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Deskriptive Metaphysik

Die Frage nach Gott bei Franz Brentano

von Maria Luisa Lamberto (Autor:in)
©2017 Dissertation 288 Seiten

Zusammenfassung

Diese Studie der Deskription bei Brentano lässt dessen Philosophie als ein «Programm der Deskription» erscheinen, das einen spezifischen Beitrag zur Gottesfrage leistet. Im Gegensatz zur scholastischen Tradition stellt er diese Frage auf sprachlicher Ebene und sucht dadurch erkenntnistheoretisch-metaphysische Engführungen zu überwinden. Er betont die deskriptive (nicht physikalische oder metaphysische) Bedeutung der Kausalität in ihrer Zeitgebundenheit und zeigt, dass die Existenz Gottes zeitlich bestimmt werden muss: Nur so ist eine sinnvolle Rede von Gott möglich. Brentanos Denken wurde in der Theologie kaum wahrgenommen, aber die deskriptive Lösung des Problems von «esse et essentia», die Arten der Zeitlichkeit, die Betrachtung von Analogielehre und Univozität sind richtungsweisend.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Zusammenfassung
  • Abstract
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • 1. Psychische Kategorien in der Erkenntnislehre – Die Deskription – ein Programm
  • 1.1 Die deskriptive Methode
  • 1.2 Die Mereologie als Grundlage der deskriptiven Psychologie
  • 1.3 Die Teile des Bewusstseins
  • 1.3.1 Ablösbare Teile
  • 1.3.2 Die distinktionellen Teile
  • 1.3.2.1 Die sich durchwohnenden Teile
  • 1.3.2.2 Die logischen Teile
  • 1.3.2.3 Die Teile des intentionalen Korrelatenpaares
  • 1.3.2.4 Die Teile der psychischen Diploseenergie
  • 1.3.2.5 Die distinktionellen Teile im modifizierenden Sinn
  • 1.4 Die Proterästhese
  • 1.5 Die Deskription – weitere Entwicklung
  • 2. Die Deskription – das Programm der Vorlesung „Vom Dasein Gottes“
  • 2.1 Verhältnis innere-äußere Wahrnehmung
  • 2.2 Existenz in Raum und Zeit – Das Kontinuum
  • 2.2.1 Die Zeitlichkeit
  • 2.3 Das Mögliche und das Notwendige
  • 3. Kritische und deskriptive Erfahrung – Auseinandersetzung mit dem kantischen Kritizismus
  • 4. Die Befindlichkeit des Menschen und die Frage nach Gott im Projekt der Deskription
  • 4.1 Das Subjekt der inneren Wahrnehmung – die Seele
  • 4.2 Die Individualität des Einzelnen – das eigene Selbst
  • 4.3 Das psychologische Argument Brentanos für die Metaphysik
  • 4.4 Ein kritischer Exkurs
  • 5. Die „indefinite Vollkommenheit“ in der inneren und äußeren Wahrnehmung: Gottes Dasein – eine notwendige Existenz
  • 5.1 Brentanos Deskription und Logik in der Rede von Gott
  • 5.2 Deskriptive Lösung des Problems esse et essentia
  • 5.3 Zweiartige Zeitlichkeit
  • 5.4 Transzendente Zeit
  • 5.5 Stellungnahme bezüglich Analogielehre und Univozität
  • 5.6 Die „indefinite Vollkommenheit“
  • Schluss
  • Abkürzungen
  • Bibliographie
  • Reihenübersicht

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Einleitung

In Franz Brentanos Werk und Denken lässt sich eine einheitliche Linie feststellen: Die Entwicklung von seinen Habilitationsthesen1 bis hin zu den letzten Diktaten verläuft harmonisch, sein gesamtes Werk verrät einen durchkomponierten, in sich schlüssigen Charakter, wiewohl er kein philosophisches, in sich abgeschlossenes System geschaffen hat. Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf die „deskriptive Psychologie“ als Quelle und entwickelt eine „Theorie der Deskription“.

„Deskription“ ist ein Terminus technicus, den Brentano kaum benutzt: Er bevorzugt die Bezeichnung „Psychognosie“ für diese seine Theorie, von der die deskriptive Methode nur ein Teil ist. Hier nun werden die „deskriptive Psychologie“ und die „Deskription“ behandelt: Der Begriff „Deskription“ dient in diesem Zusammenhang dazu, die „deskriptive Psychologie“ und ihre Entwicklungen zu bezeichnen, die in den Bereich der Psychologie, Ontologie und Metaphysik fallen. Deskription ist nicht nur Beschreibung, denn eine Beschreibung beinhaltet keine verschiedenen Ebenen. Die Deskription im Sinne Brentanos besteht hingegen aus vielen Ebenen, die Beschreibung ist nur eine davon. Die anderen sind Erfahren, Bemerken und Analysieren, genaue sprachliche Ausgestaltung, Vergleich und subtile Differenzierung der Begrifflichkeit, Strukturbeobachtung, Klassifizierung und Kategorisierung: Und all das immer auf der Basis der Wahrnehmung.

Logik und Metaphysik stehen mit der Deskription in einer wechselseitigen Beziehung: Sie leisten für die Deskription Hilfestellung, werden aber auch durch sie erweitert und bereichert. Die Deskription kann als Katalysator im Erkenntnisprozess wirken. Die vorliegende Arbeit setzt sich vor allem mit der Frage auseinander, inwieweit man die Deskription als die Programmatik von Brentanos Denken bezeichnen kann.

Ob die auf Empirie gegründete Deskription für die Gottesfrage eine gangbare Methode bietet scheint prima facie fraglich: Deshalb stellt die Vorlesung Vom Dasein Gottes einen Prüfstein für die Deskription dar. Gott ← 15 | 16 → steht für Brentano in einer stetigen, wechselseitigen Beziehung zur Wirklichkeit: Die Gottesfrage ist in sein Denken fest eingebunden und ihm ein wissenschaftliches Anliegen. Ist die Deskription tatsächlich von jener (vermuteten) Wichtigkeit für Brentano, sollte man Verfahren, Begrifflichkeit und Argumentation der Vorlesung „Vom Dasein Gottes“ durch die Deskription auslegen und begreifen können: Da sie der Untersuchung der Lebenswelt, Erkenntnistheorie und Ontologie dient, sollte sie natürlicherweise auch in der Gottesfrage von Bedeutung sein.

Diese Arbeit möchte eine Untersuchung der Deskription als „Programmatik“ und eine Analyse ihrer Tragweite im Bereich der philosophischen Rede von Gott bieten: Aber nicht aus der Perspektive des Außenstehenden, sondern durch die Deskription selbst. Dabei stellt sich die Frage, ob eine „deskriptive“ und d. h. „empirische“ Metaphysik möglich ist und philosophische und theologische Aussagekraft besitzt.

Brentanos Versuch, eine wissenschaftliche Philosophie auf psychologischer Basis zu begründen, wurde für den Bereich der Religion/Theologie als ein wenig vielversprechender Ansatz angesehen. In Bezug auf Brentanos Gottesbild gelangen zwei Autoren, trotz ihrer Gemeinsamkeit in der kritischen Beurteilung seiner Rede von Gott, zu erstaunlich gegensätzlichen Aussagen. In seiner 1998 erschienenen Arbeit schreibt E. Tiefensee:

[…] [Brentanos Philosophie] greift […] aus auf ein letztes, absolut Notwendiges, sucht dieses aber nicht2, wie der deskriptiv-psychologische Ansatz nahegelegt hätte, vermittels der Evidenz der selbstreflexiven Subjektivität, sondern im traditionellen Durchgang durch die metaphysica generalis et specialis in einem quasi wie Fremdpsychisches zu behandelnden Objekt3.4

H. Windischer hat sich 1936 mit dem Verhältnis Brentanos zur Scholastik beschäftigt. Er schreibt:

Das innere Bild Gottes denkt B. anders als die Scholastik; Gott ist in der Zeit; denn „sein“ bedeutet immer „jetzt sein“ [mit Hinweis zur ‚K. 198‘]. Auch das Vorherwissen Gottes ist „erdgebunden5 (in Konsequenz der Zeitanschauung), […]. ← 16 | 17 → Gott ist für B. auch nicht ewig ruhend, sondern in notwendigem Wechsel (weil in der Zeit). […] Der Glaube B.s an dieses Bild war absolut, ebenso wie der Glaube an die Übertragungsmöglichkeit unserer Begriffe (Zeit usw.) auf Gott. Glühender Optimismus aber trug immer diese Gotteslehre.6

Einmal ,objektive‘ Metaphysik, dann ein menschliches, ‚zeitliches‘ Gottesbild: Brentanos Denken scheint zu divergierenden Interpretationen zu verleiten.

Die psychischen Kategorien, die Brentano durch die Psychognosie in die Erkenntnistheorie eingeführt und in seiner Philosophie weiterentwickelt hat, werden im ersten Kapitel dargestellt, das sich hauptsächlich mit der Deskriptiven Psychologie beschäftigt. Thema ist dabei das Verständnis des Bewusstseins und der Seele, das Verhältnis von äußerer-innerer Wahrnehmung, die Auslegung des Verhältnisses Bewusstsein-Zeit in der Proterästhese und die Analyse der psychischen Akte, die anhand des mereologischen Ansatzes bis in ihre letzten Elemente untersucht werden können, in ihrer Intentionalität. Auf dieser Basis wird anschließend die reistische Wende seines Denkens betrachtet.

In den folgenden Kapiteln wird die Vorlesung Vom Dasein Gottes erörtert, die die Betrachtung drei verschiedener Verhältnisse erfordert: Äußere-innere Wahrnehmung, Zeitlichkeit-Existenz (Dinglichkeit) und Möglichkeit-Notwendigkeit. Außerdem werden weitere Arbeiten als auch die Handschriften Brentanos für die Untersuchungen herangezogen.

Das zweite Kapitel vertieft anhand der ‚psychologischen Skizzen‘ und anderer Schriften das grundlegende Verhältnis äußere-innere Wahrnehmung in ← 17 | 18 → psychologischer und ontologischer Hinsicht. Die Anerkennung der Existenz im Urteilen und die Notwendigkeit einer philosophisch präzisen Analyse der Sprache sind die Basis der Kritik des ontologischen Arguments und der Erläuterung des Existenzialsatzes. Hierher gehören die Auseinandersetzung mit Humes und Kants Kritik des ontologischen Arguments und Brentanos Kritik der theologischen Analogielehre. Die Theorie des Kontinuums und die Theorie der Zeit wird dargestellt: Die Zeitlichkeit und die Erklärung von Werden und Gewirkt-werden betreffen Brentanos Erörterung des Kausalitätsgesetzes und sein theologisches Denken. Das Verhältnis Zeitlichkeit-Existenz stellt sich dabei als eng verbunden mit der äußeren und inneren Wahrnehmung dar. Anschließend wird Brentanos Haltung zur skeptischen Position Humes untersucht, wobei besonders auf das Kausalitätsproblem eingegangen wird: Hier wird Brentanos Auffassung des Möglichen und Notwendigen analysiert, um die Art und Weise seiner Verwendung dieser Termini verständlich zu machen.

Das dritte Kapitel zeigt Brentano im Gespräch mit Kants Kritizismus: Seine dezidierte Ablehnung der idealistischen Position, die vor dem Hintergrund des alles beherrschenden Neukantianismus’ zu sehen ist, ist gleichzeitig als Versuch zu verstehen, die Vorteile der Deskription und ihrer Verankerung in der Empirie herauszustellen.

Die Rolle der Seele ist das Thema des vierten Kapitels: Die Bedeutung der Psychologie und Philosophie für den Einzelnen und dessen seelische Bedürfnisse wird dargestellt; außerdem werden Brentanos Haltung bezüglich der Psychologie des Unbewussten und das Verhältnis des Einzelnen zur Gottesfrage behandelt.

Das fünfte Kapitel baut auf den vorhergehenden Kapiteln auf, beendet die Analyse der Vorlesung Vom Dasein Gottes und betrachtet die Ergebnisse von Brentanos weiterer Entwicklung anhand seiner anderen Arbeiten und Handschriften. Die Rede von Gott ist Prüfstein für die Deskription, der Gottesbegriff in dieser Arbeit wird auf ihrer Basis entwickelt. Grundlegende Bedeutung kommt hier den psychischen Kategorien, der Hauptrolle der Zeitlichkeit in ihrem Verhältnis zur Existenz, der Sprachanalyse und den Ansichten des Reismus zu.

Brentano beschäftigt sich in seiner Vorlesung mit vier verschiedenen Gottesbeweisen: Er hofft das Dasein Gottes auf empirische Art belegen zu können. Er sieht die Metaphysik als eine Erweiterung der Physik: Sie soll ← 18 | 19 → sich mit der Suche nach den letzten Ursachen des Seienden beschäftigen. Zwischen den Gottesbeweisen und der Gottesfrage besteht ein grundsätzlicher Unterschied: Gottesbeweise sind metaphysisch-theologische Argumentationen, während die Gottesfrage zu den Grundfragen des Menschen gehört. Brentano versteht die Gottesbeweise als eine Art Wissen von Gott, das durch die Vernunft zu erlangen ist und dem Menschen in Lebensfragen helfen kann: D. h., dass er sie als zur Gottesfrage gehörend ansieht.

Die Arbeit beschäftigt sich aber nicht mit den Gottesbeweisen. Eine Lektüre der Vorlesung Vom Dasein Gottes, die als Teil des deskriptiven Denkens betrachtet wird, ist vordringlich: Dadurch können Brentanos Deskription und sein philosophisch-theologisches Denken in ihrer Bedeutung untersucht und greifbar gemacht werden.

Diese Arbeit geht auf philologische und entwicklungsgeschichtliche Aspekte nur am Rande ein. Mir waren neben den gängigen Ausgaben (aus dem Meiner- und Ontos-Verlag) weitere Manuskripte zugängig, so die theologischen Handschriften Brentanos aus dem Franz Brentano-Archiv in Graz7.

Durch den Textvergleich der Handschriften mit den bereits publizierten Ausgaben stieß ich – wie jeder über Brentano Forschende – auf das Problem der teilweise unkritischen Behandlung des Nachlasses. Es handelt sich hier besonders um jene Schriften, dessen „editorische Methoden […]“ – nach Th. Binders Ausdruck – „in keiner Weise den aktuellen Standards historisch-kritischer Editionen“8 entsprechen. Binders Bemerkung bezieht sich auf die Schriften, die von O. Kraus, A. Kastil und F. Mayer-Hillebrand ← 19 | 20 → herausgegeben worden sind: Dazu gehören u. a. die Vorlesung Vom Dasein Gottes und die Texte des Bandes Religion und Philosophie, die für meine Arbeit unverzichtbar waren.

Brentano hat sich immer lieber der Forschung als den Veröffentlichungen der Ergebnisse gewidmet: Er war sich der Vorläufigkeit seiner Resultate bewusst und verhielt sich ihnen gegenüber recht kritisch. Ein großer Teil seiner Untersuchungen findet sich in seinem wissenschaftlichen Nachlass und im reichhaltigen wissenschaftlichen Briefwechsel. Viele seine Schriften sind erst postum veröffentlicht worden.


1 F. Brentano, Über die Zukunft der Philosophie. Hrsg. von O. Kraus. Erste Auflage 1929. Neu eingeleitet von P. Weingartner, 2. Auflage. Hamburg: Meiner 1968 [ZPh], 133–141.

2 Kursiv von der Verfasserin.

3 Kursiv von der Verfasserin.

4 E. Tiefensee, Philosophie und Religion bei Franz Brentano (1838–1917). Tübingen: Francke Verlag 1998, [Tiefensee (1998)], § 15. Kritische Bilanz. 15. 1. Der Philosophie- und Religionsbegriff Brentanos, 474–475.

5 Kursiv von der Verfasserin.

6 H. Windischer, Franz Brentano und die Scholastik. Innsbruck: Rauch 1936, V. Grundprobleme der Metaphysik, 54. Kursiv von der Verfasserin. Er schreibt: „[…] der Hauptteil von B.s Gotteslehre […] [ist] nicht der spekulativen Vertiefung in das unergründliche Wesen Gottes [gewidmet]. Der erkenntnistheoretische Einschlag und ein gewisses Zugeständnis an seine Zeit (in analoger Weise, Dasein, nicht Wesen!) wird hierin deutlich.“ [Windischer (1936), 53]. Windischer kennt die „deskriptive“ Psychologie in der Fassung der Psychologie vom empirischen Standpunkt und aus Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis. Er hebt die Wichtigkeit der Deskription für Brentano hervor [Windischer (1936), 21] und zitiert die Kategorienlehre: In der Metaphysik glaubt er gravierende Fehler Brentanos feststellen zu können, etwa die Leugnung des Unterschiedes zwischen esse essentiae-esse existentiae, die Univozität des Begriffes ‚Etwas‘ und die Leugnung der theologischen Analogielehre.

7 Diese wurden mir dankenswerter Weise von Prof. Dr. Wilhelm Baumgartner zur Verfügung gestellt.

8 Th. Binder, „Franz Brentanos philosophisches Werk im digitalen Zeitalter“. In H. Hrachovec, A. Pichler, J. Wang (Hrsg.), Beiträge des 30. Internationales Wittgenstein Symposium 5. – 11. August 2007. Philosophie der Informationsgesellschaft Band XV. Kirchberg am Wechsel: Österreichische Ludwig Wittgenstein Gesellschaft 2007 [Binder (2007)], 27–31; online: http://wittgensteinrepository.org/agora-alws/article/view/2660/3044 (zuletzt zugegriffen am: 21.01.2017). Dazu siehe auch die in einigen Punkten aktualisierte Version des erwähnten Aufsatzes: Th. Binder, „Franz Brentanos philosophischer Nachlass. Eine historische Annäherung an einen schwierigen Fall“. In I. Tanasescu (Hrsg.), Franz Brentano’s Metaphysics and Psychology: Upon the Sesquicentennial of Franz Brentano’s Dissertation. Bucharest: Zeta Books 2012 [Binder (2012)], 452–515. Insbes. 456–457; 463–465; 469–470 bzgl. Vom Dasein Gottes; 501, Anm. 93.

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1.  Psychische Kategorien in der Erkenntnislehre – Die Deskription – ein Programm

Die „deskriptive“ Psychologie (Psychognosie) ist Ausgangspunkt dieser Analyse und in ihrer philosophischen Bedeutung auch für die Struktur dieser Arbeit bestimmend. Dieses Kapitel präsentiert anhand der Vorlesung 1890–91 den theoretischen Ansatz der „deskriptiven“ Psychologie bzw. „Psychognosie“ in groben Zügen.

Es handelt sich um eine Erkenntnistheorie, die eine Beziehung zwischen empirischer und theoretischer Erkenntnis herstellt und sie ist, wie in den nachfolgenden Kapiteln zu zeigen sein wird, programmatisch für Brentanos Denken. Er betrachtet sie als grundlegend für viele Wissenschaften – von der „genetischen“ Psychologie über die Logik, Ethik, Ästhetik und Ökonomie bis hin zur Metaphysik. Mit dem Wort „Deskription“ bzw. „Deskriptionslehre“ bezeichne ich in dieser Arbeit den Inhalt der Vorlesung von 1890–91 über Deskriptive Psychologie9 und die Ergebnisse, die er – darauf aufbauend – in der Philosophie erreicht hat. In Zusammenhang mit der Vorlesung Vom Dasein Gottes10 soll untersucht werden, ob die Deskription in ihrer umfassenden Bedeutung zu Recht als das Programm der Rede von Gott bei Brentano anerkannt werden kann und ob Brentanos Denken – durch die Deskription – für die Metaphysik und die Theologie eine aktuelle Bedeutung besitzt.

Die Psychognosie als „Wissenschaft von der Seele, den seelischen Tätigkeiten und den seelischen Beziehungen“11 erweitert die Erkenntnistheorie, ← 21 | 22 → indem sie psychische Kategorien12 herausstellt und einführt: Sie vertieft den Unterschied zwischen den seelischen Tätigkeiten (den psychischen Akten) und den seelischen Beziehungen (den unterschiedlichen Formen der Intentionalität). Ein weiterer Punkt ist die Analyse der Unterschiede im Verhältnis zwischen dem psychischen Ganzen (d.h. jeder psychische Akt) und den psychischen Teilen („Elementen“13 und „Elementen von den Elementen“14): Dies wird durch die Anwendung der Mereologie15 ermöglicht. Die ontologische Metaphysikanalyse aus der Vorlesung von 186716 wird hier psychologisch interpretiert und weiter entwickelt. Dadurch – und durch die Ergebnisse der Logik – kommt es der Psychognosie zu, die wechselseitige Beziehung zwischen Wahrnehmung und Erkenntnis zu erklären. Man kann behaupten, dass Brentano einerseits die Psychologie in ihren Fragestellungen ← 22 | 23 → erweitert und anderseits durch das Verwenden der psychologischen Gesetze in der Philosophie die metaphysischen Aspekte vertieft.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts findet allmählich ein Übergang von einer Psychologie als aristotelischer Wissenschaft zu einer Psychologie als galileischer Wissenschaft statt17: D. h. von einer rationalen, zu der Philosophie gehörenden Psychologie als Wissenschaft der Seele zu einer empirisch-experimentellen Psychologie als selbständige Wissenschaft, die wie die anderen Naturwissenschaften verfährt. In diesen Zusammenhang gehört Brentanos Begründung einer wissenschaftlichen Psychologie, die die Grundlage für die Philosophie und andere Wissenschaften bilden soll. Seine Forderung einer Philosophie als exakter Wissenschaft übt auf seine Schüler und die mitteleuropäische Philosophie18 großen Einfluss aus. Durch den Übergang von der Psychologie vom empirischen Standpunkt19 zu seiner „deskriptiven Psychologie“ wird ein stärkerer phänomenologischer Zugang etabliert, indem er „Intentionalität“ thematisiert: Brentano versteht darunter das Gerichtet-sein jedes psychischen Aktes auf ein Objekt und auf sich selbst sowie die verschiedenen Modalitäten dieses Gerichtet-seins und die Weisen, wie es diese Objekte zum ‚Inhalt‘ hat. Dabei wird der Charakter des Bewusstseins als aktiv hervorhoben.

1889 erklärt Brentano im Vorwort seiner Abhandlung Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis20 deren Verbindung zu seinen Gedanken über eine ← 23 | 24 → „deskriptive“ Psychologie21, von der er sich wünschte, sie in nicht allzu ferner Zeit zu veröffentlichen22. Er hält in Wien Vorlesungen über „deskriptive“ Psychologie, davon sind drei Kollegmanuskripte erhalten geblieben: Das erste Kolleg (1887–88) hatte den Titel „Deskriptive Psychologie“; das zweite (1888–89) hieß „Deskriptive Psychologie oder Beschreibende Phänomenologie“23, das dritte Kolleg (1890–91) wurde „Psychognosie“ genannt. Dem dritten Kollegmanuskript wurde der Hauptteil der 1982 von W. Baumgartner und R. Chisholm herausgegebenen Deskriptiven Psychologie24 entnommen25. ← 24 | 25 →

Brentano unterscheidet die „deskriptive“ („reine“) Psychologie26 von der „genetischen“ („physiologischen“) Psychologie27. Er behauptet die Notwendigkeit einer Trennung zwischen den beiden Disziplinen: Damit vermeidet man Schwierigkeiten28 in der psychologischen Forschung, ihr Fortschritt kann leichter gewährleistet werden29. Die Psychognosie „lehrt nichts über die Ursachen“30, nach denen die psychischen Phänomene eintreten und sich entwickeln, wenn auch ihre Ergebnisse der Physiologie und der genetischen Psychologie helfen können. Sie ist nicht von der Physiologie abhängig31 und kann zur Entwicklung der genetischen Psychologie beitragen32:

Details

Seiten
288
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783631725535
ISBN (ePUB)
9783631725542
ISBN (MOBI)
9783631725559
ISBN (Hardcover)
9783631725467
DOI
10.3726/b11273
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Juni)
Schlagworte
Intentionalität Wahrnehmungsanalyse Deskription Kontinuum Zeitlichkeit Grenzerfahrung Zeithorizonte Reismus Univozität Mereologie Daseinstheologie Existenzbegriff Ontologie Erkenntnistheorie Sprachphilosophie
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 288 S.

Biographische Angaben

Maria Luisa Lamberto (Autor:in)

Maria Luisa Lamberto studierte Philosophie in Turin und wurde an der Universität Macerata promoviert. An der Graduiertenschule für die Geisteswissenschaften/Graduate School of the Humanities in Würzburg erfolgte die zweite Promotion. Sie ist Lehrbeauftragte an der Universität Würzburg.

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