Lade Inhalt...

Conduct books für junge Damen des achtzehnten Jahrhunderts

Aufrichtigkeit und Frauenrolle

von Cornelia Dahmer (Autor:in)
©2017 Dissertation 544 Seiten
Reihe: Britannia, Band 19

Zusammenfassung

Die Autorin erschließt mit dem conduct book für junge Damen einen in der anglistischen Forschung vernachlässigten Schrifttypus. Diese Textsorte des achtzehnten Jahrhunderts ist als frühbürgerlicher Typ von Ratgebertexten im Geiste des Zeitalters der Aufrichtigkeit interpretiert worden. Jedoch gelten conduct books für Frauen seit Mary Wollstonecrafts «Vindication of the Rights of Women» (1792) als Anleitung zur Unaufrichtigkeit. Die Autorin setzt an diesem Widerspruch an und unterzieht elf Texte einem Verfahren des close reading in Bezug auf Darstellung und Stellenwert der Verhaltenskategorie «Aufrichtigkeit». Sie zeigt, wie conduct books den Rat zur «sincerity» als pädagogische Drohung instrumentalisieren: Diese macht die Leserin zur Agentin der eigenen Erziehung zu rollenkonformem Verhalten und konterkariert so das aufklärerisch-emanzipatorische Potenzial weiblicher Aufrichtigkeit.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1 Einleitung
  • 2 Conduct books für junge Damen
  • 2.1 Definition
  • 2.2 “[A] hybrid form”: Eine Textsorte im Grenzbereich
  • 2.3 Das ‚Curriculum‘ des conduct book für junge Damen
  • 2.4 Entstehungskontext, Autorinnen/Autoren und Leser/innen
  • 2.5 Conduct books in der Forschung
  • 2.5.1 Ratgeberliteratur
  • 2.5.2 Anfänge und Entwicklung der Forschung zu conduct books für junge Damen
  • 2.5.3 Stand der Forschung zu conduct books für junge Damen
  • 2.6 Auswahl der zu untersuchenden Texte
  • 3 Aufrichtigkeit
  • 3.1 “[V]ariously enmeshed”: Zur Wahl eines Arbeitsbegriffs
  • 3.2 Interdisziplinäre Perspektiven auf zentrale Fragen der Aufrichtigkeit
  • 3.2.1 Verhalten(-skategorie), persönliche Eigenschaft oder Tugend?
  • 3.2.2 Ausdrucksformen der Aufrichtigkeit
  • 3.2.3 Selbsterkenntnis und Selbstdarstellung
  • 3.3 Aufrichtigkeit im langen 18. Jahrhundert
  • 3.3.1 Das ‚Zeitalter der Aufrichtigkeit‘
  • 3.3.2 ‚Weibliche‘ Aufrichtigkeit
  • 3.3.3 (Un-)Aufrichtigkeit als Gegenstand der Forschung zu conduct books für junge Damen
  • 3.3.3.1 Das conduct book als Anleitung zur Aufrichtigkeit: Vom “Sentimental Fashion System” bis zum “Sincere Behaviour Code”
  • 3.3.3.2 Das conduct book als Anleitung zur Unaufrichtigkeit: Hypocrisy – Dissimulation – Deception
  • 3.3.3.3 “[A]n attractive alias”: Propriety – Modesty – Silence
  • 3.3.3.4 Das conduct book als Anleitung zu Selbsterkenntnis/-betrug?
  • 3.3.3.5 Der Rat zur Aufrichtigkeit im historischen Wandel: Ratgebertypen im Vergleich
  • 3.4 Zusammenfassung und Anknüpfungspunkte
  • 4 Das Vokabular der Aufrichtigkeit in conduct books
  • 4.1 Überblick
  • 4.2 Sincerity
  • 4.3 Honesty
  • 4.4 Frankness
  • 4.5 Openness
  • 4.6 Fazit: Facetten der Aufrichtigkeit
  • 5 (Selbst-)Inszenierung als aufrichtige Autoren?
  • 5.1 Echtheit der Identität und Biographie des Autors/der Autorin
  • 5.2 Experten für den conduct of life junger Damen
  • 5.3 Eine der Aufrichtigkeit günstige Kommunikationssituation
  • 5.4 „Wahrhaftigkeitsbeteuerungen“
  • 5.5 Zusammenfassung: Glaubwürdige Experten geben im Vertrauen aufrichtigen Rat
  • 6 Unwillkürliche Transparenz
  • 6.1 Physiognomie
  • 6.2 “Somatic act[s] of confession”
  • 6.2.1 Complexion
  • 6.2.2 Erröten
  • 6.2.3 Tränen
  • 6.2.4 Wahrnehmbare somatische Veränderungen als Form der Aufrichtigkeit?
  • 6.3 Countenance
  • 6.4 “[I]nstinctive modesty”
  • 6.5 Transparenz statt Aufrichtigkeit?
  • 7 Sprache
  • 7.1 Die Wahrheit sagen
  • 7.2 Die Wahrheit nicht sagen: Geheimnisse
  • 7.3 Die Unwahrheit sagen
  • 7.3.1 Heuchelei und verwandte Phänomene
  • 7.3.2 Schmeichelei, Unterstellung und üble Nachrede
  • 7.3.3 Betrug
  • 7.3.4 Zusammenfassung: Sollen junge Damen die Unwahrheit sagen?
  • 7.4 Aufrichtig sprechen?
  • 8 Nonverbale Kommunikation und Aufrichtigkeit
  • 8.1 „Orte der Unverstelltheit“
  • 8.1.1 Orte, die (Un-)Aufrichtigkeit signalisieren
  • 8.1.2 (Un-)Aufrichtige Selbstdarstellung durch Wahl des Aufenthaltsortes
  • 8.1.3 Zusammenfassung: Aufenthaltsort und Aufrichtigkeit
  • 8.2 Kleidung und Kosmetik
  • 8.2.1 Kosmetik
  • 8.2.2 Kleidung
  • 8.2.2.1 “The blurring of class lines”: Kleidung als Ausdruck sozialer Identität
  • 8.2.2.2 “Expressions of character”: Kleidung als Ausdruck des ‚Inneren‘
  • 8.2.2.3 „Modish masquerades“: Enthüllen oder Verbergen des Körpers?
  • 8.2.3 Zusammenfassung: Aufrichtigkeit durch Kleidung und Schminke?
  • 8.3 “So many indexes to the mind”? Kinesik
  • 8.3.1 Haltung, Bewegung und Gestik
  • 8.3.2 Mimik
  • 8.3.3 Blickverhalten
  • 8.3.4 Vortäuschen körperlicher Symptome
  • 8.3.5 Zusammenfassung: Kinesik und Aufrichtigkeit
  • 8.4 Paraverbale Kommunikation
  • 8.4.1 Aussprache, Lautstärke, Lachen
  • 8.4.2 Schweigen
  • 8.4.3 Zusammenfassung: Paraverbale Aufrichtigkeit?
  • 8.5 Aufrichtigkeit ohne Worte?
  • 9 Selbsterkenntnis und Selbstoffenbarung
  • 9.1 Selbsterkenntnis versus Selbstbetrug
  • 9.2 Selbstoffenbarung und Selbstoptimierung
  • 9.3 Zusammenfassung: Von der Selbsterkenntnis über die Selbstoptimierung zur Selbstoffenbarung
  • 10 Schluss: Anstand und Aufrichtigkeit?
  • 11 Anhang I: Literaturliste
  • 12 Anhang II: Kommentierte Liste der untersuchten conduct books
  • 12.1 George Savile Marquess of Halifax: The Lady’s New-Year’s Gift: Or, Advice to a Daughter (1688)
  • 12.2 Anne-Thérèse de Marguenat de Courcelles, Marquise de Lambert: Advice of a Mother to her Daughter (1727)
  • 12.3 Edward Moore: Fables for the Female Sex (1744)
  • 12.4 Charles Allen: The Polite Lady (1760)
  • 12.5 Lady Sarah Pennington: An Unfortunate Mother’s Advice to her Absent Daughters, in a Letter to Miss Pennington (1761)
  • 12.6 James Fordyce: Two Sermons to Young Women (1765)
  • 12.7 Hester Mulso Chapone: Letters on the Improvement of the Mind, Addressed to a Young Lady (1773)
  • 12.8 John Gregory: A Father’s Legacy to his Daughters (1774)
  • 12.9 John Bennett: Letters to a Young Lady. On a Variety of Useful and Interesting Subjects, Calculated to Improve the Heart, to Form the Manners, and Enlighten the Understanding (1784)
  • 12.10 Mary Wollstonecraft: Thoughts on the Education of Daughters with Reflections on Female Conduct, in the More Important Duties of Life (1786)
  • 12.11 Thomas Gisbourne: An Enquiry into the Duties of the Female Sex (1797)
  • 13 Anhang III: Personen- und Sachregister
  • 13.1 Personenregister
  • 13.2 Sachregister
  • Reihenübersicht

| 13 →

1 Einleitung

Abstract: This chapter introduces the research topic and identifies the key points of concern: The eighteenth-century female conduct book’s treatment of sincerity (as a behavioural category) appears contradictory. It has been read both as a product of the “age of sincerity” and as advocating insincerity as part of “modest” eighteenth-century femininity.

“A virtuous person is not afraid to let her face speak the language of her mind.” (O. V. [Allen] 2004: 220)1

Die Frage nach dem jeweils richtigen Verhalten einer jungen Dame der besseren Gesellschaft in allen Bereichen des Lebens zu beantworten, fühlten sich im 18. Jahrhundert2 die Autorinnen und Autoren von “conduct books” berufen. Diese im Deutschen oft als „Anstandsbücher“ bezeichneten, vielleicht aber zutreffender als ‚Lebensratgeber‘ zu beschreibende, damals ausgesprochen populäre Sorte von Ratgeberliteratur3 gibt Rat suchenden jungen Frauen ein klar definiertes Lebensmodell vor, das den zeitgenössischen gesellschaftlichen Erwartungen entsprach. Empfehlungen für das ‚richtige‘ Verhalten junger Damen werden von den verschiedenen Autoren erstaunlich einmütig gegeben und oft fast identisch formuliert.

Zwei der für diese Ratgebertexte typischen zentralen Empfehlungen stehen jedoch in auffallendem Widerspruch zueinander: Zum einen soll die Leserin rückhaltlos aufrichtig ihre Äußerungen und ihre Erscheinung als ein gleichsam ‚gläserner Mensch‘ zum Spiegel ihrer Seele und Gedanken machen, zum anderen soll sie sich jedoch in äußerster Diskretion, Selbstkontrolle und Zurückhaltung bis hin zum quasi ‚Unsichtbarwerden‘ üben. Diesem Widerspruch soll hier nachgegangen werden. Wie viel Aufrichtigkeit gehört zum Curriculum des „Anstandsbuches“? Soll eine anständige junge Dame aufrichtig sein? Ist Aufrichtigkeit mit Anstand zu vereinbaren? Zunächst ein paar Sätze zur Verdeutlichung der Problemlage: ← 13 | 14 →

Einerseits hat die Idealfrau, die die Lebensratgeber als Vorbild präsentieren, nichts Gravierendes zu verbergen.4 Im Gegenteil: Ihr natürliches, ungekünsteltes Verhalten, ihre authentischen Gefühlsäußerungen offenbaren ihren einwandfreien Charakter und dieser macht sie anziehend und schön.5 Auch vor unangenehmen Wahrheiten nicht zurückschreckende Aufrichtigkeit wird als Basis jeder Freundschaft, inklusive der ehelichen, dargestellt.6 Tun sich innere Zustände durch äußerlich sichtbare Anzeichen kund, etwa Verliebtheit durch Erröten, so wird dies begrüßt.7 Da, wo sich innere Haltungen und Charaktereigenschaften nicht notwendigerweise auf das äußere Verhalten auswirken, sei es beim Klang der Stimme8 oder den Details der äußeren Erscheinung9, sollte die junge Dame sich darum bemühen, Äußeres und ‚Inneres‘ zur Korrespondenz zu bringen, so dass das Äußere ein genaues Abbild des ‚Inneren‘ ist. Um sicherzugehen, dass sie sich nicht aus Eitelkeit dazu hinreißen lässt, ihre weniger attraktiven Seiten vor sich und anderen zu verbergen, befragt die Idealfrau sich häufig selbst, ob ihre Gefühlsäußerungen auch wirklich von Herzen kommen.10 Denn zuverlässig sind Heuchlerinnen, deren vorgeblich tugendhaftes Verhalten ihrem wahren Charakter nicht entspricht, zu durchschauen: Das nur um der Außenwirkung willen gezeigte Verhalten, die geheuchelten Gefühle ← 14 | 15 → wirken übertrieben und aufgesetzt. Deshalb machen sie nicht schön und wirken nicht anziehend.11 Übertrieben zur Schau getragene Tugendhaftigkeit läuft sogar Gefahr, für eine Maske des Lasters gehalten zu werden.12 Diese Ratschläge werden zudem häufig von „Mentorfiguren“ (Mergenthal 1997: 37) erteilt, die ihre Autorität unter anderem auf ihre besondere Aufrichtigkeit gründen, sei es als Vater, der seinen Töchtern die Geheimnisse der Männerwelt enthüllt (z. B. Gregory 1995) oder als Mutter, die die eigene bittere Lebenserfahrung schonungslos vor ihnen ausbreitet (z. B. Pennington 1995).

Dieses Aufrichtigkeits-Ideal13 gerät jedoch in Konflikt mit der Empfehlung der Autoren von conduct books, mit Rücksicht auf den guten Ruf die eigene Außenwirkung zu kontrollieren, persönliche und Familiengeheimnisse zu hüten14, sich nur selten und selektiv der Wahrnehmung der Mitmenschen auszusetzen15 und durch zurückhaltendes Auftreten die eigene Person geradezu ‚unsichtbar‘ zu machen.16 ← 15 | 16 → Unerwünschte Emotionen17 und Gedanken18 sollen nicht geäußert werden, auch nicht gegenüber den engsten Vertrauten.19 Körperliche und geistige Eigenschaften, die nicht dem zeitgenössischen Ideal der begehrenswerten Frau entsprechen, sollen verborgen bleiben.20 Selbst lobenswerte wohltätige Aktivitäten sollen möglichst unauffällig vonstattengehen (Gregory 1995: 9). Angesichts der Hochschätzung einer jederzeit präsentablen, weil makellosen Person erstaunt es, wie wenig die Mitmenschen von dieser Makellosigkeit erfahren dürfen. Die Empfehlung, aufrichtig zu sein, erscheint nicht glaubwürdig, wenn sie von eindringlichen Hinweisen darauf begleitet wird, was die Idealfrau alles verbergen, unterdrücken oder verschweigen soll.

Denn zusammengefasst lautet die (kaum zu befolgende!) Verhaltensanweisung an die Rat suchende Leserin etwa: ‚Du musst auf die Mitmenschen einen guten Eindruck machen. Dies erreichst du nur, wenn du aufrichtig zeigst, wie du wirklich bist. Um dich zu zeigen, wie du wirklich bist, musst du dich verstecken.‘ Obwohl die Autorinnen und Autoren der conduct books Ambiguität vordergründig meist ablehnen und als gefährlich einstufen,21 ist diese Anweisung mehrdeutig und widersprüchlich. Diese Widersprüchlichkeit erscheint gerade bei Ratgebertexten, die Verhaltensregeln formulieren und jungen Menschen Orientierung bieten wollen, wenig zweckmäßig, folglich erklärungsbedürftig. Die Abgrenzung zwischen richtigem und falschem Verhalten scheint zu misslingen.

Wirken die Verhaltensanweisungen vielleicht nur auf heutige Leser mehrdeutig? Erschienen sie den Zeitgenossen hingegen als eindeutige Aufforderungen zur Aufrichtigkeit oder zur Unaufrichtigkeit? Aus den wenigen überlieferten Leserreaktionen sticht eine heraus, die die Frage zugunsten der Unaufrichtigkeit zu beantworten scheint. Die heute berühmteste und meistzitierte zeitgenössische ← 16 | 17 → Auseinandersetzung mit conduct books für junge Damen – Mary Wollstonecrafts22 (1989: 38) Auseinandersetzung mit den beliebten conduct books der Autoren James Fordyce und John Gregory – kritisiert die Texte in scharfem Ton als Anleitungen zur Verstellung (dissimulation). Wollstonecrafts Auffassung nach sollten junge Frauen aber, ganz im Gegenteil, zur Aufrichtigkeit erzogen werden. Sie fordert damit nicht nur das in Pädagogik und (christlicher) Religion grundlegende Lügen-Verbot ein. Ihre früh-feministisch und pro-revolutionär getönte Kritik an conduct books zielt vielmehr auf die Gleichbehandlung der Geschlechter in Bezug auf Aufrichtigkeit ab. Sie ist vor dem Hintergrund des “age of sincerity” (Arons 2006: 7) zu verstehen, das seit dem späten 17. Jahrhundert Aufrichtigkeit als facettenreiches Modephänomen kannte.23 Wer im englischsprachigen 18. Jahrhundert Aufrichtigkeit forderte oder demonstrierte, konnte sich damit je nach Kontext als English, als Protestant, als Angehöriger der Mittelschicht oder Freund des einfachen Landlebens zeigen und sich mehr oder minder aggressiv gegen (vermeintlich) unaufrichtige Andere abgrenzen. Nationalistische aber auch revolutionäre Konnotationen koexistierten dabei mit lediglich modischer Begeisterung für unverbildeten Selbstausdruck. Die Aufforderung speziell an Frauen, “sincere” zu sein, hatte zwar bereits eine lange Tradition und war oft nicht mehr als eine euphemistisch formulierte Mahnung zu Keuschheit und ehelicher Treue (Guilhamet 1974: 22). Wollstonecraft betrachtet aber “sincerity” für Frauen nicht in diesem geschlechtsspezifisch verengten Sinne. Im Gegenteil fordert sie, „Wahrheit“ und „Aufrichtigkeit“ müssten für beide Geschlechter die gleiche Bedeutung haben. Bestimmte in conduct books für Frauen empfohlene Verhaltensweisen – wie das bewusste Verbergen erotischer Gefühle und das Vermeiden verfänglicher Situationen – seien als unaufrichtig zu kritisieren und dürften deshalb auch Frauen nicht nahegelegt werden.24 Ihre kämpferischen Formulierungen lassen jedoch keinen Zweifel daran, dass sie mit Widerspruch rechnete. Ob conduct books für junge Damen zur Unaufrichtigkeit ermutigten, und welche Implikationen dies gegebenenfalls hatte, war offenbar unter ihren Zeitgenossen umstritten.

In der Forschungsliteratur findet der oben aufgezeigte Widerspruch zwischen geforderter Aufrichtigkeit und gleichzeitiger Einschränkung derselben in conduct ← 17 | 18 → books für Frauen meist nur am Rande Erwähnung. Die wenigen Forschungsarbeiten, die sich mit Aufrichtigkeit in conduct books befassen, kommen dabei zu vollkommen gegensätzlichen Einschätzungen:

Die einen interpretieren conduct books als Anleitungen zur Aufrichtigkeit. Dies wird zumeist mit den Werthaltungen der Autoren begründet, aus denen dann die vermutlich erwünschte Wirkung auf die Rezipienten abgeleitet wird. Marjorie Morgan (1994) führt die Furcht vor den Gefahren großstädtischer Anonymität als Grund dafür an, dass in conduct books ein “behavioural code based on sincerity” (58) empfohlen worden sei, der Durchschaubarkeit als Basis für gegenseitiges Vertrauen ermöglichen sollte. Jacques Carré argumentiert vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung der Ratgeberliteratur, die oft evangelikal inspirierten conduct books hätten ihre Leser aus religiös-moralischen Gründen und in Abgrenzung zu höfisch geprägten Ratgebertypen aufgefordert, “to be what they appeared” (1994a: 7). Vera Nünning (1995) zufolge diente Ehrlichkeit (“honesty”) der Mittelschicht als identitätsstiftendes positives Abgrenzungsmerkmal zu anderen Schichten und wurde deshalb den Angehörigen der Mittelschicht (“middling ranks”) in conduct books empfohlen.

Die anderen interpretieren conduct books gegenteilig: als Anleitungen zur Unaufrichtigkeit, genauer gesagt zu Heuchelei, Verstellung, Täuschung. Dies wird mit der vermuteten unüberbrückbaren Diskrepanz zwischen dem in conduct books beschriebenen Ideal und der Realität begründet oder spezieller mit der anzunehmenden Diskrepanz zwischen der Geschlechtsrolle und der Individualität der Rezipientinnen. Jenny Davidson (2004a) argumentiert z. B., dass conduct books schon allein infolge ihrer Funktion als realitätsbezogene Ratgebertexte höfliche Heuchelei (“hypocrisy”) empfehlen mussten.25 Spacks (2003: 91) geht davon aus, dass die empfohlene Verstellung (“dissimulation”) eine gesellschaftlich akzeptierte Schutzfunktion für die hinter dieser Fassade verborgenen privaten Gefühle und Gedanken der permanenter Beobachtung ausgesetzten jungen Damen der besseren Gesellschaft hatte. Barbara Darby (2000) indessen spricht dem in conduct books empfohlenen Vortäuschen (“deception”) von Gefühlen keine Schutzfunktion zu. Das Vortäuschen habe vielmehr langfristig zur völligen Anpassung patriarchalisch unterdrückter junger Frauen an die gesellschaftlichen Erwartungen geführt.26

Beide in der Forschungsliteratur vorfindlichen Positionen sind in Teilen plausibel und durch Quellenbefunde belegt, schließen sich jedoch gegenseitig aus. Dies legt nahe, dass die Sachlage komplexer ist und eine eingehendere Untersuchung erfordert, als sie bisher unternommen wurde. ← 18 | 19 →

Eine Gemeinsamkeit beider Positionen ist es, dass sie den Rat zur (Un-)Aufrichtigkeit im conduct book vor allem als Ausdruck der seitens der Autoren erwünschten Lebensführung und gesellschaftlichen Stellung der Frau bzw. der young lady verstehen. Dies erscheint plausibel, zumal bereits die Zeitgenossin Wollstonecraft diesen Zusammenhang herstellt, wenn sie aus früh-feministischer Sicht kritisiert, dass conduct books junge Damen zur “dissimulation” anhielten (1989: 38). Auch die vorliegende Arbeit macht sich diese Interpretation zu eigen: Die Frage nach dem Rat zu (Un-)Aufrichtigkeit in conduct books für junge Damen wird hier vor allem als Frage nach den Grenzen verstanden, die diesen Leserinnen damit in einer patriarchalisch geprägten Gesellschaft gesetzt, bzw. nach den Freiräumen, die ihnen zugestanden werden.

Ein Vergleich der beiden genannten Forschungspositionen zur Frage der Aufrichtigkeit in conduct books für junge Damen zeigt auch, dass es zu kurz griffe, Unaufrichtigkeit nur (wie Wollstonecraft) mit Unterdrückung zu assoziieren. Denn Aufrichtigkeit kann zwar positiv als eine Form von Freiheit und Selbstbestimmung gedeutet werden (Darf man unverstellt sein, ist man nicht gezwungen sich verschämt zu verbergen?), auch als Privileg (ostentative Aufrichtigkeit als Attribut gehobener gesellschaftlicher Stellung) oder als Beleg moralischer Überlegenheit (Einhalten des christlichen Lügenverbotes, Ausdruck weiblicher ‚Unschuld‘). Sie kann aber auch negativ als z. B. quasi kindliche Unterordnung (Muss man über bestimmte Dinge aufrichtig Rechenschaft ablegen? Muss man sich vollkommen verändern, um bis ins Innerste hinein fremden Wünschen und Vorschriften gerecht zu werden?), als Mangel an persönlicher Freiheit (Darf man nichts für sich behalten?), als Folge vermeintlicher weiblicher Einfalt (als kindische Unfähigkeit zu lügen oder auch taktvoll Geheimnisse zu bewahren) interpretiert werden. Aufrichtigkeit hat zahllose Bedeutungsnuancen; es gilt, was Jocelyne Vincent Marrelli für das englische “truthfulness” formuliert: Es handelt sich um “a semantic field where the issues invoked by its various meanings […] are all variously enmeshed.” (2006) Es wird also das Anliegen dieser Arbeit sein, zu analysieren, welche der vielen Aspekte von Aufrichtigkeit in conduct books zentral sind und ob diese nach Darstellung der Autoren der conduct books jungen Damen jeweils Freiräume eröffnen oder Grenzen setzen.

Drei Aspekte, unter denen die Frage der Aufrichtigkeit betrachtet werden kann, sind in den hier untersuchten conduct books von zentralem Interesse: Selbstdarstellung, Selbstoffenbarung und Selbstoptimierung. Ein paar einleitende Bemerkungen dazu, wie diese drei Aspekte in conduct books verhandelt werden:

Der Selbstoffenbarung (im Gegensatz zur Aufrichtigkeit in Bezug auf Dritte, Dinge oder Abstrakta) widmen sich die meisten Ausführungen zum Thema Aufrichtigkeit in conduct books. Mit ihrem Fokus auf dem Offenbaren bzw. dem Verbergen des Selbst erweisen sie sich als typische Ratgebertexte. Denn in Ratgeberliteratur ist Selbstoffenbarung ein zentrales Thema. Der Etikette-Ratgeber oder auch das höfisch orientierte courtesy book des 17. Jahrhunderts lehren das höflich-kluge Verbergen des Selbst. Andere Typen von Ratgeberliteratur propagieren hingegen die Selbstoffenbarung, sei es gegenüber Dritten, sei es in Form der Aufrichtigkeit gegenüber sich selbst. Anthony Giddens weist z. B. nach, dass in der Selbsthilfeliteratur der ← 19 | 20 → letzten Jahrzehnte eine nach innen, gegen den Selbstbetrug gerichtete Aufrichtigkeit empfohlen wird, das Finden des eigenen ‚wahren Selbst‘, “authenticity […] based on ‘being true to oneself’” (1991: 78). Die Geschichte der Ratgeberliteratur wird in der Forschung zum Teil als eine Abfolge von zu unterschiedlichen historischen Zeitpunkten entstehenden Ratgebertypen interpretiert, die sich markant darin unterscheiden, ob sie eine aufrichtige Selbstoffenbarung empfehlen oder davon abraten (z. B. Carré 1994a; Morgan 1994).

Gezielte Selbstdarstellung und ihre Vor- und Nachteile gegenüber ihrem Gegenteil (dem naiv-selbstvergessenen Auftreten, das die eigene Wirkung auf andere ignoriert) werden in conduct books vielfach erörtert. Verfechter des naiv-selbstvergessenen oder zumindest bewusst antitheatralischen Auftretens assoziieren dieses Auftreten mit Unverstelltheit und somit mit Aufrichtigkeit. Solche naive Aufrichtigkeit kann im 18. Jahrhundert z. B. als Merkmal weiblicher Unschuld verstanden werden (vgl. Arons 2006). Im Umkehrschluss wäre eine gezielte Selbstdarstellung als eine Form der Verstellung zu bewerten. Häufig wird in conduct books jedoch weniger die Perspektive der angesprochenen Leserin selbst als Senderin der kommunikativen Botschaft, sondern vor allem die des Empfängers berücksichtigt. Zeittypische, physiognomisch inspirierte Vorstellungen von der ‚Lesbarkeit‘ gerade des weiblichen Gesichts und Körpers (vgl. O’Farrell 1997) werden in diesem Zusammenhang gelegentlich als Argumente dafür angeführt, dass die unverstellt Naive für andere durchschaubar und unmissverständlich zu deuten ist. Oft jedoch steht die Befürchtung im Vordergrund, dass antitheatralisches oder naives Auftreten zu Missverständnissen führen und somit zwar unverstellt aber dennoch irreführend sein könnte. Vor dem Hintergrund dieser Befürchtung kann antitheatralisches oder naives Auftreten als Täuschung interpretiert werden, gezielte Selbstdarstellung hingegen als Aufrichtigkeit erscheinen. Diese adressatenorientierte Form der Aufrichtigkeit lässt sich am besten unter Zuhilfenahme desjenigen Aufrichtigkeitsbegriffs theoretisieren, den Erving Goffman in The Presentation of Self in Everyday Life 1959 (1969) im Zusammenhang seines Konzeptes der „Selbstdarstellung“ entwickelt. Denn „Selbstdarstellung“ bedeutet bei Goffman (20–21), anderen durch Verhalten und Erscheinung in einem bestimmten “setting” einen Eindruck von sich selbst zu vermitteln. Es ist für ihn unerheblich, ob der Eindruck mit Mitteln erzielt wird, die man als unauthentisch, gekünstelt, theatralisch bezeichnen könnte, weil sie ausschließlich dem Zweck dienen, einen bestimmten Eindruck zu erzielen. Es ist nach seiner Definition irrelevant, ob die Person sich in sich selbst täuscht und also irrt, wenn sie glaubt, einen zutreffenden Eindruck zu vermitteln. Für die Bewertung als “sincere”, also aufrichtig, zählt, nach Goffman, allein die exakte Übereinstimmung zwischen erzieltem Eindruck und Selbstwahrnehmung.

Der dritte Aspekt, unter dem Aufrichtigkeit in conduct books betrachtet wird, ist der der Selbstoptimierung (im Gegensatz zum unverstellt-authentischen Zurschaustellen eigener Unzulänglichkeiten). Auch den Fokus auf Selbstoptimierung teilen die Autoren der conduct books mit vielen anderen Ratgebertexten. Denn der Anspruch, zu Optimierung anzuleiten, Probleme des Lesers zu lösen (Rolf 1993) und seine Lebenspraxis zu verbessern (Heimerdinger 2008), ist definierendes Merkmal des ← 20 | 21 → Ratgebertextes. Selbstoptimierung kann als Form der Unaufrichtigkeit interpretiert werden, in dem Sinne, dass das ‚ursprüngliche Selbst‘ vorsätzlich verborgen oder verfälscht wird. Zumindest manche Ratgeberautoren des späten 20. Jahrhunderts postulieren hingegen die Vereinbarkeit von Selbstoptimierung und Aufrichtigkeit. Dabei gibt es zwei Möglichkeiten, Aufrichtigkeit und Selbstoptimierung in Einklang zu bringen, die Stephanie Duttweiler (2007: 13) als „Selbstfindung“ und „Selbstproduktion“ bezeichnet. „Selbstproduktion“, also die planvolle Veränderung des Selbst, gilt manchen Ratgeberautoren dann nicht als “dishonesty”, wenn passend zum ‚Äußeren‘ auch das ‚Innere‘ verändert wird, wie Arlie Russell Hochschild (1990) zeigt: Denn dann passen Sein und Schein nach der Optimierung wiederum zusammen und eine Täuschung findet nicht statt. Andere Ratgebertexte versprechen „Selbstfindung“: Sie verstehen darunter, ein ‚wahres Selbst‘ zu entdecken und zu ‚verwirklichen‘, also sogar eine Entwicklung hin zu größerer Aufrichtigkeit, wie Giddens (1991: 75) zeigt. Giddens betont allerdings, dass die vermeintliche ‚Findung‘ letztlich doch eher eine Art reflexive Verfertigung eines ‚Selbst‘ sei. „Selbstfindung“ ist somit, nach Giddens’ Lesart, lediglich eine Variante der „Selbstproduktion“.

Wie zu zeigen sein wird, wird Aufrichtigkeit in den untersuchten conduct books jedoch nicht nur auf der Ebene solcher übergreifender Aspekte verhandelt, sondern viel häufiger noch ganz im Detail, bezogen auf einzelne Spielarten der (Un-)Aufrichtigkeit, von “dissimulation” über “flattery” bis zu “honesty”. Um möglichst alle relevanten Facetten des Phänomens erfassen zu können, geht diese Arbeit deshalb von einem breit gefassten, wertneutralen Begriff von Aufrichtigkeit aus, der sämtliche verbale und nonverbale Äußerungen umfasst, die das kommunizieren sollen, was der jeweilige Sprecher für die Wahrheit hält. „Aufrichtigkeit“ wird hier nicht in Abgrenzung zu verwandten Begriffen wie „Ehrlichkeit“ oder „Wahrheitsliebe“ verwendet – auch nicht im Sinne eines aus dem deutschen Sprachgebrauch im 18. Jahrhundert abgeleiteten positiv wertenden Aufrichtigkeitsbegriffs (vgl. Bunke et al. 2014: 17–22) – sondern als ein Oberbegriff, unter den sich möglichst alle in der Forschungsliteratur sowie in den conduct books selbst diskutierten Phänomene fassen lassen.27

Ein conduct book, ebenso wie ein Ratgebertext im Allgemeinen, wird selten als einzelnes Werk Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung.28 Wie in fast allen bisherigen Forschungsarbeiten zum conduct book richtet sich auch in dieser Arbeit der Blick eher auf die Gemeinsamkeiten, weniger auf die Unterschiede, der ausgewählten conduct books für die junge englischsprachige Dame. Da es sich bei conduct books um eine ganz ausgesprochen heterogene Gruppe von Texten handelt (darunter fiktive Briefwechsel, Abhandlungen oder Fabel-Sammlungen), für die eine allseits akzeptierte Definition noch fehlt, war die Gesamtlektüre aller untersuchten ← 21 | 22 → Texte unabdingbar. Die Gesamtlektüre diente nicht nur dazu, zu prüfen, ob es sich jeweils um ein “conduct book” nach hier verwendeter Definition (vgl. Kap. 2.1) handelt, sondern auch als Basis für die Interpretation der thematisch einschlägigen Textpassagen. Dies umso mehr, da conduct books sich der ganzen Vielfalt der “words for the ways of truth and deception” (Vincent Marrelli 2004: 377) bedienen, so dass eine Auswahl der relevanten Textpassagen ebenfalls nur im Zuge einer genauen Lektüre möglich war.29 Die Anzahl der auszuwählenden Texte wurde folglich auf elf begrenzt; einzelne Passagen aus weiteren conduct books werden gelegentlich ergänzend herangezogen. Es handelt sich überwiegend um ehemals sehr populäre Texte, die sozusagen zum ‚Kanon‘ besonders bekannter conduct books gehören und auch in Bezug auf äußere Form, Verfasser und Zielgruppe als typisch gelten können.30 Die Erscheinungsdaten der Texte verteilen sich über das lange 18. Jahrhundert,31 also in etwa den Zeitraum, der in der Conduct-book-Forschung als die Zeit des conduct book für Frauen gilt (vgl. Todd 1996: x), wobei, entsprechend der in diesem Zeitraum allmählich zunehmenden Zahl an Titeln und Herausbildung typischer Textsortenmerkmale, die meisten der hier untersuchten Texte zuerst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erschienen sind.

Im folgenden Kap. 2 wird diese Textauswahl vertiefend begründet: Es wird definiert, was für die Zwecke dieser Arbeit unter “conduct book” verstanden wird (Kap. 2.1), die hybride Stellung des conduct book zwischen Fiktionalität und Nichtfiktionalität, zwischen ernster und unterhaltender Lektüre und seine marginale Position als Forschungsgegenstand der Literaturwissenschaft skizziert (Kap. 2.2), die typischen Inhalte, gewissermaßen das “Curriculum” des conduct books für junge Damen, zusammenfassend dargestellt (Kap. 2.3), der historische Entstehungszusammenhang des conduct book mit besonderem Augenmerk auf den Autorinnen und Autoren bzw. den mutmaßlichen Rezipienten skizziert (Kap. 2.4), die Entwicklung und der aktuelle Stand der Forschung zu conduct books zusammengefasst (Kap. 2.5) und schließlich die für diese Untersuchung getroffene Auswahl an Texten vor diesem Hintergrund vorgestellt und begründet (Kap. 2.6).

In Kap. 3 werden die hier angestellten Überlegungen zu Aufrichtigkeit vertieft. Es wird begründet, warum „Aufrichtigkeit“ und nicht eines der zahlreichen bedeutungsähnlichen Wörter als Oberbegriff gewählt wurde (Kap. 3.1). Dann werden in der Forschung zu Aufrichtigkeit diskutierte grundlegende Fragen vorgestellt, die das theoretische Gerüst für die Interpretation der einschlägigen Passagen in conduct books bilden (Kap. 3.2). Anschließend wird zunächst auf die besondere Bedeutung des Konzepts „Aufrichtigkeit“ für das 18. Jahrhundert eingegangen, das als „Zeit ← 22 | 23 → der Aufrichtigkeit“ (Haas 2009) den historischen Hintergrund für die Untersuchung bildet, anschließend aufgezeigt, dass Stellung und vermeintliche ‚Natur‘ der Frau von der (‚männlichen‘) Norm abweichende Vorstellungen von spezifisch weiblicher (Un-)Aufrichtigkeit generierten, und schließlich überblickshaft dargestellt, inwieweit das Thema Aufrichtigkeit bisher in Bezug auf das conduct book des 18. Jahrhunderts in der Forschung Beachtung gefunden hat (Kap. 3.3).

Der Hauptteil der Arbeit widmet sich der Untersuchung der ausgewählten conduct books in Bezug auf Aufrichtigkeit. Dabei wird in den ersten zwei Kap. (4 und 5) zunächst auf den sprachlichen Aspekt und den erzählerischen Rahmen der conduct books eingegangen: In Kap. 4 wird skizziert, wie das semantische Feld der (Un-)Aufrichtigkeit in seiner ganzen Begriffsunschärfe und Ausdrucksvielfalt in den untersuchten conduct books Verwendung findet. Zur Verdeutlichung wird dabei exemplarisch anhand von vier häufig darin vorkommenden Begriffen (sincerity, honesty, openness, frankness) aufgezeigt, wie sie an einigen Textstellen synonym, an anderen hingegen in Abgrenzung zueinander als Bezeichnung für jeweils unterschiedliche Varianten der Aufrichtigkeit verwendet werden, weswegen eine Beschränkung auf einen dieser vier Begriffe (oder einen anderen in den Texten verwendeten Begriff) für die Fragestellung dieser Arbeit nicht zielführend wäre. Anschließend wird in Kap. 5 untersucht, wie die Autorinnen und Autoren der ausgewählten conduct books das Thema Aufrichtigkeit für ihre Selbstthematisierung bzw. die ihrer fiktiven textinternen Mentorfiguren nutzen. Die für Ratgeberliteratur typische „Inszenierung der Autorschaft“ (Klein et al. 2012: 58) gibt vielen conduct books einen erzählerischen Rahmen, in dem die Aufrichtigkeit des Autors/Mentors in Bezug auf seine autobiographischen Angaben (Kap. 5.1), seine Expertise als Ratgeber (Kap. 5.2), sowie die Entstehungssituation des Textes (Kap. 5.3) und seine Funktion als Vorbild der angesprochenen Leserin (Kap. 5.4) eine, wie zu zeigen sein wird, entscheidende Rolle spielt.

Der zweite Teil des Hauptteils (Kap. 6–9) widmet sich auf Basis der für die Untersuchung ausgewählten Texte der Frage nach dem Rat zur (Un-)Aufrichtigkeit in conduct books für junge Damen und dessen Implikationen dafür, welche Freiräume den jungen Leserinnen für ihre Lebensführung zugestanden bzw. welche Grenzen ihnen gesetzt wurden. Das erste Kapitel in diesem Teil (Kap. 6) klärt die Frage, inwiefern die Autoren der conduct books den Menschen in Anlehnung an physiognomische Lehren in bestimmten Hinsichten ohnehin für durchschaubar halten und inwieweit ihnen folglich das Bemühen um Aufrichtigkeit überflüssig, Lüge und Verstellung zwecklos erscheint. Im Einzelnen wird dabei auf die behauptete Aussagekraft körperlicher Merkmale (Kap. 6.1), somatischer Symptome (Kap. 6.2), unwillkürlicher mimischer Veränderungen (Kap. 6.3) und die von manchen Autoren unterstellte instinkthafte bescheidene Zurückhaltung (modesty) junger Frauen (Kap. 6.4) eingegangen. In Kap. 7 geht es darum, wie verbale Aufrichtigkeit in conduct books behandelt wird: Wird überhaupt und, wenn ja, mit welcher Begründung und ggf. welchen Einschränkungen wird dazu geraten, die Wahrheit zu sagen (Kap. 7.1), sie stattdessen geheim zu halten (Kap. 7.2) oder im Gegenteil die Unwahrheit zu sagen (Kap. 7.3)? Das lange Kap. 8 widmet sich dem Thema, das in conduct books ← 23 | 24 → für junge Damen im Zusammenhang mit Aufrichtigkeit mit Abstand am ausführlichsten behandelt wird: den non-verbalen Formen der Aufrichtigkeit, von der kommunikativ signifikanten Wahl des Aufenthaltsortes (Kap. 8.1) über aussagekräftige Formen der Bekleidung und kosmetischen Zurechtmachung (Kap. 8.2) bis zu Kinesik (Kap. 8.3) und paraverbalem Kommunikationsverhalten (Kap. 8.4). Kap. 9 schließlich befasst sich damit, wie die Autoren der conduct books das Verhältnis zwischen der Aufrichtigkeit der jungen Dame gegen sich selbst und gegen andere zu gestalten raten: Ob sie einen „inneren wahrhaftigen Selbstbezug“ (Bunke et al. 2014: 207), im Sinne einer Aufrichtigkeit gegenüber sich selbst, empfehlen und Selbstbetrug für möglich halten (Kap. 9.1), und wie die Leserin das oben schon problematisierte, in Bezug auf Aufrichtigkeit heikle Verhältnis zwischen Selbstoffenbarung und Selbstoptimierung gestalten soll (Kap. 9.2). Die Arbeit schließt mit Zusammenfassung und Fazit in Kap. 10.


1 Anmerkung zur Zitierweise: Die hier verwendete Reprint-Ausgabe von Charles Allens anonym erschienenem conduct book mit dem Titel The Polite Lady hat eine doppelte Seitenzählung: Zum einen die im Original enthaltene, zum anderen die in der Reprint-Ausgabe eingefügte. Letztere wird hier jeweils aufgeführt.

2 „Achtzehntes Jahrhundert“ wird, falls nicht anders angegeben, im Folgenden gebraucht als Epochenbezeichnung im Sinne des long eighteenth century, also etwa für den Zeitraum ab der Glorious Revolution 1688 bis zur Reform Act 1832 (vgl. Day et al. 2009: 1). Zur Verdeutlichung findet gelegentlich auch die Bezeichnung „langes achtzehntes Jahrhundert“ Verwendung.

3 Zur Definition von „Ratgeberliteratur“ s. Kap. 3.

4 “Secrets are of two sorts: those which we would not disclose from the motives of shame, and those which we would not discover from the dictates of prudence. Of the former kind, I am persuaded, you have none as yet, I hope you will never have any […]” (O. V. [Allen] 2004: 57–58).

5 “[…] from sincerity arises that artlessness of manners which is so engaging. She who suffers herself to be seen as she really is, can never be thought affected. She is not solicitous to act a part; her endeavour is not to hide; but correct her failings, and her face has of course that beauty, which an attention to the mind only gives.” (Wollstonecraft 1974: 32–33)

6 “Conceal no secret thought, disguise no latent weakness, but bare your bosom to the faithful probe of honest friendship, and shrink not if it smarts beneath the touch […]” (Pennington 1995: 95).

7 “I have no idea of a woman’s blushing to avow an attachment. If she has it indeed, it will appear to a penetrating mind, even from her very efforts to conceal it. The involuntary embarrassment, the timid look, the modest blush, and the downcast eye are indisputable symptoms of a strong partiality, which cannot either be concealed or mistaken.” (Bennett 1795, Bd. 2: 178)

8 So sollte sie z. B. nicht laut und rau sprechen, sondern ihr “accent should be low, smooth, and gentle, an emblem of the inward softness and delicacy of her mind” (O. V. [Allen] 2004: 224).

9 So könnte z. B. eine Ehe unglücklich enden, weil sich der Ehemann wegen des täuschend hübsch geschminkten Gesichts falsche Hoffnungen auf das wirkliche Aussehen der Braut gemacht hat (Wollstonecraft 1974: 39).

10 “How necessary it is, frequently thus to enter into ourselves, and search out our spirit, will appear, if we consider, how much the human heart is prone to insincerity, and how often, from being first led by vanity into attempts to impose upon others, we come at last to impose on ourselves.” (Chapone 1996: 69)

11 “if you would wish to have a modest look, you must endeavour to have a modest mind” (O. V. [Allen] 2004: 229) oder: “ It may be necessary, my Daughter, to observe all the outward rules of Decorum; but this is not enough to gain you the esteem of the world; ’tis the sentiments of the mind that form the character of a person; that lead the understanding; that govern the will; that secure the reality and duration of all our virtues.” (Lambert 1995: 134–135)

12 “For, as the world sees her modesty is partly counterfeit, they will be apt to conclude it is entirely so […] and, upon this supposition, many attempts will be made on her virtue […]” (O. V. [Allen] 2004: 240).

13 Zur Verwendung des Begriffs „Aufrichtigkeit“ in dieser Arbeit vgl. Kap. 3.

14 So wird größter Wert auf die kluge Bewahrung selbst harmloser Geheimnisse der jungen Frau gelegt. Die Zuverlässigkeit einer Freundin kann sie testen, indem sie ihr ein unwichtiges Geheimnis anvertraut: Behält diese es nicht für sich, ist sie die Freundschaft nicht wert: “[…] there is another infallible method, which, however, I would not advise you to have recourse to, without an absolute necessity: tis this; impart to her, as a secret, something of so little consequence, that you are perfectly indifferent whether it be discovered or not. If she can keep a secret, and has, at the same time, a regard for you, she will conceal it […] If she disclose it, you may then conclude, either that she cannot keep a secret, or, at least, that she has no esteem for you: in the former case, she cannot be a true friend to any person; in the latter, she can never be one to you.” (O. V. [Allen] 2004: 59–60)

15 Wie ein Kind, das mit geschlossenen Augen „Verstecken“ spielt, können die abgewendeten oder niedergeschlagenen Augen die junge Frau in komplizierten Situationen ‚unsichtbar machen‘ und vor Schwierigkeiten bewahren, sei die Gefährdung nun ein unsittliches Gemälde (O. V. [Allen] 2004: 212–215) oder unziemliches Verhalten anderer Kirchgängerinnen (Pennington 1995: 68).

16 So sollte es eine junge Dame vermeiden, zu rege am Gespräch teilzunehmen oder auf stolze und beleidigende Weise zu schweigen (Lambert 1995: 182).

17 Wut (O. V. [Allen] 2004: 261–262), Haushaltssorgen (Wollstonecraft 1974: 122–223) oder Schmerzen (Chapone 1996: 162–163) behält die Idealfrau für sich, um die Mitmenschen nicht zu ärgern oder zu belästigen.

18 Wenn die Suche nach einem Bräutigam Erfolg zu versprechen scheint, darf die young lady dieser ihrer Vermutung auf keinen Fall offen Ausdruck verleihen: “Are there not many […] possessed with a notion, that almost every man is in love with them, who seems pleased with their sentiments, or flattered by their smiles, or disposed to say obliging things in their company, or perhaps do good-natured ones without a single profession of regard. It is shamefully true. Indelicate and despicable creatures! We blush on your account […]” (Fordyce 1776: 60).

19 Kritik am Ehemann z. B. soll indirekt und nicht wiederholt geäußert werden (Pennington 1995: 102).

20 John Gregory rechnet in seinem conduct book von 1774, A Fathers Legacy to his Daughters (1995), darunter z. B. die freudige Erwartung der Ehe (47), körperliche Robustheit (20–21) oder auch Gelehrsamkeit (13).

21 Z. B. wird vor zu freizügiger Kleidung gewarnt – Verwechslungsgefahr mit Prostituierten! – (O. V. [Allen] 2004: 112) oder vor Maskenbällen, bei denen Arm und Reich, Tugend und Laster optisch nicht zu unterscheiden sind.

22 In dieser Arbeit werden zwei verschiedene Werke von Mary Wollstonecraft wiederholt zitiert, die nicht verwechselt werden sollten: Mary Wollstonecraft veröffentlichte (1.) 1786 ein conduct book mit dem Titel Thoughts on the Education of Daughters, das zu den in dieser Arbeit untersuchten conduct books gehört. Einige Jahre später, 1792, veröffentlichte sie (2.) ihre berühmte feministische Abhandlung A Vindication of the Rights of Women, aus der in dieser Arbeit mehrfach zitiert wird, weil darin auch conduct books kritisiert werden.

23 Dazu vgl. Arons 2006, Davidson 2004, Nünning 1995, Morgan 1994, Geitner 1992, Guilhamet 1974, Trilling 1973.

24 “For man and woman, truth, if I understand the meaning of the word, must be the same; yet the fanciful female character, so prettily drawn by poets and novelists, demanding the sacrifice of truth and sincerity, virtue becomes a relative idea […]” (Wollstonecraft 1989, Kap. 3: 59).

25 “The how-to aspect of the conduct book encourages openness about hypocrisy, insofar as hypocrisy offers a ‘good enough’ approximation of virtue.” (Davidson 2004: 7)

26 Darby vergleicht conduct books mit heutigen amerikanischen Ratgebertexten für junge Frauen und urteilt über die Zielvorstellung beider: “The ‘original’ self disappears entirely.” (2000: 348)

27 Eine ausführliche Begründung dieser Vorgehensweise findet sich in Kap. 3.

28 Beispiele für die gesonderte Untersuchung eines einzigen Textes wären aber z. B. Julie Straights (2005) Artikel zu Religion bei Hester Chapone oder Nicholas Hunters (1999) zur Bedeutung des Visuellen für François Fénélons Erziehungskonzept.

Details

Seiten
544
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783631731819
ISBN (ePUB)
9783631731826
ISBN (MOBI)
9783631731833
ISBN (Hardcover)
9783631731796
DOI
10.3726/b11624
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (April)
Schlagworte
Anstandsbuch Ratgeberliteratur Frauenbildung Englischsprachiger Kulturraum Mädchenliteratur "The Polite Lady"
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 544 S.

Biographische Angaben

Cornelia Dahmer (Autor:in)

Cornelia Dahmer studierte Englisch, Deutsch und Geschichte und wurde in Anglistik am Institut für England‐ und Amerikastudien der Goethe‐Universität Frankfurt am Main promoviert. Sie lehrt am Institut für Translation und Mehrsprachige Kommunikation der TH Köln.

Zurück

Titel: Conduct books für junge Damen des achtzehnten Jahrhunderts
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
book preview page numper 31
book preview page numper 32
book preview page numper 33
book preview page numper 34
book preview page numper 35
book preview page numper 36
book preview page numper 37
book preview page numper 38
book preview page numper 39
book preview page numper 40
546 Seiten