, sofern er nicht diejenigen Aufsichtsmaßnahmen ergreift, die erforderlich sind, um die Begehungen von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten aus dem Unternehmen heraus zu verhindern. ← 23 | 24 →

Obgleich die bedeutsame Vorschrift des § 130 OWiG also zunehmend in den Kontext von Compliance gestellt wird, erfolgte bisher in der Rechtsprechung und im Schrifttum nur unzureichend eine systematische Verknüpfung der Themen „erforderliche Aufsichtsmaßnahmen des § 130 OWiG“ und „Ausgestaltung eines Compliance-Systems“.23 In beiden Bereichen sind daher Ausführungen zur konkreten Bedeutung von Compliance-Systemen für Unternehmen im Zusammenhang mit § 130 OWiG überschaubar. Dies ist insoweit überraschend, als Compliance aktuell – über das Ordnungswirdigkeitenrecht hinausgehend – eine große Aufmerksamkeit im rechtswissenschaftlichen und rechtspolitischen Diskurs erfährt. Nicht zuletzt gibt es inzwischen in Deutschland ein Überangebot an Beratungsleistungen im Bereich Compliance und einen enormen Zuwachs von wissenschaftlichen Beiträgen. Eine solche Entwicklung bringt jedoch auch Nachteile mit sich: Das Thema „Compliance“ droht, sich durch die genannten Zunahmen ins Grenzenlose und Unbestimmte auszuweiten. Die Arbeit verfolgt das Anliegen, dieser Entwicklung rechtsdogmatisch entgegenzuwirken, indem allgemeine und vor allem ordnungswidrigkeitenrechtsspezifische Anforderungen an Compliance analysiert werden. Diese Analyse soll dazu beitragen, der derzeit in der Praxis bestehenden Rechtsunsicherheit und Rechtsunklarheit ordnungswidrigkeitenrechtlicher Sanktionierung zu begegnen. Vor diesem Hintergrund ist es Ziel der Arbeit, durch Auswertung von Rechtsprechung und Literatur die „Bedeutung der nach § 130 OWiG verlangten Aufsichtsmaßnahmen für die Ausgestaltung eines Compliance-Systems im Unternehmen“ zu analysieren.

Zur Beantwortung dieser Frage werden zunächst die beiden Themenbereiche „Compliance“ (Teil 1) und die „Aufsichtspflichtverletzung nach § 130 OWiG“ (Teil 2) dargestellt, um anschließend die beiden Thematiken miteinander zu verbinden (Teil 3). Demgemäß werden im ersten Teil die Grundlagen von Compliance behandelt. Dies beinhaltet im Wesentlichen eine Auseinandersetzung mit der Entstehung des Begriffs, seinen Funktionen und den rechtlichen Anknüpfungspunkten von Compliance in Deutschland sowie den Folgen einer Non-Compliance für Unternehmen und deren Leitung. Im zweiten Teil wird thematisiert, ob ein fehlendes bzw. defizitäres ← 24 | 25 → Compliance-System eine Aufsichtspflichtverletzung nach § 130 OWiG auslösen kann. Dies beinhaltet auch eine Überprüfung der Verfassungskonformität der Norm. Der Schwerpunkt liegt jedoch bei der kritischen Betrachtung des Tatbestandsmerkmals der „erforderlichen Aufsichtsmaßnahmen“. Im dritten Teil erfolgt eine Verknüpfung der beiden Themenbereiche der „erforderlichen Aufsichtsmaßnahmen des § 130 OWiG“ und der „Compliance“. Es wird dargestellt, was die im zweiten Teil der Arbeit konkretisierten Aufsichtsmaßnahmen vom Unternehmensinhaber abverlangen und inwieweit diese im Einzelnen Compliance-Maßnahmen implizieren. Schließlich folgt im vierten Teil eine Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse der Arbeit und ein rechtspolitischer Ausblick zur Vorschrift des § 130 OWiG. ← 25 | 26 →


1 Schneider, ZIP 2003, S. 645 (646).

2 Vgl. zum Begriff von Compliance den Gliederungspunkt ab S. 5.

3 So etwa Klindt, NJW 2006, S. 3399; Poppe in: Görling/Inderst/Bannenberg, S. 2.

4 Stern.de – „Korruptionsaffäre erreicht Konzernspitze“, 13.12.2006; BGH NJW 2009, S. 89.

5 SZ.de – „Siemens räumt auf“, 19.05.2010.

6 Focus Online – „Chronik der VW-Affäre“, 22.02.2008.

7 Stern.de – „MAN im Visier der Staatsanwaltschaft“, 05.05.2009.

8 Stern.de – „Bahn bespitzelte eigene Mitarbeiter“, 21.01.2009.

9 Süddeutsche.de – „Korruptionsverdacht bei VW und Telekom“, 15.02.2011.

10 BGH NJW 2009, S. 89; NJW 2010, S. 92.

11 BGH NJW 2009, S. 89.

12 Vgl. dazu Stern.de – „Bahn bespitzelte eigene Mitarbeiter“, 21.01.2009. Siehe insofern auch weitere Skandale wie etwa bei der HSBC, Ferrostaal, der Bayerischen Landesbank oder die Libor-Zinssatzmanipulationen.

13 So war das Compliance-System unzureichend ausgestattet: Mangel an personellen Ressourcen in den Compliance-Abteilungen und an einem wirksamen Kontrollsystem zur Aufdeckung und Verfolgung von Compliance-Verstößen, vgl. Bußgeldbescheid der Staatsanwaltschaft München I, Beschl. vom 03.12.2008, S. 9 f.

Details

Seiten
326
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783631724507
ISBN (ePUB)
9783631724514
ISBN (MOBI)
9783631724521
ISBN (Hardcover)
9783631724484
DOI
10.3726/b11286
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (April)
Schlagworte
Aufsichtspflichtverletzung Wirtschaftsstrafrecht Criminal Compliance Ordnungswidrigkeitenrecht Compliance-Beauftragter Managementhaftung
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 326 S.

Biographische Angaben

Marc Reichhardt (Autor:in)

Marc Reichhardt studierte Rechtswissenschaft in Frankfurt und wurde dort am Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie promoviert. Er war als Wissenschaftlicher Mitarbeiter in internationalen Wirtschaftssozietäten tätig sowie Gastdoktorand an der University of California, Los Angeles.

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