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Jedwabne und die Folgen

Eine semantische Analyse der Debatte über Juden in der polnischen Presse 2001-2008

von Stefan Gehrke (Autor:in)
©2018 Dissertation 574 Seiten

Zusammenfassung

In diesem Buch steht die semantische Analyse der Argumentationsstrategien und sprachlichen Mittel im Vordergrund, die polnische Zeitschriften von 2001-2008 zur Konstruktion und Dekonstruktion stereotyper Aussagen über Juden angewendet haben. Mit linguistischen Mitteln wird untersucht, was die Gründe für Entstehung, Tradierung und Persistenz dieser Phänomene sind. Welche Bilder und Stereotypen von Juden tauchen auf, wie verhalten sich die aktuellen Aussagen zu älteren Redeweisen über Juden in der nationalen und religiösen Tradition Polens und welche Funktion spielt das Wort «Żyd» in der Debatte über Schuld und Unschuld der Polen bzw. Juden?

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Einleitung
  • 1. Historischer und theoretischer Teil
  • 1.1 Historischer Teil
  • 1.1.1 Historische Entwicklungslinien
  • 1.1.2 Juden im Volksglauben
  • 1.1.3 Die Emanzipation der Juden und die Judenfrage im Polen der Vorkriegszeit
  • 1.1.4 Soziale Wurzeln des polnischen Antijudaismus/Antisemitismus
  • 1.1.5 Die „Fremdheit der Macht“ in Polen
  • 1.1.6 Die Ereignisse in Auschwitz nach 1990
  • 1.1.7 Problematisierungsspirale in modernen Medien
  • 1.1.8 Die Diskussion um die Schuld der Juden am Schicksal Polens
  • 1.1.9 Die Diskussion um die Schuld der Polen am Schicksal der jüdischen Bevölkerung
  • 1.2 Zum Forschungsstand
  • 1.3 Forschungsansätze und Methoden
  • 1.3.1 Forschungsansätze
  • Sprachrelativismus
  • Mentalitäten
  • Bartmiński und das Językowy Obraz Świata (JOS)
  • Diskurs
  • Diskurslinguistik
  • Kritische Diskursanalyse (CDA)
  • Zur Verwendung der CDA im empirischen Teil
  • Der Zusammenhang zwischen Diskursen, Intertextualität und Schematizität des Denkens
  • 1.3.2 Forschungsmethoden und verwendete Begriffe
  • Profil
  • Topos
  • Frame
  • Repräsentationen
  • Sprachgebrauchsmuster und syntaktische Muster – eine offene Analyseklasse
  • Soziologisches und linguistisches Ethnostereotyp, gruppenbezogenes Ethnostereotyp
  • Ansätze aus der Grammatiktheorie und ihre Applikation auf das hier verwendete Modell
  • Möglicher Ertrag für die diachrone und synchrone Analyse des Wortes Żyd
  • Zusammenfassung der vorgestellten Theorien, Bezug zur Fragestellung
  • Ertrag der theoretischen Einführung für die Interpretationsansätze und Vorstellung der verwendeten Untersuchungsmethoden
  • 1.4 Untersuchungsmaterial
  • 1.4.1 Zum Korpusbegriff
  • 1.4.2 Zur Korpuserstellung und -auswahl
  • 1.4.3 Untersuchter Zeitraum, synchrone Einzeldebatten und notwendige Korrekturen, Relativierungen und Ergänzungen
  • 1.4.4 Nichtberücksichtigte Zeitungen und Zeitschriften
  • 1.4.5 Sporadische bzw. unsystematische Berücksichtigung weiterer Medien
  • 1.4.6 Nationale Identität und Sprache
  • 1.4.7 Zum Zusammenhang von Heterostereotyp und Autostereotyp, Juden als Alteritätspartner der Polen
  • 1.5 Historisch-theologische Entwicklung der religiösen Profile von „Jude“ und seiner Topoi
  • 1.5.1 Einleitung
  • 1.5.2 Alter und neuer Bund
  • 1.5.3 Das Grundproblem: Erwählung und Verwerfung
  • 1.5.4 Eschatologische Rolle der Juden in christlicher Imagination
  • 1.5.5 Topoi: Verrat, Geld, Blut, Macht, Verschwörung
  • 1.5.6 Zusammenhang von religiöser und ökonomischer Rolle von Juden
  • 1.5.7 Juden als einzige geduldete heterodoxe Gruppe bis zur Reformation
  • 1.5.8 Scheinbare Bestätigung der Stereotype im täglichen Leben und Projektionen auf Juden
  • 1.5.9 Fortwirkungen biblischer Szenen
  • 1.5.10 Säkulare Aktualisierungen alter Stereotype (Rasse, Weltverschwörung)
  • 1.5.11 Gegenbewegungen: Positive Schilderungen von Juden
  • 1.6 Die lexikographische Erfassung der Bedeutungen von Żyd
  • 2. Empirischer Teil
  • 2.1 Einleitung in den empirischen Teil und Arbeitshypothese
  • 2.1.1 Analysemethoden (Interaktion von nationalen und globalen Diskursen und Diskursfamilien, CDA, Semantische Analyse, Linguistische Analyse, kognitivistische und funktionalistische Prinzipien)
  • 2.1.2 Zur Verwendung der Wörter Verfasser und Sprecher, Rezipient und Sprachbenutzer
  • 2.1.3 Detaillierte Angaben zum Korpus
  • 2.1.4 Anmerkungen zur Anordnung und Analyse der Belege und Kommentare zu den Belegen
  • 2.1.5 Die Rolle von Implikaturen
  • 2.1.6 Empirisch gewonnene Definition bei Profilen
  • 2.1.7 Codierung und Zuordnung der analysierten Texte
  • 2.1.8 Unterscheidung zwischen Profilen und Topoi
  • 2.1.9 Aufstellung der angesetzten Profile
  • 2.2 Profile von „Jude“ in der rechten Presse
  • 2.2.1 Allgemeine Anmerkungen
  • 2.2.2 Eigentümlichkeiten der Sprache und des argumentativen Gerüsts
  • Dichotomisierung und fehlende Binnendifferenzierung in den Belegen
  • Verwendung von Wörtern, Begriffen und Kollokationen des Gegendiskurses
  • Emotionalisierung
  • Autoritätsbeweis durch Berufung auf heilige Schriften
  • Autoritätsbeweise durch Zeugen: Die Figur des „guten Juden“
  • Extremzitate
  • Autoritätsbeweise durch Berufung auf wissenschaftliche Erkenntnisse
  • Neuschöpfung bzw. Übernahme von Paraphrasen
  • Einsatz von Wörtern und Interjektionen jüdischer Herkunft
  • Derivate von Żyd
  • Namenszusätze
  • Triaden
  • Intertextuelle Parallelen der Argumente
  • Parallelismus der Argumente/concessio
  • Synekdochische Strukturen
  • 2.2.3 Ausführungen zu einzelnen Profilen und Topoi
  • 2.2.3.1 Die Hierarchie der Opfer
  • Linking von Profilen
  • Funktionsweise des Profils „Opferhierarchie“
  • Relativierung der jüdischen Opferzahlen
  • Gegenattacken und Umkehr der Argumentrichtung: „Polen als eigentliche Opfer“
  • Wortspiele
  • Personalisierung
  • Deutsche als Variable in einer Dreierbeziehung
  • 2.2.3.2 „Verrat/Kollaboration/Kommunisten“
  • Der Schuldkomplex
  • 2.2.3.3 „Macht und Geld der Juden“
  • 2.2.3.3 „Juden als Feinde der Polen“
  • 2.2.3.4 „Juden als Fremde“
  • Codewörter
  • Bagatellisierung des Antisemitismus und Nähe zu anderen Gegnern der Polen
  • „Mangelnde Integrationsbereitschaft der Juden“
  • Funktion von negativ formulierten Sätzen
  • Fremdheit der Macht und Ausschluss von Eliten aus der polnischen Nation
  • „Selbstverschuldete Segregation der Juden“
  • 2.2.3.5 Religiös motivierte Topoi
  • „Pervertierte Religion oder Kultur (Kindermord, Gottesmörder, ältere Brüder)“
  • „Feinde der Christen“
  • 2.3 Profile in den Mainstreammedien
  • 2.3.1 Profil „Juden im Zusammenhang mit dem Bild von Polen und den Polen“
  • 2.3.1.1 Zentrale Rolle des Profils im Zentrum des Diskurses
  • 2.3.1.2 Mereologien vs. Totalität
  • 2.3.1.3 Hintergrund der Debatten
  • 2.3.1.4 Topoi, Argumentationsstrukturen, sprachliche Mittel und Besonderheiten
  • Polnischer Antisemitismus
  • Reaktion des Auslands
  • Lob Polens
  • Einschränkung der Mittäterschaft auf Randgruppen
  • Generalisierung
  • Gegenseitige Aufrechnungen
  • Präsuppositionen
  • Kollektionen
  • Polnische gute Taten überwiegen schlechte Taten
  • Dekonstruktion der Funktionsweise des Stereotyps
  • Selektive Erinnerung (Glorifizierung und Verschweigen)
  • Ablehnung des Begriffs „Antisemitismus“
  • Pogrome
  • „Ich hätte nichts gegen jüdische Abstammung, aber ich bin Pole“
  • Opferhierarchie/Auschwitz
  • Krankheitsmetaphern
  • „Antisemitismus durch Thematisierung“
  • Nation geht vor Religion
  • Angst vor der Beschädigung des polnischen Selbstbildes
  • Reste religiöser Diskurse
  • „Religion“ des Holocaust
  • „Deutsche suchen Mitschuldige am Holocaust bei den Polen“
  • Antipolnische Stereotype
  • Dichotomie der Weltwahrnehmung
  • „Gute Polen“
  • Todesstrafe für Juden geleistete Hilfe
  • „Moralkeule“
  • Emotionalisierung
  • Definition des Profils
  • 2.3.2 Fusionsprofil
  • Sprachliche Mittel und Besonderheiten
  • Fusion
  • Umkehr von Ursache und Wirkung
  • Externalisierung des Bösen
  • Antiamerikanismus
  • Enumerationen
  • 2.3.3 Profil „Juden im Zusammenhang mit dem Bild von Polen und den Polen (positiv)“
  • Betonung der positiven Seiten der polnisch-jüdischen Geschichte
  • Positive Gesten, Riten und Symbole
  • Kritik an den Polen
  • Bemühungen zu Wiederherstellung des guten Namen Polens
  • Sprachliche Mittel und Besonderheiten
  • 2.3.4 Profil „Juden als Etikette und Schimpfwort“
  • 2.3.5 Profil „Juden als Feinde der Polen“
  • 2.3.6 Profil „Juden als Kollaborateure“
  • 2.3.7 Profil „Juden als Kommunisten“
  • 2.3.8 Profil „Juden als Täter (kollektiv) und als Mitverantwortliche der an den Juden verübten Verbrechen“
  • 2.3.9 Profil „Juden als absolut Fremde“
  • 2.3.10 Profil „Juden und Macht“
  • 2.3.11 Profil „Juden und Geld“
  • 2.3.12 Profil „Juden als Polluenten, Schmutz und Parasiten, Bakterien“
  • 2.3.13 Profil „Juden als ethnisch andere Gruppe“
  • 2.3.14 Profil „Juden als Elite“
  • 2.3.15 Profil „Juden und Israel“
  • 2.3.16 Profil „Juden als ältere Brüder im Glauben“
  • 2.3.17 Profil „Juden als Vorbild der Christen“
  • 2.3.18 Profil „Juden als Feinde der Christen“
  • 2.3.19 Profil „Juden als Gottesmörder“
  • 2.3.20 Profil „Ritualmord“
  • 2.3.21 Profil „Juden als auserwähltes Volk (positiv)“
  • 2.3.22 Topos Jüdisch-Christlicher Dialog
  • 2.3.23 Topos „Erschaffung positiver Diskurse, Symbole und Traditionen“
  • 2.3.24 Topos „Antisemitismus aufgrund Verdrängung“
  • 3. Zusammenfassung der in den Mainstreammedienauftauchenden Profile und Topoi
  • 3.1 Zentralität des Autostereotyps für die Konstruktion des Heterostereotyps
  • 3.2 Ich-Bezogenheit des Heterostereotyps
  • 3.3 Zur Häufigkeit des Auftauchens des Heterostereotyps
  • 3.4 Konstanz der Bilder und neue Motive
  • 3.5 Das zentrale Problem der Erwählung
  • 3.6 Säkularisierte Vorstellungen von der überlegenen Moral des Christentums
  • 3.7 Müßiger Streit
  • 3.8 Ausblick
  • 3.9 Eine mögliche Funktion von „Jude“ im Lichte von Populismustheorien
  • Resümee
  • Summary
  • Bibliographie

Einleitung

2001 war ohne Zweifel ein bedeutsames Jahr in Polen. Grund dafür war allerdings kein entscheidendes politischen Ereignis, sondern ein im Jahr zuvor erschienenes schmales Buch. Und es ging auch scheinbar nicht um aktuelle Probleme, sondern um ein Geschehen, das zum damaligen Zeitpunkt bereits sechzig Jahre zurück lag. Der Inhalt des Buches würde, wenn sich das dort Geschilderte beispielsweise im Nachbarland Deutschland zugetragen hätte, dort vermutlich keine großen Irritationen ausgelöst haben. Umso erstaunlicher war es für die ausländischen Beobachter ebenso wie für viele Polen, dass die Veröffentlichung dieses Werks so große Wellen schlug, nachdem es 2001 auch in englischer Sprache erschienen war. Noch überraschender war vielleicht, wie kontrovers in den folgenden Jahren die grundlegenden Thesen und Erkenntnisse diskutiert wurden, die der Verfasser dort vertreten hatte. Es handelte sich um das Buch Sąsiedzi (dt. ‚Nachbarn‘) aus der Feder von Jan Tomasz Gross, einem polnischen Soziologen, der seit einigen Jahrzehnten in den USA lebte. Vordergründig ging es um ein einziges Ereignis des Jahres 1941. Der Inhalt war jedoch brisant: Gross warf den Bewohnern der kleinen polnischen Stadt Jedwabne vor, dass sie hunderte Juden gedemütigt, in eine Scheune getrieben und dort bei lebendigem Leibe verbrannt haben, und zwar ohne erkennbare deutsche Beteiligung, d. h. aus eigenem Antrieb. Nach dem Erscheinen des Buches ließ sich ein wichtiger Unterschied zu Deutschland erkennen, der eine über den Kontext dieses singulären Verbrechens weit hinausgehende Tragweite offenbarte: Während die Mehrzahl der Deutschen daran gewöhnt war, mit Vorwürfen der Mittäterschaft konfrontiert zu werden, die nicht nur das verbrecherische Handeln des NS-Systems, sondern auch das aktive Engagement der Deutschen bei der Vernichtung der Juden offenlegten, traf dieser Vorwurf in Polen offensichtlich ins Mark des kollektiven Selbstverständnisses.

In der vorliegenden Arbeit geht es nicht um eine Rekonstruktion der anschließenden medialen Ereignisse. Vielmehr dienen diese als Ausgangspunkt für die Untersuchung einer anderen Fragestellung: Welche Bilder und Stereotype von Juden tauchen in dieser Diskussion auf, wie verhalten sich die Aussagen über Juden zu älteren Imaginationen und Redeweisen über Juden in der nationalen und religiösen Tradition Polens und welche Funktion spielt das Wort Żyd für die verschiedenen Diskussionsteilnehmer in der Debatte über Schuld und Unschuld der Polen bzw. Schuld und Unschuld der Juden?

Dabei steht die Analyse der Argumentationsstrategien und sprachlichen Mittel im Vordergrund, die zwischen 2001 und 2008 zur Konstruktion und Dekonstruktion bestimmter Bilder von Juden und stereotyper Aussagen über Juden angewandt wurden. Es soll hier mit linguistischen Mitteln untersucht ← 11 | 12 werden, was die Gründe für Entstehung, Tradierung und Persistenz dieser Phänomene sind, welche Erscheinungen im Vergleich zu früheren Zeiträumen schwächer geworden bzw. neu hinzugekommen sind und welche Strategien es gibt, stereotype Äußerungen über Juden ganz zu vermeiden und an ihre Stelle neue, positive Bilder und Aussagen über Juden zu setzen.

Die Tatsache, dass es sich bei „Jude“ auch um eine Art Parole handelt, an der Diskussionen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Polens symbolisch ausgehandelt werden, war für mich der Anstoß dazu, die klare Aufteilung der Diskursfamilien nach politischen Standpunkten und die mit diesen Diskursen verbundenen Printmedien zum Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit zu machen.

Untersuchungsmaterial sind dabei hauptsächlich zwischen 2001 und 2008 in der polnischen Presse erschienene Artikel, die sich an den Kontroversen um das oben erwähnte Buch sowie an Debatten um weitere Arbeiten orientieren, die Gross in diesem Zeitraum veröffentlichte. Im Vordergrund steht dabei die Untersuchung der Mainstreammedien in Bezug auf die Verwendung des Wortes Żyd. Zum einen ist dies bisher im Unterschied zu Titeln aus dem rechten Pressesegment noch nicht geschehen. Zum anderen möchte ich untersuchen, inwieweit offene oder versteckte, traditionelle und zeitgenössische Stereotype, aber auch positive Redeweisen über Juden in der gesellschaftlichen Mitte vorhanden sind bzw. in diese eindringen. Da ich aber davon ausgehe, dass Inhalt, Ton und Richtung der Diskurse durch aggressive Minderheiten bestimmt werden können, habe ich auch die rechte Presse einer Betrachtung unterzogen.

Bei der Untersuchung des durch Printmedien vermittelten und konstruierten Bildes von Żyd in der polnischen Gesellschaft wird einem qualitativen gegenüber einem quantitativen Ansatz der Vorzug gegeben. Das bedeutet, dass nicht die Frequenz des Lemmas an sich untersucht wird, sondern der Stereotypisierungsgrad und die Profilierung des Wortes im Vordergrund stehen. Somit entfallen, wie schon erwähnt, alle rein denotativen Bezugnahmen auf Żyd als Gegenstand der Untersuchung. Dagegen steht die möglichst vollständige Erfassung aller mit Żyd verbundenen Topoi, Szenarien und semantischen Profile im Vordergrund, auch wenn diese in ihrer jeweiligen Frequenz, ihrer momentanen Bedeutung für die unterschiedlichen Diskurse und in Bezug auf ihre Funktionalität stark voneinander abweichen.

Eine weitere Annahme meinerseits ist die, dass die heutigen Bilder von Juden auf tradierten Imaginationen beruhen und Weiterentwicklungen derselben darstellen. Die Ursache für die europaweit auftauchende Diskriminierung von Juden und ihre antagonistische Stellung zur christlichen Mehrheitsgesellschaft sehe ich in den religiösen und historischen Rollen, die das Judentum in Europa seit der Christianisierung einnahm, weshalb ich auch nach historischen, ← 12 | 13 → religiösen und sozialen Gründen für die Existenz der über Juden im Umlauf befindlichen Stereotype suchen werde.

Ich möchte in den folgenden Zeilen kurz den Aufbau der vorliegenden Arbeit skizzieren: Zunächst werde ich im historischen Teil – ausgehend von der Imagination von Juden im Volksglauben – die sozialen und geschichtlichen Entwicklungen der jüdischen Frage im Polen des 20. Jahrhundert untersuchen, die sozialen Wurzeln des Antijudaismus und Antisemitismus zur Sprache bringen und mich anschließend auf die tatsächlichen und medialen Ereignisse in Polen nach 1990 konzentrieren, die mit Juden zusammenhängen oder mit ihnen in Verbindung gebracht wurden.

Nach dieser historischen Einleitung werde ich den Forschungsstand referieren und die für die Untersuchung gewählten Theorien und Analysemethoden vorstellen, die sich schwerpunktmäßig auf Erkenntnisse der kognitiven Semantik und der Diskurslinguistik stützen. Es folgen Angaben zur Erstellung bzw. Auswahl des Korpus sowie Ausführungen zum Charakter der dort versammelten Texte.

Anschließend folgt ein Exkurs zu den historisch-theologischen Grundlagen der Bedeutungsfacetten von „Jude“, da ich davon ausgehe, dass diese auch für die zeitgenössische Wortverwendung von grundlegender Bedeutung sind; danach stelle ich kurz den Stand der lexikographischen Erfassung des Wortes Żyd in älteren und modernen polnischen Wörterbüchern vor.

Der zweite und umfangreichste Teil der Arbeit ist der empirischen Untersuchung und Erfassung der Profile von Żyd gewidmet. In der Einleitung zu diesem Teil stelle ich die Vorgehensweise bei der Bearbeitung und Auswahl des Materials vor. Danach fasse ich die Profile und Topoi von Żyd in der rechten Presse in einem Kapitel zusammen. An die dort gewonnenen Erkenntnisse anknüpfend wende ich mich den einzelnen Profilen in den Mainstreammedien zu, die sich in den in meinem Korpus auftauchenden Redeweisen über Juden widerspiegeln.

Der ausführlichen Besprechung der Belege in den einzelnen Profilen und ihrer Auswertung folgt ein zusammenfassendes Kapitel, in dem die Ergebnisse zusammengetragen werden. Die Arbeit schließt mit einem Resümee der empirisch gewonnenen Erkenntnisse. ← 13 | 14← 14 | 15 →

1           Historischer und theoretischer Teil

1.1      Historischer Teil

Betrachtet man die heute in Polen vorherrschenden Diskurse, in denen das Lemma Żyd1 auftaucht, fallen die zahlreichen historischen Bezüge bei der Verwendung des Wortes auf. Als Leser fragt man daher unwillkürlich nach der historischen Genese und Tradition der verschiedenen Argumentationstypen in rechten wie linken Diskursen. Sowohl für den radikalen, sogenannten nationalkatholischen Diskurs wie auch für den traditionellen katholischen Diskurs lassen sich dabei starke Kontinuitäten mit Denkmustern feststellen, die aus dem Polen der Vorkriegszeit stammen. Diese gehen ihrerseits z.T. auf noch ältere Muster zurück und beruhen einerseits auf der traditionellen Einstellung der katholischen Kirche gegenüber den Juden und spiegeln andererseits die besonderen Bedingungen der Entstehungszeit der modernen polnischen Nation im 18. und 19. Jahrhundert wider. Da ich mich auf die Argumentationselemente der gegenwärtigen Epoche konzentrieren möchte und diese Arbeit somit kein primär historiographisches Anliegen hat, sollen hier nur gerafft die wichtigsten und durchgehenden Argumentationslinien in Verbindung mit bestimmten historischen Ereignissen und Zäsuren der polnischen Geschichte der letzten 100 Jahre in Erinnerung gerufen werden:

           die romantische Konzeption des Messianismus in der polnischen Geschichtsschreibung, Kunst und Kultur

           die Konkurrenz zwischen zwei idealisierten Entwürfen der polnischen nationalen Identität: der weitere (sog. jagiellonische) und der engere (sog. piastische) Nationsbegriff bzw. Polen als Nationalitätenstaat oder als Nationalstaat

           der traditionelle katholische Antijudaismus

           das Judenbild in der polnischen Folklore und im polnischen Volk des 19. Jahrhunderts

           die sozialen Wurzeln des polnischen Antijudaismus/Antisemitismus

           projüdische Traditionen im nationalliberalen und linken Milieu (ihre Entwicklungsperspektiven und konzeptuellen Grenzen)

           die antisemitische Welle von 1968 und ihre Folgen (Kurzzeit- und Langzeitfolgen)

           die ‚Entdeckung des Judentums‘ durch Teile der polnischen Gesellschaft nach 1990. ← 15 | 16

Diese Argumentationslinien sind als historische Ereignisse nicht Thema dieser Arbeit und werden daher von mir nur stichwortartig erwähnt. In den Fällen, in denen diese Themen in den Belegen auftauchen, werden die Aussagen aber analysiert und der jeweilige Kontext erklärt. Zu nennen sind hier auch Aspekte, die von der jüdischen Perspektive ausgehen und ebenfalls in einem Teil der untersuchten Texte behandelt werden. Sie sind wichtig, um dem Missverständnis entgegenzuwirken, dass Juden aufgrund der Objektperspektive, die „Jude“ in vielen Texten einnimmt, keine eigene Rolle als Akteure gespielt haben:

           die Integrations-, Assimilierungs- bzw. Autonomiebestrebungen der polnischen Juden

           die Reaktionen der Juden auf den Antisemitismus nach dem zweiten Weltkrieg

           die Neuentdeckung und das „Coming-Out“ polnischer Juden nach 1990

           die Öffnung der polnischen Gesellschaft gegenüber Europa und den dort herrschenden diskursiven Paradigmen

           die diskursstrukturierenden und diskursbildenden Ereignisse in Polen nach 1990.

Wichtige Etappen bzw. Paradigmen stellen dabei folgende reale und mediale Ereignisse sowie generelle gesellschaftliche Trends im Umgang mit Juden und dem jüdischen Erbe dar:

           die Debatte um das Karmelitinnenkloster sowie um das Papstkreuz in Auschwitz

           die Diskussion um Schuld und Beteiligung der Juden am Kommunismus, bspw. im Amt für staatliche Sicherheit

           die angebliche Kollaboration der Juden mit den Sowjets

           die Machtpositionen im Staat und in der kommunistischen Partei, die Juden einnahmen

           die Bücher von Jan Tomasz Gross

           die halb ironisch, halb verschwörungstheoretisch geführte Debatte um den generellen Einfluss von Juden auf Medien, Finanzpolitik, Politik usw. im In- und Ausland

           die Diskussion um den jüdischen Antipolonismus und die Konkurrenz der Opfer

           daran anknüpfend die Diskussion um polnische Schuld und Verantwortung, deren Betonung, Relativierung oder Leugnung

           die positive Neubewertung des Judentums in der katholischen Kirche

           die Entdeckung der jüdischen Kultur, Religion und Folklore durch Teile der polnischen Öffentlichkeit und ihre Perzeption und Aneignung in Form von Festivals, Konzerten, Zeitschriften, Filmen usw.

Bei der nun folgenden kurzen Besprechung dieser Punkte möchte ich insbesondere dem deutschsprachigen Leser eine sehr kurz gehaltene Einführung in das ← 16 | 17 → Thema und die damit verbundenen Frage- und Weichenstellungen bieten. In Polen sind die angeführten Ereignisse und Debatten der breiten Öffentlichkeit bekannt; auch sind die genannten Einzelthemen bereits in zahlreichen Zeitschriftenartikeln und Monographien ausführlich analysiert worden.2 Allerdings ist mir keine in Polen oder im Ausland entstandene Arbeit bekannt, die alle oben aufgeführten diskursiven Ereignisse behandelt und systematisch zueinander in Beziehung setzt. Die Forscher haben sich vielmehr auf die schmerzhaften und besonders kontroversen Themen konzentriert. Dieser Fokussierung wird sich auch meine Arbeit aufgrund des historischen Gewichts der Thematik und ihrer fortwährenden Aktualität nicht entziehen können. Dabei besteht aber die Gefahr, die gegenläufigen und an Bedeutung zunehmenden positiven Trends entweder an den Rand zu drängen oder rein funktional lediglich als Reaktion auf die o.g. Kontroversen anzusehen und sie somit entweder zu instrumentalisieren oder abzuwerten. Die mehr oder weniger gleichberechtigte, allerdings assoziative und unsystematische Darstellung aller oben aufgezählten Phänomene findet hauptsächlich in der Presse statt, die schneller auf gegenwärtige Trends und aktuelle Themen reagiert als die etablierten Wissenschaften.

1.1.1     Historische Entwicklungslinien

Ich stütze mich für diese kurze Zusammenfassung vor allem auf die Forschungsarbeiten, die Cała (2008), Forecki (2010) und Tokarska-Bakir (2008) veröffentlicht haben. Die folgende Synopse dieser Untersuchungen geht in Übereinstimmung mit meinem Erkenntnisinteresse nicht so sehr auf einzelne Ereignisse ein, sondern stellt die aus ihnen und den sich anschließenden Diskussionen anzusetzenden Redeweisen und Bilder von Juden in den Mittelpunkt der Betrachtung. Ich gehe dabei von der These aus, dass der christliche Antijudaismus die Grundlage für die Behandlung der Juden in allen christlichen Ländern in Europa bildete. Die Geschichte der Juden in Polen ist zwar älter als die Einwanderung der Juden aus dem Westen seit dem 14. Jahrhundert. Da aber Zeugnisse über Stärke und Bedeutung der autochthonen und vermutlich slawischsprachigen Juden fehlen, beginnt die durch historische Quellen und Dokumente belegbare Geschichte der polnisch-jüdischen Beziehungen im Wesentlichen mit dieser Einwanderungswelle. In Polen fanden die Juden bei ihrer Immigration im Vergleich zu anderen Ländern sehr günstige und vor allem lange anhaltende gute Bedingungen vor. ← 17 | 18

Es ist dabei nicht unwichtig zu erwähnen, dass im folkloristischen Judenbild in Polen bis ins 19. Jahrhundert keine Elemente zu finden waren, die sich auf die Physiognomie der Juden bezogen und als rassistisch interpretiert werden könnten. Das fremdartige Aussehen der Juden wird lediglich in Bezug auf ihre besondere Kleidung thematisiert.3 Gegenüber den jüdischen Frauen, die sich in ihrer Kleidung nicht von ihrer Umgebung unterschieden, fehlen dementsprechend bis ins 19. Jahrhundert jegliche Aussagen, die ein fremdartiges oder seltsames Aussehen behaupten.4

Parallel zur Zuschreibung negativer Charakteristika sind im polnischen Volk auch positive Stereotype von Juden verbreitet: Sie gelten im Vergleich zu ihren christlichen Nachbarn als die besseren Familienmenschen und zeichnen sich durch ein harmonischeres Familienleben aus. Die jüdischen Männer wurden in der polnischen Volkskultur als treuer in der Ehe angesehen; sie schlagen ihre Frauen und Kinder nicht. Sie wurden als ruhige, verträgliche und freundliche Nachbarn geschätzt; Juden waren weniger dem Trunk ergeben, als dies unter Polen der Fall war.5 Auch diese weniger bekannten bzw. seltener untersuchten Stereotype scheinen relativ stabil zu sein, da auch Jerzy Bartmiński in den Ergebnissen seiner Umfragen deutliche Spuren entsprechender Bilder von „Jude“ feststellen konnte.6

1.1.2     Juden im Volksglauben

Besonders zu betonen ist neben der Existenz der auf der christlichen religiösen Imagologie beruhenden Vorstellung von den verworfenen, treulosen und ungläubigen Juden7 das Vorhandensein zahlreicher magischer und dämonischer Zuschreibungen in der Vorstellung des einfachen Volkes, die sich bis heute an verschiedene Topoi anschließen können und mitunter auch zu neuen Topoi ausgebaut werden. Die den Juden unterstellten magischen Kräfte sind dabei ambivalent, sie ließen sich in historischer Perspektive unter Anwendung verschiedener Techniken auch positiv nutzbar machen, z. B. für Fruchtbarkeitsriten, zur Abwendung des bösen Blicks u. ä. Das magische Potential der Juden wird also ← 18 | 19 nicht unbedingt negativ bewertet, sondern stellt zunächst nur eine para- oder übernatürliche Erscheinung dar.8 Dazu passt auch, dass sich der Status Israels als „auserwähltes Volk“ trotz der von der Kirche gelehrten Substitutionstheologie9 im Volksglauben noch erhalten zu haben scheint.10

1.1.3     Die Emanzipation der Juden und die Judenfrage im Polen der Vorkriegszeit

Beginnend mit der französischen Revolution und der anschließenden Gleichstellung aller Bürger in Frankreich stand auch die Judenemanzipation als gesamteuropäische Frage im Raum. Im Rahmen dieses von Westeuropa ausgehenden und sich über Mitteleuropa bis Osteuropa allmählich verbreitenden Prozesses konnte im Laufe von über hundert Jahren die rechtliche Gleichstellung der Juden durchgesetzt werden, die mit dem Ende des Ersten Weltkriegs ihren formalen Abschluss fand. Auch in Polen war mit der Unabhängigkeit vom Russischen Reich dieser Punkt erreicht. Allerdings befand sich das Prinzip der tatsächlichen Gleichberechtigung in Osteuropa von Anfang an in einer Legitimitätskrise, da die Gleichstellung durch die westlichen Garantiemächte oft erst gegen den Widerstand der neu entstandenen Nationalstaaten erzwungen werden musste. Die bürgerliche Emanzipation der Juden stand also teilweise unter dem Odium, dass sie den Ländern gewissermaßen von außen aufoktroyiert wurde. Diese Inkompatibilität zwischen äußerer Form und innerer Überzeugung sowie die unterschiedlichen Entwicklungsgeschwindigkeiten zwischen West- und Osteuropa stellen übrigens bis heute eines der grundlegenden gesellschaftspolitischen Probleme dieser Länder dar. Dies zeigen u. a. die Diskussionen um Inhalt und Form der EU-Integration und die damit verbundenen Probleme wie bspw. die Notwendigkeit der Übernahme internationaler rechtlicher Normen usw. Äußere Integrationszwänge eilen dabei oft der politischen Willensbildung im Land voraus, wodurch leicht der Eindruck einer Fremdbestimmung und des Verrats nationaler Interessen durch die politischen Eliten des Landes entstehen kann, die im Gegensatz zum Willen des Volkes stehen. ← 19 | 20

1.1.4     Soziale Wurzeln des polnischen Antijudaismus/Antisemitismus

Für Polen müssen am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert bei der Frage der jüdischen Integration mehrere Faktoren berücksichtigt werden. Zum einen bestanden aufgrund der positiven Tradition der Toleranz der alten polnischen Adelsrepublik, der weitgehenden räumlichen und sozialen Trennung sowie der faktischen professionellen Arbeitsteilung zwischen Juden und Polen traditionell nur einige wenige Berührungs- und Reibungspunkte zwischen beiden ethnischen Gruppen. Größeres Konfliktpotential war vor allem mit der historischen Mittlerstellung der Juden zwischen Adel und Bauern und somit ihrer Rolle als Eintreiber von Steuern und als Verwalter sowie mit der Position einzelner Juden als Inhaber von Lizenzen zum Ausschank von Alkohol verbunden. Dieses historische Modell einer Art ethnischer Arbeitsteilung geriet mit der Modernisierung allerdings in eine innerhalb des traditionellen Schemas nicht mehr korrigierbare Krise. Die Notwendigkeit der Errichtung einer bürgerlichen professionellen Klasse fand die Juden in einer teilweise historisch, teilweise gruppenspezifisch bedingten privilegierten Ausgangssituation vor. Als Stadtbewohner, Händler, Handwerker, die zudem alphabetisiert waren und der religiösen Bildung traditionell einen hohen Stellenwert beimaßen, brachten sie gegenüber der Masse polnischer Bauern große Startvorteile für den Arbeitsmarkt einer im Aufbau befindlichen industriellen und beruflich zunehmend spezialisierten Gesellschaft mit. Die Benachteiligung der Juden durch ihre fehlende bürgerliche Gleichstellung ist im Vergleich zu Westeuropa daher vielleicht nicht als das entscheidende Moment der Diskriminierung gegenüber der bäuerlichen Bevölkerungsmehrheit in Polen einzuschätzen, wenn man sie mit der faktischen Abhängigkeit der Bauern vom Adel in Beziehung setzt. Spezifisch für das Polen der Vor- und Zwischenkriegszeit waren sowohl die absolute Zahl der Juden (1918 ca. drei Millionen Menschen) wie auch der im europäischen Vergleich sehr hohe Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung.11 Der Umstand, dass Juden trotz ihrer formalen Qualifikationen von Posten im Staatsapparat, in der öffentlichen Verwaltung, in der Armee und in Bildungseinrichtungen ausgeschlossen oder bei der Vergabe dieser Stellen stark benachteiligt wurden, verstärkte deren Konzentration in den sog. freien Berufen – d. h. bewirkte den überdurchschnittlichen Run auf Tätigkeiten als Ärzte, Rechtsan ← 20 | 21 wälte, in der Finanzwirtschaft, in Industrie- und Handelsunternehmen sowie in den Bereichen Handwerk und Dienstleistungen. Vergleichbare Prozesse konnte man in der Zwischenkriegszeit in vielen mittel- und osteuropäischen Ländern, unter anderem auch in Deutschland, feststellen. Dadurch konnte leicht der Eindruck einer jüdischen Dominanz in bestimmten Wirtschaftsbereichen entstehen, in denen sich nach Ansicht der Bevölkerung viel Geld verdienen ließ. Der Aufstieg neuer Berufszweige musste der an konservativen Werten und veralteten Berufs- und Sozialstrukturen festhaltenden Mehrheitsbevölkerung unverständlich und bedrohlich erscheinen. Bedrohlich deshalb, weil die schnelle soziale und ökonomische Entwicklung die soziale Position von Bauern, Arbeitern und kleinen Handwerkern schwächte und die Juden kollektiv zu bevorzugen schien. Es kam aufgrund dieser Koinzidenz in den Augen der ethnischen Polen zu einer Verwechslung von Ursache und Erscheinung und zu einer Generalisierung der Vorstellung von einem allgemeinen jüdischen Erfolg, die allerdings die große Masse armer und verarmender Juden nicht mit in Betracht zog. Außerdem wurde eine auf alten antijüdischen Stereotypen beruhende Vorstellung von Juden aktualisiert: Juden wurden als faul und bequem bezeichnet, da sie angeblich die körperliche Arbeit scheuten. Die Art ihres Lebensunterhalts wurde letztlich als eine auf Lug und Betrug beruhende Erwerbstätigkeit diskreditiert, da der ökonomische Gewinn vieler Juden nicht im Primärbereich (hier vor allem der Landwirtschaft) und zum Teil auch nicht im Sekundärbereich (der Verarbeitung von Primärprodukten) erwirtschaftet wurde. Die von der Mehrheit der Bevölkerung nicht verstandenen ökonomischen Prozesse wurden häufig dämonisiert und ihre negativen Folgen in der antisemitischen Presse vollständig den Juden angelastet. In der kommunistisch und sozialistisch orientierten Presse der Vorkriegszeit wurde die ökonomische Lage dagegen als notwendige Gesetzmäßigkeit in der Entwicklung des Kapitalismus definiert.12 Die Repräsentanten dieses Kapitalismus waren häufig genug ebenfalls Juden. Die liberale Presse feierte schließlich den Sieg des Tüchtigen über den Untüchtigen und setzte sich mehrheitlich für eine Aufhebung der ethnischen und konfessionellen Trennungen ein. Im Ganzen entstand dadurch eine unheilvolle Spirale der Imagination, in der die neuen gesellschaftlichen Eliten auf allen Seiten ein zunehmend jüdisches Gesicht erhielten, egal, ob die Verbindung von Modernisierung und Judentum als essentiell, kontingent oder akzidentell dargestellt wurde.

Eine gewisse Einschränkung der Imagination von der pandämonischen Omnipräsenz der Juden fand nach dem zweiten Weltkrieg statt, ohne jedoch vollständig zu verschwinden. Den wenigen überlebenden Juden wurde jetzt ← 21 | 22 keine wirtschaftliche Macht mehr zugesprochen, zumal in der sozialistischen Gesellschaft die Privatwirtschaft nur noch in eingeschränktem Maß eine eigenständige Rolle spielen konnte. Die Konzentration der öffentlich sichtbaren Macht in den Händen von Partei und Staat ließ die Juden jetzt aber als eine in der Partei- und Staatsführung überrepräsentierte Gruppe erscheinen. Nach der Wende in Polen stellte sich der alte Vorwurf ökonomischer Dominanz nicht wieder ein. Ein anderer Strang des Topos der Überrepräsentation blieb nichtsdestoweniger aktuell: Juden wurden weiterhin in den Spitzenpositionen der politischen Parteien und der Regierung gesucht und gefunden. Daneben wurde ihnen ein entscheidender Einfluss in den Medien und im kulturellen Leben Polens zugeschrieben.

1.1.5     Die „Fremdheit der Macht“ in Polen

Polen wurde zwischen 1772 und 1795 in den sog. drei polnischen Teilungen von seinen Nachbarn Russland, Preußen und Österreich-Ungarn vollständig annektiert und hörte als eigenständiger Staat auf zu bestehen. Erst 1918 gelang die Wiedererrichtung eines neuen unabhängigen Polens, das 1939 erneut von außen zerstört wurde und als wirklich freie Gesellschaft erst 1989 wieder entstand. Das bedeutet, dass die Polen in den Jahrzehnten der Entstehung und Festigung ihrer nationalen Identität stets von fremden Mächten und deren Repräsentanten beherrscht wurden. Deren zunehmend von nationalistischen Überzeugungen motivierte Politik führte insbesondere in Russland und Preußen zu Bemühungen, die zu einer zwangsweisen Assimilation der Polen führen sollten bzw. diejenigen Kräfte mit Repressionen bedrohten, die an einem nationalen Programm festhielten. Mit dieser Politik gingen zahlreiche Maßnahmen zur Unterdrückung der polnischen Sprache, Religion und Kultur einher. Diese Unterdrückungserfahrung stärkte einerseits das Gefühl für den Eigenwert der nationalen Identität unter den Polen und andererseits die Sensibilität für die Bedrohung der polnischen Nation durch die staatlichen Repressionsorgane der Annexionsmächte.

Die langen Phasen staatlicher und nationaler Fremdbestimmung schienen dabei der Normalfall, die kurze Zeit staatlicher Selbstbestimmung dagegen die Ausnahme zu sein. Aus diesen Gründen wurde von einem großen Teil der Polen die staatliche Macht ihrem Wesen nach als ethnisch fremd wahrgenommen. Dieses Muster liefert eine bis heute wirksame kognitive Schablone für das Selbstbild und die Konzeptualisierung des Polentums.13 Deutsche sehen im ← 22 | 23 Vergleich dazu die staatliche Macht in ihrem Land üblicherweise nicht als ethnisch fremd an. In Bezug auf Juden herrschte hierzulande zu Anfang des 20. Jahrhunderts in einigen Bevölkerungsschichten ein stereotypes Bild vor, das besagte, dass diese Gruppe zwar in der Lage war, die staatliche Macht zu korrumpieren und zu zersetzen, ohne dass die Herrschenden als solche ab origine als allochthon konzeptualisiert wurden. In Deutschland galten entsprechend den antijüdischen Klischees m.E. andere Zweige der Macht als jüdisch kontrolliert, wie z. B. das Finanzwesen, die freien Berufe, Kunst und Kultur, bezeichnenderweise weniger die Industrie. Das liegt vielleicht daran, dass die Industrie als Werte erzeugender Wirtschaftszweig angesehen wird und sich daher nicht in das Klischee vom jüdischen „Parasiten“ einpasst. Häufig findet sich im antisemitischen deutschen Diskurs die berüchtigte Unterscheidung zwischen „raffendem und schaffendem Kapital“14, ein Begriff, der auf den Soziologen Werner Sombart zurückgeht.

In Polen wird die staatliche Macht dagegen von vielen Menschen von vornherein als fremd wahrgenommen, wodurch Volk und Macht als in einem antagonistischen Verhältnis zueinander stehend imaginiert werden. Die Vorstellung, dass die Repräsentanten der Machtausübung immer Fremde bzw. fremdgesteuert waren, ist auch heute noch verbreitet. Gemäß dieser Vorstellung wird den machtausübenden politischen Akteuren eine fremde, vorzugsweise jüdische Abstammung zugeschrieben, die immer dann ins Spiel kommt, wenn diese Akteure nicht oder nicht mehr die Interessen des Sprechers vertreten. In Übereinstimmung damit kann diese Konstellation auch losgelöst vom Schema „rechts – links“, „national – kosmopolitisch“ und „konservativ – liberal“ vorkommen. Die Tatsache, dass die meisten so titulierten Personen keinerlei Verbindung zum Judentum haben und meist aus rein polnischen Familien stammen, wird mithilfe von Verschwörungstheorien entkräftet, in denen z. B. ← 23 | 24 auf das Konstrukt der Kryptojuden zurückgegriffen und behauptet wird, dass diese Akteure ihre jüdische Abstammung erfolgreich verbergen würden.

Die Vorstellung von der Existenz vieler offen auftretender und im Geheimen operierender Juden in politischen, medialen und kulturellen Machtpositionen ermöglicht eine Essentialisierung der Macht als ethnisch fremd, während die wahren Polen immer als Opfer der Verhältnisse angesehen werden und suggeriert wird, dass diese auf einer Skala der Verteilung von Führungspositionen und dem Zugang zu wichtigen materiellen und symbolischen Ressourcen relativ weit unten angesiedelt seien. Die Verknüpfung der beiden konzeptuellen Metaphern von oben und unten sowie von fremd und eigen führt in einigen Diskursen zu einer Ethnisierung sozialer Konfliktlagen und zu einer fieberhaften Suche nach Indizien für den Einfluss fremder Interessen, wie sie exemplarisch bei der Unterstellung einer nichtpolnischen Abstammung von Politikern zum Ausdruck kommt, die den jeweiligen politischen Vorstellungen und Interessen von Kritikern der jeweils vorherrschenden Politik nicht (länger) entsprechen.

1.1.6     Die Ereignisse in Auschwitz nach 1990

Eine der wichtigsten Auseinandersetzungen um die Deutungshoheit einiger wichtiger Aspekte der jüngeren polnischen Geschichte fand im Zusammenhang mit der symbolischen Inbesitznahme des Erinnerungsortes Auschwitz sowie der Diskussion um Rolle und Bedeutung dieses Ortes statt.15 Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes wurde es möglich, Auschwitz sowohl zu einem diskursiven Ort zu machen als auch ganz konkret zu instrumentalisieren. Die katholische Kirche machte dabei einen schon lange von ihr vertretenen Standpunkt geltend, der in Auschwitz in erster Linie eine Stätte polnischen Leidens sowie einen legitimen Ort christlichen Gebets und der Sühne für die dort verübten Verbrechen sah. Folgerichtig wurde auf einem in den Besitz der Kirche gelangten Grundstück am Rand des Konzentrationslagers ein Kloster des Ordens der Karmelitinnen errichtet, der diese beiden Funktionen erfüllen sollte. Es dauerte nicht lange, bis die jüdische Öffentlichkeit in scharfer Form gegen diese aus ihrer Sicht christliche Vereinnahmung des Konzentrationslagers protestierte. Sie konfrontierte die polnische Öffentlichkeit mit der Tatsache, dass Juden die überwältigende Mehrzahl unter den Opfern des Konzentrationslagers gestellt hatten und diese Tatsache in keiner Weise relativiert werden durfte. Die Monstrosität des Holocaust entzog sich nach Meinung der meisten rabbinischen Autoritäten des Judentums einer sinn ← 24 | 25 vollen religiösen Interpretation, weshalb auf jegliche religiöse Symbolik an diesem Ort verzichtet werden sollte, was explizit auch den Verzicht auf jüdische religiöse Symbole bedeutete. Im polnischen Klerus gab es in Bezug auf diesen Punkt kontroverse Auffassungen, was binnen kurzer Zeit zu einem kleinen Kulturkampf innerhalb der katholischen Kirche führte, wobei sich auf der einen Seite die konservativen Vertreter des Episkopats, mit Kardinal Glemp an der Spitze, als Verteidiger des Rechts der Karmelitinnen auf Anwesenheit in Auschwitz, auf der anderen Seite, als Gegner dieses Diskurses, jüngere Priester, die einen Dialog mit der jüdischen Seite suchten, gegenüberstanden. Es dauerte trotz entsprechender Beschlüsse ziemlich lange, bis – wie es scheint, durch eine Intervention des Papstes – die Ordensschwestern bereit waren, an einen anderen Ort umzuziehen.

Nahezu zeitgleich erhob sich am gleichen Ort ein weiterer Streit. Diesmal war ein anlässlich des Papstbesuches errichtetes großes Holzkreuz Auslöser der Kontroverse. Dieses eigentlich als Interimslösung nur für den Papstbesuch vorgesehene Kreuz erlangte nun im Licht der vorhergehenden Diskussion eine zusätzliche und grundsätzliche Bedeutung als religiöser und allgemeiner Ausdruck des Leidens in Auschwitz – wobei sich im Rückblick bei dieser Debatte eine national-polnische nicht sinnvoll von einer universalen Perspektive trennen lässt. Als das sog. Papstkreuz (poln. krzyż papieski) entfernt wurde, stellten Unbekannte über Nacht eine Vielzahl von kleineren Kreuzen auf. Bei jedem Versuch der Entfernung dieser Kreuze wurden über Nacht desto mehr neue Kreuze errichtet, so dass bald ein kleiner Wald aus Kreuzen entstand. Das Verfahren hatte Vorbilder in der polnisch-litauischen Geschichte, wo am sog. Berg der Kreuze in der Nähe der litauischen Stadt Šiauliau (poln. Szawle) im Anschluss an die polnischen Aufstände als Zeichen des Protestes gegen die russische Annexion und die Russifizierungspolitik Petersburgs ein Monument entstand, das bis heute immer weiter angewachsen ist. Erst nach langem Hin und Her, großem medialen Interesse und unter schweren Auseinandersetzungen innerhalb der polnischen Kirche wurden die Kreuze endgültig abgeräumt und einige Kilometer entfernt im Ort Hermęże wieder aufgestellt. Am Ende war das Ansehen der polnischen Kirche und des jungen unabhängigen Staates in Israel, der jüdischen Weltöffentlichkeit und unter den Opfern beschädigt. Auch wenn man die Argumentation der katholischen Kirche aus deren Sichtweise als konsequent bezeichnen und somit zu einem gewissen Grad nachvollziehen kann, ließen viele Würdenträger jede Empathie bzw. ein grundlegendes Verständnis für die berechtigten Einwände der Opfer und ihrer Nachfahren schmerzlich vermissen. ← 25 | 26

1.1.7     Problematisierungsspirale in modernen Medien

An diesem Ereignis lässt sich beispielhaft ein Problem zeigen, das auch in den nachfolgenden Debatten eine wichtige Rolle spielen sollte: Die Schwierigkeit des Perspektivwechsels, d. h. der Fähigkeit, einen Konflikt aus dem Blickwinkel der anderen involvierten Seite zu sehen. Damit verbunden zeigt sich bei vielen Gesprächspartnern an den diskursiven Rändern eine Tendenz zum Monologisieren, dass heißt zum Vorbringen immer gleicher Argumente, zwar zugegebenermaßen in vielfältigen Paraphrasen, aber ohne substantiellen Fortschritt in der Argumentation. Schon gar keine Rede kann in diesen Fällen davon sein, dass man Einwände der anderen Seite berücksichtigt und so zu einer neuen Qualität der Debatte gelangt. Stattdessen finden sich im Zentrum der Argumentation gegenseitige Schuldzuweisungen, in denen oft Ursache und Wirkung miteinander verwechselt und einzelne unsachliche Reaktionen der anderen Seite zu einer für diese typische Haltung verabsolutiert werden (wie das aggressive Eindringen des New Yorker Rabbiners Avraham Weiss auf das Terrain des Karmelitinnenklosters 1989)16. Diese Technik der Abwälzung der Verantwortung für das eigene Tun auf vermeintliche oder tatsächliche Intentionen und Handlungen der Gegenseite verdrängt und ersetzt dabei die notwendige Auseinandersetzung mit dem eigenen Standpunkt.

Nun kann berechtigterweise eingewendet werden, dass dieser Vorwurf nur einen Teil der Diskursteilnehmer trifft. Es handelt sich allerdings um eine entscheidende Gruppe, da diese durch ihre schrillen und extremen Argumentationen die Struktur und den Ton der Debatte bestimmt. Diese Beobachtung leitet zu einem Folgeproblem über: Wir leben in einer Medienwelt, die sich am Massengeschmack orientiert und in der sich die verschiedenen Medien scheinbar für eine Demokratisierung engagieren oder dies zumindest ausnahmslos behaupten, da sie unabhängig von der Informiertheit und der Qualität der jeweiligen Äußerung allen Einzelstimmen Gehör verschaffen wollen. Gleichzeitig findet aber auch eine Vorauswahl der Meinungsäußerungen statt, denn die Aussagen sollen pointiert und konzis sein und den Leser oder Zuschauer fesseln, ohne ihn zu überfordern. Dadurch herrscht eine deutliche Tendenz vor, in den Medien besonders explizite und oft extreme Meinungen zu verbreiten und zu diskutieren, was zu einer Spirale der hyperbolischen Problematisierung von Themen führt. Im Zusammenhang damit ist auch die zunehmende Orientierung an den Prinzipien der Oralität und der Visualisierung in der Berichterstattung zu beachten.17 ← 26 | 27

Der gleiche – global wirksame – Prozess führt dazu, dass auch im Ausland nicht in erster Linie die besonnenen Stimmen der Mehrheit der Diskursteilnehmer gehört werden, sondern den Äußerungen einer schrillen Minderheit übermäßige Aufmerksamkeit geschenkt wird. Das kann im Extremfall dazu führen, dass man im Ausland über ein konträreres Bild der Ereignisse und Debatten oder ihrer Gewichtung und Bedeutung verfügt als im Inland bzw. dass das Bild von der öffentlichen Meinung dieses Landes in einem anderen hauptsächlich über extreme Äußerungen geprägt wird. So wurde die Debatte um Jedwabne in den USA, Israel und Deutschland einseitig von vielen als Beweis für die Vitalität des Antisemitismus in Polen angesehen, während in Polen viele Forscher angesichts der Qualität der Debatte darauf hinwiesen, dass diejenigen, die bereit sind, sich den schwierigen Auseinandersetzungen der polnischen Geschichte zu stellen, inzwischen zahlreicher sind als die konservativen Verteidiger des „guten Namens“ Polens.18 Da extreme Meinungen oft besonders griffig, plastisch und eindeutig zu sein scheinen und unser Bild von politischen und sozialen Konflikten über die Medien vermittelt wird, kommt es zu einer Hypostasierung von entsprechenden Aussagen, deren Inhalte den Diskursträgern (bzw. im Extremfall allen Mitgliedern einer Gemeinschaft) als essentielle Eigenschaften zugeschrieben werden. Im Land selbst werden sie dagegen bestimmten ideologischen Lagern zugeordnet. Wird die Perspektive durch eine Außenperspektive grobkörniger, besteht die Gefahr, dass die außenstehenden Beobachter solche unterstellten Eigenschaften ganzen ethnischen Gruppen, Nationen oder gar Kontinenten/„Rassen“ essentiell zuschreiben. In diesem Zusammenhang ist der Satz bekannt geworden, den der ehemalige israelische Premier Shamir in einem Interview für die „Jerusalem Post“ geprägt hat, dass die Polen den Antisemitismus mit der Muttermilch aufgesogen hätten.19 ← 27 | 28

1.1.8     Die Diskussion um die Schuld der Juden am Schicksal Polens

Diese Kontroverse geht der im Zusammenhang damit stehenden Diskussion der Schuld der Polen am Schicksal der Juden zeitlich voran. Es können zwei unterschiedliche Stränge unterschieden werden. Zum einen handelt es sich um die Debatte um die Kollaboration der Juden mit den kommunistischen Besatzern 1939 bzw. 1941 sowie unmittelbar nach dem Krieg, die im Bild von den Juden um die Schlüsselwörter „Illoyalität“ und „Verrat“ kreist. Den anderen Strang bildet die Diskussion um den Anteil der Juden an der Errichtung des kommunistischen Regimes und an den Machtpositionen im Staat und der kommunistischen Partei sowie ihre Beteiligung im Amt für staatliche Sicherheit, in denen die Schlüsselwörter „Schuld“, „Macht der Juden“, „Überrepräsentation“ und „Grausamkeit der Juden“ im Vordergrund stehen. Im ersten Fall wird diskutiert, ob die Mehrheit der Juden die sowjetische Okkupation begrüßt habe, in welchem Maß die Juden mit der Besatzungsmacht zusammengearbeitet haben und wie groß der Widerhall der kommunistischen Propaganda unter der jüdischen Jugend gewesen ist. Am rechten Rand wurden entsprechende Phantasien entwickelt, die sich zumeist auf die Kollaboration und Schuld der jüdischen Elite an der „Vernichtung der armen Juden im Ghetto“ beziehen.20 Eine solche Aufspaltung in „gute“ und „böse“ Juden macht es übrigens auch möglich, die Dämonologie und die globale Schuld der „bösen“ Juden (der überlebenden und reichen Juden) aufrechtzuerhalten und gleichzeitig den unbestreitbaren Opferstatus (der ermordeten und armen Juden) nicht rundweg leugnen zu müssen.

1.1.9     Die Diskussion um die Schuld der Polen am Schicksal der jüdischen Bevölkerung

Die der im vorhergehenden Abschnitt behandelten Frage entgegengesetzte Blickrichtung nahm lange keinen prominenten Platz in der Auseinandersetzung der Polen mit ihrer eigenen Geschichte ein. Die „polnische Schuld“ wurde in den achtziger Jahren überwiegend von im Ausland lebenden polnischen Juden thematisiert. Einer breiten Öffentlichkeit in Polen wurde das Problem erstmals durch Claude Lanzmanns Film Schoah (1985) bekannt. Das dort gezeichnete Bild des hässlichen, weil antisemitischen Polen wurde damals aber vom Staat ← 28 | 29 und auch von der Bevölkerung einhellig abgelehnt. Dabei handelte es sich um eine der wenigen Übereinstimmungen zwischen kommunistischer Führung und Volk, die sich immer dann kurzfristig einstellten, wenn es dem Staat gelang, die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass er gemeinsame patriotische Werte verteidigte. Die Polen waren zu sehr in ihrer eigenen Opferrolle befangen und die Diskussion um polnische Schuld galt als Nestbeschmutzung oder gar als Provokation. Texte, die sich mit polnischer Schuld und Verantwortung auseinandersetzten, entstanden erst seit Ende der achtziger Jahre.21

Sie blieben jedoch mit Ausnahme enger Expertenkreise im Großen und Ganzen unbeachtet. Eigentlich wurde eine nennenswerte Debatte über diese Themen erst durch die Bücher von Jan Tomasz Gross ausgelöst. Es handelt sich um die Werke Sąsiedzi (Nachbarn), Strach (Angst) und Złote Żniwa (Goldene Ernte), die zwischen 2000 und 2011 erschienen sind. Gross wagte es, das Thema polnischer Mithilfe bei der Ermordung von Juden während und nach dem Zweiten Weltkrieg sowie den Raub jüdischen Eigentums zum Hauptthema von drei nicht sehr umfangreichen Monographien zu machen. Nicht das, was der Autor zu sagen hatte, war besonders neu oder originell, sondern wie er es sagte sowie die Tatsache, dass seine Bücher von sehr vielen Polen gelesen und seine Thesen in zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften breit und kontrovers diskutiert wurden. Und erstmals trafen die Aussagen nicht mehr nur auf Ablehnung oder eine Mauer des Schweigens, sondern wurden von vielen Polen als Eingeständnis polnischer Schuld akzeptiert. Wichtig war dabei nicht so sehr, ob die vom Autor teilweise in provozierender Weise vorgetragenen Thesen im Einzelnen als zutreffend oder als übertrieben angesehen wurden, sondern dass die Polen die Möglichkeit polnischer Verfehlung überhaupt in Erwägung zogen und diskutierten. Viele Vertreter der rechten und konservativen Kreise in der Geschichtswissenschaft, in Kirche und Politik waren nach wie vor dazu entweder nicht bereit oder koppelten das Eingeständnis polnischer Verfehlungen mit einer Diskussion über angebliche Fehltritte und Unterlassungen auf jüdischer Seite, wodurch es zu einer gegenseitigen Aufrechnung von Schuld kam. Eine weitere Strategie gemäßigter Konservativer war die Betonung, die sie auf die Entfremdung vieler Juden von ihrer polnischen Heimat legten. ← 29 | 30 Dies habe automatisch zu einer Annäherung vieler Juden an die Kommunisten und zu einer Zusammenarbeit mit den sowjetischen Okkupanten geführt.22

Problematisch an dieser Argumentation ist, dass sie zwar wichtige Motive für das Verhalten einer bestimmten Gruppe von Juden richtig benennt, aber in expliziter Weise entweder die Haltung einer Minderheit unter den Juden generalisiert und zur Haltung aller oder der meisten Juden deklariert oder aber durch die starke Konzentration auf Personen im Umfeld der kommunistischen Herrschaft zumindest implizit den Umfang und die Reichweite der jüdischen Identifikation mit den Besatzern überbetont. Dabei wird Folgendes oft übersehen: Die meisten Juden zeigten keine Sympathien für den Kommunismus, Juden waren zwar unter den vergleichsweise wenigen Kommunisten und Mitgliedern der Repressionsapparate (einige Tausend insgesamt) überdurchschnittlich stark vertreten;23 unter den vergleichsweise viel zahlreicheren Opfern der Sowjets und unter den zu Hunderttausenden nach Sibirien deportierten polnischen Bürgern befanden sich aber ebenfalls prozentual weit mehr Juden, als ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung entsprochen hätte – was diesen in einer Art Ironie des Schicksals später größere Überlebenschancen als den in Polen verbliebenen Schicksalsgenossen einräumte. Auch die immer wieder angeführte Überrepräsentation der Juden unter den Kommunisten und den Mitgliedern des Amtes für Staatssicherheit relativiert sich nicht nur dadurch, dass man die Nachkriegsperspektiven und Hoffnungen einer zu 90 % ausgerotteten Minderheit mit berücksichtigt, denen der Kommunismus die tatsächliche Gleichberechtigung und das Niederreißen der Trennungsmauern von der Mehrheitsbevölkerung in Aussicht stellte, sondern auch, indem man, statt den Anteil der Juden unter der Gesamtbevölkerung des Landes zu betrachten, ihren Anteil an der Bevölkerung polnischer Großstädte in Anschlag bringt. Etwa ein Drittel der urbanen Bevölkerung im Vorkriegspolen waren Juden; fast alle Juden und nahezu alle Kommunisten und Arbeiter wohnten ebenfalls in den Städten. ← 30 | 31

Details

Seiten
574
Jahr
2018
ISBN (PDF)
9783631756317
ISBN (ePUB)
9783631756324
ISBN (MOBI)
9783631756331
ISBN (Paperback)
9783631748701
DOI
10.3726/b14123
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Januar)
Schlagworte
Semantik Antisemitismus Polen Moderne Geschichte Theologie
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2018, 573 S.

Biographische Angaben

Stefan Gehrke (Autor:in)

Stefan Gehrke absolvierte 1998 sein Magisterstudium Geschichte und Judaistik.1992-2002 arbeitete er als Jugendbildungsreferent. 2003-2009 war er im Auszahlungsprogramm für ehemalige osteuropäische und jüdische Zwangsarbeiter der Stiftung EVZ tätig. 2009-2015 beschäftigte er sich als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Slawistik HU Berlin mit dem DFG-Projekt «Sacrum und Profanum».

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Titel: Jedwabne und die Folgen
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