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Demokratie – Ein interdisziplinäres Forschungsprojekt

von Jessica Fortin-Rittberger (Band-Herausgeber:in) Franz Gmainer-Pranzl (Band-Herausgeber:in)
©2017 Sammelband 604 Seiten

Zusammenfassung

Demokratie, die bis vor kurzem als selbstverständliche Errungenschaft galt, wird gegenwärtig massiv in Frage gestellt. Durch Modernisierungs- und Globalisierungsprozesse, ökonomische Krisen, rechtspopulistische Politikstrategien, Dynamiken der Diskriminierung und Exklusion, extremistische Einstellungen und terroristische Bedrohungen gerät Demokratie gegenwärtig in eine Krise. Die Komplexität dieser gesellschaftlichen Problemfelder analysieren die Autor_innen aus interdisziplinärer Perspektive. Wissenschaftler_innen aus verschiedenen wissenschaftlichen Arbeits- und Forschungsbereichen setzen sich mit der Krise der Demokratie, aber auch mit Möglichkeiten ihrer Weiterentwicklung auseinander.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorwort
  • Tagungsbeiträge
  • Fünf Jahrzehnte Transformationsforschung: Entwicklung, Stand und Zukunftsperspektiven (Aurel Croissant)
  • Markt und Staat in einer demokratisch-marktwirtschaftlichen Gesellschaft (Hannes Winner)
  • Demokratie und Partizipation durch Internet/Social Media? (Ursula Maier-Rabler)
  • Gefährdete Errungenschaften. Was kann Theologie zur Weiterentwicklung demokratischer Kulturen beitragen? (Alois Halbmayr)
  • Eine Frage der Perspektive? Ein Blick auf Demokratisierungsprozesse und ihre Begrenzungen (Jessica Fortin-Rittberger / Lena Ramstetter)
  • Weitere Beiträge
  • Welche Bevölkerungsgruppen in Salzburg sind anfällig für politisches Misstrauen? Theoretische Ansätze und empirische Forschungsergebnisse zur Erklärung aktueller politischer Entfremdungsprozesse im Zuge der europäischen Krisenkonstellation (Wolfgang Aschauer)
  • Ungleichheit in der politischen Partizipation vor dem Hintergrund von sozialer Ungleichheit und Prekarisierung als Herausforderung des demokratischen Gleichheitsversprechens (Stefan Bogner)
  • Minderheitenrepräsentation in modernen Demokratien – Ein Forschungsfeld der vergleichenden Politikwissenschaft? (Corinna Kröber)
  • Demokratie ent-wickeln Zur Frage der Universalisierbarkeit von Demokratie im entwicklungspolitischen Kontext vor dem Hintergrund subjektphilosophischer Implikationen (Alexandra Grieshofer / Florian Reisenbichler)
  • Demokratie-Bildung als Mäeutik und Selbstkultivierung (Barbara Schellhammer)
  • „Wir nehmen die Menschenrechte in unsere Hände“ Soziale und politische Teilhabe in der regionalen Menschenrechtsarbeit (Josef P. Mautner)
  • Veränderung von unten: Transition Towns Lokale Energiewende-Initiativen, demokratische Lern- und Experimentierräume (Elke Giacomozzi)
  • Demokratische Wissenschaft? Von der Mitverantwortung der Intellektuellen für die Krise der Demokratie (Barbara Blaha)
  • Eine „gesunde Mischung zwischen festgelegten Regeln und Demokratie“ – Ergebnisse einer explorativen Studie über Demokratieverständnisse von Jugendlichen (Christine Kaiser)
  • Die Veränderung demokratischer Öffentlichkeiten durch das Internet (Elisabeth Klaus / Ricarda Drüeke)
  • Demokratisches Religionsrecht? Das Islamgesetz 2015 vor dem Hintergrund österreichischer Demokratiequalität (Farid Hafez)
  • „Die Kirche achtet die berechtigte Autonomie der demokratischen Ordnung.“ Zum Verhältnis von Katholischer Kirche und demokratischem Rechtsstaat mit einem Ausblick auf die österreichische Situation (Andreas E. Graßmann)
  • Demokratie? Hierarchie? Demokratisierung! Mitbestimmung in der Katholischen Kirche im Spannungsfeld von Hierarchie und demokratischer Methodik. Kirchenhistorische Anmerkungen (Roland Cerny-Werner)
  • Die politische Ökonomie syrischer (Nicht-)Demokratisierung (Jan Rybak)
  • Profitgier, Demokratie und die sterbende indische Landwirtschaft (Sahayaraj John Stanley)
  • Das Beispiel Indien: Die Globalisierung und das Kastenwesen als Gefahr für die Demokratie. Überlegungen zu B. R. Ambedkars Demokratiekonzept des „Associated living“ (Gernot Rohrmoser)
  • We are not really, really free: Der demokratische Übergang Südafrikas aus Sicht der born-free Generation (Julia Sonnleitner)
  • Impulse der „Theologie des Wiederaufbaus“ zur Entwicklung von Demokratie in Afrika Ein interkulturell-theologischer Beitrag (Franz Gmainer-Pranzl)
  • Theologie der Multitude (Jörg Rieger)
  • Call for Papers: Bei der Tagung vorgestellte Beiträge von Studierenden
  • Die Zivilgesellschaft als Hort des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus (Johann Kaltenleithner)
  • Der Erfolg rechtspopulistischer Parteien in Westeuropa – welcher Faktor ist wirklich entscheidend? (Christina-Marie Juen)
  • Demokratisierungsprozesse in Post-Konflikt-Gesellschaften – Gegenläufige Interessen, gemeinsame Wege? (Lena Ramstetter)
  • Anhang
  • Programm der Tagung
  • Autorinnen und Autoren
  • Übersetzerinnen
  • Reihenübersicht

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Jessica Fortin-Rittberger / Franz Gmainer-Pranzl

Vorwort

Demokratie erschien in den letzten Jahrzehnten – vor allem in der westlichen Welt – als eine Errungenschaft, für die ein breiter gesellschaftlicher Konsens vorliegt. Regelmäßig durchgeführte Wahlen, eine unabhängige Justiz, soziale Sicherheit, stabile Regierungen und sichere politische Mehrheitsverhältnisse, eine gut funktionierende Verwaltung, kulturelle und religiöse Pluralität sowie Strukturen der Konfliktlösung wurden als selbstverständlich angesehen. Auch stand außer Frage, dass „Demokratie“ grundsätzlich als erstrebenswerte Regierungsform anzusehen sei. Neuere Entwicklungen zeigen allerdings, dass Praxis und Weiterentwicklung demokratischer Systeme zunehmend durch bestimmte Faktoren gefährdet sind.

Die Komplexität und transformative Macht von Modernisierungs- und Globalisierungsprozessen überfordern Menschen und lassen sie für rechtspopulistische, autoritäre und nationalistische Parolen anfällig werden.

Ökonomische Dynamiken, die außer Kontrolle geraten, können schwere Krisen auslösen und demokratische Werte wie Partizipation, Transparenz und (Chancen-)Gleichheit unterlaufen.

Erfahrungen von Diskriminierung und Exklusion, nicht zuletzt in einer Migrationsgesellschaft, können zu sozialen Verwerfungen, Frustration und Perspektivenlosigkeit führen und ein steigendes Desinteresse an politischer Aktivität oder überhaupt die Ablehnung von demokratischen Einstellungen zur Folge haben.

Neue Formen eines kulturell/religiös aufgeladenen Extremismus oder gar Terrorismus verunsichern viele Menschen und rufen eine von Angst bestimmte Politik sowie massive Sicherheits- und Überwachungsstrategien auf den Plan.

Kulturrelativistische Positionen, die sich nicht selten kolonialismus- und globalisierungskritisch geben, sehen „Demokratie“ als spezifisch abendländisches Konzept an, dem in anderen kulturellen und gesellschaftlichen Traditionen weniger Bedeutung zukäme.

Die Komplexität dieser Problemfelder, aber auch potentielle Handlungsoptionen bedürfen einer wissenschaftlichen Analyse aus interdisziplinärer Perspektive – das war die Grundthese der Tagung „Demokratie – ein interdisziplinäres Forschungsprojekt“, die am 19./20.11.2015 an der Universität Salzburg durchgeführt wurde. Theorie und Praxis von Demokratie wurden politikwissenschaftlich, ökonomisch, ← 9 | 10 → medienwissenschaftlich und theologisch reflektiert, also in ihrem Verhältnis zur Gesellschaft insgesamt bzw. zu anderen Regierungsformen, zur Wirtschaft, zu sozialen Medien und zur Religion. Alle Beitragenden setzten sich im Zuge dessen mit drei Kernfragen auseinander:

Eine besondere Bedeutung kam bei dieser Tagung der politikwissenschaftlichen Expertise zu, die – neben dem Hauptvortrag von Aurel Croissant (Universität Heidelberg) – vor allem von Jessica Fortin-Rittberger (Universität Salzburg) eingebracht wurde. Aurel Croissant befasst sich in seiner Forschung insbesondere mit der Demokratie- und Demokratisierungsforschung1, aber auch mit der Erforschung der politischen Systeme in der aufstrebenden Region Süd-Ost-Asien2. Als Herausgeber der Zeitschrift Democratization ist er maßgeblich in die Entstehung und Gestaltung politikwissenschaftlicher Forschung im Themengebiet involviert.3

Die Erforschung von Demokratie und Demokratisierung stellt einen Schwerpunkt am Fachbereich Politikwissenschaft und Soziologie der Universität Salzburg dar. Die dort angesiedelten Forschungsprojekte untersuchen unter anderem die Qualität der Repräsentation von Frauen,4 ethnischen Minderheiten5 und anderen gesellschaftlich benachteiligten Gruppen mit Hinblick auf die Frage, welche ← 10 | 11 → Faktoren Unterschiede in der politischen Gleichheit zwischen Männern und Frauen, Mehrheit und Minderheit über Länder hinweg erklären. Darüber hinaus werden verschiedene Aspekte demokratischer Qualität beleuchtet,6 beispielsweise politisches Wissen und Partizipation,7 um näher beleuchten zu können, welche politischen Institutionen und Kontextfaktoren zur demokratischen Konsolidierung8 sowie zu hoher Demokratiequalität beitragen.

Das Zentrum Theologie Interkulturell und Studium der Religionen, das diese Tagung gemeinsam mit dem Fachbereich Politikwissenschaft und Soziologie durchführte, kommt mit der Thematik „Demokratie“ in mehreren Bereichen seiner Forschung und Lehre in Berührung: Fragen der Migration, deren internationale Dynamik immer wieder als Herausforderung für demokratische Entscheidungsprozesse wahrgenommen wird;9 das Verhältnis von Religion und Gesellschaft und die entsprechenden religionssoziologischen Konzepte;10 die Auseinandersetzung mit dem „Fremden“ und xenophoben Strömungen in der Gesellschaft;11 die Thematik Religionsfreiheit;12 die Dynamik von Inklusion und ← 11 | 12 → Exklusion, die das Funktionieren demokratischer Strukturen in hohem Maß beeinflusst;13 und nicht zuletzt globale Herausforderungen der Wirtschaft und Politik, die das demokratische Leben in einzelnen Ländern wesentlich mitbestimmen.14 Einen wichtigen Rahmen für die thematische Arbeit des Zentrums Theologie Interkulturell und Studium der Religionen bildet die Forschungsplattform „Kulturen – Religionen – Identitäten: Spannungsfelder und Wechselwirkungen“ der Theologischen Fakultät,15 deren Analyse aktueller gesellschaftlicher und religionspolitischer Entwicklungen auch für das Verständnis von Demokratie relevant ist.

Die politikwissenschaftliche Forschung und Kompetenz, die interdisziplinäre Zusammenarbeit an der Universität, die Bereitschaft zur (selbst-)kritischen Weiterentwicklung der eigenen wissenschaftlichen Methodik sowie die Sensibilität für aktuelle Problemstellungen der Gesellschaft sind entscheidende Voraussetzungen für die Demokratieforschung. In diesem Sinn möchte der vorliegende Band einen Beitrag zur Auseinandersetzung mit einer bedrängenden Frage der Gegenwart leisten. Er dokumentiert im ersten Teil die Vorträge der Tagung, gibt im zweiten Teil durch weitere Beiträge Einblick in die Vielfalt interdisziplinärer Auseinandersetzung und stellt im dritten Teil die Forschungsbeiträge vor, die Studierende bei der Tagung präsentierten. Allen Beteiligten gilt unser herzlicher Dank, besonders auch Frau Elisabeth Höftberger und Frau Julia Feldbauer für die sorgfältige Bearbeitung des Manuskripts.

Salzburg, im Jänner 2017

Jessica Fortin-Rittberger / Franz Gmainer-Pranzl


1 Vgl. Merkel, Wolfgang u. a., Defekte Demokratie, Band 1: Theorie, Wiesbaden 2003; Merkel, Wolfgang u. a., Defekte Demokratie, Band 2: Regionalanalysen, Wiesbaden 2006.

2 Vgl. Croissant, Aurel/Kuehn, David/Chambers, Paul W., Civilian Control and Democracy in Asia, Basingstoke/New York 2013; Croissant, Aurel, Die politischen Systeme Südostasiens. Eine Einführung, Wiesbaden 2015.

3 Die Zeitschrift hatte im Jahr 2015 einen Impact Factor von 1.296.

4 Vgl. Fortin-Rittberger, Jessica/Rittberger, Berthold, Nominating Women for EP Elections. Exploring the Role of Political Parties’ Recruitment Procedures, in: European Journal of Political Research 54 (2015) 4, 767–783; Eder, Christina/Fortin-Rittberger, Jessica/Kroeber, Corinna, The higher the fewer? Patterns of female representation across levels of government in Germany, in: Parliamentary Affairs 69 (2016) 2, 366–386.

5 Vgl. Kroeber, Corinna, Exploring the impact of Reserved Seat Design on the Quality of Minority Representation, in: Ethnopolitics 16 (2015) 2, 196–216.

6 Vgl. Fortin-Rittberger, Jessica, Exploring the Relationship between Infrastructural and Coercive State Capacity, in: Democratization 21 (2014) 7, 1244–1264.

7 Vgl. Fortin-Rittberger, Jessica, Cross national Gender-gaps in Political Knowledge. How Much is Due to Context?, in: Political Research Quarterly 69 (2016) 3, 391–402.

8 Vgl. das durch den österreichischen Fonds zur Förderung wissenschaftlicher Forschung und die Deutsche Forschungsgesellschaft geförderte Projekt „Consequences of Electoral System Change“, welches seit 2014 unter der Federführung von Jessica Fortin-Rittberger läuft.

9 Vgl. die internationale Tagung „Migration as a Sign of the Times: Perspectives from Social Sciences and Theology“ (12.–13.04.2012 in Salzburg) und die Publikation von Gruber, Judith/Rettenbacher, Sigrid (Hg.), Migration as a Sign of the Times. Towards a Theology of Migration (Currents of Encounter. Studies on the Contact between Christianity and other Religions, Beliefs, and Cultures 52), Leiden/Boston 2015.

10 Vgl. Gmainer-Pranzl, Franz/Rettenbacher, Sigrid (Hg.), Religion in postsäkularer Gesellschaft. Interdisziplinäre Perspektiven (SID 3), Frankfurt a. M. 2013.

11 Vgl. Gmainer-Pranzl, Franz, Fremdheit – ein Problem der Gesellschaft als Anspruch der Theologie, in: Gmainer-Pranzl, Franz/Jacobsen, Eneida (Hg.), Deslocamentos – Verschiebungen theologischer Erkenntnis. Ein ökumenisches und interkulturelles Projekt (STS 54, interkulturell 16), Innsbruck 2016, 161–193.

12 Vgl. Gmainer-Pranzl, Franz, Die Anerkennung von Religionsfreiheit als intellektueller, interkultureller und politischer Lernprozess, in: Karl, Wolfram (Hg.), Religionsfreiheit im Zeichen der Globalisierung und Multikulturalität. Symposion am Österreichischen Institut für Menschenrechte in Salzburg am 6. Juli 2012 anlässlich des 25 jährigen Bestehens des Instituts (Schriften des Österreichischen Instituts für Menschenrechte 11), Wien 2013, 51–74.

13 Vgl. die vom Zentrum Theologie Interkulturell und Studium der Religionen mitveranstaltete interdisziplinäre Ringvorlesung „Inklusion/Exklusion. Aktuelle gesellschaftliche Dynamiken“ im WS 2015/16 an der Universität Salzburg.

14 Vgl. Gmainer-Pranzl, Franz/Rötzer, Anita (Hg.), Zukunft entwickeln. Dokumentation der 15. Entwicklungspolitischen Hochschulwochen (4.–27.11.2015) an der Universität Salzburg (SID 8), Frankfurt a. M. 2017.

15 Vgl. www.uni-salzburg.at/theologie, → Forschungsplattform.

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Tagungsbeiträge

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Aurel Croissant

Fünf Jahrzehnte Transformationsforschung: Entwicklung, Stand und Zukunftsperspektiven

Abstract: Political science transformation research is concerned with the processes involved in the transition to democracy and the consolidation of young democracies, but also with the demise of democracies. Over the past fifty years there have been three “waves of democracy” (up to 1980 approx., 1980–1995 and 1995–2015), which have been analysed according to various different theoretical paradigms. This contribution recognises the progress made by transformation research and brings out different aspects of the transition to democratic societies, but remains at the level of general theories and prognoses for the further development of democracy.

1. Einleitung

Fragen von Demokratie und Diktatur1 sind „Fragen erster Ordnung“: Sie motivieren Menschen überhaupt erst dazu, ihre oder andere Gesellschaften zu studieren, und beschäftigen immer wieder auch Nichtspezialisten.2 Davon zeugt eine bis in die Antike zurückreichende Tradition des Nachdenkens über Entstehung, Bestehen und Niedergang der Demokratie.

Die politikwissenschaftliche Transformationsforschung ist jedoch deutlich jüngeren Ursprungs. Als jener Teilbereich der comparative politics, der sich der theoretischen und empirisch-vergleichenden Analyse von Übergängen zwischen autokratisch organisierten und demokratisch strukturierten Systemen widmet, formierte sie sich Ende der 1950er Jahre. Als Schlüsseltext wird man den 1959 in der American Political Science Review veröffentlichten Aufsatz „Some Social Requisites of Democracy: Economic Development and Political Legitimacy“ von Seymour Martin Lipset3 nennen müssen. ← 15 | 16 →

Innerhalb der politikwissenschaftlichen Komparatistik hat die Transformationsforschung lange Zeit nur episodische Beachtung erfahren,4 nicht zuletzt, da die Demokratie selbst bis weit in das 20. Jahrhundert eine Ausnahmeerscheinung blieb und als Herrschaftsordnung relativ wohlhabender, moderner und in der Regel christlicher (genauer: protestantischer) Gesellschaften daherkam. So urteilte etwa Robert Dahl in seinem 1971 erschienen Hauptwerk Polyarchie, es sei schlicht unrealistisch, innerhalb der nächsten ein oder zwei Generationen eine dramatische Veränderung in der Anzahl der „Polyarchien“ zu erwarten.5 Ähnlich äußerte sich Samuel Huntington in einem Artikel aus dem Jahre 1984: Die Grenzen der Ausbreitung von Demokratie in der Welt seien erreicht und mehr oder weniger unverrückbar abgesteckt, so Huntington zehn Jahre nach Beginn der Nelkenrevolution in Portugal, die er selbst einige Jahre später als Auftakt der von ihm so bezeichneten „Dritten Demokratisierungswelle“ identifizierte.6

Mit der explosionsartigen Ausbreitung der Demokratie und ihrem Aufstieg zu einer internationalen Norm im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts hat sich die Transformationsforschung vom Randbereich ins Zentrum der vergleichenden Politikwissenschaft vorgearbeitet. Sie hat dabei eine große theoretische Innovationskraft und eine äußerst produktive Publikationsleistung an den Tag gelegt. Der „globale Verdrängungswettbewerb“7 der Demokratie gegen die Diktatur und die demokratische Euphorie nach der Implosion der Sowjetunion wurde von Francis Fukuyama8 in der These von der endgültigen und universellen Durchsetzung der Prinzipien des Liberalismus in Form der repräsentativen Demokratie und des Kapitalismus prominent zugespitzt („Ende der Geschichte“).

Tatsächlich markieren die Jahre zwischen 1975 und 2005 eine in der Menschheitsgeschichte nie dagewesene Phase der Ausbreitung von Demokratie, auch in viele Gesellschaften, die aufgrund fehlender Vorerfahrungen, Traditionen oder sozioökonomischer „Requisiten“ bislang nicht als Kandidaten für eine Demokratisierung galten. So überstieg die Zahl der Demokratien Anfang der 1990er ← 16 | 17 → Jahre erstmals die der Autokratien, und mehr Menschen lebten unter einer frei gewählten als unter einer diktatorischen Führung.9

Schaubild 1: Demokratiewellen und autoritäre Gegenwellen, 1800–2007

illustration

Quelle: Eigene Zusammenstellung nach Angaben des CDSPR.10 Kriterien für das Vorliegen einer Demokratie sind: (1) Die direkte oder indirekte Wahl der Exekutive in Volkswahlen und Verantwortlichkeit der Exekutive gegenüber Wählern oder Legislative; (2) Legislative (und Exekutive, wenn direkt gewählt) werden in kompetitiven Wahlen bestellt; (3) eine Mehrheit der erwachsenen männlichen Staatsbürger besitzt das Wahlrecht.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts jedoch ist die Demokratie wieder „tüchtig ins Gerede gekommen“11, und auch die Transformationsforschung wird kritisiert. Der neue Pessimismus in der Demokratieforschung speist sich aus vier Beobachtungen:12 Erstens sind Übergänge von der Diktatur zur Demokratie selten ← 17 | 18 → geworden. Die „Farbenrevolutionen“ in den postsowjetischen Staaten sowie die friedlichen Massenrevolten in der arabischen Welt haben die demokratischen Hoffnungen, die an sie geknüpft waren, meist nicht erfüllen können.13

Zweitens führten viele Transformationsprozesse der Dritten Welle nicht zu funktionierenden demokratischen Verfassungsstaaten, sondern zu „defekten Demokratien“14 oder „elektoralen Autokratien“.15 Erstere kombinieren mehr oder weniger freie und faire Wahlen mit schwacher Rechtsstaatlichkeit, geringer Demokratiequalität und einer unzureichenden politischen Leistungsfähigkeit. Letztere spielen das Spiel der Mehrparteienwahlen, ohne dass die Regierenden die „Stelle der Macht“ prinzipiell als „leer“ begreifen.16 Die vergleichsweise schwache Politikperformanz vieler defekter Demokratien17 und die wachsende Anzahl elektoral-autoritärer Regime bringen die Demokratie in die Bredouille, da die Übernahme nominell demokratischer Institutionen (Wahlen, Parlamente, Mehrparteiensysteme) durch Autokratien die Unterscheidung zwischen Demokratie und Nicht-Demokratie zunehmend schwieriger macht und die legitimatorische Kraft demokratischer Verfahren wie der Wahl zu entwerten droht.

Drittens wird unter dem Stichwort vom „Rückzug der Demokratie“ ein Zurückdrängen der Demokratie aus gerade erst gewonnenen Gebieten konstatiert.18 Zugleich wird eine Ausweitung der Einflusssphären autoritärer Regime ← 18 | 19 → beobachtet.19 Mit der „Autokratien-Förderung“ durch „autoritäre Großmächte“20 drohen klassische Instrumente der westlichen Demokratieförderung ausgehebelt zu werden.21

Viertens werden auch den „konsolidierten“ Demokratien des Globalen Nordens immer häufiger Auszehrungserscheinungen attestiert.22 So hat Colin Crouch23 seine in der Sache problematische Diagnose vom Bedeutungs- und Legitimationsschwund der Kerninstitutionen des repräsentativen Systems im Begriff der „Postdemokratie“ gebündelt. Andere Autoren verweisen auf die negativen Auswirkungen von Globalisierung und Europäisierung für die nationalstaatlich ausgestaltete Demokratie,24 während der Aufstieg des globalen Finanzkapitalismus die über die ersten Nachkriegsjahrzehnte „glückliche Ehe zwischen einem sozialstaatlich gemäßigten Kapitalismus und der liberalen Demokratie“25 zunehmend in Frage stellt.26 ← 19 | 20 →

Ob diese Beobachtungen der empirischen Überprüfung standhalten, ist umstritten.27 Dennoch setzen sie die politikwissenschaftliche Transformationsforschung unter Druck. Diese hat, so ein Kritikpunkt, nicht-demokratische Systeme systematisch vernachlässigt und ein teleologisches Verständnis politischer Transformationsprozesse an den Tag gelegt.28 Selbst dort, wo vergleichsweise früh ein Bewusstsein für die Partialität demokratischer Transformation vorhanden war, wurde mit dem Phänomen unvollständiger Demokratien eher deskriptiv-typologisierend als kausalanalytisch umgegangen.29 Zudem, so ein weiterer Kritikpunkt, bestehe eine eigentümliche Form der Nicht-Kommunikation zwischen der Forschung zum Wandel der etablierten Demokratien des Globalen Nordens und zu den „Neo-Demokratien“30 im Globalen Süden.31 Schließlich, ← 20 | 21 → so die Kritik, sei das Feld in theoretischer Hinsicht „unvollständig, diversifiziert und inkohärent“32.

Der vorliegende Beitrag versucht, die Entwicklungen der politikwissenschaftlichen Transformationsforschung seit Lipsets Schlüsseltext aus dem Jahre 1959 zu ordnen. Hierbei wird zunächst dargestellt, wie die Politikwissenschaft demokratische Transformation vor der Dritten Welle untersuchte und wie die Dritte Demokratisierungswelle die politikwissenschaftliche Transformationsforschung verändert hat. Danach wird gefragt, was die Transformationsforschung herausgefunden hat hinsichtlich der Ursachen für Entstehen, Bestehen und Niedergang von Demokratien. Im letzten Teil werden zukünftige Forschungsperspektiven und Herausforderungen der Transformationsforschung diskutiert.

2. Begriffsklärung

Zuvor ist es allerdings notwendig, zu klären, was unter „Transformationsforschung“ verstanden werden soll. Die Antwort hierauf ist nicht selbstevident. Die globale Ausbreitung von Demokratisierungsprozessen Ende des 20. Jahrhunderts hat eine Vielzahl an sozialwissenschaftlichen Analysen ausgelöst, die es „selbst den ‚Transitionsexperten‘ schwer“ mache, „noch den Überblick zu wahren“33. Die Ausdifferenzierung der Fachterminologie hat zudem „nicht selten die begriffliche Schärfe verschüttet“, wie etwa Wolfgang Merkel schon 1994 anmerkte.34

Das gilt auch für den Transformationsbegriff selbst, bei dem es sich um ein „wissenschaftliches Allerweltswort“35 handelt. Bis zur Implosion der kommunistischen Diktaturen im Osten Europas war seine Verwendung in der politikwissenschaftlichen Forschung unüblich.36 Erst mit den Umbrüchen 1989–1990 setzte sich in der deutschsprachigen Forschung die Sichtweise durch, mit dem Transformationsbegriff die zeitgleich ablaufenden Prozesse politisch-institutionellen, wirtschaftlich-sozialen und kulturell-mentalen Wandels in den postkommunistischen Ländern besser fassen zu können als durch den englischsprachigen ← 21 | 22 → Begriff der Transition, welcher in seiner Reichweite auf die Erfassung politischer Regimewechsel beschränkt ist.37 In diesem Zusammenhang bürgerte sich in der Literatur auch der von Klaus von Beyme und Dieter Nohlen38 eingeführte Begriff des Systemwechsels von der Diktatur zur Demokratie ein.39

Nach 1989 wird der Transformationsbegriff in der deutschsprachigen vergleichenden Politikwissenschaft und Demokratieforschung allgemein „als Oberbegriff für alle Formen, Zeitstrukturen und Aspekte des politischen Regime- oder Systemwandels und Systemwechsel benutzt“40. Der Begriff umschließt damit so unterschiedliche Phänomene wie „Regimewandel, Regimewechsel, Systemwandel, Systemwechsel oder Transition“41. Insbesondere für die (post-)sozialistischen Transformationen schien vielen Wissenschaftlern im deutschsprachigen Raum die Verwendung des theoretisch diffusen Begriffs der „Systemtransformation“ nützlich. Schließlich wurden die Übergänge von der autoritären Ordnung zur pluralistischen Demokratie durch die Gleichzeitigkeit des grundlegenden Wandels einer Mehrzahl gesellschaftlicher Teilsysteme – neben der Politik vor allem das Wirtschaftssystem – begleitet, beeinflusst und geprägt.42 In der angelsächsischen Politikwissenschaft haben sich weder Transformations- noch Systembegriff durchgesetzt. Sie bevorzugt weiterhin den enger gefassten Regimebegriff; statt von „Transformation“ ist hier meist die Rede von „democratization“, „transition“ oder „consolidation“, d. h. die Institutionalisierung einer weithin anerkannten und weitgehend krisenresistenten Demokratie.43 ← 22 | 23 →

Zusammenfassend lässt sich die politikwissenschaftliche Transformationsforschung definieren als jener Bereich der vergleichenden Politikwissenschaft und Demokratietheorie, der sich theoretisch und empirisch-vergleichend mit Prozessen des Übergangs von der Nicht-Demokratie zu einem demokratisch organisierten politischen Regime, der Konsolidierung junger Demokratien sowie mit den Prozessen ihres Niedergangs und Scheiterns beschäftigt. Distinkte Gegenstandsbereiche sind nach Leonardo Morlino:44 (a) Der Übergang von der Diktatur zur Demokratie sowie die Einführung demokratischer Institutionen und Regierungen; (b) die Konsolidierung oder Krise demokratischer Regime; (c) die Vertiefung oder Erosion der Qualität demokratischer Regime über Zeit. Allerdings ist Welzel45 zuzustimmen, der feststellt, dass diese Teilbereiche unter dem Topos der Nachhaltigkeit von Demokratisierung letztlich als zusammengehörend gedacht werden müssen.

3. Entwicklungslinien der Transformationsforschung

Wie hat sich die politikwissenschaftliche Transformationsforschung seit Lipsets Pionierstudie von 1959 entwickelt? Nun, zunächst wird man festhalten können, dass sie in den vergangenen etwa fünf Jahrzehnten zahlreiche Wandlungen durchlaufen hat. Darin gleicht sie ihrem Untersuchungsgegenstand. Im Einzelnen lässt sich die Entwicklung unter drei Aspekten aufschlüsseln: (1) Erkenntnisinteresse; (2) Theorieparadigmen und Analyseansätze; sowie (3) methodische Orientierungen.

3.1 Erkenntnisinteresse

Bezeichnend für die politikwissenschaftliche Transformationsforschung sind ihre Aufmerksamkeitskonjunkturen der letzten fünf Jahrzehnte, die offenkundig in einem engen Zusammenhang mit realpolitischen Entwicklungen stehen (den Demokratisierungswellen und autoritären Gegenwellen nach Huntington 198446; vgl. Schaubild 1). Die ersten beiden Demokratisierungswellen im 19. und frühen 20. Jahrhundert sowie nach dem Zweiten Weltkrieg und die erste autokratische Gegenwelle der Zwischenkriegsjahre bildeten den Hintergrund für das Aufkommen strukturorientierter Ansätze zu den sozioökonomischen Voraussetzungen oder sozialen Ursprüngen von Diktatur und Demokratie, wie sie mit den Arbeiten von ← 23 | 24 → Seymour Martin Lipset47 und Barrington Moore Jr.48 verbunden sind.49 Die Forschungsliteratur der 1970er Jahre – mit der für den Publikationsbetrieb üblichen Zeitverzögerung – war hingegen wesentlich durch die zweite autokratische Gegenwelle beeinflusst, in deren Verlauf in Europa, Afrika, Lateinamerika und Asien eine ganze Reihe autokratischer Rückschläge zu verzeichnen waren. Hier dominierte die Suche nach den Ursachen für den Zusammenbruch demokratischer Regime – so der deutsche Titel eines vielzitierten Sammelbands aus dem Jahre 1978.50

Auf dem Höhepunkt der Beschäftigung mit den Ursachen des Scheiterns von Demokratien entfaltete die Dritte Demokratisierungswelle ihre Dynamik. Damit erlebte die Analyse des Entstehens von Demokratie in den 1980er Jahren eine Renaissance, wurde nun aber vor allem mit Blick auf die Rolle von Akteuren in Übergängen (transitions) von der Autokratie zur Demokratie betrieben. Das war die Hochphase der „neo- and, perhaps, pseudo-science of transitology“, wie Philippe Schmitter51 feststellt. In den 1990er Jahren erweiterte sich der Fokus dieser „Wissenschaft von der Transition“ auf Angelegenheiten der Konsolidierung und die Krise junger Demokratien („consolidology“).

Infolge der eingangs skizzierten Beobachtungen zeichnet sich in jüngster Zeit erneut eine Schwerpunktverlagerung in der Transformationsforschung ab. Drei distinkte Forschungsstränge lassen sich benennen:

(1) Das Wiederaufleben der Autoritarismus-Forschung;52 die Transformationsforschung ist infolgedessen von der einseitigen Bezugnahme auf Aspekte des ← 24 | 25 → Übergangs zur Demokratie und der Analyse (junger) Demokratien abgerückt und hat sich dem theoretisch informierten, empirischen Vergleich nichtdemokratischer Regime geöffnet.53

(2) Analysen zu Herausforderungen an die Qualität neuer und alter Demokratien im 21. Jahrhundert; Qualität bezieht sich hierbei auf das Ausmaß, in dem es einem politischen System gelingt, demokratische Prinzipien wie Repräsentativität, Rechenschaftspflicht, Gleichheit, Freiheit und Teilhabe der Bürger am politischen Prozess zu erfüllen.54

(3) Die Konzeptualisierung von „hybriden Regimen“; Regimen zwischen dem demokratischen Verfassungsstaat und der offenen Autokratie sowie die theoretische und empirische Analyse ihrer Entstehungs- und Entwicklungsprozesse.55

3.2 Theorieparadigmen und Analyseansätze

Auch in der Transformationsforschung gibt es den Grundgegensatz zwischen Handlungs- und Systemparadigma bzw. zwischen rationalistischen und strukturorientierten Ansätzen auf der theoretischen Ebene.56 Strukturbezogene Ansätze, ← 25 | 26 → wie die Modernisierungstheorie,57 die Dependenztheorie,58 Weltsystemansätze59 und der historisch-komparative Ansatz von Barrington Moore60 heben den evolutionären Charakter von Transformationsprozessen hervor und analysieren Systemwechselfrequenzen in langen Zeiträumen. Sie untersuchen den kausalen Einfluss langfristig relativ stabiler struktureller Faktoren auf die Entwicklung politischer Regime, blenden die Akteursebene jedoch weitgehend aus.61 Rationalistische oder akteursbezogene Ansätze hingegen rücken das Entscheidungshandeln rationaler (Eliten-)Akteure und die Steuerung von Regimewechselprozessen durch Eliten ins Zentrum. Ihr Forschungsinteresse gilt den Dynamiken, Handlungslogiken und strategischen Interaktionen zwischen Teileliten oder zwischen Eliten und Bürgern.

Die beiden Paradigmen sind weder substanzielle Theorien noch reflektieren sie einen einheitlichen Analyseansatz. Nicht jede Theorie fügt sich gleich gut in die ← 26 | 27 → Systematik ein.62 Charakteristisch für die Entwicklung der politikwissenschaftlichen Transformationsforschung ist aber, dass eine recht eindeutige Zuordnung und Unterscheidung von drei Phasen der Theorieentwicklung möglich ist. Dies sind: Die Phase vor der Dritten Demokratiewelle (bis ca. 1980); die Früh- und Hochphase der Dritten Welle (ca. 1980–1995) sowie die Spät- und Postphase der Dritten Welle und die Zeit danach (1995–2015).

In der ersten Phase dominieren Ansätze auf der Systemebene. Akteursansätze prägen dagegen die Forschung in der Früh- und Hochphase der Dritten Welle. In der dritten Phase, mit dem Übergang von der „transitology“ zur „consolidology“, und nach dem Ende der Dritten Welle, wurde der Gegensatz zwischen rationalistischen und strukturorientierten Ansätzen durch Versuche der Kombination und Theoriesynthese aufgeweicht.

3.2.1 Analyseansätze vor der Dritten Demokratisierungswelle

Trotz der Unterschiede zwischen den Theorien kennzeichnen drei Merkmale die Literatur in dieser ersten Phase der Theorieentwicklung.63

Erstens wurde Demokratisierung über die Wirkung struktureller Eigenschaften von Gesellschaften oder des internationalen Systems erklärt, die dem unmittelbaren politischen Handeln entzogen sind. Zweitens wurde Demokratie als das (mögliche) Ergebnis eines komplexen und langwierigen sozialen Evolutionsprozesses verstanden, und nicht als etwas, das absichtsvoll zu einem bestimmten Zeitpunkt „geschaffen“ oder „eingeführt“ wurde.64 Drittens wurde Demokratisierung nicht allgemein mit langfristigen sozialen Faktoren assoziiert, sondern vor allem mit solchen Faktoren, die eine ökonomische Bedeutung haben wie wirtschaftliche Modernisierung, die Einbindung peripherer Ökonomien in die Weltwirtschaft ← 27 | 28 → und unterschiedliche Konfigurationen von sozialen Klassen und Klassenbeiziehungen infolge variierender Modi der kapitalistischen Modernisierung. Sicherlich gab es zu dieser Zeit bereits Ausnahmen, etwa Dankwart Rustows Vierstufenmodel des Übergangs zur Demokratie.65 Sein rationalistischer Elitenansatz entfaltete jedoch erst nachhaltige Wirkung, als die Dritte Welle ihrem Höhepunkt entgegen strebte, d. h. ab den 1980er Jahren.

3.2.2 Analyseansätze in der Früh- und Hochphase der Dritten Demokratisierungswelle

Die frühe Forschung zur Dritten Welle konzentrierte sich – aus verständlichen Gründen – vor allem auf den Moment der Transition selbst.66 Diese „Transitologie“ war besonders zu Beginn durch die Anschauungsbeispiele in Südeuropa und Südamerika geprägt, prozessanalytisch sowie akteursbezogen, und verstand sich zunächst durchaus als eine radikale Abkehr von den lange Zeit vorherrschenden strukturorientierten Ansätzen.67 Dem lag zum Teil die Annahme zugrunde, dass die beobachteten Prozesse und ihre Ergebnisse hoch unsicher erschienen. Tatsächlich sprachen viele Forscher zunächst nicht von „Demokratisierung“, sondern vom „Zusammenbruch des Autoritarismus“ und von „transitions from a cetain authoritarian regime towards an uncertain something else“68. Geradezu erschüttert wurde die Zunft dann vom Kollaps der kommunistischen Regime in Osteuropa. Begleitet wurden diese Veränderungen von „demokratischen Durchbrüchen“ in Asien und in Afrika südlich der Sahara. Die Globalisierung der Dritten Welle von einer zunächst vorwiegend iberischen hin zu einer weltweiten Demokratiewelle verstärkte das normative Interesse an demokratischen outcomes: Wenige Autoren hinterfragten die Annahme, dass die zahlreichen Übergänge aus der Autokratie eine grundsätzlich positive Entwicklung bedeuteten. Die demokratische Euphorie über das liberale Ende der Geschichte legte wiederum den Grundstein für den später oftmals (und teilweise zu Recht) kritisierten „Demokratie-Bias“ ← 28 | 29 → der Transformationsforschung.69 Zudem förderte die Einführung von Demokratie auch an „unerwarteten Orten“70 das Interesse an kurzfristigen, kontingenten und konjunkturellen Faktoren. Der Umstand, dass die Transformationsforschung Ereignisse zu dem Zeitpunkt studierte, zu dem sie sich ereigneten, verstärkte gleichfalls die Bereitschaft, eher Prozesse statt deren Resultate zu analysieren. Im Ergebnis kam es zur weiteren Fokussierung auf „human agency“: Demokratisierung wurde als Ergebnis bewusster Entscheidungen politischer Führer begriffen. Allerdings produzierte die „transitology“ zunächst keine kohärente, systematische Theorie demokratischer Regimewechsel. Durchaus repräsentativ ist hier die Feststellung von Guillermo O’Donnell und Philippe Schmitter im Schlussband der von ihnen herausgegebenen Pionierstudie Transitions from Authoritarian Rule: „We did not have at the beginning, nor do we have at the end of this lengthy collective endeavor a ‚theory‘ to test or to apply to the case studies and thematic essays in these volumes“71.

3.2.3 Analyseansätze in der Spätphase und nach der Dritten Demokratisierungswelle

Gewiss ist es ein Verdienst rationalistischer Ansätze, den Blick auf die zugrundeliegenden Akteure und Interessen gelenkt zu haben; aber damit bildet die Mikroperspektive der Eliten noch lange keine überlegene Alternative, sondern eine Ergänzung zur Makroperspektive, die systemübergreifende Strukturdeterminanten von Transitionsprozessen herauszuarbeiten versucht, so bereits Welzel.72 Das wurde deutlich, als sich Mitte der 1990er Jahre der Analysefokus der Transformationsforschung erneut verlagerte, weg von den Transitionen und hin zur Konsolidierung postautoritärer Demokratien.

Details

Seiten
604
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783631729571
ISBN (ePUB)
9783631729588
ISBN (MOBI)
9783631729595
ISBN (Hardcover)
9783631729564
DOI
10.3726/b11513
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (März)
Schlagworte
Vergleichende Politikwissenschaft Interdisziplinäre Demokratieforschung Rechtspopulismus (Neue) Medien Religion und Politik Globalisierung
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 604 S.

Biographische Angaben

Jessica Fortin-Rittberger (Band-Herausgeber:in) Franz Gmainer-Pranzl (Band-Herausgeber:in)

Jessica Fortin-Rittberger studierte Politikwissenschaft an der McGill University in Montreal (Kanada). Sie ist Professorin für Vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Salzburg. Franz Gmainer-Pranzl studierte Katholische Theologie und Philosophie an der KTU Linz sowie an den Universitäten Innsbruck und Wien. Er ist Professor am Fachbereich Systematische Theologie und Leiter des Zentrums Theologie Interkulturell und Studium der Religionen an der Universität Salzburg.

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Titel: Demokratie – Ein interdisziplinäres Forschungsprojekt
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