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Die Stellung behinderter Menschen im Erbrecht

von Quirin Ullmann (Autor:in)
©2018 Dissertation 236 Seiten

Zusammenfassung

Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG). Die vorliegende Arbeit untersucht – vor dem Hintergrund dieses grundrechtlich gewährleisteten Schutzes – die Stellung behinderter Menschen im Erbrecht. Dabei erörtert der Autor, welche Schwierigkeiten sich bei der Errichtung einer letztwilligen Verfügung durch einen behinderten Erblasser unter anderem im Hinblick auf die Testierfähigkeit sowie die unterschiedlichen Errichtungsformen ergeben. In diesem Zusammenhang werden auch die Einschränkungen erörtert, die ein behinderter Erblasser bei der Auswahl seines Erben erfährt (z. B. § 24 Abs. 2 BeurkG). Darüber hinaus findet eine Auseinandersetzung mit den Problemen statt, die sich bei behinderten Menschen als Erben ergeben (Stichwort: Behindertentestament).

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • Kapitel 1. Einleitung
  • A. Einführung in die Problematik
  • B. Gang der Untersuchung
  • Kapitel 2. Der Behinderungsbegriff
  • A. Behinderungsbegriff der WHO
  • B. Behinderungsbegriff nach der UN-Behindertenrechtskonvention
  • C. Behinderungsbegriff nach Deutschen Rechtsnormen
  • I. Behinderungsbegriff nach dem Grundgesetz
  • 1. Gesetzgebung
  • 2. Bundesverfassungsgericht
  • 3. Literatur
  • 4. Umfang des Behinderungsbegriffs
  • a) Dauer der Behinderung
  • aa) Abgrenzung zur Krankheit
  • bb) Abgrenzung zur chronischen Krankheit
  • b) Intensität der Behinderung
  • c) Regelwidrigkeit
  • 5. Fazit
  • II. Behinderungsbegriff nach dem Sozialrecht
  • 1. Behinderungsbegriff des § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX
  • a) Telos
  • b) Behinderungsbegriff
  • c) Umfang des Behinderungsbegriffs
  • 2. Fazit
  • III. Behinderungsbegriff nach dem Behindertengleichstellungsgesetz (BGG)
  • IV. Behinderungsbegriff nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch
  • D. Erbrechtliche Definition des Behinderungsbegriffs
  • I. Der Behinderte als Erblasser
  • 1. Körperbehinderung
  • a) Voraussetzungen der Erstellung einer letztwilligen Verfügung
  • b) Konsequenz
  • 2. Geistige und seelische Behinderung
  • a) Voraussetzungen der Erstellung einer letztwilligen Verfügung
  • b) Konsequenz
  • II. Der Behinderte als Erbe
  • III. Begriffsbestimmung
  • Kapitel 3. Der Behinderte als Erblasser
  • A. Allgemeines
  • B. Testament
  • I. Ordentliches Testament
  • 1. Testierfähigkeit
  • a) Verfassungsmäßigkeit
  • b) Testierfähigkeit als Unterfall der Geschäftsfähigkeit
  • c) Grundsatz der Testierfähigkeit
  • aa) Gesetzliche Regelung
  • bb) Ausgestaltung durch die Rechtsprechung
  • (1) Auswirkungen auf die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse
  • (2) Gründe für und gegen die sittliche Berechtigung
  • (3) Keine Fremdbeeinflussung
  • (4) Fazit
  • d) Verschiedene Ausprägungen der Testierfähigkeit?
  • aa) Partielle Testierfähigkeit
  • bb) Relative Testierfähigkeit
  • e) Lucidum intervallum
  • f) Feststellung und Beweisbarkeit der Testier(un)fähigkeit
  • aa) Feststellung der Testierunfähigkeit
  • (1) Zeugen
  • (2) Dokumentationen von Ärzten und Pflegern
  • (3) Betreuungsakten
  • (4) Testament
  • (5) Fazit
  • bb) Beweislast für das Vorliegen der Testierunfähigkeit und des luziden Intervalls
  • 2. Höchstpersönlichkeit
  • 3. Errichtungsformen
  • a) Öffentliches Testament
  • aa) Gesetzeslage vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
  • (1) Verfassungsverstöße
  • (a) Verstoß gegen Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG
  • (b) Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG
  • (c) Verstoß gegen Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG
  • (2) Verfassungskonforme Auslegung
  • bb) Rechtslage bis zur Neufassung der Normen
  • (1) Verfügungen nach der Beschlussverkündung
  • (2) Verfügungen vor der Beschlussverkündung
  • cc) Gesetzeslage seit der Neufassung der Normen
  • (1) Änderungen
  • (2) Kritik an den Änderungen
  • (3) Voraussetzungen des öffentlichen Testaments
  • (a) Erklärung des letzten Willens
  • (b) Erklärung durch Übergabe einer Schrift
  • (4) Sonderfälle
  • (5) Testierunmöglichkeit trotz Neufassung des Gesetzes
  • (6) Beurkundungsverfahren
  • (a) Hörbehinderte, sprachbehinderte und sehbehinderte Beteiligte
  • (aa) Behinderungsarten
  • (bb) Feststellung der Behinderung
  • (cc) Zuziehung eines Zeugen oder zweiten Notars
  • (dd) Zuziehung eines Gebärdensprachdolmetschers
  • (ee) Niederschrift
  • (b) Besonderheiten für hörbehinderte Beteiligte
  • (c) Besonderheiten für hör- und sprachbehinderte Beteiligte, mit denen eine schriftliche Verständigung nicht möglich ist
  • (d) Schreibunfähige
  • b) Eigenhändiges Testament
  • aa) Eigenhändigkeit
  • bb) Testament in Blindenschrift
  • cc) Ausschluss von Leseunfähigen
  • c) Fazit: Vor- und Nachteile der einzelnen Formen des ordentlichen Testaments
  • 4. Beseitigung der letztwilligen Verfügung
  • a) Widerruf eines Testaments
  • aa) Erfordernis der Testierfähigkeit
  • bb) Kein Widerruf durch Stellvertreter
  • b) Anfechtung
  • II. Nottestament
  • 1. Nottestament vor dem Bürgermeister
  • 2. Nottestament vor drei Zeugen
  • 3. Nottestament auf See
  • C. Erbvertrag
  • I. Errichtung
  • 1. Persönlicher Abschluss
  • 2. Voraussetzungen
  • 3. Form
  • II. Beseitigung
  • D. Einsetzung bestimmter Personengruppen
  • I. Träger und Personal von Heimen/stationären Einrichtungen
  • 1. Föderalismusreform I
  • 2. Zuwendungsverbot gemäß § 14 HeimG
  • a) Schutzzweck der Norm
  • b) Verfassungskonformität der Norm
  • 3. Zuwendungsverbot gemäß Art. 8 PfleWoqG
  • a) Anwendungsbereich
  • b) Voraussetzungen des Zuwendungsverbots
  • aa) Leistung von oder zugunsten von Bewohnern bzw. Bewerbern
  • bb) Empfänger der Leistung
  • cc) Versprechen oder gewähren lassen
  • c) Ausnahmen vom Zuwendungsverbot
  • d) Umgehungsgeschäfte
  • II. Betreuer
  • 1. Zuwendungsverbot
  • 2. Sittenwidrigkeit
  • 3. Anfechtung wegen widerrechtlicher Drohung
  • III. Mitarbeiter ambulanter Pflegedienste
  • IV. Verständigungsperson
  • Kapitel 4. Der Behinderte als Erbe
  • A. Der unter Betreuung stehende Erbe
  • B. Behindertentestament
  • I. Ungeeignete Lösungswege
  • 1. Enterbung
  • 2. Einsetzung zum Schlusserben (trotz Pflichtteilsstrafklausel)
  • 3. Zuwendungen unterhalb der Pflichtteilsquote
  • II. Geeignete Lösungswege
  • 1. Erbschaftslösung
  • a) Anordnung der Vor- und Nacherbfolge
  • aa) Sinn und Zweck
  • bb) Ausgestaltung der Vorerbschaft
  • b) Testamentsvollstreckung in Form der Dauervollstreckung
  • c) Verwaltungsanordnung
  • d) Vor- und Nachteile der Erbschaftslösung
  • 2. Vermächtnislösung
  • a) Anordnung eines Vor- und Nachvermächtnisses
  • b) Testamentsvollstreckung in Form der Dauervollstreckung
  • c) Verwaltungsanordnung
  • d) Vor- und Nachteile der Vermächtnislösung
  • aa) Vorteile
  • bb) Nachteile
  • (1) Sozialhilferechtliche Erbenhaftung
  • (2) Zivilrechtliche Erbenhaftung
  • e) Besondere Ausprägungen der Vermächtnislösung
  • aa) Leibrentenvermächtnis
  • bb) Wohnungsrechtsvermächtnis
  • 3. Sog. umgekehrte Vermächtnislösung
  • a) Rechtliche Ausgestaltung
  • b) Vor- und Nachteile der sog. umgekehrten Vermächtnislösung
  • 4. Trennungslösung
  • a) Rechtliche Ausgestaltung
  • b) Vor- und Nachteile der sog. Trennungslösung
  • 5. Reine Testamentsvollstreckungslösung
  • 6. Fazit
  • III. Grundsätzlich keine Sittenwidrigkeit des Behindertentestaments
  • 1. Mindermeinung
  • 2. Herrschende Meinung
  • a) Keine Sittenwidrigkeit gegenüber dem behinderten Erben
  • b) Keine Sittenwidrigkeit gegenüber dem Sozialhilfeträger
  • aa) Keine Verletzung des Subsidiaritätsprinzips gemäß § 2 Abs. 1 SGB XII
  • (1) Durchbrechung des Subsidiaritätsgrundsatzes
  • (2) Familienlastenausgleich
  • (3) Keine Vergleichbarkeit mit Unterhaltsverzicht
  • (4) Testierfreiheit vs. Subsidiaritätsprinzip
  • (5) Wert des Nachlasses
  • bb) Keine unzulässige Umgehung des Kostenersatzanspruchs gemäß § 102 Abs. 1 SGB XII
  • c) Fazit
  • C. Erb- und Pflichtteilsverzicht
  • I. Pflichtteilsverzicht
  • 1. Urteil des BGH vom 19.1.2011
  • a) Sachverhalt
  • b) Grundsätzlich keine Sittenwidrigkeit des Pflichtteilsverzichts
  • aa) Kein Vertrag zulasten Dritter
  • bb) Mangelnde Prägekraft des Subsidiaritätsprinzips
  • cc) Negative Erbfreiheit
  • dd) Schutz von Ehe und Familie
  • ee) Keine Übertragbarkeit der Rechtsprechung zur Sittenwidrigkeit eines Verzichts auf nachehelichen Unterhalt
  • (1) Keine Unterhaltsfunktion des Pflichtteilsrechts
  • (2) Pflichtteilsrecht als Pendant zum Unterhaltsanspruch
  • ff) Beredtes Schweigen des Gesetzgebers
  • 2. Fazit
  • II. Erbverzicht
  • D. Erlassvertrag und Ausschlagung
  • I. Erlassvertrag
  • 1. Herrschende Meinung
  • 2. Andere Ansicht
  • II. Ausschlagung
  • 1. Zur Sittenwidrigkeit der Ausschlagung
  • a) Ansichten in der Literatur
  • aa) Verneinung der Anwendbarkeit des § 138 Abs. 1 BGB auf die Ausschlagung
  • bb) Bejahung der Anwendbarkeit des § 138 Abs. 1 BGB auf die Ausschlagung
  • b) Ansichten in der Rechtsprechung
  • aa) OLG Stuttgart und OLG Hamm
  • bb) LG Aachen
  • cc) Rechtsprechung des BGH
  • dd) LSG Bayern
  • 2. Stellungnahme
  • Kapitel 5. Zusammenfassung
  • Literaturverzeichnis

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Kapitel 1.  Einleitung

A.  Einführung in die Problematik

Laut Pressemitteilung des Statistischen Bundesamts vom 11.5.2015 lebten in Deutschland im Jahr 2013 über zehn Millionen Menschen „mit einer amtlich anerkannten Behinderung“, sodass durchschnittlich jeder achte Bürger (13 %) behindert war.1 Die Statistiker führten dabei u.a. folgende Behinderungsarten auf: Verlust oder Teilverlust von Gliedmaßen, Funktionseinschränkung von Gliedmaßen, Blindheit und Sehbehinderung, Sprach- oder Sprechstörungen, Taubheit, Schwerhörigkeit, Querschnittslähmung, zerebrale Störungen, geistige und seelische Behinderungen sowie Suchtkrankheiten.2

Auch, wenn Menschen an vorgenannten oder anderen Behinderungen leiden, muss gewährleistet sein, dass behinderte Menschen die gleichen Rechte haben wie nicht behinderte Menschen. Dies fordert auch unser Grundgesetz und statuiert in Art. 3 Abs. 3 S. 2, dass niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf.

Fraglich erscheint jedoch, ob im Erbrecht dieser Gleichheitssatz vollumfänglich Beachtung findet. Zu klären ist daher, ob behinderten Erblassern im Hinblick auf die Erstellung oder Beseitigung letztwilliger Verfügungen die gleichen Rechte wie nichtbehinderten Erblassern zustehen oder ob sie in ihrer von Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG gewährten Testierfreiheit – möglicherweise sogar zum Selbstschutz – beschränkt sind und daher eine Ungleichbehandlung gerechtfertigt ist.

Darüber hinaus steht infrage, wie es sich mit der Stellung eines behinderten Erben verhält. Stehen diesem die gleichen Rechte wie einem nichtbehinderten Erben zu oder ist dieser etwa im Falle seiner Sozialhilfebedürftigkeit daran gehindert, Rechte, wie beispielsweise den Pflichtteilsverzicht oder die Ausschlagung einer Erbschaft, geltend zu machen? ← 17 | 18 →

B. Gang der Untersuchung

Die nachfolgende Arbeit unternimmt daher den Versuch vor dem Hintergrund dieser grundsätzlichen vorgenannten Fragen, die Stellung behinderter Menschen im Erbrecht zu beleuchten.

Im zweiten Kapitel der vorliegenden Arbeit ist zunächst auf verschiedene Behinderungsbegriffe einzugehen, wobei am Ende der erbrechtliche Behinderungsbegriff definiert wird.

Daran anschließend wird im dritten Kapitel die Stellung des behinderten Erblassers problematisiert. Schwerpunkte sind hierbei die Frage der Testierfähigkeit im Hinblick auf geistig und seelisch behinderte Erblasser sowie die möglichen Errichtungsformen letztwilliger Verfügungen bei körperlich behinderten Erblassern, wobei vor allem auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Testiermöglichkeit von schreibunfähigen Stummen vom 19.1.19993 eingegangen wird. Zuletzt wird schwerpunktmäßig die Frage untersucht, ob und inwieweit ein behinderter Erblasser in seiner Testierfreiheit bei der Einsetzung bestimmter Personengruppen als Erben beschränkt ist.

Das vierte Kapitel widmet sich dem Problemfeld des behinderten Menschen als Erbe. Eingangs werden kurz die Rechte des unter Betreuung stehenden Erben skizziert. Daran anknüpfend befasst sich die Arbeit mit dem in der Praxis besonders bedeutsamen Thema des Behindertentestaments. In diesem Zusammenhang werden Lösungsmodelle für die Erstellung eines Behindertentestaments aufgezeigt und die Frage der Sittenwidrigkeit solcher Testamente behandelt, wobei vor allem auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs4 eingegangen wird. Ein weiterer Schwerpunkt dieses Kapitels bildet die Frage nach der Sittenwidrigkeit eines Erb- und/oder Pflichtteilsverzichts durch einen behinderten Sozialhilfeempfänger. Abschließend wird das analoge Problem des Abschlusses eines Erlassvertrags über einen entstandenen Pflichtteilsanspruch und die Ausschlagung einer Erbschaft durch einen behinderten Sozialhilfeempfänger in Bezug auf einen möglichen Verstoß gegen die guten Sitten diskutiert.


1 Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung vom 11.5.2015 – 168/15, S. 1. Die Mitteilung kann auf der Homepage des Statistischen Bundesamts unter (https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2015/05/PD15_168_122pdf.pdf?__blob=publicationFile) abgerufen werden (Letzter Abruf: 25.3.2017).

2 Statistisches Bundesamt, Tabelle: Schwerbehinderte Menschen absolut. Die Tabelle kann auf der Homepage des Statistischen Bundesamts unter (https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Gesundheit/Behinderte/BehinderteMenschen.html) abgerufen werden (Letzter Abruf: 25.3.2017).

3 BVerfG, Beschl. v. 19.1.1999 (Az. 1 BvR 2161/94).

4 BGH, Urt. v. 21.3.1990 (Az. IV ZR 169/89); BGH, Urt. v. 20.10.1993 (Az. IV ZR 231/92); BGH, Urt. v. 19.1.2011 (Az. IV ZR 7/10).

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Kapitel 2.  Der Behinderungsbegriff

Grundlegend für die Anfertigung der vorliegenden Arbeit ist zunächst die Klärung der Frage, wann von einem behinderten Menschen iSd Erbrechts gesprochen werden muss. Es fragt sich daher, ob beispielsweise ein Querschnittsgelähmter, der an einer Paraplegie leidet und somit „lediglich“ auf einen Rollstuhl angewiesen ist, jedoch schreiben und sprechen kann, überhaupt behindert iSd Erbrechts ist.

Vor allem im Bereich der Rechtswissenschaft sind exakte Formulierungen und Definitionen von Nöten, um den Anwendungsbereich von Normen möglichst genau zu bestimmen.5 Dabei ist zu beachten, dass es sich bei einer Behinderung um eine außergewöhnlich „komplexe Bedarfslage [handelt], die einer Definition im herkömmlichen Sinne kaum zugänglich sein dürfte“.6

Um diesbezüglich Aufschluss geben zu können, soll im Folgenden deshalb auf den Behinderungsbegriff der World Health Organisation (WHO)7 sowie auf verschiedene juristische Behinderungsbegriffe eingegangen werden und hieran eine eigene Definition des erbrechtlichen Behinderungsbegriffs entwickelt werden, die der vorliegenden Arbeit als Grundlage dienen soll.

A.  Behinderungsbegriff der WHO

Bevor auf die juristischen Begriffe eingegangen werden kann, muss zunächst einmal der Behinderungsbegriff der WHO beleuchtet werden, da dieser u.a. Grundlage für die Definition in § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX8 ist.9

Im Jahre 1980 verabschiedete die WHO die International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps (ICIDH)10.11 Der Behinderungsbegriff ← 19 | 20 → der ICIDH war dreistufig aufgebaut und umfasste die Elemente „Schädigung“ (Impairment), „Funktionsstörung“ (Disability) und „soziale Beeinträchtigung“ (Handicap).12 Behinderung wurde hiernach als die „Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung, die auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand beruhte“13, definiert. Der ICIDH lag somit das Konzept „Behinderung als Krankheitsfolge“ zugrunde.14 Aufgrund der negativen Konnotation der Begrifflichkeiten der ICIDH (Schädigung, Fähigkeitsstörung und soziale Beeinträchtigung) und dem reinen Abstellen auf die Defizite des Behinderten wurde diese überarbeitet15. Insbesondere war die Begriffsbestimmung wegen der Nichtberücksichtigung der Umweltfaktoren zu eng.16

Im Mai 2001 hat die 54. Vollversammlung der WHO die „International Classification of Functioning, Disability and Health17 (ICF)“18 als Nachfolger der ICIDH verabschiedet.19 Die ICF stellt eine Klassifikation dar, „mit der mögliche Beeinträchtigungen in den Bereichen der Funktionen und Strukturen des menschlichen Organismus, Tätigkeiten (Aktivitäten) aller Art einer Person und Teilhabe (Partizipation) an Lebensbereichen (z.B. Erwerbsleben) einer Person vor dem Hintergrund ihrer sozialen und physikalischen Umwelt (Umweltfaktoren) beschrieben werden können“.20

Die ICF selbst definiert zunächst den Begriff der Funktionsfähigkeit und bestimmt anschließend den Behinderungsbegriff als Oberbegriff für jede Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit.21

„Eine Person ist [nach der ICF] funktional gesund, wenn (…) ihre körperlichen Funktionen (…) und Körperstrukturen denen eines gesunden Menschen entsprechen (…), sie all das tut oder tun kann, was von einem Menschen ohne ← 20 | 21 → Gesundheitsproblem (ICD22) erwartet wird (…), [und] sie ihr Dasein in allen Lebensbereichen, die ihr wichtig sind, in der Weise und dem Umfang entfalten kann, wie es von einem Menschen ohne gesundheitsbedingter Beeinträchtigung der Körperfunktionen oder -strukturen oder der Aktivitäten erwartet wird (…)“.23

Die ICF stellt dabei auf die Wechselwirkung zwischen einer Gesundheitsbeeinträchtigung und dem gesellschaftlichen Umfeld ab (sog. Wechselwirkungsmodell24).25 Nach der ICF (Arbeitstitel: ICIDH-226) wird nunmehr Behinderung als das „Ergebnis der negativen Wechselwirkung zwischen einer Person mit einem Gesundheitsproblem (…) und ihren Kontextfaktoren auf ihre funktionale Gesundheit“ verstanden27. Kontextfaktoren stellen dabei den „gesamten Lebenshintergrund einer Person“ dar.28 Es wird mithin ein biopsychosoziales Modell zugrunde gelegt, bei dem einerseits der medizinische Aspekt, ergo das Defizit des Individuums, und andererseits der gesellschaftliche Aspekt, folglich das soziale Umfeld des Behinderten, berücksichtigt werden.29 Dies hat zur Konsequenz, dass für die Beurteilung des Vorliegens einer Behinderung nicht mehr nur das körperliche oder geistige Unvermögen des Behinderten, sondern auch die Beziehung zwischen ihm und seiner Umwelt ausschlaggebend sind.30

Nach dem Ansatz der ICF ist ein Mensch mithin nicht (nur) behindert, weil dieser ein körperliches oder geistiges Defizit aufweist (so nach der Definition der ICIDH), sondern gerade deshalb, weil er sich in der Umgebung, die einem die Gesellschaft bietet, schwer(er) zurechtfindet.31 ← 21 | 22 →

B.  Behinderungsbegriff nach der UN-Behindertenrechtskonvention32

Auf völkerrechtlicher Ebene stärkt die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) die Rechte behinderter Menschen. Die UN-BRK stellt einen völkerrechtlichen Vertrag dar, der von der Bundesrepublik Deutschland am 24. Februar 2009 ratifiziert wurde und der daraufhin am 26. März 2009 innerstaatlich in Kraft getreten ist.33 Die UN-BRK hat dabei den Rang eines einfachen Bundesgesetzes.34

Im Hinblick auf den Behinderungsbegriff der UN-BRK ist festzuhalten, dass nicht das medizinische Modell der Behinderung zugrunde gelegt wird, wonach allein die Behinderung im Individuum selbst – aufgrund einer physischen oder psychischen Beeinträchtigung – angelegt ist35. Vielmehr gilt ein soziales36 bzw. menschenrechtliches37 Modell. Dies ist zum einen an Buchstabe „e“ der Präambel der UN-BRK erkennbar, wonach Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht, die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern. Zum anderen regelt Art. 1 UN-BRK, dass zu den Menschen mit Behinderungen Personen zählen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.

Sowohl das soziale als auch das menschenrechtliche Modell stellen mithin auf die Stellung des behinderten Menschen in seiner Umwelt ab. Nach dem sozialen ← 22 | 23 → Modell ist ein Mensch nicht allein wegen eines körperlichen oder geistigen Defizits, sondern wegen der Barrieren, die ihm die Umwelt aufgrund dessen schafft, behindert.38 Der behinderte Mensch stellt jedoch nach dieser Ansicht nach wie vor den Ursprung dar.39 Das menschenrechtliche Modell ist „auf die äußeren, gesellschaftlichen Bedingungen gerichtet, die behinderte Menschen aussondern und diskriminieren“.40 Auch hier ist der behinderte Mensch der Ausgangspunkt.

Grundsätzlich ist festzustellen, dass es sich bei dem Behinderungsbegriff der UN-BRK um einen offenen Begriff handelt.41 Zum einen wollten die Vertragsstaaten auch Behinderungen erfassen, die erst in Zukunft erkennbar werden. Zum anderen werden von der Konvention auch Behinderungstypen wie „chronische Erkrankungen, Folgen von Immunschwächekrankheiten, beispielsweise Aids, oder Behinderungen, die bei pflegebedürftigen, älteren Menschen oder Menschen mit psychosozialen Problemen auftreten, erfasst“.42

Des Weiteren liegt dem Behinderungsbegriff auch ein „offenes und dynamisches Konzept“ zugrunde.43 So haben die Väter und Mütter der UN-BRK in Buchstabe „e“ der Präambel erklärt, dass sich das Verständnis von Behinderung (…) ständig weiterentwickelt.44 Somit kann auf Veränderungen, die sich in Bezug auf eine Behinderung oder auf den gesellschaftlichen Wandel ergeben, reagiert werden.

Abschließend kann festgehalten werden, dass der Behinderungsbegriff der UN-BRK mit dem der ICF sehr ähnlich ist – beide Begriffe folgen dem Wechselwirkungsmodell – und sich ersterer somit an zweiterem orientiert.45 ← 23 | 24 →

C.  Behinderungsbegriff nach Deutschen Rechtsnormen

Eine einheitliche Begriffsbestimmung, wann eine Behinderung vorliegt, existiert auch in der Deutschen Rechtsordnung nicht.46 Dies hängt vor allem damit zusammen, dass „die Definition von Rechtsbegriffen (…) wesentlich durch den Zweck bestimmt wird, den das Gesetz gerade mit diesen Begriffen verfolgt“.47

Der deutsche Gesetzgeber geht vielmehr verschiedene Wege in Bezug auf den Behinderungsbegriff. Zum einen definiert er den Begriff der Behinderung legal (vgl. § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX). Zum anderen erwähnt er nur den Begriff „Behinderung“, lässt ihn aber undefiniert (vgl. § 1 AGG48).49 Ferner nutzt der Gesetzgeber bereits vorhandene Begrifflichkeiten. So orientiert sich beispielsweise der Behinderungsbegriff in § 3 BGG50 an Art. 1 UN-BRK.

I.  Behinderungsbegriff nach dem Grundgesetz

1.  Gesetzgebung

Die Stellung von Behinderten wurde im Jahre 199451 durch den ins Grundgesetz (GG) eingeführten Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG, welcher eine Diskriminierung von Behinderten verbietet, gestärkt52. Durch die Einführung dieser Norm sollte „die Stellung behinderter Menschen in der Gesellschaft [gestärkt], das Bewusstsein für ihre spezifischen Probleme [geschärft] und auf diese Weise die Integrationsaufgabe [vorangetrieben werden]“.53 ← 24 | 25 →

Die Gesetzesmaterialien geben über die Definition des Behinderungsbegriffs keinen Aufschluss.54 Der Gesetzgeber soll sich jedoch an der seinerzeit üblichen Definition des § 3 Abs. 1 S. 1 des Schwerbehindertengesetzes (SchwbG)55 orientiert haben56, wonach unter Behinderung die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung, die auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand beruht, verstanden wird.57 § 3 Abs. 1 S. 1 SchwbG lehnt sich wiederum an den dreistufigen Begriff der ICIDH an.58 ← 25 | 26 →

2.  Bundesverfassungsgericht

Details

Seiten
236
Jahr
2018
ISBN (PDF)
9783631748862
ISBN (ePUB)
9783631748879
ISBN (MOBI)
9783631748886
ISBN (Hardcover)
9783631745519
DOI
10.3726/b13489
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Juni)
Schlagworte
Testierfreiheit Testierfähigkeit Behindertentestament Pflichtteilsverzicht Zuwendungsverbot gem. Art. 8 PfleWoqG Lucidum intervallum
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien. 2018. 236 S.

Biographische Angaben

Quirin Ullmann (Autor:in)

Quirin Ullmann studierte Rechtswissenschaften an der Universität Augsburg und ist als Rechtsanwalt in einer renommierten Wirtschaftskanzlei in Augsburg tätig.

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Titel: Die Stellung behinderter Menschen im Erbrecht
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