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Matthias Claudius als Literaturkritiker

von Geeske Göhler-Marks (Autor:in)
©2017 Dissertation 294 Seiten

Zusammenfassung

Die Autorin befasst sich mit dem literaturkritischen Werk von Matthias Claudius im Rahmen des Rezensionswesens im 18. Jahrhundert. Claudius verfasste die meisten seiner Kritiken als Redakteur der Zeitung des «Wandsbecker Bothen» und nahm die Besprechungen größtenteils später in seine gesammelten Werke «Asmus omnia sua secum portans» auf. Die Untersuchung markiert die besondere Form der Poetisierung, die die Rezensionen im Werk von Claudius erfahren. Als kleine Kunstwerke stehen sie in den Asmus-Bänden gleichberechtigt neben den Gedichten und sonstigen Prosatexten. Auf der Grundlage der inhaltlichen und stilistischen Analyse der einzelnen Besprechungen fragt die Autorin, welche Position Claudius innerhalb der literarhistorischen, theologischen und philosophischen Diskurse seiner Zeit eingenommen hatte.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • I. Einleitung
  • 1. Zur Fragestellung der Untersuchung im Kontext der Forschung
  • 2. Matthias Claudius als Journalist und Autor
  • 3. Das Rezensionswesen im 18. Jahrhundert
  • II. Rezensionen von theologischen Schriften
  • 1. Die Grenzen der Erkenntnis
  • 2. Die Bedeutung von Sokrates
  • 3. Vernunft und Offenbarung
  • 4. Toleranz und religiöse Überzeugung
  • 5. Claudius und die historische Exegese
  • 6. „Auf den Flügeln des Genies“ – die Beziehung zu Herder und Hamann
  • 7. Zur Schwierigkeit der theologiegeschichtlichen Positionierung
  • III. Das Wesen des Menschen als zentrales philosophisches Problem
  • 1. Der anthropologische Dualismus
  • 2. Die Rezension von Wielands „Diogenes von Sinope“
  • 3. Tugend als Heilsweg
  • IV. Rezensionen zeitgenössischer Dichtung
  • 1. Die Rezension von Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“
  • 2. Die kritische Auseinandersetzung mit der Schule Wielands
  • 3. Die Rezensionen der Schriften Klopstocks
  • 4. Claudius als Rezensent englischer Literatur
  • 5. Zwischen Aufklärung und Sturm und Drang
  • V. Rezensionen von Zeitschriften
  • VI. Schlussbetrachtung
  • VII. Tabellarische Übersicht der Rezensionen
  • Literaturverzeichnis
  • Abbildungsverzeichnis
  • Register
  • Reihenübersicht

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I. Einleitung

Matthias Claudius ist heutzutage vornehmlich als Lyriker bekannt. Sein „Abendlied“ gilt als das berühmteste deutsche Gedicht, und auch „Der Mensch“ oder „Christiane“ zählen nach wie vor zum lyrischen Kanon.1 Dass sein Werk allerdings nicht nur einige der schönsten Gedichte der deutschsprachigen Literatur umfasst, sondern sich auch durch eine Vorliebe für die kleinen Formen der literarischen Prosa auszeichnet, wissen nur die wenigsten. Claudius schrieb nie ein Drama und nie einen Roman, die Gründe dafür mögen fehlende Ausdauer, zu hohe Ansprüche oder auch schlichtweg Unvermögen gewesen sein. Offensichtlich lagen ihm jedenfalls die großen poetischen Formen nicht. Er versteht sich vielmehr auf die Kunst, aus wenig viel zu machen. Gedichte, Lieder, Epigramme, Verse, fingierte Briefe, kleine Abhandlungen und nicht zuletzt die Rezension bestimmen sein literarisches Schaffen. Diese grundlegende Prägung erfährt sein Werk auch durch die Ausrichtung auf das Medium der Zeitung. Nachdem sein Erstling „Tändeleien und Erzählungen“, eine kleine Sammlung poetischer Texte, die in der Tradition des Rokoko standen, nach dem Erscheinen 1763 von der Kritik als stümperhafte Nachahmungen von Gerstenberg und Gellert verrissen wurde, mag sich Claudius’ Hoffnung auf eine schriftstellerische Karriere zunächst zerschlagen haben.2 Erst mit seiner journalistischen Tätigkeit, die 1768 als Redakteur der „Hamburgischen-Adreß-Comtoir-Nachrichten“ begann, tritt Claudius als Schreibender wieder in die Öffentlichkeit. Ausgesprochen geistreich, witzig und originell sind bereits diese frühen Beiträge. Der viel beschworene „naive, launigte Ton“ wird allerdings erst durch ihn als Redakteur des „Wandsbecker Bothen“ 1771 zum Programm erhoben. Die fingierte Botenfigur prägt bis zum Jahr 1775 die „Gelehrten Sachen“ und ist von da an so eng mit Claudius als Schriftsteller verbunden, dass sein Asmus auch Titelfigur der „Sämmtlichen Werke“ wird, deren „I. und II. Theil“ 1775 bei Bode erscheint ← 9 | 10 → und mit den Bänden der folgenden Jahrzehnte zum literarischen Sprachrohr von Claudius wird.

Der Umfang des schriftstellerischen Gesamtwerks, sieht man von den großen Übersetzungen ab, bleibt insgesamt vergleichsweise überschaubar, rund tausend Seiten umfassen die Texte inklusive Nachlese in der einbändigen Ausgabe der „Sämtlichen Werke“ des Winkler-Verlags.3 Nun sagt die Größe des Werks natürlich nichts über den ästhetischen Wert und die literarhistorische Bedeutung der Texte aus. Die Einrichtung des „Wandsbecker Bothen“ mag wirtschaftlich kein großer Erfolg gewesen sein und doch genoss die Zeitung einen bedeutenden Ruf im Kreis der Literaten. Daran haben sicherlich ganz besonders die Beiträge von Claudius mitgewirkt. Seine Lyrik und kleinen Prosaformen stellen mitunter recht komplexe und nicht immer leicht zu verstehende Kunstwerke dar, in denen sich der Zeitgeist der Aufklärung manifestiert. Dies gilt auch für die Textform der Rezension, die eine besondere Art der Poetisierung erfährt, sich dadurch von den Literaturkritiken der großen gelehrten Journale und Zeitungen der Aufklärung abhebt, und letztlich für Claudius von so großer Bedeutung war, dass er sie nach der Veröffentlichung in den Zeitungen sogar teilweise überarbeitete, ihnen in den „Sämtlichen Werken“ einen festen Platz einräumte und somit dafür sorgte, dass sie angesichts der inflationären Flut an Rezensionen im „Zeitalter der Kritik“ als kleine Kunstwerke hervorgehoben wurden. Angesichts dieser besonderen Bedeutung der Rezension im Gesamtwerk überrascht es, dass bislang noch keine umfassende Studie zur Literaturkritik von Claudius erschienen ist. Dies soll nun in der vorliegenden Arbeit nachgeholt werden.

Hauptgegenstand der Untersuchung sind die rund 80, Claudius sicher zuschreibbaren, Rezensionen, die er als Redakteur oder auch „freier Mitarbeiter“ für einige der gelehrten Zeitungen der Aufklärung verfasste und teilweise, auch verändert, in seine „Sämtlichen Werke“ aufnahm. Auf der Grundlage der inhaltlichen und stilistischen Analyse der einzelnen Besprechungen, in der die Poetisierung der Rezension exemplarisch veranschaulicht wird, soll ein Einblick in Claudius’ literaturkritisches Selbstverständnis gegeben werden. Grundsätzlich ist der Ton in den Rezensionen recht wohlwollend, aber Claudius ist kein Lobredner. Kritik wird geäußert und auch Freunde wie Herder oder Lessing sind davon nicht ausgenommen. Verrisse oder Gehässigkeiten sucht man in Claudius’ Besprechungen allerdings vergeblich, es werden im Gegenteil sogar Pedanterie und Besserwissertum der Gelehrten selbstironisch vorgeführt. Er vermeidet ← 10 | 11 → eine offen negative Kritik und unterhält den Leser auf humorvolle und witzige Art und Weise. Die Polemik gehört nur in Ausnahmefällen zur Methode und zwar zumeist dann, wenn er von anderer Seite angegriffen wird und sich verteidigt. Dies unterscheidet ihn z.B. wesentlich von Lessing als Rezensenten, dem es hauptsächlich um den Widerspruch ging und der die Auseinandersetzung mit dem Gegner in seiner Literaturkritik suchte.4 Mit Lessing gemeinsam hat Claudius, dass er ebenfalls kein Systematiker der Ästhetik oder Dichtkunst ist, der sich einer Regelpoetik verschreibt. Im Besonderen die dialogische Ausrichtung seiner Botenrezensionen ist der Wirkungsästhetik sehr nah und regt den Leser durch eine belehrend-didaktische Komponente zum Selbstdenken an. „Doch hoffe ich […], daß sie [die Leser] ebendas, was sie lesen werden, selbst denken, und daß ich es ihnen nur aufgeschrieben habe. Und, wo sie es nicht finden, da lasse ich ihnen ihre Meinung, denn ich will nicht streiten.“5, heißt es ausdrücklich in den „Zwei Rezensionen etc. in Sachen der Herren Lessing, M. Mendelssohn, und Jacobi“.

Nicht zuletzt soll mit dieser Arbeit auch ein Beitrag geleistet werden, Claudius’ komplexe Stellung in seiner Zeit genauer zu erfassen. Die achtzig Rezensionen geben uns einen Eindruck davon, mit welchen Werken sich Claudius beschäftigte und welche Position er innerhalb der literarhistorischen Strömungen des 18. Jahrhunderts eingenommen hat. Die Auseinandersetzung mit dem Medium der Zeitung stellt in diesem Zusammenhang einen weiteren wichtigen Schwerpunkt dar, dabei kann allerdings nur exemplarisch auf einzelne Zeitungen und Zeitschriften eingegangen werden, da eine differenzierte Darstellung des Pressewesens der Aufklärung den Rahmen dieser Arbeit übersteigen würde.6

Eine einleitende Beschreibung von Claudius’ journalistischer Tätigkeit und dem Rezensionswesen im 18. Jahrhundert wird der Beschäftigung mit den einzelnen Besprechungen vorangestellt. Diese kurze historische Einordnung erscheint sinnvoll, um Claudius’ Selbstverständnis als Rezensent genauer erfassen zu können. Die einzelnen Rezensionen werden ihrer inhaltlichen Ausrichtung gemäß zu vier Themenschwerpunkten zusammengefasst: Die Rezensionen theologischer Schriften bilden den Auftakt, da Claudius’ religiöse Anschauungen für das Verständnis vieler folgender Rezensionen relevant sind. Thematisiert wird u.a. das ← 11 | 12 → Verhältnis von Vernunft und Offenbarung, das Problem der historischen Exegese und die Idee der Toleranz. Claudius’ Auseinandersetzung mit den Grenzen der menschlichen Erkenntnis ist in diesem Zusammenhang richtungsweisend und von so großer Bedeutung für das Verständnis des Gesamtwerks, dass nicht darauf verzichtet werden kann, auf weitere poetische und theoretische Texte von Claudius und seinen Zeitgenossen ausführlich einzugehen. Anthropologische Fragestellungen als zentrales Problem der Besprechungen philosophischen Ursprungs werden im folgenden Teil der Arbeit thematisiert. Der Widerspruch zwischen Ideen und Empfindungen und der daraus resultierende Dualismus von den sich widerstreitenden Kräften in der Natur des Menschen wird in den Rezensionen und auch in weiteren prosaischen Schriften wiederholt thematisiert und erhält dadurch programmatische Züge. Es folgt mit den poetischen Schriften die inhaltlich größte Gruppe der Rezensionen. Unter den Besprechungen finden sich berühmte Werke und Autoren, wie z.B. die Rezensionen von Lessings „Minna von Barnhelm“ und „Emilia Galotti“, Goethes „Werther“, Klopstocks „Oden“ oder auch Bodes Übersetzung von Sternes „Tristram Shandy“. Den Abschluss der Einzelnanalysen bilden die rezensierten Zeitschriften des 18. Jahrhunderts.

Nicht alle Rezensionen sind hinsichtlich des getroffenen Urteils, der Bedeutsamkeit des besprochenen Werkes, des Umfangs oder ästhetischen Werts gleich interessant. So ergeben sich naturgemäß Schwerpunkte, die durch Autoren wie z.B. Herder, Hamann, Lessing, Goethe, Wieland, Klopstock oder auch Nicolai geprägt sind. Dennoch wird versucht, ebenfalls die unbedeutenderen Kritiken im Gesamtzusammenhang zu würdigen, auch wenn ihnen mitunter nur ein geringer Raum zukommt. Eine tabellarische Übersicht aller Rezensionen am Ende der Arbeit soll zudem Aufschluss über die Entstehungszeit, thematische Ausrichtung und Publikationsweise der Rezensionen ermöglichen. ← 12 | 13 →

1. Zur Fragestellung der Untersuchung im Kontext der Forschung

Zu keiner Zeit ist der Literat, der Dichter, in so gewichtigem Maße zugleich Journalist gewesen. Ich zögerte eingangs, von der Geburt des Journalisten in der Aufklärung zu sprechen; aber soviel kann man sagen: Dieser Typ des Literaten-Journalisten ist in der Tat ein Phänomen der Aufklärung. Er ist durch sie hervorgebracht, sie ist zugleich durch ihn wesentlich bestimmt. Beides ist historisch nicht zu trennen.7

Diese Charakteristik des Journalisten in der Aufklärung von Wolfgang Martens trifft auf Matthias Claudius im besonderen Maße zu. Natürlich haben auch andere Dichter des 18. Jahrhunderts, wie z.B. Lessing, Goethe und Wieland, Wesentliches für die Zeitungen und Zeitschriften geleistet, jedoch erscheint bei kaum einem der Zeitgenossen das poetische und journalistische Schaffen auf so einzigartige Weise verbunden wie bei Claudius, der damit den Typus des „Literaten-Journalisten“ nicht nur par excellence verkörpert, sondern dem Begriff eine ganz neue Bedeutung gibt. Nicht nur, dass er als Redakteur des „Wandsbecker Bothen“ zwischen 1771 und 1775 regelmäßig eigene Beiträge in der Zeitung veröffentlicht; er erschafft aus diesen ein eigenständiges poetisches Werk, seine „Sämtlichen Werke des Wandsbecker Bothen“, in denen unterschiedlichste literarische Formen zu einem ästhetischen Ganzen komponiert sind. So erobert sich die Dichtung einen Raum in der Zeitung und die Zeitung wird zur Kunst. Damit geht einher, dass die Grenzen zwischen Dichtung und Informationstext zu verschwimmen beginnen. Die Rezension steht herausgelöst aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang oftmals umgearbeitet und eine „immerwährende Aktualität“8 in sich tragend gleichberechtigt neben den poetischen Werken wie z.B. Fabel oder Gedicht. Rolf Siebke spricht in diesem Zusammenhang sehr anschaulich von einem kaleidoskopartigen Arrangement der Einzeltexte, das Claudius’ Kunstabsicht entspringe.9 Entsprechend ersucht Claudius in der Vorrede zum vierten Teil seiner Asmus-Bände im Besonderen die „Herren Nachdrucker“, seine „Sämtlichen Werke“ ← 13 | 14 → weder halb noch ganz nachzudrucken. Sein Büchel sei das einzige, das er verlege, und es müsse so beisammen bleiben.10

Matthias Claudius gilt als „Pionier des Feuilletons“11 und seine Arbeit als Journalist ist untrennbar mit der des Rezensenten und Kritikers verbunden. Eine umfassende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Rezensionen lässt die Forschungsliteratur bislang jedoch vermissen.12 Bekannte Rezensionen wie z.B. die der „Minna von Barnhelm“, des „Werthers“ oder der „Emilia Galotti“ werden zwar in unterschiedlichen Zusammenhängen ausführlich thematisiert, aber der größte Teil der Besprechungen findet kaum Beachtung. Selbst dem Kommentarteil der Winkler-Ausgabe ist oft nur eine Angabe zur Erstveröffentlichung zu entnehmen und man sucht vergebens Informationen zum besprochenen Werk oder Autor. Flegler ist in seinem Anmerkungsteil der Reclam-Ausgabe (um 1890 erschienen) weitaus differenzierter auf die literaturgeschichtlichen Zusammenhänge eingegangen, er bezieht sich - bis auf einige wenige Ausnahmen - jedoch lediglich auf die in den „Sämtlichen Werken“ veröffentlichten Rezensionen.13 Dem heutigen Leser ist es aber kaum mehr möglich, die Hintergründe allein aus dem Textzusammenhang heraus zu erschließen und den historischen Sinn zu verstehen. Es bedarf hier weitaus differenzierterer Erläuterungen. Natürlich mangelt es demzufolge auch an einer inhaltlichen Beschreibung und analytischen Auseinandersetzung mit den Besprechungen, die ästhetische und stilistische Besonderheiten stärker berücksichtigt und sich nicht in knappen Verweisen auf einzelne Aussagen erschöpft. Eine systematisierende und damit vergleichende Perspektive auf die Rezensionen verspricht nicht zuletzt mehr Aufschluss über Claudius’ Verhältnis zur Aufklärung und ermöglicht eine theologie-, philosophie- und literarhistorische Beschreibung seiner Stellung in der Zeit. Diese inhaltliche Schwerpunktsetzung ist nicht zwangsläufig an einen bestimmten Texttypus der besprochenen Werke gebunden. So setzt sich Claudius in vielen Rezensionen der zeitgenössischen Dichtung auch mit theologischen oder philosophischen Fragen auseinander. Zudem sind stets weitere poetische Texte wie auch theoretische Abhandlungen einzubeziehen, um Claudius’ vieldeutige Stellung in der Epoche zu beschreiben. Denn: „… mit der ← 14 | 15 → Abgrenzung von ‚Textsorten‘ kommen wir den Werken des ‚Wandsbecker Boten‘ nicht bei: eher wäre der jeweilige Band als ein ‚Großtext‘ im Zusammenhang zu lesen.“14 Diesen Hinweis machte sich bereits Siebke in seiner Interpretation des Gedichtes „Der Mensch“ methodisch zunutze und er soll auch für die folgende Auseinandersetzung richtungsweisend sein.15

Die „Hamburgischen Adreß-Comtoir-Nachrichten“, der „Wandsbecker Bothe“ und die „Sämtlichen Werke des Wandsbecker Bothen“ sind die Hauptquellen für die Auseinandersetzung mit Claudius’ Position als Literaturkritiker. Der differenzierte Umgang mit ihnen ist unerlässlich. So nimmt Claudius nur einen Teil der Rezensionen in seine „Sämtlichen Werke“ auf und verändert diese, wie bereits erwähnt wurde, mitunter erheblich. Für die literaturgeschichtliche Arbeit ist daher der Nachdruck des „Wandsbecker Bothen“ ein großer Gewinn, denn es gilt, stets die ursprüngliche Fassung einer Besprechung mit der späteren Aufnahme in die „Sämtlichen Werke“ zu vergleichen. Interessant ist dabei im Besonderen die Analyse der Komposition der einzelnen Beiträge.16 Häufig finden sich inhaltliche Bezüge und ein Thema wird im Folgenden erneut aufgegriffen. Diese Perspektive ist bezüglich der im „Wandsbecker Bothen“ erschienenen Beiträge ebenfalls einzunehmen - im Besonderen dann, wenn eine Rezension über mehrere Ausgaben fortgesetzt wird. Die inhaltlichen Einheiten sind voneinander im Fließtext der Nachlese oft nicht abgrenzbar. Die allein durch den vorgegebenen Platz oft notwendige Zäsur in der Zeitung ist aber sowohl inhaltlich als auch formal für die ursprüngliche Wirkung eines Textes von Bedeutung. Die „Sämtlichen Werke“ werden nach der 5. Auflage der Winkler-Ausgabe zitiert, die mit einem Nachwort und einer Bibliographie von Rolf Siebke versehen ist. Geht es im Besonderen um die Komposition der einzelnen Beiträge, ist ein Blick in die Originalausgabe unerlässlich. Erst hier wird deutlich, welche Texte sich tatsächlich in der Seitengestaltung inhaltlich gegenüberstehen und somit unmittelbar aufeinander bezogen sind.

Eine wichtige historische Quelle stellt zudem der Briefwechsel von Claudius mit seinen Freunden dar. Claudius unterhielt u.a. regelmäßig Korrespondenzen mit Heinrich Wilhelm von Gerstenberg, Gottlob Friedrich Ernst Schönborn, Johann ← 15 | 16 → Gottfried Herder, Johann Heinrich Voß, Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Heinrich Christian Boie und später auch Friedrich Heinrich Jacobi. Der Briefwechsel ist jedoch nur sehr lückenhaft überliefert und schließt die Briefe an Claudius nicht mit ein.17 Immer wieder finden sich in Aufsätzen Hinweise auf unbeachtete Quellen, die Edition ist aber nach wie vor ein Desiderat der Forschung.18 Fechner forderte zuletzt 1991 eine wissenschaftliche Ausgabe der Briefe von und an Claudius und kündigte erste Vorarbeiten an.19 Es blieb jedoch bislang bei diesen, so dass an entsprechender Stelle auf die Ausgabe von Jessen zurückgegriffen werden muss.20 Trotz des großen Gewinns für die Forschung kann natürlich auch eine historisch-kritische Ausgabe nicht die Lücken schließen, die durch Claudius’ eigene Hand entstanden sind. Die Vorstellung, dass Briefe gedruckt werden, die Privates enthalten, ist Claudius äußerst unangenehm gewesen – ganz gleich, ob die Korrespondenz von ihm oder einer anderen Person stammt. Das an einen Freund gerichtete Wort war Claudius heilig, es war nicht für die Öffentlichkeit bestimmt und so heizte er nicht nur einmal seinen Ofen mit den Briefen seiner Freunde ein, um den Druck dieser zu verhindern.21 Diese Haltung wird auch am Ende seiner nachrufartigen Anzeige von „Gottlieb Wilhelm Rabners Briefen, von ihm selbst gesammlet und nach seinem Tode, nebst einer Nachricht von seinem Leben und Schriften herausgegeben von E. F. Weiße“ deutlich, in der es heißt:

Diese Briefe sind nach Rabners Art, und zum Teil sehr schön. Man wird sie mit Vergnügen lesen. Es mag auch sein Gutes haben, dergleichen Briefe herauszugeben, aber mir ist, wenn ich Briefe von Freund zu Freund gedruckt lese, als ob ich ein Stück vom Altar auf dem Markt feilbieten sehe.22 ← 16 | 17 →

Neben der Primärliteratur kann im Kontext der Fragestellung auf einige wissenschaftliche Veröffentlichungen zu Matthias Claudius zurückgegriffen werden. Zunächst einmal sind hier die Anfänge der Claudius-Forschung zu nennen, in denen eine besondere Biographiearbeit geleistet wurde. Wilhelm Herbsts 1857 herausgekommene Lebensbeschreibung „Matthias Claudius der Wandsbecker Bote“ stellt nach wie vor eines der Standardwerke dar, ebenso wie Wolfgang Stammlers Abhandlung „Matthias Claudius der Wandsbecker Bothe“ von 1915. Klaus Goebel weist in seinem „Essay über den Umgang mit Matthias Claudius in den Jahren der nationalsozialistischen Diktatur“ zudem darauf hin, dass es einem Versäumnis gleichkäme, Bruno Adlers Biographie „Matthias Claudius. Sein Weg und seine Welt“, die 1934 unter dem geänderten Verfassernamen Urban Roedl erschien, zu übergehen.23 In das frühe 20. Jahrhundert fallen auch die ersten themenspezifischen Untersuchungen zur Lyrik und religiösen Stellung des Boten.24 Selbstverständlicher wird die wissenschaftliche Beschäftigung mit Matthias Claudius aber erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Kranefuss, Görisch und König veröffentlichten in den 70er und 80er Jahren umfangreiche Abhandlungen. Besonders die Studie von Kranefuss über „Die Gedichte des Wandsbecker Boten“ setzte neue Maßstäbe. Anlässlich des Jubiläumsjahres 1990 erschienen verschiedene Publikationen, die ein hohes wissenschaftliches Niveau aufweisen, aber hinsichtlich der Werkinterpretationen nur einen mäßigen Ertrag erbrachten.25 Besonders hat sich in diesen Jahren Herbert Rowland um die Claudius-Forschung verdient gemacht, der in seinen Monographien und Aufsätzen durch textnahe und differenzierte Analysen überzeugt und immer wieder die Bedeutung der scherzhaften Satire im Werk von Claudius hervorhebt.26 Insgesamt überwiegen jedoch bereits in den 90er Jahren Textausgaben und eine Vielzahl kleinerer Beiträge. Zwei Aufsatzbände sind hier besonders hervorzuheben. Zum einen die Sammlung der ← 17 | 18 → Vorträge, die beim internationalen interdisziplinären Symposium der Lessing-Akademie anlässlich des 250. Geburtstags von Claudius 1990 in Bad Segeberg gehalten wurden, Herausgeber ist Jörg-Ulrich Fechner, und zum anderen die Beiträge zum Symposium der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften in Hamburg desselben Jahres, die Friedhelm Debus veröffentlichte. Seit 1992 finden sich zudem in den Jahresschriften der Claudius-Gesellschaft kleinere Beiträge zu unterschiedlichen Sachgebieten. Die von Reinhard Görisch herausgegebenen Jahresschriften umfassen Aufsätze, aber auch Rezensionen und die jährliche Claudius-Bibliographie von Rowland, in der die Themen der Claudius-Literatur eines Jahrgangs beschrieben und Textausgaben, Monographien, Aufsätze, Artikel sowie Sendungen im Hörfunk zu Matthias Claudius erfasst werden. Ein Blick auf die 23 bisher erschienenen Jahrgänge zeigt, dass die wissenschaftliche Beschäftigung in den vergangenen Jahren einige Schwankungen hinsichtlich Intensität und Niveau aufweist. Immer wieder bedauert Rowland die spärliche Anzahl der Monographien. Thematisch überwiegen Darstellungen zu Leben und Werk, den Beziehungen zu Zeitgenossen und der Lyrik. Zudem sei ein gesteigertes Interesse an Claudius’ Verhältnis zur Musik zu beobachten. Die Prosaschriften und auch das Spätwerk sind eher vernachlässigt worden.

Rowland erfasst in seiner Bibliographie alles, was ihm an Veröffentlichungen bekannt ist. So stehen wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Beiträge nebeneinander. Nicht, dass es sich hierbei um minderwertige oder triviale Literatur handeln muss, aber oftmals werden keine neuen Ergebnisse präsentiert und die Überprüfbarkeit durch Quellenangaben und Literaturverzeichnis ist nicht unbedingt gegeben.27 So würdigt Rowland z.B. Kleßmanns Biographie „Der Dinge wunderbarer Lauf. Die Lebensgeschichte des Matthias Claudius“ als bedeutendste biographische Leistung des Jahres 1995, die vor allem der Jugend eine gute Einführung sei und sich für den allgemeinen Leser oder die Schule ← 18 | 19 → eigne.28 In der Rezension der Neuauflage bemängelt Görisch allerdings, dass die von Münz formulierten kritischen Einwände nicht berücksichtigt wurden und das mit 16 Titeln ohnehin schon äußerst überschaubare Literaturverzeichnis nicht erweitert wurde.29 Noch 1991 bemerkte Koch in seiner kritischen Beschreibung zum Stand der Claudius-Forschung in seinem Aufsatz über die „Poetik im Dienste des Journalismus bei Matthias Claudius“ über einen Artikel in „Harenbergs Lexikon der Weltliteratur“ von 1989:

Die Ansammlung von Fehlern, törichten Formulierungen und Fehlurteilen zeigt, daß die kleine Gruppe der Claudius-Forscher, die sich vom 19. Jahrhundert bis heute kaum mehr als zwei Dutzend beläuft, für dieses Lexikon wieder einmal vergeblich gearbeitet hat. Wie kaum ein anderer Autor der deutschen Literatur wird Claudius immer wieder mit Klischees bedacht, die einer vom anderen abschreibt, und mit unzutreffenden Kategorien beurteilt, weil nur die wenigsten, die über ihn schreiben, sich zuvor überhaupt der Mühe unterziehen, sich mit Person, Werk und Zeit hinreichend vertraut zu machen.30

Inhaltliche Fehler und Klischees finden sich seitdem seltener in den wissenschaftlichen als in den populärwissenschaftlichen Publikationen zu Claudius. Trotz dieser erfreulichen Entwicklung wird Claudius in seiner wissenschaftlichen Grundwahrnehmung immer noch die Stellung eines ernstzunehmenden Autors verwehrt. So hat sich Benedict in einem kürzlich veröffentlichten Werk Claudius aus einem theologischen Blickwinkel31 zu nähern versucht und konstatiert einleitend doch wieder alle überwunden geglaubten Klischees:

Also in Kurzform: Sohn aus altem Pastorengeschlecht, der auch mal Theologie studiert hat, aber es dann aufgab, weil er kein Pfarrer werden wollte, aber doch immer praktizierender Christ blieb. Humanistisch gebildeter Laie. Man könnte sagen, Claudius war der erste Laientheologe, der diesen Namen voll verdient. Beruf zunächst Journalist und gescheiterter Staatsbeamter, dann Schriftsteller und Redakteur. Bekannt geworden durch die Herausgabe der Zeitschrift Der Wandsbecker Bothe (so die ursprüngliche Schreibung). ← 19 | 20 → Der Titel der Zeitschrift wird zu seinem Markenzeichen. Hier schreibt er, ein Querkopf, unter dem Namen Asmus unverwechselbare Texte. Wie Claudius in seinem wenig ereignisreichen Leben diesen Botendienst wahrnimmt und in der literarischen Welt sich einen Namen macht, wie er eine große Familie gründet und immer wieder das Wunderbare im Alltag entdeckt, das möchte ich beschreiben.32

2. Matthias Claudius als Journalist und Autor

Matthias Claudius wird am 15. August 1740 als Sohn einer Pfarrersfamilie im holsteinischen Reinfeld geboren. Nach dem Besuch der Lateinschule in Plön beginnt er 1759 zusammen mit seinem Bruder Josias in Jena das Studium der Theologie. Neben dem Studium der „Gottesgelahrtheit“ widmet sich Claudius auch der Jurisprudenz, Philosophie und Kameralistik. Im November 1760 werden beide Brüder von den „Blattern“ (Pocken) befallen. Josias überlebt die Krankheit nicht. Wie nah ihm der Tod des geliebten Bruders geht, zeigt die von Claudius verfasste Begräbnisrede, die Schrift stellt seine erste Veröffentlichung dar. 1762 kehrt Claudius ohne einen Studienabschluss in sein Elternhaus zurück. Ein Jahr später veröffentlicht er seinen Erstling „Tändeleyen und Erzählungen“. Die Gerstenberg Nachahmung wird von der Kritik jedoch weitgehend abgelehnt. Claudius nimmt eine Stelle als Sekretär des Grafen Holstein in Kopenhagen an und macht die Bekanntschaft mit Klopstock. Nach einem erneuten Rückzug in das Elternhaus arbeitet er ab 1768 für die „Hamburgischen Adreß-Comtoir-Nachrichten“, das bedeutendste Intelligenzblatt der Hansestadt, das seit 1767 von Johann Wilhelm Dumpf herausgegeben wurde.33 Die Erfindung eines fiktiven Verfassers, die Vorliebe für fingierte Briefe, den persönlichen Stil in kleinen Textformen und die didaktisch-erbauliche Zielsetzung lässt bereits erkennen, wie sehr Claudius’ journalistischer Stil von den Moralischen Wochenschriften geprägt ist, die ihre Blüte in der Mitte des 18. Jahrhunderts in Hamburg hatten.34 Mit der Übernahme der Redaktion des „Wandsbecker Bothen“ kommt die Anonymität der volkstümlichen Botenfigur hinzu, wobei Wilke bemerkt, dass Claudius diese Elemente durch die Personifizierung auch in eigener Weise funktionalisiere.35 ← 20 | 21 →

1770 erhält Claudius das Angebot, die Redaktion des „Wandsbecker Bothen“ zu übernehmen. Heinrich Carl Schimmelmann gründet die Zeitung im Verlag von Johann Joachim Christoph Bode. Sie erscheint viermal wöchentlich dienstags, mittwochs, freitags und sonnabends, hat einen Umfang von vier Quartseiten und richtet sich vor allem an die Leser im nahen Hamburg. 400 Exemplare umfasst die vergleichsweise geringe Auflage.36 Erstmalig erscheint der „Wandsbecker Bothe“ am Neujahrstag 1771. Schimmelmann verfolgt durch die Einrichtung der Zeitung das Ziel, den nachhaltig geschädigten Ruf des holsteinischen Ortes wiederherzustellen. Im 17. Jh. waren Wandsbek unter dem Schutz der dänischen Krone Privilegien zugekommen, die vor allem in Hamburg nicht gern gesehen wurden und dem Ort einen üblen Ruf einbrachten. Von diesem ist auch in den „Nachrichten von der Geschichte und Verfassung des adelichen Guts Wandsbeck in Holstein“ von 1773 zu lesen, die vom Gutsverwalter Richter verfasst worden sein soll.37 Zusammenfassend heißt es über die Chronik im Kapitel „Wandsbek und seine Zeitung“ des Ausstellungskatalogs, der anlässlich des 250. Geburtstags von Claudius erschien:

Ausgehend vom geflügelten Wort „Das gilt zu Wandsbek“, womit in Hamburg und auch anderswo alles bezeichnet wurde, was gegen Recht und Sitte verstieß, wird zunächst die altehrwürdige Geschichte Wandsbeks beschworen. In objektiven Für und Wider werden dann die inzwischen erledigten Privilegien behandelt, durch die der Ort in Verruf geraten war. Sie betrafen die Erlaubnis zum Pfänderverkauf für die ansässigen Juden, durch die sich Hehlerei und Diebesgut einschleichen konnte, ferner ein Asylrecht für „schuldlose“ Bankrotteure, die vor dem Zugriff ihrer Gläubiger eine Zuflucht suchten, und schließlich das Recht für heiratslustige junge Paare, sich ohne Aufgebot und ohne Zustimmung der Eltern vom Ortspfarrer trauen zu lassen. Auch die Bordellwirtschaften, die sich eine Zeitlang im Haus Marienthal eingenistet hatten, kommen zur Sprache.38

Hinzu kommt, dass in den Jahren zuvor in Wandsbek eine Zeitung erschienen war, die aufgrund der satirischen Verarbeitung des Hamburger Stadtklatsches ← 21 | 22 → für reißenden Absatz sorgte.39 Die zuständigen Zensurbehörden waren hier weniger empfindlich, wenn kritisch über hamburgische Verhältnisse berichtet wurde.40 Das Blatt nennt sich in den Jahren von 1767–1770 der „Wandsbeckische Mercur“. Der Buchdrucker Dietrich Christian Milatz gründete die Zeitung 1745. In den 50er Jahren wurde sie von Nikolaus Baade weitergeführt. Böning weist darauf hin, dass es sich keineswegs um ein „bedenkliches Skandalblatt“ handele, das lediglich „Schmierereien“ enthalte, wie die Forschungsliteratur durchgängig meine.41 Vielmehr bemühe sich der „Wandsbeckische Merkur“ im Besonderen unter der Leitung von Christian Milatz um ein neues Lesepublikum bei den unteren sozialen Schichten und versuche den Leser über die aktuellen politischen Geschehnisse zu informieren.42 Erst später stehe das Unterhaltungsbedürfnis im Vordergrund. Charakteristisch sei im Besonderen der plaudernde, saloppe Ton, zu dem auch gehöre, dass Beiträge mitunter in niederdeutscher Sprache verfasst wurden.43 Böning betont, dass die Entstehungsgeschichte des „Wandsbecker Bothen“ eng mit dem Ende des „Wandsbecker Mercurs“ verknüpft sei und Claudius sich mit der Gründung einer neuen Zeitung in einer besonderen Konkurrenzsituation befinde.:

War der „Wandsbecker Mercur“ bewußt auf einen Leserkreis gerichtet, der eine unterhaltende Zeitungsberichterstattung der üblichen sachlich referierenden vorzog, so befand sich Claudius mit seinem neuen Blatt von vornherein in einer mißlichen Situation, indem er solche Lesebedürfnisse nicht bedienen wollte, sich damit aber in eine Konkurrenzsituation zu den etablierten Zeitungen begab. Dieser Konkurrenz jedoch war die Zeitung – vorerst noch ohne eigene Korrespondenten, angewiesen, weitgehend auf das Ausschreiben anderer Zeitungen – kaum gewachsen. Nur Vermutungen lassen sich darüber anstellen, ob Claudius weiterhin mit den Lesern des Vorgängerblattes rechnete und vielleicht sogar erzieherisch auf sie einwirken wollte, oder ob es ihm von vornherein bewußt war, daß er ein neues Lesepublikum gewinnen mußte, sollte seine Zeitung Erfolg haben.44

Bedenkt man, dass Hamburg schon am Anfang des 17. Jahrhunderts als ein bedeutendes Informationszentrum und wichtiger europäischer Umschlagort für Nachrichten galt, erscheint die Etablierung einer neuen Zeitung tatsächlich als ← 22 | 23 → keine leichte Aufgabe.45 Allein in Altona und Hamburg existierten am Ende der 80er Jahre des 17. Jahrhunderts gleichzeitig acht Zeitungen.46 Zu den auflagenstärksten zählte mit rund 21.000 Exemplaren der „Hamburgische Correspondent“, der eine der wichtigsten und überregional gelesenen Tageszeitungen war.47 Welche Strategie verfolgte Claudius nun also als Redakteur einer neuen Zeitung, um im Markt bestehen zu können und welche Leserkreise wollte er gewinnen?48 Stammler bemerkt, dass Claudius sehr wohl gewusst habe, dass er, im Unterschied zum „Wandsbecker Mercur“, für den gebildeten Mittelstand schrieb, er also herunter auf dessen Niveau müsse:

[…] nur so ist es möglich, in diesen Kreisen Anhang und Einfluß zu gewinnen, sie aus ihrem trägen Spießbürgertum aufzurütteln und einem einigermaßen interessierten Publikum emporzubilden. Das etwa war die Idee, die dem Journalisten Claudius vorschwebte. Die pädagogische Sucht, welche in seinem Zeitalter lebte, der Trieb, alles um sich zu erziehen und zu leiten, hatte auch ihn erfaßt, der einzige Tribut, den er dem Rationalismus zollte. In vielen seiner Rezensionen […] kommt diese Absicht klar zum Ausdruck. Ein königstreuer, in politicis durchaus konservativ gesinnter Mann, bemühte er sich, den Drachen Stumpfsinn aus den Hirnen seiner Leser herauszulocken, ihn zu töten und sie zur geistigen Freiheit zu führen.49

Das gebildete Bürgertum war sicherlich ein Leserkreis, den auch andere Zeitungen ansprachen.50 Es musste Claudius also darum gehen, seinem „Wandsbecker ← 23 | 24 → Bothen“ etwas Besonderes zu verleihen. Rein äußerlich unterscheidet sich dieser zunächst einmal nicht von anderen Zeitungen. Ebenso ist die Einteilung in einen politischen und einen gelehrten Teil gebräuchlich.51 Auffällig ist aber die Titelvignette, auf der eine Eule, ein junger Flöte spielender Knabe und vier Frösche zu sehen sind. Laut Rowland handele es sich um Symbole der Weisheit, der Kunst und des Humors, die auf das anspruchsvolle Programm des neuen Blattes hindeuteten.52 Mit der Konzeption der Zeitung hatte sich Claudius bereits vor Abdruck der ersten Ausgabe eingehend beschäftigt. Während Bode die politische Berichterstattung betreut, macht sich Claudius Gedanken über die inhaltliche Gestaltung des „Gelehrten Teils“ und berät sich mit befreundeten Literaten. So heißt es in einem Brief vom 28. Oktober 1770 an Heinrich Wilhelm von Gerstenberg, der ein enger Jugendfreund von Claudius war und mit ihm in einem regen Briefwechsel stand:

Auf Neujahr legt Bode eine Zeitung in Wandsbeck an und ich werde sie schreiben helfen. Ich wollte gerne, daß der gelehrte Artikel zwar nicht gerade besser wäre als in vielen andern Zeitungen, aber etwas eignes muß er haben und nicht so wie die andern sein, geben Sie mir Ihre Gedanken über die Einrichtung doch auch zum besten, ich sammle itzo Stimmen deswegen.53

Claudius bemüht sich also ganz besonders um die Gestaltung des gelehrten Artikels. Humorvoll, witzig, heiter sollen die „Gelehrten Sachen“ geschrieben sein. Mit diesem Anspruch unterscheidet sich der „Wandsbecker Bothe“ durchaus konzeptionell vom „Hamburgischen Correspondenten“ oder auch der 1767 gegründeten „Hamburgischen Neuen Zeitung“, die sich besonders durch den gelehrten Teil profilierte, in dem in den Jahren von 1767 bis 1771 Gerstenberg rezensierte.54 Tolkemitt bemerkt, dass die „Neue Zeitung“ dem „Correspondenten“ in diesen Jahren hinsichtlich des gelehrten Zeitungsteils den Rang ablaufe. Der Umfang des ← 24 | 25 → gelehrten Artikels im „Hamburgischen Correspondenten“ schwanke zwischen einer halben Spalte und einer Seite und entfiele sogar häufig, was darauf hindeute, dass sein Gewicht in der Zeitungskonzeption langsam abnehme und dem politischen Teil das primäre Interesse zukomme.55 Trotz dieser Veränderung kommt der Rezension im gelehrten Teil ein besonderes Gewicht zu. So finden sich z.B. im 1772er Jahrgang des „Hamburgischen Correspondenten“ in nahezu jedem gelehrten Artikel Rezensionen theoretischer und poetischer Schriften, die mitunter bis zu sechs Fortsetzungen umfassen. Im „Wandsbecker Bothen“ sind Rezensionen, die über zwei oder drei Ausgaben gehen, bereits die Ausnahme.56 Auch Gerstenberg knüpft poetologische Betrachtungen an viele seiner Besprechungen an.57 Die Auseinandersetzung mit seinen Beiträgen in der „Neuen Hamburgischen Zeitung“ stellt bislang noch ein Desiderat der Forschung dar. Immerhin existiert eine Ausgabe, die von Ottokar Fischer 1904 herausgegeben wurde und mit einem ausführlichen Kommentarteil zu den einzelnen Rezensionen versehen ist. In der Einleitung problematisiert Fischer die anonyme Verfasserschaft und bemerkt, dass lediglich ein Viertel der im Band veröffentlichen Aufsätze mit voller Sicherheit Gerstenberg zugeschrieben werden könne.58 Dennoch behalte der Kommentar seinen Wert, da er einen Beitrag zu einer Beschreibung der Schreibart Gerstenbergs und seiner Zeitgenossen leiste.59 Die Kritiken in der „Hamburgischen Neuen Zeitung“ sind deutlich länger als die im „Wandsbecker Bothen“, Gerstenberg neigt also eher zu längeren Darstellungen, die oftmals kleinen Abhandlungen gleichen und häufig Zitate aus der Literatur beinhalten. Zudem wird expliziter gelobt und getadelt, also ein dezidiertes Urteil gefällt, das in der Sache differenziert begründet ist. Von einer satirischen Schreibweise wird dabei kaum Gebrauch gemacht. Die künstlerische Gestaltung und der „naive, launigte Ton“, der bereits die Beiträge in den „Hamburgischen Adreß-Comtoir-Nachrichten“ prägte, scheint also tatsächlich ein sehr außergewöhnliches Stilmittel zu sein, das bezeichnend für Claudius’ literarisches Schaffen ist. Dies geht auch aus einem Brief an Herder hervor, in dem Claudius schreibt: ← 25 | 26 →

Claudius holt sich also nicht nur Rat, früh sucht er zudem nach Mitarbeitern, die durch ihren guten Namen die Zeitung bereichern sollen. In diesem Fall bittet er Herder um seine Beiträge und auch sein alter Freund Schönborn wird eindringlich angehalten: „Man erwartet von Euch Rezensions von Mathematischen und Philosophischen Büchern, auch kleine Aufsätze aus Eurem eigenen ingenio, seid also so gut, und schickt etwas dergleichen, und zwar bald“61. Es zeigt sich hier, dass der gelehrte Artikel für die Entwicklung der Literaturkritik von grundlegender Bedeutung war.62 Manches Bitten um Rezensionen blieb zunächst vergeblich, erst später gelang es Claudius mit viel Mühe bedeutende Beiträger zu gewinnen. Zu diesen zählten u.a.: Johann André, Heinrich Christian Boie, Gottfried August Bürger, Karl Friedrich Cramer, Johann Jacob Engel, Johann Joachim Eschenburg, Johann Christoph Hölty, Johann Georg Jacobi, Klopstock, Lessing, Johann Martin Miller, Karl Wilhelm Ramler, Rudolph Erich Raspe, Carl Ferdinand Schmid, Friedrich Schmit, Schönborn, Friedrich Leopold zu Stolberg, Johann Heinrich Voß und Friedrich Wilhelm Zachariae.63 Die Verfasserschaft bleibt aufgrund der gewahrten Anonymität jedoch vielfach ungeklärt. Dies gilt auch für Claudius, der natürlich selbst manchen Beitrag im „Wandsbecker Bothen“ veröffentlichte. Wir ← 26 | 27 → können davon ausgehen, dass Claudius zwischen 1771 und 1775 neben poetischen Beiträgen und kurzen Abhandlungen mindestens um die 80 Rezensionen verfasste.64 In ihnen werden die wichtigsten literarischen Neuerscheinungen besprochen. Zu den bedeutsamsten zählen u.a. Werke von: Goethe, Herder, Klopstock, Lessing, Nicolai und Wieland. Die schöne Literatur stellt die größte Gruppe der Rezensionen von Claudius dar, wobei durchaus auch theologische und philosophische Schriften ihren festen Platz im Hauptteil des gelehrten Artikels haben. Daneben finden sich immer wieder kuriose Beiträge wie z.B. die „Besprechung“ der medizinischen Abhandlung „Tractatus De Morbo Hernioso Congenito Singulari“ des berühmten Arztes Johann Friedrich Meckel.65 Carl Redlich, der sich ← 27 | 28 → als einer der ersten überhaupt mit dem Werk von Claudius auseinandersetzt, fasst die Vielfalt der Themen anschaulich zusammen:

Details

Seiten
294
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783631730829
ISBN (ePUB)
9783631730836
ISBN (MOBI)
9783631730843
ISBN (Hardcover)
9783631728949
DOI
10.3726/b11626
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (August)
Schlagworte
Rezension Wandsbecker Bothe Aufklärung Sturm und Drang Theologie Philosophie
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 294 S., 6 s/w Abb., 1 farb. Tab.

Biographische Angaben

Geeske Göhler-Marks (Autor:in)

Geeske Göhler-Marks studierte, als Stipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes, an der Universität Bremen, der Universität für angewandte Kunst Wien und der Universität Wien die Fächer Deutsche Literatur und Kunst. Sie unterrichtet die Fächer Deutsch und Kunst und ist als Koordinatorin der Begabungsförderung tätig. Ihre wissenschaftlichen Interessen gelten der Literatur des 18. bis 20. Jahrhunderts sowie der Literaturdidaktik.

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Titel: Matthias Claudius als Literaturkritiker
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