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Orpheus und die Musik

Metamorphosen eines antiken Mythos in der europäischen Kulturgeschichte

von Hermann Jung (Autor:in)
©2018 Monographie 238 Seiten

Zusammenfassung

Die Macht der Musik ist ein in den europäischen Kulturen von Anbeginn an bis heute faszinierendes Phänomen. Sie ist Thema zahlreicher Mythen, Sagen und Legenden. «Macht der Musik» zeigt sich ebenso im Positiven wie im Negativen, von Arion über König David, Odysseus und die Sirenen bis zum Rattenfänger von Hameln. Doch keiner kann es mit Orpheus aufnehmen. Er ist Vorbild und Urbild für die Macht der Musik, wie diese Studie an ausgewählten Beispielen aus theoretischen Schriften von der Antike bis in die Moderne, aus Dichtung und Bildkunst wie aus musikalischen Kompositionen durch die Jahrhunderte belegt und kommentiert.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • I Einleitung
  • Was ist ein Mythos, was Mythologie?
  • Wer ist Orpheus?
  • II Der Sänger in der antiken Welt
  • III Allegorie – Allegorese – Typologie. Orpheus in Mittelalter und Früher Neuzeit
  • Mittelalter
  • Orpheus in der Bildkunst
  • Ausgang Renaissance/Frühe Neuzeit
  • Marsilio Ficino und Andrea Mantegna als „Orpheus novus“
  • Angelo Poliziano: La fabula di Orpheo
  • IV Orpheus als Sujet: Musiktheater im 17. bis 19. Jahrhundert
  • Wege zu einer neuen Gattung: Caccini, Peri, Monteverdi
  • Giulio Caccini: L’Euridice
  • Jacopo Peri: Euridice
  • Claudio Monteverdi: L’Orfeo
  • Orpheus-Opern in Italien und Frankreich nach Monteverdi bis Offenbach
  • Stefano Landi: La Morte d’Orfeo
  • Luigi Rossi: Orfeo
  • Antonio Sartori: Orfeo
  • Georg Philipp Telemann: Orpheus
  • Christoph Willibald Gluck: Orfeo ed Euridice/Orphée et Euridice
  • Joseph Haydn: L’anima del filosofo ossia Orfeo ed Euridice
  • Jewstignej Ipatowitsch Fomin: Orfei i Jweridika
  • Jacques Offenbach: Orphée aux Enfers
  • V Der Orpheus-Mythos in französischen und italienischen Kantaten des 17. bis 19. Jahrhunderts
  • Marc-Antoine Charpentier: La descente d’Orphée aux Enfers
  • Alessandro Scarlatti: Poi che riseppe Orfeo Dall’oscura magion del arsa Dite [L’Orfeo]
  • Louis-Nicolas Clérambault: Orphée
  • Jean-Philippe Rameau: Orphée
  • Giovanni Battista Pergolesi: Orfeo
  • Hector Berlioz: La Mort d’Orphée
  • VI Orpheus im 19. und 20. Jahrhundert: Gattungs- und Medienpluralität des Mythos
  • Ludwig van Beethoven: Klavierkonzert Nr. 4 G-Dur
  • Franz Schubert: Lied des Orpheus, als er in die Hölle ging
  • Franz Liszt: Orpheus
  • Ernst Krenek: Orpheus und Eurydike
  • Darius Milhaud: Les Malheurs d’Orphée
  • Igor Strawinsky: Orpheus
  • Hans Werner Henze: Orpheus
  • Orpheus behind the wire
  • Harrison Birtwistle: The Mask of Orpheus
  • Philip Glass: Orphée
  • Beat Furrer: Begehren
  • VII Resümee
  • Der mythische Sänger im Spiegel der Geschichte
  • Reinhard Mey, Ich wollte wie Orpheus singen
  • Orfeu Negro
  • The Fugitive Kind (Der Mann in der Schlangenhaut)
  • Vom Suchen und Finden der Liebe
  • Christina Pluhar, Orfeo Chamán
  • Bibliographie
  • Namen- und Werkregister
  • Noten und Notenausgaben

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Vorwort

Die Macht der Musik ist ein in den europäischen Kulturen von Anbeginn an bis heute faszinierendes Phänomen. Sie ist Thema zahlreicher Mythen, Sagen und Legenden. „Macht der Musik“ zeigt sich ebenso im Positiven wie im Negativen. Von Arion, dem Sänger und Dichter aus Lesbos, wird berichtet, er sei auf einer Schifffahrt von Matrosen bedroht worden. Er habe noch ein Abschiedslied singen können und sei dann unvermittelt über Bord gesprungen. Ein bzw. mehrere Delphine, von der Musik offensichtlich angelockt, hätten ihn auf ihrem Rücken vor dem Ertrinken bewahrt und unbeschadet wieder an Land gebracht. Amphion gelingt es durch sein bei Hermes erlerntes Spiel auf der Leier, durch seine Musik auf wundersame Weise die riesigen Steine der Mauer von Theben wieder zusammenzufügen. David, der Hirtenjunge und spätere König, heilt Saul durch sein Harfenspiel von der als Krankheit geltenden Melancholie. Die Heilige Caecilia entkommt einer Legende nach durch Orgelspiel ihrem sicheren Märtyrertod. Dem Tod bringenden Gesang der Sirenen vermag Odysseus, der Held im Trojanischen Krieg, durch eine List zu entrinnen. Das Flötenspiel des Rattenfängers von Hameln rettet erst die Stadt vor einer Plage und führt dann ihre Kinder ins Verderben.

Doch keiner unter den antiken Gestalten kann es mit Orpheus, dem gottbegnadeten Sänger und Musiker, aufnehmen. Er ist Vorbild und Urbild für die Macht der Musik, wie diese Studie an ausgewählten Beispielen aus theoretischen Schriften von der Antike und bis in die Moderne, aus Dichtung und Bildkunst wie aus musikalischen Kompositionen durch die Jahrhunderte belegen und kommentieren wird. Orpheus wird im antiken Mythos in mehreren Funktionen sichtbar: einmal als Person, die durch Singen und Musizieren Macht über Natur und Kreatur ausübt. Von einer Fahrt in den Hades, um mithilfe der Musik seine tote Gattin Eurydike in die Welt der Lebenden zurückzuholen, kehrt er unverrichteter Dinge zurück, wendet sich dem Apollo-Kult zu und wird dafür von den Anhängerinnen des Dionysos getötet. Weiterhin wird Orpheus zum Dichter gekürt, Schriften mystischen Inhalts und Geheimlehren führt man auf ihn zurück. Schließlich gilt er auch als „Kultur- und Religionsstifter“, der einen nur wenig organisierten Geheimbund, die sogenannten Orphiker, um sich schart. Als thrakischer Mystagoge, als König-Orphiker, als durch Musik und Wort wirkender, bezaubernder Schamane – immer fasziniert Orpheus Götter, Menschen und die Natur aufs Neue. Er existiert freilich auch jenseits und unabhängig von Orphik und ihrer Lehre, in Schriften, in der Literatur, in der Bildenden Kunst ← 11 | 12 → und nicht zuletzt auch in musikalischen Werken, in einer Art „neuen Eschatologie“. „Orpheus ist eine der seltenen Figuren der griechischen Mythologie, die Europa – sei es nun christlich, illuministisch, romantisch oder modern – nicht hat vergessen wollen.“ (Mircea Eliade)

Was sind die Wirkungen der Musik, die effectus musicae? Wie werden sie mit den affectus hominum im Kunstwerk verbunden und verarbeitet? Welche Rolle spielt Orpheus dabei? Diese Fragen haben mich in den letzten Jahrzehnten immer wieder beschäftigt. Sie wurden in Vorlesungen und Seminaren mit mehreren Studentengenerationen diskutiert, ebenso in Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen auf Symposien in Europa und Amerika. Daraus entstanden zahlreiche Aufsätze, die in diese Studie eingeflossen sind. Dafür bin ich dankbar. Nicht zuletzt danke ich meiner Familie, die mir Zeit und Muße zum Nachdenken und Arbeiten gelassen hat, meinem Sohn Dr. Oliver Jung für bildtechnische Hilfen und auch der Cheflektorin des Peter Lang Verlags Isolde Fedderies, die mein Orpheus-Projekt in das Verlagsprogramm aufgenommen, mit Wohlwollen betreut und guten Ratschlägen begleitet hat.

Ostern 2018

Hermann Jung

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I Einleitung

Was ist ein Mythos, was Mythologie?

Wer sich mit Mythos und Mythologie beschäftigt, wird sich rasch mit zwei Grundproblemen konfrontiert sehen: einmal mit der Frage, was der Mythos denn überhaupt sei als Problem des definitorischen Bewusstwerdens über den zu behandelnden Gegenstand, zum anderen mit den Phänomenen von Wirken und Wirkung eines Mythos in speziellen Untersuchungsfeldern.1 Den Literaturforscher wird die stilisierte Sprache und die Ästhetik der Form interessieren, der Kunsthistoriker mag Gefallen finden an Einfällen und Methoden, wie sich ein einmal sprachlich formulierter Mythos in einem Gemälde oder einer Skulptur wiederfindet.

Die Musik hat Anteil an beiden Möglichkeiten, den Mythos als Dauer und Wandlung zu begreifen und zu verbreiten. Sie vermag als Kunst in der Zeit mit sprachähnlichen Mitteln wie als Sprache eigenen Rechts einen Mythos zu erzählen und ihn in bestimmten Details auch tonmalerisch-bildhaft wiederzugeben. Dichtersprache, Ton-, Klang- und Bildsprache sind Metaphern für Kommunikation, für Vermittlung in und durch die Künste. Wenn, wie Kurt Hübner meint, Mythos generell eine allgemeine Struktur menschlichen Denkens darstellt, so offenbart sich in Musik und Kunst in diesem Sinne immer etwas Mythisches. Beide zeigen, vergleichbar einem Göttermythos, Wirkungen auf den Menschen.2

Die Musik weist dabei einige spezielle Merkmale des Mythischen nach Hübner auf. Die „Einheit des Allgemeinen mit dem konkret Individuellen“ fasst die Musik in ihrer „Gestimmtheit“, in ihrem Affektausdruck von Freude und Leid, von Rachegelüsten und Sanftmut. Sie wird von vielen Menschen gleichartig erlebt. Musik verbindet weiterhin ihren realen Ablauf in der Zeit mit einer ← 13 | 14 → transzendenten Zeitlosigkeit, der „Präsenz des Ewigen“.3 Zeit wird erst voll erfahrbar, wenn der letzte Ton verklungen ist, erscheint freilich als neue Realität bei jeder Wiederholung. Schließlich verschmilzt Musik „kognitive Objekte mit deren subjektiver Kehrseite in konnotativer Zuordnung“, d. h. sie umschreibt, erklärt, deutet beispielsweise einen Mythos, eine mythische Erzählung in immer neuen Varianten und Aspekten. „Musik ist der Triumph des Menschlichen über das rein Kognitive“, denn die Objekte als solche sind den Menschen gegenüber gleichgültig. So wird „die Welt in den Innenraum der Musik verwandelt, der Innenraum der Musik wird zur Welt.“4

Der Mythos könne „ohne Verlust von einer Sprache in die andere übersetzt werden“, konstatiert Fritz Graf. Entscheidend ist dabei, dass sein Anspruch unangetastet bleibt, „über alles, was die menschliche Existenz bestimmt“, Gültiges auszusagen.5 Dies betrifft das Zusammenleben der Menschen untereinander, ihr Verhältnis zu den Göttern wie der Götter zu den Menschen, weiterhin das Erklären und Deuten von Naturphänomenen, von Katastrophen und das eigene Ich direkt angehende, rational schwer einsichtige Ereignisse wie Sterben und Tod. Dabei liegt eine der Zeit unterworfene Wandlung wie Zeitlosigkeit im Wesen des Mythos.

Auf die „eigentümliche Verschränkung“ der verschiedenen Zeitebenen im Verhältnis von Musik und Mythos hat Hermann Danuser hingewiesen.6 Einer unbestimmten Vergangenheit des Mythos stehen die bestimmte Vergangenheit seiner früheren „Variation“ und die aktuelle Gegenwart der neuen „Variation“ zur Seite. Wie die Musik in der Lage ist, einen Mythos als Aktualität und Zeitlosigkeit Gegenwart werden zu lassen, so kann der Mythos selbst Ängste, Probleme oder Sehnsüchte des Menschen in bestimmte Figuren projizieren. Sie können in dieser Form als Literatur, auf dem Theater oder in einer Galerie besser verstanden werden, da sie von einer individuellen Perspektive abrücken und aus dem Alltagsleben ins Allgemeine und Zeitlose gehoben werden.7 ← 14 | 15 →

In der „Idee“ des Mythos und des Mythischen manifestieren sich nach Gerhart von Graevenitz „europäische Wahrnehmungs- und Denktraditionen“,8 bei denen Realität und Fiktion ineinanderfließen. Solche Denkgewohnheiten werden nicht von historischer Entwicklung, nicht teleologisch, d. h. von der gradlinigen Ausrichtung auf ein Ziel hin bestimmt, sondern von der rhetorischen Tradition, Erklärungen und Begründungen in herausgehobenen Exempla zu konzentrieren. Sie werden den Menschen in der archaischen Welt durch Rezitation, durch mündliche Weitergabe, durch den Logos vermittelt und erst in jüngerer geschichtlicher Zeit durch aufgeschriebene Erzählungen weitergegeben.9 Mircea Eliade folgend und oben bereits angesprochen, bildet „ein bestimmter Umgang mit dem Phänomen der Zeit […] dabei eine Brücke zwischen archaischem Mythos und modernem literarischen Äquivalent.“10 Man möchte hinzufügen: auch dem bildnerischen und musikalischen Äquivalent. Das Begreifen der Welt als zeit- und ortloser Kernbestand des Mythos wird in zeitgebundene, von Individuen gestaltete Mythologien überführt. Der Mythos ist „ausgespannt zwischen ‚Einst‘ und ‚Jetzt‘, ein ‚Immer‘“. In seiner Unmittelbarkeit wird „das ‚Einst‘, von dem berichtet und erzählt wird, im ‚Jetzt‘ erfahren.“ Die Wahrheit des Mythos ist seine stete Vergegenwärtigung, sie garantiert den Fortbestand der Welt.11 Die immer wieder aufgeworfene Frage, „ob wir Mythen oder gar den ‚Mythos‘ brauchen, um menschenwürdig zu leben“,12 ist somit eindeutig mit ja zu beantworten.

Nach diesen mehr ästhetisch reflektierenden Erörterungen sollen noch einige Hinweise und Erörterungen zur Terminologie und zur historisch-wissenschaftlichen Relevanz von Mythos und Mythologie angeschlossen werden. „Als Terror und als Spiel“ interpretiert Hans Blumenberg den Mythos, d. h. als Ausdruck der „Passivität dämonischer Gebanntheit oder als imaginative Ausschweifung anthropomorpher Aneignung der Welt und theomorphe Steigerung des Menschen“.13 ← 15 | 16 → Er sei „immer schon in Rezeption übergangen“, liege „nur in Gestalten seiner Rezeption“ vor.14 Dies verleiht ihm Identität und Variabilität zugleich, zudem Bedeutsamkeit.

Bedeutsamkeit […] ist ein Resultat, kein angelegter Vorrat: Mythen bedeuten nicht ‚immer schon‘, als was sie ausgelegt und wozu sie verarbeitet werden, sondern reichern dies an aus den Konfigurationen, in die sie eingehen oder in die sie einbezogen werden. Vieldeutigkeit ist ein Rückschluß aus ihrer Rezeptionsgeschichte auf ihren Grundbestand. Je vieldeutiger sie schon sind, um so mehr provozieren sie zur Ausschöpfung dessen, was sie ‚noch’ bedeuten können, und um so sicherer bedeuten sie noch mehr.15

Udo Reinhardt gibt in seinem 2011 erschienenen Handbuch zum antiken Mythos eine chronologische Abfolge dessen, was Mythos genannt wird, vom „Erzählen“ bis zum „Aufschreiben“.16 Bei Homer ist es die gesprochene Mitteilung, die gehaltene Rede. Mythos wird hier noch synonym mit lógos als „Wort, Erzählung, Überlegung, Vernunft“ verwendet und erst später bei Pindar und Herodot als Antithese zur „mythischen Geschichte“ eingesetzt. Thukydides setzt die „unterhaltende Suggestivität des Mythos“ gegen „Genauigkeit und realhistorische Überprüfbarkeit“. Für Platon bedeutet Mythos im Gegensatz zu lógos eine Fiktion, eine „unwahre Geschichte“, ein „Ammenmärchen“. Mit Aristoteles, Strabon und Fulgentius wird der Wortbegriff schließlich zu einem „poetisch fiktiven“, schriftlich fixierten Gegenstand, insbesondere im Drama und in der Historienliteratur. Im 17. Jahrhundert taucht das Wort „Fabula“ bei den ersten Opernlibretti auf, Lessing spricht im 18. Jahrhundert dann von „Fabel“. Im seit der Antike aufgebauten Spannungsfeld zwischen Mythos und Fiktionalität geht „es seither nicht mehr primäre um die Frage nach Wahrheit und Glaubwürdigkeit von Mythos, Epos, Tragödie und Fiktion […], sondern um ihre unbestrittene Bedeutung als Medien, deren Inhalte als ebenso allgemeingültig wie wesentlich eingeschätzt werden.“17 Reinhardt formuliert als „vorläufigen Definitionsansatz“ unter Einbezug weiterer Autoren:

Mythos meint eine einzelne Geschichte bzw. Erzählung oder auch einen größeren Erzählkomplex, in dem es um fiktive, im Blick auf Schauplätze und handelnde Personen meist recht genau fixierte Ereignisse aus einer mythischen Vorzeit geht, zu deren Voraussetzungen durchweg eine Handlungsbeteiligung von göttlichen Wesen gehört.18 ← 16 | 17 →

In diesen Definitionsversuch lässt sich problemlos der Mythos von Orpheus in seiner thrakisch-frühgriechischen Version einordnen. Der Einzelmythos, die tragische Liebesgeschichte von Orpheus und Eurydike, gehört dagegen streng genommen zur Mythologie bzw. zu den „Mythennovellen“.19 Er ist wohl erst in späterer Zeit (sechstes bis viertes Jahrhundert) entstanden. „Mythologie“ bezeichnet nach Walter Burkert „dabei ebenso Sammlung und System der Mythen eines Volkes wie die mit Ihrer Deutung befasste Wissenschaft“.20 Dazu zählen neben der wissenschaftlich-systematischen wie analytischen Auseinandersetzung auch die kreative im künstlerischen Bereich. „Schriftlichkeit“, „Hörbarkeit“ und „Sichtbarkeit“ des Mythischen werden in Literatur, Musik, Bildender Kunst und auch in den sogenannten Neuen Medien (Spielfilm) in besonderer Weise relevant als „jede Art von ‚Arbeit am Mythos‘“. Die Forschung hat sich hierbei nach zwei Richtungen orientiert, einer „kreativ poetischen“, so bei Hans Blumenberg, und einer „strukturalistischen und rezeptionsgeschichtlichen“, beispielsweise bei Fritz Graf.21 Neubildungen griechischer Mythen finden sich auch im Römischen, nicht zuletzt bedingt durch das dortige Fehlen genuiner Mythen. Deshalb werden gerade die Metamorphosen des Ovid für ihr Weiterleben so bedeutsam. Bei den Einzelmythen spielen neben der Narration auch ihre Intention und Funktion eine wesentliche Rolle. Hier hat man zwischen „aitologischer“ und „paradigmatischer“ Mythenerzählung zu unterscheiden: Einmal geht es um die oftmals realen Ursachen aus der Lebenswelt der Menschen, die einen Mythos bedingen, zum anderen um ein „Ordnungssystem“ bzw. ein „Modell“, die Handlungs- und Verhaltensweisen in der Welt der Götter und Heroen thematisieren.22 Die „kritisch-rationale Grundhaltung“ des frühgriechischen Mythos und damit „das erste große Gesamtkonzept eines archaisch-aristokratisch-patriarchalischen Weltbildes“ lässt Reinhardt die These wagen, dass dies „ein erster Schritt zur Aufklärung“ sei.23 Man kann sie mit Interesse zur Kenntnis nehmen, muss sie freilich nicht teilen. ← 17 | 18 →

Wer ist Orpheus?

Die Heimat des Sängers und Kitharoden Orpheus ist nicht das zivilisierte und oft idealisierte antike Griechenland, sondern das wilde „barbarische“ Thrakien in mythischer Vorzeit. Wer war, wer ist dieser Orpheus? Eine reale Person in der Geschichte der Menschheit, ein König im Reich der Thraker, ein Schamane des europäischen Ostens oder eine fiktive Persönlichkeit antiker Mythen? Bei allem Wissen aus mündlicher Überlieferung, aus einer Unzahl schriftlicher Quellen bleibt seine wie auch immer geartete Existenz rätselhaft und entzieht sich Festlegungen und Ergebnissen exakter Forschung.

Die erst vor wenigen Jahren sich als Wissenschaft etablierende Thrakologie in Bulgarien hat Orpheus in Verbindung mit dem Dionysos-Kult im Rhodopengebirge gebracht. In der Nähe des Dorfes Tatul in den Ostrhodopen wurden im Jahr 2000 ein oberirdisches Felsengrab entdeckt, das Archäologen wie Nikolaj Owtscharow rasch als vermeintliche, doch wohl eher symbolische Grablege des Orpheus bezeichneten.

Abb. 1: Tempel bei Tatul

Details

Seiten
238
Jahr
2018
ISBN (PDF)
9783631728253
ISBN (ePUB)
9783631728260
ISBN (MOBI)
9783631728277
ISBN (Hardcover)
9783631728246
DOI
10.3726/b13201
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (September)
Schlagworte
Mythos Allegorie Allegorese Musiktheater Französische Kantaten Italienische Kantaten Bildkunst Film
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2018. 238 S., 15 s/w Abb., 14 Noten

Biographische Angaben

Hermann Jung (Autor:in)

Hermann Jung ist Professor emeritus für Musikwissenschaft an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Mannheim.

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