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Der Umgang mit Geschichte im historischen Roman der Gegenwart

Am Beispiel von Uwe Timms «Halbschatten», Daniel Kehlmanns «Vermessung der Welt» und Christian Krachts «Imperium»

von Max Doll (Autor:in)
©2017 Dissertation 580 Seiten
Reihe: Moderne und Gegenwart, Band 21

Zusammenfassung

Ausgehend vom anhaltenden Vorwurf, der historische Roman betreibe Geschichtsklitterei, kann dieses Buch zeigen, dass das Genre in der Gegenwart sogar in seinen postmodernen Ausprägungen produktiv mit Geschichte verfährt. Zu diesem Zweck interpretiert der Autor nicht nur drei ausgewählte Werke, sondern erschließt sie im genauen Abgleich mit ihren Quellen und erörtert, dass historische Romane Geschichte nicht nur zu Unterhaltungszwecken nutzen. Vielmehr erfolgt eine sinnstiftende Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Material; in Veränderungen und Verfremdungen lässt sich eine klare, nicht minder korrekte Aussageabsicht erkennen, die lediglich auf eine unmittelbare Reproduktion von Quellen verzichtet.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung: Ziel und Methode
  • 2. Theoretische Grundlagen
  • 2.1 Postmoderne
  • 2.2 Historiographie
  • 2.3 Historischer Roman und Gegenwartsliteratur
  • 2.4 Timm, Kehlmann, Kracht und der historische Roman
  • 3. Uwe Timm: Halbschatten
  • 3.1 Postmoderne Konzeption
  • 3.2 Emplotment und Intertextualität
  • 3.3 Geschlechterrollen
  • 3.4 Mythen und Nationalsozialismus
  • 3.5 Selbstmord
  • 3.6 Metahistoriographie
  • 3.7 Umgang mit Geschichte
  • 3.7.1 Audiovisuelles Quellmaterial
  • 3.7.2 Dahlem: Collage
  • 3.7.3 Der Graue und Miller: Doppelte Narration
  • 3.7.4 Marga von Etzdorf: Portrait und Auseinandersetzung
  • 3.7.5 Heydrich: Die Stimme des Forschungsstandes
  • 3.7.6 Zitate: Direkte Übernahmen
  • 4. Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt
  • 4.1 Formale und inhaltliche Konzeption
  • 4.2 Der postmoderne Umgang mit Metaerzählungen
  • 4.3 Metahistoriographie
  • 4.3.1 Erinnerung und Wahrnehmung
  • 4.3.2 Narrativität
  • 4.3.3 Quellen und Wahrheit
  • 4.4 Umgang mit Geschichte
  • 4.4.1 Inhaltliche Übernahmen
  • 4.4.2 Episodenstruktur
  • 4.4.3 Kritische Gegenperspektiven
  • 5. Christian Kracht: Imperium
  • 5.1 Nationalsozialismus
  • 5.2 Kolonialismus
  • 5.3 Die postmoderne Autorinszenierung
  • 5.4 Wissen und Wahrnehmung
  • 5.5 Umgang mit Geschichte
  • 5.5.1 Klassische Quellen
  • 5.5.2 Intertextuelle Quellen
  • 6. Zusammenfassung
  • 6.1 Historiographie
  • 6.2 Metahistoriographie
  • 6.3 Quellen
  • 6.4 Tendenzen des historischen Romans
  • 6.4.1 Historiographische Metafiktion
  • 6.4.2 Fakt und Fiktion im postmodernen Roman
  • 6.5 Das Ende der Geschichte
  • Abbildungsverzeichnis
  • Archivquellen
  • Literaturverzeichnis
  • Reihenübersicht

Max Doll

Der Umgang mit Geschichte im
historischen Roman der Gegenwart

Am Beispiel von Uwe Timms Halbschatten,
Daniel Kehlmanns Vermessung der Welt
und Christian Krachts Imperium

Herausgeberangaben

Max Doll studierte an der Universität Osnabrück Germanistik, Geschichte und Informatik für das Lehramt an Gymnasien. Im Anschluss promovierte er dort am Institut für Germanistik.

Über das Buch

Ausgehend vom anhaltenden Vorwurf, der historische Roman betreibe Geschichtsklitterei, kann dieses Buch zeigen, dass das Genre in der Gegenwart sogar in seinen postmodernen Ausprägungen produktiv mit Geschichte verfährt. Zu diesem Zweck interpretiert der Autor nicht nur drei ausgewählte Werke, sondern erschließt sie im genauen Abgleich mit ihren Quellen und erörtert, dass historische Romane Geschichte nicht nur zu Unterhaltungszwecken nutzen. Vielmehr erfolgt eine sinnstiftende Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Material; in Veränderungen und Verfremdungen lässt sich eine klare, nicht minder korrekte Aussageabsicht erkennen, die lediglich auf eine unmittelbare Reproduktion von Quellen verzichtet.

Zitierfähigkeit des eBooks

Diese Ausgabe des eBooks ist zitierfähig. Dazu wurden der Beginn und das Ende einer Seite gekennzeichnet. Sollte eine neue Seite genau in einem Wort beginnen, erfolgt diese Kennzeichnung auch exakt an dieser Stelle, so dass ein Wort durch diese Darstellung getrennt sein kann.

Danksagung

Diese Arbeit wäre ohne die Unterstützung dritter Personen schwerlich zu realisieren gewesen. Mein ganz besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Christian Dawidowski. Seine Anregungen und sein ansteckender Enthusiasmus waren eine stete Quelle der Motivation; sie haben wesentlich zum erfolgreichen Abschluss des Forschungsprojekts beigetragen. Möglich gemacht hat die Arbeit außerdem die ausdauernde und vielfältigste Unterstützung durch meine Familie.

Osnabrück, 2017←5 | 6→ ←6 | 7→

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung: Ziel und Methode

2. Theoretische Grundlagen

2.1 Postmoderne

2.2 Historiographie

2.3 Historischer Roman und Gegenwartsliteratur

2.4 Timm, Kehlmann, Kracht und der historische Roman

3. Uwe Timm: Halbschatten

3.1 Postmoderne Konzeption

3.2 Emplotment und Intertextualität

3.3 Geschlechterrollen

3.4 Mythen und Nationalsozialismus

3.5 Selbstmord

3.6 Metahistoriographie

3.7 Umgang mit Geschichte

3.7.1 Audiovisuelles Quellmaterial

3.7.2 Dahlem: Collage

3.7.3 Der Graue und Miller: Doppelte Narration

3.7.4 Marga von Etzdorf: Portrait und Auseinandersetzung

3.7.5 Heydrich: Die Stimme des Forschungsstandes

3.7.6 Zitate: Direkte Übernahmen

4. Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt

4.1 Formale und inhaltliche Konzeption

4.2 Der postmoderne Umgang mit Metaerzählungen

4.3 Metahistoriographie

4.3.1 Erinnerung und Wahrnehmung

4.3.2 Narrativität

4.3.3 Quellen und Wahrheit ←7 | 8→

4.4 Umgang mit Geschichte

4.4.1 Inhaltliche Übernahmen

4.4.2 Episodenstruktur

4.4.3 Kritische Gegenperspektiven

5. Christian Kracht: Imperium

5.1 Nationalsozialismus

5.2 Kolonialismus

5.3 Die postmoderne Autorinszenierung

5.4 Wissen und Wahrnehmung

5.5 Umgang mit Geschichte

5.5.1 Klassische Quellen

5.5.2 Intertextuelle Quellen

6. Zusammenfassung

6.1 Historiographie

6.2 Metahistoriographie

6.3 Quellen

6.4 Tendenzen des historischen Romans

6.4.1 Historiographische Metafiktion

6.4.2 Fakt und Fiktion im postmodernen Roman

6.5 Das Ende der Geschichte

Abbildungsverzeichnis

Archivquellen

Literaturverzeichnis

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1. Einleitung: Ziel und Methode

„Abgrundtief schlecht recherchiert“ sei die Vermessung der Welt (de Vareschi 2009: 262), urteilt unter anderem de Vareschi unter Verweis auf zahlreiche Ungenauigkeiten und Fehler bei der Abbildung historischer Wirklichkeit über Daniel Kehlmanns Roman. Analog zu anderen Werken der gleichen Textgattung ist auch die Rezeption dieses Buches in Teilen geleitet von einer Bewertung, die die Qualität eines historischen Romans anhand von binären, lediglich auf die oberflächliche Ebene unmittelbarer Abbildung angewendeten Ordnungskategorien ermittelt. „Richtig“ und „falsch“ erscheinen als absolute Bewertungsmaßstäbe für die fiktionalisierte Darstellung des Vergangenen jedoch aus verschiedenen Gründen unzureichend. Obgleich der Roman vor allem an der Darstellung fiktionalisierter Geschichte in deskriptivem Gestus, also an der Korrektheit seines Inhalts gemessen wird, ist eine derartige „Objektivität“ als absoluter Maßstab in der Postmoderne längst fragwürdig geworden. Ausgehend von der Arbitrarität sprachlicher Zeichen werden Wahrnehmung und die Vermittlung von Realität, was Wahrheit einschließt, kontextgebundenen; sie sind nicht absolut erfassbar und können nur unzuverlässig bestimmen werden. Die Postmoderne verinnerlicht deshalb den Aspekt der Pluralität von Wahrheiten und Deutungsmustern, die unauflösbar nebeneinander gestellt werden sollen und gleitet nicht, wie oftmals postuliert, in die Beliebigkeit ab. Stattdessen wird in Anbetracht einer drohenden Uniformierung von Perspektiven im Rahmen gesellschaftlicher Metaerzählungen Pluralität und ein Nebeneinander von Perspektiven als Handlungsmuster ausgegeben, welches das Hinterfragen des gegenwärtig Korrekten zur Maxime erhebt.

Das pluralistische Verständnis von Wahrheit und Realität nach der „linguistischen Wende“ hat intensive Debatten um Zielsetzungen und Limitierungen der Geschichtswissenschaft angestoßen. Nach klassischem Verständnis herauszufinden „wie es eigentlich gewesen“ (Ranke 1824: VIII), erscheint nunmehr unmöglich, die Disziplin gerät durch eine solche Ausrichtung in den Verdacht, nicht mehr als Legitimationswissenschaft zu sein. Kurz: Der Geschichtswissenschaft ist ihr fest umrissen geglaubter Gegenstand verloren gegangen (vgl. Goertz 2001). Mit den Bedingungen und Limitierungen der Wahrnehmung, des Erinnerns, des Gedächtnisses sowie der Konstruktion von Wirklichkeit finden biologische und soziale Faktoren bei der Bewertung und Erzeugung von Geschichte Beachtung, die diese zunehmend als Konstrukt erscheinen lassen. Die Vergangenheit entsteht also „überhaupt erst dadurch, daß man sich auf sie bezieht“ (Assmann 2013: 31) und sie demnach aus der Gegenwart heraus erschafft. Damit bekommt←9 | 10→ eine Geschichte einen stärker narrativen und mithin fiktionalen Charakter: Der Status einer Narration oder Erinnerung als „wahr“ oder „real“ hängt vor allem davon ab, „ob sie <korrekt>, d. h.: ob sie in einem sozialen Rahmen bzw. in einem öffentlichen Kommunikationsraum mitteilbar und akzeptabel“ ist (Assmann 2006: 162).

Auch durch die Betonung des Konstruktcharakters von Geschichte erodiert die bisher strikte Trennung zwischen faktischer Wissenschaft und fiktionaler Literatur, während gleichzeitig die Notwendigkeit hervortritt, Geschichtsschreibung stärker als zuvor kritisch zu hinterfragen; sie ist mehr denn je als steter Prozess zu denken. Es ist demnach offenkundig, „daß das Verhältnis zwischen Geschichtsschreibung und Dichtung in der Postmoderne problematisch geworden ist“ (Nünning 2010). Dabei werden tendenziell aus historiographischer Perspektive Unterschiede (vgl. etwa Arnold 2001: 23), aus literaturwissenschaftlicher Perspektive hingegen Gemeinsamkeiten zur Geschichtsschreibung hervorgehoben (vgl. etwa Nünning 1999a: 369 ff.). Literatur kommt jedoch nicht nur aufgrund der wiederentdeckten narrativen Nähe zur Historiographie Bedeutung zu, sondern auch aufgrund ihrer besonderen Rolle für die Aushandlung eines Geschichtsbildes innerhalb der Gesellschaft. Dies gilt insbesondere für den historischen Roman, der als „hybrides Genre“ im „Medium der Fiktion Geschichte darstellt“ (Nünning 1995: 42) und in postmodernen Ausprägungen „an der Grenze zwischen Literatur und Geschichtsschreibung“ operiert (Nünning 2010: 542). Theoretisch kann der Roman damit auch zu einer Form der Proto-Historiographie werden. Die Besonderheit der Gattung liegt in der Kombination fiktionaler und faktualer Elemente, die in einem produktiven Diskurs stehen, wobei die Klassifizierung eines Romans im Einzelfall über das Verhältnis dieser beiden Komponenten erfolgt (Geppert 2009: 4).

Gerade weil Vergangenheit aus der Gegenwart heraus konstruiert wird und damit durch die legitimatorische Auslegung aktuelle Weltbilder und Metaerzählungen supplementiert, kann der historische Roman postmodern Stellung zur Gegenwart beziehen und diese kritisch hinterfragen. Die vorhandenen Überschneidungen mit kollektiven Geschichtsbildern hebt Erll hervor: „Beide – Literatur und Gedächtnis – bringen auf konstruktive Weise Wirklichkeits- und Vergangenheitsversionen hervor“ (Erll 2005: 143). Zugleich werden durch den Vergangenheitsbezug des historischen Romans immer, implizit oder explizit, auch Aussagen über die Geschichtsschreibung getroffen. Die Gattung ist daher zwingend auch metahistorisch konzipiert (vgl. Scholz 2012: 51). Als Trägermedium eignet sich die Gattung sowohl in affirmativer Hinsicht als auch zur Dekonstruktion von Vergangenheitsbildern. Durch die Interdependenzen zwischen←10 | 11→ Erinnerung und Literatur als Trägermedium gewinnt der historische Roman zudem an Wirkmächtigkeit.

Das Spannungsverhältnis zwischen fiktionalen und faktualen Elementen erlaubt es dem historischen Roman, Themen und Lücken in der Geschichte zu erkunden; hier konstituiert sich sein potentiell kritisches Element. Dem Historiker schreiben die Quellen vor, „was gesagt werden kann“ sowie daraus folgend was nicht gesagt werden darf (Lützeler 1997: 14), womit seine Darstellungsräume in Bezug auf das Kriterium der „Wahrheit“ sozialen Kontexten und damit herrschenden Diskursen unterworfen werden. Der Roman kann hingegen durch seine gattungsspezifischen Freiheiten auch fiktionale, alternative Darstellungsräume erkunden und auf diese Weise mit einer deutlich größeren methodischen Vielfalt sowie kreativen Verfahren und Techniken Perspektiven oder Deutungen in Frage stellen. Auch hier schält sich ein Deutungsanspruch heraus, der über das Abbilden fiktionalisierter Geschichte zu reinen Unterhaltungszwecken hinausgeht. In einem Grenzbereich können historischer Roman und Geschichtswissenschaft daher verschmelzen, wenngleich sich beide Bereiche prinzipiell voneinander trennen lassen. Sie stehen vielmehr in einer Art symbiotischem Verhältnis wechselseitiger Ergänzung: Die Literatur gerade der zielgebundenen Postmoderne bewegt sich durch ihre Fiktionalität in einem Bereich, welcher der durch Quellen und Metaerzählung tendenziell limitierten Geschichtsschreibung nicht oder nur begrenzt zugänglich ist. Der Freiraum des historischen Romans entsteht im Medium der Fiktion, das sich durch diese Klassifizierung sicher außerhalb des herrschenden Diskursrahmens bewegen kann. Der postmoderne historische Roman ist deshalb als Noch-Nicht-Geschichte unter Umständen auch eine Form der Proto-Historiographie; er kann theoretisch mit den ihm eigenen Methoden Perspektiven und Deutungsmöglichkeiten eröffnen.

Der historische Roman erweist sich aufgrund seines kritischen Potentials als beliebte Ausdrucksform postmoderner Literatur, die sich tendenziell mit der Narrativität von Wirklichkeit und Wahrheit in einem pluralen Meinungsgefüge vielfältig auseinandersetzt, dies jedoch mittels der Darstellung von Vergangenheit tut (Lützeler 1997: 21). Nach Linda Hutcheon ist der postmoderne, historische Roman grundsätzlich als historiographische Metafiktion zu klassifizieren (vgl. Hutcheon 1988: 105 ff.).1 Es handelt sich hierbei um einen Roman, der im Rahmen des Historischen aus postmoderner Perspektive Kritik an der Gegenwart übt und gleichzeitig die Bedingungen und Weisen von (historischer) Erkenntnis im Modus←11 | 12→ der Fiktionalität reflektiert. Nicht mehr das Nachempfinden der Realität sondern die Reflexion historiographischer Probleme im Rahmen der Debatte um eine historiographische Postmoderne sowie die selbstreflexive Auseinandersetzung mit der Fiktionalität des Textes und damit der Konstruktcharakter von Wirklichkeit stehen im Vordergrund. Dabei gibt sich der Roman als ein Deutungsmuster in einem pluralen Angebot zu erkennen und verzichtet auf absolut gehaltene Aussagen. Zugleich wird die grundsätzliche Frage nach der Rekonstruierbarkeit von Vergangenheit zu einem häufigen Thema postmoderner Gattungsvertreter. Die exakte im Sinne faktisch „korrekter“ Abbildung einer Wirklichkeitsversion verliert mit dem Wechsel von der Deskription zur Reflexion und der Neubewertung des Vergangenen als Konstrukt an Bedeutung, wodurch der Vermittlungsrahmen in reflexive Bereiche weg von Wissen über Geschichte hin zum Wissen über Geschichtsschreibung entlang aktueller Positionen der fachwissenschaftlichen Debatte rückt (Catani 2009: 143 f.). Postmoderne Ausprägungen der Gattung sind zudem metafiktional ausgerichtet: Sie stellen ihre Fiktionalität selbstreflexiv heraus und überspitzen Ausrichtung und Anlage der zugrunde liegenden Gattung (Schilling 2012: 50). Die stärker fiktional ausgerichtete Darstellungsform dieses Typus kontrastiert zum klassischen Referenzrahmen nach Walter Scott, der noch überwiegend der faktisch belegte, außerliterarische und für die Abbildung von Geschichte maßgebliche Bereich war. Eine exakte Definition erweist sich aufgrund der Konzeption der Postmoderne einerseits, durch fließende Übergänge und Grenzen im Spektrum der Gattung andererseits als unmöglich.

Als Gattungsroman gilt gemeinhin Umberto Ecos Name der Rose (Eco 1986a), bei dem sich wesentliche Merkmale und Themenfelder des postmodernen historischen Romans nachweisen lassen. In der Nachschrift zum > Namen der Rose< skizziert Eco zudem Ideen und Grundzüge seines Romans, die für nachfolgende Werke weiterhin Gültigkeit besitzen. Schon die Einleitung baut durch eine mehrfache Überlieferungsfiktion und vielfältige Brechung Distanz zum historischen Geschehen auf. Unter anderem durch Fußnoten und die Tradierungsgeschichte wird daher lediglich der Eindruck einer unmittelbaren und exakten Wiedergabe erweckt, welcher ebenso wie die durch Imitation eines Kriminalromans geweckten Lesererwartungen (Eco 1986b: 59) unmittelbar unterlaufen wird.2 Gleiches gilt für den eigentlichen Chronisten der Geschichte, der als Plattform für metahistoriographische und metafiktionale Reflexionen fungiert. Adson von←12 | 13→ Melk verspricht zwar eine unverfälschte Wiedergabe des Vergangenen, stellt sich jedoch als ein sichtbar konstruierender und unzuverlässiger Erzähler heraus, der sich am Ende der Handlung nicht einmal mehr sicher ist, ob sich seine Geschichte auf erlebte Ereignisse oder aufgesammelte und neu zusammengesetzte Pergamentfetzen bezieht (Eco 1986a: 634 f.).3 Vorhaben und Ergebnis stehen so in zunehmendem Widerspruch. Das Spiel mit Fakt und Fiktion, dem lediglich das Kriterium der Plausibilität übergeordnet bleibt (vgl. Eco 1986b: 34 f., 88), wird zudem durch die Einbindung von Zitaten des Philosophen Ludwig Wittgenstein fortgesetzt,4 der wie die Auseinandersetzung mit aufklärerischen Ideen, die William von Baskerville unübersehbar vertritt, einen der vielfältigen Gegenwartsbezüge herstellt.5 Das Ziel dieser Elemente ist nicht nur Ursachen für Entwicklungen und gegenwärtige Zustände, sondern einen „Prozeßverlauf“ (ebd.: 85 ff.) herauszuarbeiten. Vergangenheit wird so zweckgebunden als Ort für die Analyse der aus ihr hervorgegangenen Gegenwart genutzt. Sie gewinnt eine Dimension, die über eine Rolle als Staffage zu bloßen Unterhaltungszwecken hinausgeht. Als weiteres wesentliches Merkmal sticht die intertextuelle Dimension des Romans heraus, die sowohl durch Zitate und Anspielungen als auch durch unmittelbare Reflexion ausdrückt, das Texte im Sinne eines voranschreitenden Labyrinths nur fort- und überschrieben werden: „Jede Geschichte erzählt eine schon längst erzählte Geschichte“ (ebd.: 28). Thematisiert werden zudem die Relativität der Zeit und von Wirklichkeit, Symboltheorien, die Funktion sprachlicher Zeichen6←13 | 14→ und das Ungenügen singulärer Sinnstrukturen.7 Absolute Wahrheit existiert im Roman ebenso wenig wie historische Wahrheit, beide werden in Zweifel gezogen und lassen sich nicht sicher eruieren. Am Ende kann der Rezipient lediglich annehmen, dass sich das Geschehen wie geschildert zugetragen haben könnte, womit sich der Text eindeutigen Aussagen entzieht. Zentral für die Aussageebene des Romans ist darüber hinaus seine kritische Dimension. Die Postmoderne lebt, wie Eco in der Nachschrift erläutert, von der Infragestellung (ebd.: 74 ff.). Zentral ist hierfür die „ironische Neureflexion“ des bereits Gesagten8 sowie eine produktive Ambivalenz, die zu wesentlichen Merkmalen postmoderner Texte erhoben werden und das Vergangene beziehungsweise die damit verbundene Gegenwart neuen Perspektiven unterwerfen (vgl. ebd.: 9 f., 78 ff.). Auch die Rezipierbarkeit des Romans als Exponent von Hoch- und Trivialkultur lässt sich bei Eco ebenso wie bei den im Rahmen dieser Arbeit analysierten Romanen beobachten.

In der gegenwärtigen Theorie werden vor allem der metahistorische Aspekt sowie die formalen Marker des postmodernen historischen Romans betrachtet. Der Beitrag des Mediums zur historischen Debatte, die Darstellung von Geschichte, wurde hingegen lediglich theoretisch in älteren Überlegungen abgesteckt, nicht jedoch qualitativ konkret untersucht. Dies gilt insbesondere für die spezielle Ausprägung historiographischer Metafiktion: Trotz der stärkeren Fiktionalität dieser Romane ist eine Betrachtung hinsichtlich pluralistischer Interpretationen von vergangenen Ereignissen und damit proto-historiographischer Tendenzen ausgeblieben. Bislang hat sich noch keine Arbeit in praktischer Analyse mit dieser Sinnrichtung sowie den Methoden des Romans im Umgang mit Geschichte auseinandergesetzt. Historische Romane werden allenfalls vereinzelt auf „Korrektheit“, d. h. auf Übereinstimmung des Dargestellten mit dem gegenwärtig vorherrschenden Geschichtsbild sowie die Genauigkeit der genannten←14 | 15→ Fakten, darunter Daten und Zahlenangaben, geprüft. Unter primär diesem Aspekt hat etwa Schmiedel Uwe Timms Morenga unter der Fragstellung Fiktion oder literarische Geschichtsschreibung? im Abgleich mit Quellen analysiert (vgl. Schmiedel 2007).9 Wie bei anderen, nicht dediziert quellgestützten Vergleichen dieser Art wird jedoch lediglich ein binäres Ordnungsraster bemüht, das alles nicht historisch und historiographisch Verbürgte als ein „falsches“, also fiktives Element klassifiziert, welches keinen konkreteren Bezug zur außerliterarischen Wirklichkeit aufweist. Die Frage nach der Abbildung einer möglichen, spezifisch literarischen Wahrheit als einer wesentlichen Aussagedimension und -qualität von Literatur wird hingegen in derartigen Untersuchungen nicht beantwortet, obgleich sie sich für postmoderne Romane mit Nachdruck stellt. Gerade die Betrachtung einer übergeordneten Aussageebene und dem „warum“, der Darstellungsabsicht hinter möglichen Veränderungen und ihre Plausibilität, die zum Gegenstand dieser Analyse erhoben wird, ist jedoch geeignet, das Deutungs- und Aussagepotential des (postmodernen) historischen Romans im Raum der Fiktion und im freien Umgang mit historischer „Realität“ zu bestimmen. Besondere Relevanz gewinnt das Thema durch die nach der „linguistischen Wende“ unscharf gewordene Grenze zwischen Literatur und Geschichtswissenschaft. Damit steht nicht nur das Aufgreifen geschichtstheoretischer Themen, der Limitierung von Erinnerung und Konstruktion von Vergangenheit etwa, sondern auch der Umgang mit dem Quellmaterial selbst im Vordergrund. Dabei ist insbesondere relevant, wie sich das Spannungsverhältnis von metahistorischer Anschaulichkeit, der notorischen Unschärfe bei der Wahrnehmung des Vergangenen und die Vermittlung eines alternativen Geschichtsbildes im Umgang mit den Quellen selbst niederschlagen. Gemäß der Definition von Postmoderne muss der fiktionale Freiraum produktiv eingebracht werden: Ein „anything goes“ ist in diesem Rahmen nicht akzeptabel. Auf diese Weise leistet die vorliegende Untersuchung einen Beitrag zu einem Kernaspekt des postmodernen historischen Romans der Gegenwart. Verbunden ist hiermit die Frage, ob der metafiktionale Roman nicht nur Historiographie sondern auch Historie reflektiert und sich gemäß postmoderner Vorstellungen kritisch mit der Vergangenheit auseinandersetzt – auch hier fehlt es an eindeutigen Untersuchungen, die die Quellen eines Werkes einbeziehen, obgleich die Relevanz der „Notwendigkeit, Schnittmengen, Konvergenzen und Divergenzen“ zwischen Geschichtswissenschaft und Literatur „vergleichend im Blick zu behalten, auf der Hand“ liegt (Stopka 2013: 92).←15 | 16→

Ziel der Analyse ist es aus diesem Grund herauszufinden, wie der postmoderne Typus des historischen Romans seinen fiktionalen Freiraum gestalterisch ausnutzt, d. h. wie er in darstellerischer Absicht mit Geschichte gemäß postmoderner Ideen umgeht. Im Zentrum des Interesses steht die Frage, wie die Gattung auf Basis postmoderner Ideen produktiv mit dem historischen Material arbeitet, das zu diesem Zweck in Auszügen seiner literarischen Verarbeitung gegenübergestellt wird. Daraus folgt unvermeidlich auch eine Bestimmung des praktischen Werts, den der postmoderne historische Roman im Spannungsbereich zwischen Fakten und Fiktionen für die Historiographie einnehmen kann. Um verwertbare Aussagen der heterogenen und unübersichtlichen Gattung zu erhalten, konzentriert sich die Untersuchung ausschließlich auf deutschsprachige Vertreter der jüngeren Gegenwartsliteratur zwischen den Jahren 2005 und 2012. Die Reduzierung der Materialbasis auf die unmittelbare Gegenwart führt außerdem zu einer Berücksichtigung gegenwärtiger Entwicklungslinien der Gattung mit entsprechend hoher Aktualität, die in der Forschung bislang ebenfalls nur in teils geringem Umfang analysiert worden sind.

Das vorliegende Konzept zielt daher auf eine detaillierte, qualitative Untersuchung dieses Aspekts des historischen Romans. Daraus ergeben sich zwei aufeinander aufbauende Analysedimensionen, welche die literaturtheoretischen Ansätze der Arbeit bedingen. Zunächst stellt sich die Frage nach Inhalt und Aussageebene: Um herauszufinden, wie der historische Roman der Gegenwart mit Geschichte und Quellen umgeht, muss zunächst ermittelt werden, was auf welcher theoretischen, d. h. historiographischen Basis erzählt wird. Dabei gilt es einerseits die Einbettung in den geschichtstheoretischen Diskurs nachzuweisen, andererseits den postmodernen Gegen-Diskurs aufzuspüren, der werkimmanent in der Regel durch fiktive Elemente gekennzeichnet ist. Integraler Bestandteil der Untersuchung ist damit auch die Verortung der untersuchten Werke im Spektrum des historischen Romans unter dem Gesichtspunkt ihrer (Post-)Modernität sowie das Herausarbeiten ihrer historischen und historiographischen Dimensionen. Basis dieser Werkinterpretation ist ein hermeneutischer Zugang, der den Text selbst ganzheitlich in den Mittelpunkt stellt und neben einer erzähltheoretischen Analyse der äußeren Form auch die Position des Autors als argumentative Grundlage heranzieht. Gemäß hermeneutischer Zielsetzungen dient die Erschließung dazu, „Elemente eines literarischen Textes oder den Text als ganzen verständlich zu machen“ (Köppe & Winko 2013: 140),10 wobei die←16 | 17→ Romane als ganzheitliches Sinnangebot verstanden werden. Die Konzeption einer Hermeneutik als Theorie des Verstehens11 fördert die Untersuchung auch, weil sie eine allgemeine, geisteswissenschaftliche Dimension hat und damit in der Analyse der Quellen ebenso anzuwenden ist. Die Erschließung der Romane erfolgt jedoch nicht nach einen fest formalisierten Schema. Sie wird durch den Inhalt, das historische Thema, vorgegeben und ist abseits grober Rahmenpunkte werkindividuell angelegt.

In einem zweiten Schritt wird diese inhaltliche Ebene als das Ergebnis des ersten Analyseschritts in Bezug zum Quellmaterial gesetzt. Hier ist von Bedeutung, wie sich Aussage und die zum Ausdruck gebrachte historiographische Position auf den Umgang mit historischem Material auswirken. Dabei erfolgt der Abgleich mit Quellen nicht nur hinsichtlich grober Deutungen, sondern im Rahmen eines Blicks auf die Mikroebene des Romans im Detail. Handlungsleitend ist die These, dass ein postmoderner historischer Roman mit Quellmaterial produktiv verfahren kann und seinen fiktionalen Freiraum für die übergeordnete Darstellungsabsicht – dem Hinterfragen der Moderne – aber auch zur kritischen Betrachtung des Quellmaterials nutzt. Aus gleichem Blickwinkel erfolgt die Einordnung von Quellen unter der Annahme, dass sowohl die Historiographie als auch der historische Roman im kritischen Umgang mit ihrem Material auf unterschiedliche Weise Vergangenheitsversionen erzeugen. Literatur verzichtet aus dieser Perspektive in der Regel auf klassische Quellenkritik beziehungsweise auf die Offenlegung des wissenschaftlichen Methodenrepertoires, agiert funktional jedoch ähnlich. Besondere Relevanz bekommt das Verhältnis von Faktizität und Fiktionalität, speziell in Anbetracht der an postmodernen Romanen geäußerten Kritik. Zur Grundlage der Arbeit werden demnach zwei Gattungen Primärtexte: Wissenschaftlich kanonisierte, historische Romane der Gegenwart sowie die ihnen zu Grunde liegenden (Primär-)Quellen. Diese Eigenheit bedingt die Reduktion der Textauswahl auf biographische Literatur, in der die Protagonisten auf historische Personen rekurrieren. Im Gegensatz zu Romanen, in denen fiktionale Helden vor historischem Hintergrund agieren, erlaubt dieser Umstand die Präzisierung des Quellenkorpus anhand wesentlicher Erzeugnisse der historischen Personen; die Anlage des Romans engt damit den ohne Einschränkungen schier unendlichen Raum des zu Grunde liegenden Materials in wesentlichen Aspekten ein. Dies ist von besonderer Relevanz, da der postmoderne anders als der klassische his←17 | 18→ torische Roman nicht nur auf die entsprechende Gattungsbezeichnung, sondern fast immer auch auf Quellenangaben verzichtet.

Die Textauswahl beschränkt sich mit Blick auf die Quellenlage auf drei Romane mit einem unterschiedlich stark akzentuierten Anteil fiktiver Elemente. Uwe Timms Halbschatten (Timm 2008) gibt die wesentlichen Unternehmungen der Pilotin Marga von Etzdorf in der Weimarer Republik bis zu ihrem Selbstmord in Aleppo (Syrien) im Jahr 1933 wieder. Der Roman stützt sich dazu primär auf die Autobiographie, den Nachlass der Fliegerin sowie Dokumente aus den Archiven des Auswärtigen Amts.12 Daniel Kehlmanns Vermessung der Welt (Kehlmann 2005) schildert die Südamerika-Reise des Naturforschers Alexander von Humboldt sowie die Messtätigkeiten des Mathematikers Carl Friedrich Gauß. Die Darstellung kann unter anderem auf die breit rezipierten Reisebeschreibungen Humboldts zurückgeführt werden, die der Roman in Auszügen aufgreift. Christian Kracht beschreibt in Imperium (Kracht 2012) das Leben des Südsee-Siedlers August Engelhardt, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Pazifik eine Privatreligion ins Leben rufen wollte. Hier lassen sich das Manifest Engelhardts, eine Anzahl Briefe sowie zeitgenössische Reiseberichte als Grundlage für die literarische Betrachtung des Stoffes ausmachen; zu Gute kommt der Untersuchung, dass das Interesse an der Überlieferung von Dokumenten obskurer Personen grundsätzlich gering ist, die Quellbasis also im Allgemeinen einen geringen Umfang besitzt.13 Die Wahl des historischen Gegenstands bedingt insofern auch die Größe des Quellenkorpus der Analyse. Es liegt in der Natur der Sache, dass die analysierten Textpassagen weder den Anspruch auf Vollständigkeit noch, bedingt durch die Art der Ermittlung, die für sich genommen bereits eine Deutung vornehmen muss, in jedem Fall auf absolute Korrektheit erheben können.

In einem zweiten Schritt erfolgt nach der inhaltlichen Erschließung die Analyse im Abgleich mit ihren Quellen. Zur Betrachtung der durch die Romane vorgenommenen Veränderungen werden Passagen aus Literatur und übereinstimmende Stellen des historischen Bezugstextes vergleichend analysiert. Eine Übereinstimmung wird dann als gegeben angenommen, wenn entweder explizit Schlüsselbegriffe oder Textpassagen identisch sind oder implizit Ablauf, das über←18 | 19→ geordnete Thema oder die Struktur vergleichbar sind. Erneut werden zu diesem Zweck hermeneutische Methoden eingesetzt, die einerseits auch in der Geschichtswissenschaft als Teil der Quellanalyse anschlussfähig sind,14 andererseits die Annahme erlauben, dass der Autor eines Textes Quellen bei der Konstruktion seines Werkes intentional eingesetzt hat. Dies ermöglicht es, gemäß der Grundannahmen der Arbeit den Bezug auf historisches Material als bewusste Auseinandersetzung mit der Geschichte hinsichtlich einer konkreten Aussageabsicht zu klassifizieren. Aus diesem Blickwinkel wird der historische Roman, der ohnehin von einem starken Bezug auf außerliterarische Texte geprägt ist, auch auf Basis eines strukturalistisch-hermeneutischen intertextuellen Verfahrens betrachtet,15 das den Raum zwischen zwei in Bezug gesetzten Texten als Aussageraum begreift. Dabei leisten solcherart definierte intentionale „Intertextualitätsrelationen einen Beitrag zur Deutungskonstitution eines Textes“ (Köppe & Winko 2013: 131).16

Diese Relationen rücken im zweiten Teil der Analyse in den Mittelpunkt, um herauszufinden, ob die Darstellung unterhaltend-fiktional oder quellbezogen mit einer plausiblen, wenngleich nicht zwingend wissenschaftlich-historischen Aussageabsicht erfolgt. Der Vergleich operiert deshalb nicht mit binären Ordnungskategorien sondern fragt nach dem Sinn sowie der Bedeutung von Übernahmen und Veränderungen.17 Aus diesem Grund werden Unterschiede, Gemeinsamkeiten und der Zweck von Veränderungen bei der (intentionalen) Übernahme von Textstellen ermittelt. Zu berücksichtigen ist bei der Analyse sowohl die formale Ebene als auch der potentiell veränderte Bedeutungsgehalt etwa durch den Einsatz literarischer Mittel in Abgrenzung zum gegenwärtigen Diskursrahmen, den der Roman sowohl in Bezug auf die Gegenwart als auch auf das vergangene Geschehen gemäß seiner Definition unterlaufen kann. In diesem Sinne wird ein Blick auch auf die Neupositionierung in den verschiedenen Diskursen durch die Schaffung alternativer Sinnstrukturen unter Rückbindung an den „ursprünglichen“, d. h. gängigen Aussagegehalt geworfen. Dies grenzt gleichzeitig von handwerklichen←19 | 20→ Fehlern bei der Textproduktion ab, da die Differenzen logisch herzuleiten sein müssen; der fiktionalen Freiheit des Romans wird hier eine natürliche Grenze gesetzt. Für den Umgang mit der historischen Quelle respektive dem davon ausgehend entwickelten, gegenwärtig gültigen Diskursrahmen werden die üblichen Methoden der Historiographie herangezogen. Die Beurteilung von Reichweite und Wahrheitsgehalt erfolgt allerdings mit Blick auf die Freiheiten der Textgattung hinsichtlich des Merkmals der Plausibilität: Während die Quellen gegenüber dem Historiker definieren, was nicht gesagt werden darf, definieren sie gegenüber dem Literaten, was gesagt werden kann.18 Wesentliche Textstellen der wichtigsten, öffentlich zugänglichen Einzelquellen werden am Ende der entsprechen (Unter-)Kapitel in einer tabellarischen Übersicht ausgewiesen, der jeweils verwendete Quellenapparat wird in Gänze zu Beginn der Kapitel „Umgang mit Geschichte“ umrissen.←20 | 21→


1 Nünning präzisiert die Bezeichnung des Romantyps weiterführend als „metahistoriographische Fiktion“ (Nünning 1995: 284 f.).

2 Eco selbst weist in seiner Nachschrift darauf hin, dass der Text durch mehrfache Übersetzungen unvermeidlich Veränderungen unterworfen wurde; mit der Tradierung geht also ein Genauigkeitsverlust einher (Eco 1986b: 41). Die vom fiktiven Herausgeber aufgeworfenen Fragen nach dem Stil der Übersetzung sowie die Spekulationen und Mutmaßungen im Vorwort (Eco 1986a: 8 ff.) sind zudem geeignet, grundsätzliche Zweifel an der Exaktheit der fiktiven Quelle sowie an der Echtheit der gesamten Geschichte zu wecken.

3 Dabei handelt es sich um eine treffende Metapher für die Arbeit mit Quellen.

4 Eco bemerkt, dass unverändert zitierte Texte historischer Personen oftmals für Fälschungen gehalten wurden, Übernahmen aus der Moderne jedoch nicht, was von einem erfolgreichen Spiel mit dem Horizont der Leser zeugt (Eco 1986b: 89).

5 Allein die Referenz auf Sherlock Holmes schon bei der Einführung Baskervilles lässt diesen Bezug unübersehbar hervortreten (Eco 1986a: 32 ff.). Anders als das Original ist Ecos Variante des Detektivs aber nicht der Lage, die Welt rational durchschaubar zu machen, zu erklären oder mit dem Verstand zu durchdringen. Im Gegenteil münden dessen deduktive Ansätze im Chaos und Dogmatismus. Interpretationen erweisen sich als völlig beliebige Sinnzuschreibungen, sowohl von Texten als auch der Welt, was spätestens in der Folterszene deutlich wird (Eco 1986a: 495 f., vgl. auch Schilling 2012: 81 f.). Sinnstrukturen bilden insofern nicht notwendigerweise das tatsächliche Geschehen ab, ihr Ordnungsanspruch scheitert.

Details

Seiten
580
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783631727843
ISBN (ePUB)
9783631727850
ISBN (MOBI)
9783631727867
ISBN (Hardcover)
9783631716090
DOI
10.3726/b11517
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Juli)
Schlagworte
Postmoderne Fiktionsanalyse Gegenwartsroman Quellenanalyse Narratologie Metahistoriographie
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 580 S., 14 s/w Abb., 3 farb. Abb., 10 s/w Tab.

Biographische Angaben

Max Doll (Autor:in)

Max Doll studierte an der Universität Osnabrück Germanistik, Geschichte und Informatik für das Lehramt an Gymnasien. Im Anschluss promovierte er dort am Institut für Germanistik.

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Titel: Der Umgang mit Geschichte im historischen Roman der Gegenwart
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