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Französisch in Afrika – Französisch in Frankreich

Kontrastive Untersuchungen zu festen Wendungen

von Ragna Brands (Autor:in)
©2017 Dissertation 358 Seiten

Zusammenfassung

Die Autorin betrachtet die französische Sprache in frankophonen Zeitungen südlich der Sahara (Subsahara-Afrika) im Vergleich zu der französischen Sprache hexagonaler Zeitungen (Frankreich). Im Fokus der Untersuchung liegen feste Wendungstypen Funktionsverbgefüge, Redewendungen und Sprichwörter. Das Buch führt die Ergebnisse verschiedenster Forschungsarbeiten zusammen und führt diese weiter aus. Die Autorin analysiert nicht nur wie wechselseitige Beziehungen und Verhältnisse feste Wendungen beeinflussen, sondern betrachtet auch die Ursache hierfür. Ergebnis dieses umgreifenden quantitativ-statistischen und qualitativen Untersuchungsansatzes ist, dass die afrikanische Pressesprache im Unterschied zur hexagonalen Pressesprache feste Wendungen sowohl stärker modifiziert als auch breiter ausdifferenziert.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1 Einleitung
  • 2 Forschungsrahmen, Forschungshintergrund und Forschungsgegenstand
  • 2.1 Forschungsrahmen: Die Korpora der romanistischen Datenbank Köln
  • 2.1.1 Leistung und Grenzen der Zeitungskorpora
  • 2.1.2 Welches Französisch als Vergleichsgröße?
  • 2.1.3 Differenzierung von qualitativen und graduellen Unterscheidungsmerkmalen
  • 2.2 Forschungshintergrund
  • 2.2.1 Die Frankophonie
  • 2.2.2 Die afrikanische Frankophonie
  • 2.2.3 Die französische Sprache in den westafrikanischen Ländern Mali, Elfenbeinküste und Senegal sowie in den zentralafrikanischen Ländern Kamerun, Republik Kongo und Demokratische Republik Kongo
  • 2.2.3.1 Französische Sprache = dominant; Sprecheranzahl (FRA) => zunehmend
  • 2.2.3.2 Französische Sprache = dominant; Sprecheranzahl (FRA) => abnehmend
  • 2.2.3.3 Autochthone Sprache(n) = dominant; Sprecheranzahl (FRA) => zunehmend
  • 2.2.3.4 Autochthone Sprache(n) = dominant; Sprecheranzahl (FRA) => abnehmend
  • 2.2.3.5 Autochthone Sprache = dominant; Anzahl der Sprecher (FRA = Muttersprache) => abnehmend
  • 2.3 Forschungsgegenstand
  • 2.3.1 Die (Funktions-)Verben faire, mettre, donner, rendre
  • 2.3.2 Funktionsverbgefüge
  • 2.3.3 Redewendungen
  • 2.3.4 Sprichwörter
  • 3 Quantitative Unterschiede
  • 3.1 types und tokens der beiden Korpora
  • 3.2 types und tokens der (Funktions-)Verben faire, mettre, donner, rendre
  • 4 Feste Wendungen mit faire, mettre, donner, rendre
  • 4.1 Lexikalische Unterschiede
  • 4.1.1 Nomenwechsel
  • 4.1.1.1 Effekthascherei
  • 4.1.1.2 Ordnung und Sauberkeit
  • 4.1.1.2.1 Semantische Übereinstimmung
  • 4.1.1.2.2 Syntaktische Abweichung
  • 4.1.1.2.3 Faire sa propreté vs. faire sa toilette
  • 4.1.2 Verbwechsel
  • 4.1.2.1 Eigennütziges Handeln
  • 4.1.2.2 Fachsprachliche Termini
  • 4.1.2.3 Arbeitswelt
  • 4.2 Exkurs: Festigkeit
  • 4.3 Syntaktische Unterschiede
  • 4.3.1 Wegfall des Partitivs
  • 4.3.2 Auflösung der syntaktischen Konnexität (Kombinationsflexibilität)
  • 4.4 Morphosyntaktische Unterschiede
  • 4.4.1 Austausch des indefiniten Pluralartikels durch den definiten Singularartikel
  • 4.4.2 Austausch des definiten Pluralartikels durch den definiten Singularartikel
  • 4.5 Syntaktische und lexikalische Unterschiede
  • 4.5.1 Wegfall des definiten Singularartikels und Hyperonymwechsel
  • 4.5.2 Wegfall des indefiniten Pluralartikels, Einsetzung des definiten Pluralartikels, Hyperonymwechsel, Permutation
  • 4.5.3 Exkurs: Datenbank und Null-Artikel
  • 4.6 Neue Wendungen
  • 4.6.1 Neutrale Wendungen
  • 4.6.2 Positiv konnotiertes FVG
  • 4.6.3 Negativ (und positiv) konnotierte Wendungen
  • 4.7 Normalisierung und statistische Auswertung
  • 4.7.1 Normalisierung (FVG und Redewendungen mit qualitativem Unterscheidungsmerkmal)
  • 4.7.2 Statistische Auswertung
  • 4.7.2.1 „Standard-Varianten-Verhältnis“ im afrikanischen Korpus: pro afrikanischem Land und pro Wendung
  • 4.7.2.2 „Standard-Varianten-Verhältnis“ im afrikanischen Korpus: pro afrikanischem Land bei aufsummierten Okkurrenzen
  • 4.7.2.3 „Standard-Varianten-Verhältnis“ im afrikanischem Korpus: Okkurrenzen pro Wendung aufsummiert
  • 4.7.2.4 „Standard-Varianten-Verhältnis“ im afrikanischen und hexagonalen Korpus: pro Wendung
  • 4.7.3 Normalisierung (Innovationen)
  • 5 Redewendungen
  • 5.1 Redewendungen und Körperteilsymbolik
  • 5.2 Wie sich Redewendungen klassifizieren lassen
  • 5.3 Nicht-Verbalphraseme mit Körperbild(ern)
  • 5.3.1 Syntaktische Unterschiede
  • 5.3.1.1 Auflösung der syntaktischen Konnexität (Kombinationsflexibilität)
  • 5.3.1.2 Auflösung der syntaktischen Konnexität durch Separation
  • 5.3.1.3 Permutation
  • 5.3.2 Neue Wendungen
  • 5.3.2.1 „Offenherzig-Freizügiges“
  • 5.3.2.2 „Fachlich-Berufsmäßiges“
  • 5.3.2.3 „Zwielichtig-Dubioses“
  • 5.3.2.4 Verbundenheit
  • 5.3.2.5 „Naturkräfte“
  • 5.3.2.6 „Sportives“
  • 5.3.2.7 Bildkräftige Synonyme
  • 5.3.2.8 Zusammenfassung
  • 5.4 Verbalphraseme mit Körperbild(ern)
  • 5.4.1 Syntaktische Unterschiede
  • 5.4.1.1 Wegfall des definiten Singularartikels
  • 5.4.1.2 Einsetzung des Reflexivpronomens
  • 5.4.1.3 Auflösung der syntaktischen Konnexität (Kombinationsflexibilität)
  • 5.4.1.4 Permutation
  • 5.4.2 Syntaktische und lexikalische Unterschiede
  • 5.4.2.1 Wegfall des Partitivs, Verbwechsel
  • 5.4.2.2 Ersetzung des Possessivpronomens
  • 5.4.2.3 Präpositionswechsel, Verbwechsel, Nomenwechsel
  • 5.4.3 Morphosyntaktische Unterschiede
  • 5.4.3.1 Pluralisierung (des indefiniten Singularartikels)
  • 5.4.3.2 Pluralisierung (des definiten Singularartikels)
  • 5.4.3.3 Singularisierung (des definiten Pluralartikels)
  • 5.4.4 Morphosyntaktischer, syntaktischer und lexikalischer Unterschied
  • 5.5 Exkurs: Der definite und indefinite Singularartikel in afrikanischen und französischen Zeitungen
  • 5.6 Exkurs: Die Rolle der Substratsprache Bambara
  • 5.7 Neue Wendungen
  • 5.7.1 Verbundenheit
  • 5.7.2 „Hellsichtiges“
  • 5.7.3 „Zwielichtig-Dubioses“
  • 5.7.4 „Unverschämtes Verhalten“
  • 5.7.5 „Magisch-Okkultes“
  • 5.7.6 Zusammenfassung
  • 5.8 Normalisierung und Signifikanztests
  • 5.8.1 Normalisierung (Sprichwörter mit qualitativem und graduellem Unterscheidungsmerkmal)
  • 5.8.2 Statistische Auswertung
  • 5.8.2.1 „Standard-Varianten-Verhältnis“ im afrikanischen Korpus: pro afrikanischem Land und pro Wendung
  • 5.8.2.2 „Standard-Varianten-Verhältnis“ im afrikanischen Korpus: pro afrikanischem Land bei aufsummierten Okkurrenzen
  • 5.8.2.3 „Standard-Varianten-Verhältnis“ im afrikanischen Korpus: Okkurrenzen pro Wendung aufsummiert
  • 5.8.2.4 „Standard-Varianten-Verhältnis“ im afrikanischen und hexagonalen Korpus: pro Wendung
  • 5.8.3 Normalisierung (Innovationen)
  • 6 Sprichwörter
  • 6.1 Quantitative Unterschiede
  • 6.1.1 Okkurrenzen und Kookurrenzen der Sprichwörter in beiden Korpora
  • 6.1.2 Die 20 häufigsten Sprichwörter zum Suchbegriff „proverbe“
  • 6.1.3 Die 50 häufigsten Sprichwörter beider Korpora
  • 6.2 Die Rolle der Sprichwörter
  • 6.3 Die Motivation des Journalisten
  • 6.4 Sprichwörter auf Textebene
  • 6.4.1 Zum Verhältnis von Sprichwort, Sprichwort-Interpretation und Sprichwort-Varianten
  • 6.4.2 Exkurs: Die Identifikation des Sprichworts
  • 6.4.3 Sprichwortpaare (Französisch)
  • 6.4.3.1 Ähnliche Bedeutung
  • 6.4.3.2 Unterschiedliche Bedeutung
  • 6.4.3.3 Sprichwortpaare (Französisch – Afrikanisch)
  • 6.4.4 Sprichwortserien
  • 6.4.5 Vom Mündlichen zum Schriftlichen, vom Schriftlichen zum Mündlichen
  • 6.4.6 Das Sprichwort als Objekt der Kritik
  • 6.4.7 Das Sprichwort als Mittel der Kritik
  • 6.4.8 Das Verhältnis zwischen Sprichwort, Kritik und Adressat
  • 6.4.9 Mündliches im Schriftlichen: direkter Diskurs in der afrikanischen Pressesprache
  • 6.4.10 Fazit
  • 6.5 Sprichwörter auf Satzebene
  • 6.5.1 „Ungekürzte“ vs. „gekürzte“ Sprichwörter
  • 6.5.2 Sprichwort-Erweiterungen (il y a, il)
  • 6.5.3 Flexible Wortstellung
  • 6.5.4 Tilgung des unpersönlichen il
  • 6.5.5 Einführung des definiten und indefiniten Singularartikels
  • 6.6 Sprichwörter auf Wortebene
  • 6.6.1 Koexistierendes Verb
  • 6.6.2 Koexistierender adverbialer Ausdruck
  • 6.7 Bilder und Themen im afrikanischen und im französischen Sprichwort
  • 6.7.1 Die Bilder
  • 6.7.2 Die Themen
  • 6.7.3 Die Formen
  • 6.8 Semantisch äquivalente Sprichwörter
  • 6.9 Die Rolle der Begriffe für Körperteile in afrikanischen und französischen Sprichwörtern
  • 6.10 Zusammenfassung der Ergebnisse (Länder-/Zeitungsvergleich)
  • 6.10.1 Sprichwörter mit qualitativem Unterscheidungsmerkmal
  • 6.10.2 Sprichwörter mit graduellem Unterscheidungsmerkmal
  • 6.11 Statistische Tests
  • 7 Bilanz
  • 7.1 Sprachliche Dynamik und Normproblematik
  • 7.2 Fazit
  • 8 Quellenverzeichnis
  • 9 Anhang

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1 Einleitung

Laut dem jüngsten Bericht des Observatoire de la langue française (OLF)1 wird der frankophone Sprachraum (espace francophone)2 bis zum Jahr 2065 einen Zuwachs von 143 % auf rund 1 Milliarde Menschen verzeichnen. Damit weist er im Vergleich mit anderen Sprachräumen den höchsten Zuwachs auf; deren Hochrechnungen3 fallen deutlich geringer aus: + 77 % für das Arabische, + 62 % für das Englische, + 46 % für das Portugiesische und + 30 % für das Spanische. Für das Deutsche rechnet man sogar mit einem Negativergebnis von - 9 %.

Für die Frankophonie bedeutet dies eine Verfünffachung der Sprecheranzahl4 im Vergleich zu den 1960er-Jahren.5 Diese Entwicklungsdynamik, die allein im Zeitraum 2010 bis 2014 eine Veränderung von 7 % ausmacht, entspricht einem jährlichen Zuwachs von über 1 % und ist, im Ganzen gesehen, das Ergebnis eines rasanten Bevölkerungswachstums in Verbindung mit einer kontinuierlichen Verbesserung der schulischen Ausbildung.6

Von dem zu erwartenden Gesamtzuwachs bis 2065 entfallen 85 % auf den afrikanischen Kontinent. Hier wiederum ist es der südlich der Sahara gelegene Teil, den der OLF aufgrund des erwarteten Zuwachses von 11 Millionen Sprechern (15 %)7 als „véritable cœur de la croissance francophone“8 ausweist.9 Welche Auswirkungen diese Entwicklung auf die französische Sprache in Afrika hat, soll im Folgenden behandelt werden.

Die Literatur zu diesem Themenkomplex ist umfangreich. So gibt es mittlerweile eine Vielzahl von Wörterbüchern, die die jeweiligen Besonderheiten eines ← 19 | 20 → frankophonen Landes beschreiben oder, wie der „Inventaire des particularités du français en Afrique noire“ (²1988), gleich zwölf frankophone Länder (Elfenbeinküste, Togo, Benin, Zaire, Tschad, Senegal, Niger, Ruanda, Zentralafrika, Kamerun, Mali, Burkina Faso) auf Unterschiede zum hexagonalen Französisch untersuchen und diese bewerten. Daneben sind die Artikel in „Le Français en Afrique“, die das Bild des Französischen in Afrika jährlich aktualisieren, von zentraler Bedeutung.

Noch 2003 konstatiert Stein, dass „das Feld der Syntagmatik in der linguistischen Forschung zur Frankophonie noch weitgehend unbeackert [ist]“10. In der Zwischenzeit sind allerdings deutliche Forschungsfortschritte zu verzeichnen. So behandelt Blumenthal 2011 das kombinatorische Verhalten von Verben und Nomen im Hinblick auf das Französische in Afrika. Drescher und Frey untersuchen 2012 hexagonale Funktionsverbgefüge (in Folge auch: FVG) auf ihre Verwendung im afrikanischen Französisch hin, wobei Frey auch Redewendungen in seine Überlegungen mit einbezieht.11

Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit sind die drei festen Wendungstypen Funktionsverbgefüge, Redewendungen und Sprichwörter. Der Untersuchungsansatz ist zunächst ein quantitativ-statistischer: die Frequenz der Standardform der jeweiligen Wendung wird mit der Frequenz ihrer afrikanischen Varietät verglichen. Anschließend wird überprüft, ob es signifikante Unterschiede in der Verwendung hexagonaler Standardformen und afrikanischer Varianten gibt, welcher Art diese sind und welches Land die meisten Varianten aufweist.

Maßgebend für die Untersuchung ist der Aspekt der Festigkeit und damit verbunden die Frage nach der Fixiertheit von Wortverbindungen. Hausmann (1984) geht hier von einem grundsätzlichen Unterschied zwischen fixierten und unfixierten Wortverbindungen aus. Zu den fixierten rechnet er Redewendungen, deren „Bedeutung nicht als Summe der Einzelbedeutungen ermittelt werden kann“12 wie chambre forte oder laver la tête à qn.13 Bei den nicht fixierten unterscheidet er zwischen freien, affinen und konter-affinen Kombinationen. Den freien Kombinationen ordnet er frei kombinierbare Verbindungen („Ko-Kreationen“) zu wie maison agréable und regarder un arbre, zu den affinen Kombinationen zählt er Wortverbindungen, die dazu neigen, kombiniert aufzutreten ← 20 | 21 → („Kollokationen“) wie ton péremptoire, mur fissuré und rentrer sa colère, und als konter-affine Kombinationen bestimmt er Wortverbindungen, die nur begrenzt kombinierbar sind, sich aber ungeachtet ihres normalen Kombinationsbereichs miteinander verbinden („Konter-Kreationen“ wie jour fissuré und la route se rabougrit).14

Die vorliegende Untersuchung basiert auf diesem dichotomischen Klassifikationsmodell der „Fixiertheit“ vs. „Nicht-Fixiertheit“, berücksichtigt dabei aber zugleich den Gedanken eines sprachlichen Kontinuums15. Dieser Ansatz impliziert unterschiedliche Festigkeitsgrade, die von Gross und Mejri mithilfe syntaktischer Tests und der semantischen Transparenz einer Wortverbindung ermittelt werden. Demnach ist eine Wortverbindung umso fester, je weniger Umformungstests sie zulässt und je weniger sich ihre Bedeutung als Summe der Einzelbedeutungen ihrer Bestandteile abbilden lässt. Beispiele für solch unterschiedliche Festigkeitsgrade sind die Wortverbindungen fait historique und fait divers: Während fait historique semantisch weitestgehend transparent ist und syntaktische Umformungen16 zulässt (Bsp.: Ce fait est historique), ist die Bedeutung der Wendung fait divers weniger transparent und erlaubt darüber hinaus auch keine syntaktischen Transformationen (Bsp.: *Ce fait est divers).17 Daraus folgt, dass fait divers eine ungleich festere Wortverbindung darstellt als fait historique.

Da die wenigsten Wortverbindungen im Ergebnis der Transformationstests als „figement absolu“ wie fait divers, au fur et à mesure oder à bon entendeur, salut etc.18 anzusehen sind, kann das modellhafte, theoretisch begründete „figement absolu“ in der Praxis nur eine Ausnahmeerscheinung sein.19 So gesehen ist es sinnvoller, von einer je relativen Festigkeit („figement relatif“) mit unterschiedlichen Gradabstufungen auszugehen.20

In der Perspektive dieses Klassifikationsmodells kommt somit den festen Wendungen eine besondere Bedeutung zu, weil jede Veränderung ihrer stabilen, generell invariablen Struktur unmittelbar auffällt. Sie sind daher grundsätzlich zur Feststellung von Unterschieden zwischen dem Französisch in Frankreich (in Folge auch: hexagonales Französisch) und dem Französisch in Afrika (in Folge auch: afrikanisches Französisch) geeignet. Hinzu kommt, dass sich an ihnen ← 21 | 22 → Besonderheiten des afrikanischen Französisch manifestieren und Kriterien zur Abgrenzung der regionalen Varietäten sowohl untereinander als auch vom hexagonalen Standard feststellen lassen.21

Darüber hinaus lassen sich nach Schneider vor allem bei festen Wendungen Kontaktphänomene zwischen Ausgangs- und Zielsprache beobachten. Attestiert man Schneiders 5-Phasenmodell,22 demzufolge Sprachvarietäten einem einheitlichen Entwicklungsmuster folgen, eine generelle Gültigkeit, dann müssten sich sprachliche Veränderungen (Angleichung und/oder Diversifizierung) im Sinne seiner Phase 3 („Nativization“)23 auch im Französischen am deutlichsten bei festen Wendungen zeigen. Denn in dieser Phase vollzieht sich eine Annäherung zwischen der (afrikanischen) Muttersprache und der zu erlernenden (europäischen) Sprache mit dem Ergebnis, dass sich das kombinatorische Verhalten einzelner hochfrequenter Wörter verändert. Treten solche Wörter häufiger zusammen auf, kommt es zur Herausbildung lokaler Kollokationen, die sich im Laufe der Zeit zu festen Wendungen oder Idiomen ausformen:

[T]his indigenization of language structure mostly occurs at the interface between grammar and lexis, affecting the syntactic behavior of certain lexical elements. Individual words, typically high-frequency items, adopt characteristic but marked usage and complementation patterns. When words co-occur increasingly frequently, locally characteristic collocations and “lexical bundles” as described by Biber et al. (1990:987–1036) will emerge, as groups of words which operate jointly as phraseological “chunks.” In the long run this typically results in the development of fixed expressions or idioms.24

Feste Wendungen sind zwar immer wieder Forschungsgegenstand bzw. Vergleichsparameter zwischen hexagonalem und afrikanischem Französisch. Bei genauerer Betrachtung fällt jedoch zweierlei auf: erstens, dass es nur wenige Distributionsdaten hinsichtlich der Differenzierung von Unterschieden in einem afrikanischen Land oder in mehreren afrikanischen Ländern gibt, und zweitens, dass die meisten Untersuchungen dem differentiellen Ansatz folgen,25 der das Französische, so wie es in Wörterbüchern gelehrt wird, dem afrikanischen Französisch als einzige und damit maßgebliche Referenzgröße gegenüberstellen. Abgesehen davon, dass dieser Ansatz eindimensional ist,26 lässt sich im Besonderen gegen ← 22 | 23 → ihn einwenden, dass Wörterbücher/Inventare mit ihrem Erscheinen selbst schon überholt sind, da sie den zu diesem Zeitpunkt aktuellen Sprachgebrauch schon nicht mehr reflektieren bzw. transportieren.27

Deshalb werden in dieser Arbeit alle drei Wendungstypen im Zusammenhang mit mehreren französischen Bezugsgrößen untersucht. Das sind zum einen Le Trésor de la Langue Française Informatisé, Le Petit Robert de la Langue Française 2011 und der Dictionnaire des expressions et locutions 2007 als überindividuelles Richtmaß und zum anderen google.fr und das französische Zeitungskorpus der Romanistischen Datenbank Köln zur Bestimmung des tatsächlichen Sprachgebrauchs. Dieses Korpus umfasst 100 Millionen Wörter, denen 100 Millionen Wörter aus sechs frankophonen Ländern (Mali, Elfenbeinküste, Senegal, Kamerun, Republik Kongo, Demokratische Republik Kongo) gegenüberstehen. Es ist speziell dieser letzte Punkt, der den entscheidenden Untersuchungsvorteil gegenüber den bisherigen Forschungsarbeiten verdeutlicht. Denn er eröffnet erst valide Vergleichsmöglichkeiten zwischen hexagonalem und afrikanischem Zeitungsfranzösisch im Horizont zweier Superkorpora mit entsprechenden Recherchetools. Somit kann erstmals gezeigt werden, ob eine Normabweichung ausschließlich in der afrikanischen Pressesprache auftritt oder Teil auch der französischen Pressesprache ist. Darüber hinaus lässt sich an der Anzahl der Belege ablesen, ob es sich bei einer afrikanischen Variante um ein singuläres Phänomen (ein oder sehr wenige Belege) oder um eine landesspezifische oder länderübergreifende afrikanische Besonderheit (mehrere oder viele Belege) handelt und ob diese mit der hexagonalen Standardform koexistiert oder diese dominiert.

Auf diese Weise lässt sich feststellen, wie sprachproduktiv die einzelnen Länder sind. Zudem lässt sich zeigen, ob das afrikanische Französisch „ein sehr einheitliches Gepräge auf allen sprachlichen Ebenen aufweist“28 und/oder bestimmte Abweichungen lediglich regionalspezifischer Natur sind.

Damit ist der Forschungshorizont der vorliegenden Arbeit beschrieben. Ihre Grenzen bestimmen sich dadurch, dass nicht alle frankophonen Länder mit der gleichen Anzahl an Wörtern im Korpus vertreten sind und dass es im Einzelnen wie auch im Ganzen kaum möglich ist, äquivalente Vergleichskorpora zu bestimmen.29 Außerdem ist zu berücksichtigen, dass aufgrund des Korpusvolumens nicht alle tatsächlichen Unterschiede aufgedeckt werden können. Ebenso gilt, dass eine Reihe von Unterschieden, die sich im Abgleich zeigen, bereits in ← 23 | 24 → früheren Forschungsarbeiten benannt worden sind. Gerade deshalb ist es umso wichtiger, über das Zählbare und Deskriptive hinaus dem jeweiligen diskursiven Kontext, in dem sich diese Unterschiede zeigen, Rechnung zu tragen.

Daher ergeben sich für die vorliegende Untersuchung folgende Fragen: Wie werden Varianten im Text verwendet? Wann/in welchem Zusammenhang treten sie auf? Haben afrikanische Varianten die gleiche Bedeutung in allen Ländern, in denen sie auftreten? Gibt es Unterschiede zwischen den frankophonen Ländern beim Gebrauch der drei Wendungstypen?

Bei der Diskussion dieser Fragen gilt besondere Aufmerksamkeit den festen Wendungen mit Begriffen für Körperteile. Gerade diese Wendungen werden einerseits häufig gebraucht und zeichnen sich andererseits durch ein hohes Veränderungspotential aus: „La locution est […] le lieu où le discours se fait langue.“30

Aus dieser Perspektive werden zunächst die Grundlagen und der theoretische Rahmen der vorliegenden Arbeit beschrieben. Daran anschließend erfolgt eine Untersuchung der Korpora in quantitativer Hinsicht, d. h. bezüglich Verb- und Nomenfrequenz, und sodann in qualitativer Hinsicht bezüglich des kombinatorischen Profils der Basisverben faire, donner, mettre, rendre. Zum Schluss des jeweiligen Kapitels werden die aufgezeigten Unterschiede zum hexagonalen Französisch auf ihre Signifikanz hin überprüft und in Relation zur Korpus- bzw. Zeitungsgröße des jeweiligen Landes gesetzt.


1 L’Observatoire de la langue française: La langue française dans le monde 2014. [http://www.francophonie.org/Langue-Francaise-2014/]

2 Anm.: Regionen (weltweit), in denen die französische Sprache Amtssprache ist.

3 Die Autoren des OLF stützen sich bei ihren Schätzungen auf die neuesten offiziellen Daten aus den „World Population Prospects. The 2012 Revision“ (United States 2013) der United Nations Population Division (La Division de la Population des Nations Unies).

4 Anm.: Die Angaben in diesem Abschnitt beziehen sich auf die Anzahl der Muttersprachler sowie auf diejenigen frankophonen Sprecher, die die französische Sprache täglich benutzen (Dauergebrauch).

5 OLF 2014, S. 35

6 Ebd., vgl. Préface

7 Anm.: Muttersprache bzw. Dauergebrauch.

8 OLF 2014, S. 21

9 Anm: Zu den Angaben auf dieser Seite vgl. OLF 2014, S. 20f., 34f., 37.

10 Stein 2003, S. 14

11 Anm.: Redewendungen und FVG nach der Definition der Verfasserin der vorliegenden Arbeit, s. Kapitel 2.3.2f.

12 Hausmann 1984, S. 398

13 Ebd., S. 399

14 Ebd., S. 398f.

15 Vgl. Gross 1996, S. 17

16 Anm.: s. Kapitel 4.2.

17 Vgl. Gross 1996, S. 17

18 Mejri 2005, S. 186

19 Ebd., S. 190

Details

Seiten
358
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783631726662
ISBN (ePUB)
9783631726679
ISBN (MOBI)
9783631726686
ISBN (Hardcover)
9783631725832
DOI
10.3726/b11351
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Juli)
Schlagworte
(Afrikanische) Frankophonie Datenbankrecherche Zeitungskorpora; Pressesprache Funktionsverbgefüge Körperteilsymbolik Signifikanzprüfung
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 358 S., 12 Abb., 136 Tab.

Biographische Angaben

Ragna Brands (Autor:in)

Ragna Ingrid Brands studierte Französisch, Englisch und Deutsch in Mainz. Sie wurde an der Universität zu Köln im Fach Romanische Philologie promoviert.

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