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Kieler Meeresforschung im Kaiserreich

Die Planktonexpedition von 1889 zwischen Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Öffentlichkeit

von Lisa Kragh (Autor:in)
©2017 Dissertation 127 Seiten
Reihe: Kieler Werkstücke, Band 48

Zusammenfassung

Die Freiheit der Forschung stieß schon immer an gewisse Grenzen, wenn Wissenschaftler auf die Finanzierung ihrer Untersuchungen durch Dritte angewiesen waren. Neben persönlichen Netzwerken entschied in einer solchen Konstellation oft die subjektiv empfundene Nützlichkeit des Projekts über den Ausgang von Finanzierungsverhandlungen. Folglich gewann die Überzeugungskraft der ins Feld geführten Rechtfertigungsnarrative großen Einfluss auf die Realisierbarkeit kostspieliger Forschungsvorhaben. Am Beispiel der von Victor Hensen konzipierten Planktonexpedition von 1889 zeichnet diese Studie anschaulich die Genese einer erfolgreichen Legitimationsstrategie nach und konturiert die vorgebrachten wissenschaftsimmanenten, machtpolitischen und ökonomischen Motive sowie die Nachwirkungen der Expedition vor dem Hintergrund des Kaiserreichs.
Die Studie wurde mit dem Nachwuchspreis der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte ausgezeichnet.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort des Reihenherausgebers
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • I. Einleitung
  • I.1 Hinführung
  • I.2 Erkenntnisinteresse und Fragestellung
  • I.3 Theoretische Grundannahmen und methodisches Vorgehen
  • I.4 Quellen und Forschungsstand
  • II. Die Planktonexpedition von 1889 im Kontext ihrer Zeit
  • II.1 Vom „Philosophischen Dreck“ zur Urnahrung der Meere: Hensen und das Plankton
  • II.2 Am Verhandlungstisch: Die Genese einer erfolgreichen Legitimationsstrategie und deren Implikationen
  • II.2.1 Verlaufsskizze der Verhandlungen
  • II.2.2 Die Rolle der Öffentlichkeit in den Verhandlungen
  • II.2.3 Das wissenschaftliche Argument
  • II.2.4 Das wirtschaftliche Argument
  • II.2.5 Das nationale Argument
  • II.3 Die Nachwirkungen der Planktonexpedition
  • II.3.1 „In’s Wasser geworfenes Geld?“ Die Forschungskontroverse mit Haeckel
  • II.3.2 Kiel als Zentrum meereswissenschaftlicher Innovation – Aufstieg und Niedergang der ‚Kieler Schule‘
  • III. Schlussbetrachtung und Ausblick
  • IV. Abkürzungsverzeichnis
  • V. Quellen- und Literaturverzeichnis
  • V.1 Quellen
  • V.1.1 Ungedruckte Quellen
  • V.1.2 Gedruckte Quellen
  • V.1.3 Zeitungsartikel
  • V.2 Literatur
  • Reihenübersicht

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I.   Einleitung

I.1   Hinführung

Sechs Kieler Wissenschaftler, 16.000 Seemeilen, dreizehn Wochen und mehr als 140 Planktonzüge – auf diese knappe Formel lässt sich die Planktonexpedition von 1889 bringen, deren Auswertung mehrere Dutzend Forscher und Nachwuchswissenschaftler über zwanzig Jahre lang beschäftigte.1 Die praktische wissenschaftliche Arbeit an Bord des zum Forschungsschiff umgerüsteten Dampfers National schilderte Teilnehmer Otto Krümmel (1854–1912), Ordinarius für Geographie, im ersten Band des Expeditionsberichts:

„Unmittelbar nach dem Frühstück […] folgte der erste Planktonzug, Anfangs 400, später meist 200 m vertikal aufwärts, darauf ein Zug mit dem Vertikalnetz, meist von 400 m Tiefe aufwärts, endlich Schliessnetzzüge in variablen Tiefen. Die Fänge wurden von Prof. Brandt, Dr. Schütt und Dr. Dahl in Empfang genommen, sofort sortirt und konservirt, was regelmässig die Vormittagsstunden, öfter die Zeit bis gegen 2 oder 3 Uhr Nachmittags in Anspruch nahm. Das Herablassen der Netze dirigirte in den ersten Tagen der Leiter der Expedition persönlich […]. Sobald die Netzzüge beendet waren und der Dampfer wieder Fahrt machte, nahm ich meine Wasserproben zur Untersuchung des specifischen Gewichts mit Aräometer, Refraktometer oder Chlortitrirung, und Prof. Fischer schöpfte mit einem einfachen sterilisierten Schöpfröhrchen eine Probe zur Untersuchung der Meeresbacillen, oder er nahm Luftproben zum gleichen Zwecke; das Aussäen, Umpflanzen und die mikroskopische Untersuchung seiner Fänge hielt ihn fast den ganzen Tag in dem Deckhäuschen über unserem Bibliotheksraum fest. Der Maler Eschke machte Skizzen von Seegang oder Scenen an Bord, oder auch Studien von Wolkenformen.“2 ← 11 | 12 →

Anschaulich zeigt diese kurze Alltagsskizze den klar strukturierten Tagesablauf in diesem schwimmenden Labor, das der Oberaufsicht des Initiators und Leiters der Planktonexpedition, dem Kieler Ordinarius für Physiologie Victor Hensen (1835–1924), unterstand. Für die vielfältigen Aufgaben fand Hensen unter seinen Kollegen an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) die nötige interdisziplinäre Expertise: Hierzu gehörten zwei Zoologen, der Ordinarius Karl Brandt (1854–1931) und sein Assistent Friedrich Dahl (1856–1929), ein Botaniker, der Assistent am Botanischen Institut Franz Schütt (1859–1921), der bereits erwähnte Geograph Krümmel und der weitgereiste Marinearzt und außerordentliche Professor der Hygiene Bernhard Fischer (1852–1915).3

Die mühsamere Arbeit begann jedoch erst nach der Heimkehr der Forschungsreisenden nach Kiel: In minutiöser Kleinarbeit zählten und sortierten Nachwuchswissenschaftler und Hilfskräfte die in den Proben enthaltenen Mikroorganismen mithilfe eines speziell zu diesem Zweck entworfenen Mikroskops.4 Expeditionsleiter Hensen veranschlagte für diese Tätigkeit in seiner Kostenaufstellung 3.600 Arbeitstage, die auf sechs Untersucher verteilt in zwei Jahren abgeleistet werden sollten.5 Anhand der Resultate dieser unvorstellbaren Fleißarbeit wollten er und seine Mitstreiter die Frage beantworten, die dem gesamten Unternehmen zugrunde lag: Die Frage nach der quantitativen Verteilung des Planktons im offenen Ozean.6 ← 12 | 13 →

Die Fachwelt verfolgte das Vorhaben des Kieler Forschungskollektivs mit gespannter Aufmerksamkeit. Als wenige Monate nach der Rückkehr der National erste Ergebnisse an die Öffentlichkeit drangen, spalteten diese die Fachwissenschaftler in zwei Lager, deren Anführer sich in einer heftigen Kontroverse bekriegten.7 Losgetreten hatte diesen Forschungsstreit der Jenaer Zoologe Ernst Haeckel (1834–1919), der – selbst ein Verfechter der klassifizierend-morphologischen Biologie – die Hensensche Methode als grundsätzlich fehlgeleitet diskreditierte.8 Aus heutiger Perspektive jedoch stehen die wissenschaftliche Innovationskraft der Planktonexpedition und insbesondere auch der daraus erwachsenen ‚Kieler Schule‘9 für die biologische Ozeanographie mit ihrem Fokus auf die Produktionszyklen der Ozeane außer Frage.10

Die Planktonexpedition leistete also einen grundlegenden Beitrag zur Meeresforschung. Entsprechend umfangreich ist auch die Zahl wissenschaftshistorischer Beiträge, die das Forschungsvorhaben und insbesondere Victor Hensen als dessen Vordenker würdigen. Hierbei tun sich – was noch zu erläutern sein wird – insbesondere die heutigen Vertreter des meereswissenschaftlichen Instituts in Kiel hervor, jüngst Gerd Hoffmann-Wieck in einem Beitrag zur Festschrift der Christian-Albrechts-Universität anlässlich ihres 350-jährigen Bestehens.11

Wie Hensen jedoch selbst schrieb, liegen „diese schwierigen und höchstens ein gewisses befremdetes Staunen erregenden Untersuchungen […] dem Laien ungefähr so fern wie irgend möglich“.12 Umso erstaunlicher scheint es deshalb, dass das Unternehmen in der Tagespresse durchaus intensiv rezipiert wurde. Wie es in einem Beitrag aus der Täglichen Rundschau von 1891 hieß, hielten „zahlreiche Zeitungsartikel“ die Allgemeinheit „über die glücklich ← 13 | 14 → vollendete Fahrt auf dem Laufenden und mit den Hoffnungen auf die zu erwartenden bedeutenden Ergebnisse in Athem.“13 Auch die sich zwischen Haeckel und Hensen entfaltende Kontroverse fand in der Tagespresse ein lebhaftes Echo.14 Die fortwährende Anteilnahme an Hensens Projekt wurde aber wohl kaum von dem Wunsch entfacht, sich über die Verteilung ozeanischer Mikroorganismen in Abhängigkeit von verschiedenen biotischen und abiotischen Faktoren belehren zu lassen. Worin also lag die Faszination für Nicht-Wissenschaftler? „Die Aufmerksamkeit der Fachleute ist ihr [der Planktonexpedition] schon lange gesichert, die des großen Publicums ist angeregt worden durch das namhafte Geschenk, welches unser Kaiser ihr zugewandt hat“ erklärte der Verfasser eines Artikels in der Böhmischen Zeitung.15 Dieses „namhafte Geschenk“, nämlich ein Zuschuss zu den Expeditionskosten in Höhe von 70.000 Mark, signalisierte dem Volk eine Bedeutung des Vorhabens jenseits aller wissenschaftsimmanenten Legitimation.

Denn damit stammte der Löwenanteil der Projektmittel von insgesamt 105.600 Mark von allerhöchster Stelle. Als weitere Financiers traten die Preußische Akademie der Wissenschaften (24.600 Mark), die Sektion für Küsten- und Hochseefischerei des Deutschen Fischereivereins (10.000 Mark) und ein privater Geldgeber (1.000 Mark) auf. Zur Beteiligung Kaiser Wilhelms II. (1859–1941) an der Finanzierung kam es durch die engagierte Vermittlung des amtierenden Kultusministers Gustav von Goßler (1838–1902), der sich gegenüber dem Finanzminister, dem Reichskanzler und in letzter Instanz dem Kaiser dafür verwandte, „daß dem von Hensen und Genossen geplanten Unternehmen sowohl in wissenschaftlicher wie in wirtschaftlicher und namentlich auch in nationaler Beziehung eine ungewöhnliche Bedeutung beizumessen“ sei.16 ← 14 | 15 →

Dieses Legitimationscluster, dessen Genese eine Gemeinschaftsarbeit mehrerer Akteure war – was im weiteren Verlaufe der Arbeit noch detailliert herausgearbeitet werden wird –, birgt in sich den Grund dafür, warum sich neben Wissenschaftlern auch Politiker, Wirtschaftsvertreter und eine breitere Öffentlichkeit für die Kieler Planktonfahrt interessierten; dies wiederum ist illustrativ für die Erkenntnis der Kontextsensitivität von Wissenschaft, die sich seit den 1980er Jahren in der Wissenschaftsgeschichte etabliert und zu einem neuen Wissenschaftsbegriff und spannenden neuen Fragen an die Wissenschaftsgeschichte geführt hat.17 Wissenschaft ist nunmehr als Prozess zu verstehen, in dem neben intellektuellen auch psychologische und soziologische Komponenten zum Tragen kommen und der in einem interdependenten Verhältnis zu seinem politischen und gesellschaftlichen Kontext steht.18 Erst dieses neue Wissenschaftsverständnis führte letztlich dazu, dass Wissenschaftsgeschichte heute nicht mehr nur aus der jeweiligen Fachwissenschaft heraus betrieben wird, sondern verstärkt auch von Historikern; denn hier eröffnet sich nun die Möglichkeit, die Geschichte der Wissensproduktion mit allgemeingeschichtlichen Fragen in einen fruchtbaren Zusammenhang zu bringen und dadurch unser Wissen in beiden Teilbereichen zu vertiefen. Wie dies im Folgenden umgesetzt werden soll und welche Fragen zu diesem Zweck an die Planktonexpedition gestellt werden können, konkretisiert das folgende Kapitel.

I.2   Erkenntnisinteresse und Fragestellung

Dass die Planktonexpedition, wie wissenschaftliche Forschungsarbeit im Allgemeinen, nicht im Elfenbeinturm wissenschaftlicher Weltabgewandtheit stattfand, sondern durch aktuelle politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Gegebenheiten beeinflusst, ja gar erst ermöglicht wurde, kann angesichts des heutigen Forschungsstandes der Wissenschaftsgeschichte als Selbstverständlichkeit abgetan werden. Auch ist die vorliegende Arbeit keineswegs die erste, die dem expeditionsgeschichtlichen Desiderat einer intensivierten ← 15 | 16 → Beschäftigung mit den Motiven, Interessen und Erwartungen aller beteiligten Akteure in Bezug auf Hensens Projekt nachzukommen versucht.19 So resümiert beispielsweise Walter Lenz in seinem aufschlussreichen Beitrag über den Zusammenhang von maritimen Interessen und Meeresforschung in Preußen, dass die Planktonexpedition nur vor dem Hintergrund des deutschen Strebens nach wirtschaftlicher und politischer Weltgeltung realisiert werden konnte.20 Auch Franziska Tormas kürzlich erschienener Aufsatz zum Thema ordnet das Unternehmen der deutschen Weltmachtaspiration zu.21 Warum also noch eine Arbeit zur Planktonexpedition?

Details

Seiten
127
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783631726358
ISBN (ePUB)
9783631726365
ISBN (MOBI)
9783631726372
ISBN (Hardcover)
9783631726341
DOI
10.3726/b11337
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Juni)
Schlagworte
Forschungsreisen Wissenschaftsgeschichte Victor Hensen Wissenschaftspopularisierung Biologiegeschichte
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 127 S.

Biographische Angaben

Lisa Kragh (Autor:in)

Lisa Kragh studierte Geschichte und Anglistik/Nordamerikanistik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Dort forscht und lehrt sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für Regionalgeschichte zu Themen der neuzeitlichen Wissenschafts-, Universitäts- und Umweltgeschichte.

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