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Deuteronomium 10,12-11,32: Gottes Hauptgebot, der Gehorsam Israels und sein Land

Eine Neuuntersuchung

von Alexander Kraljic (Autor:in)
©2018 Dissertation 580 Seiten

Zusammenfassung

Die Studie behandelt mit Dtn 10,12-11,32 einen bislang wenig beachteten Abschnitt des Deuteronomiums. Im ersten synchronen Hauptteil wird die Perikope nach text- und sprachwissenschaftlichen Kriterien untersucht und ihre literarische und rhetorische Struktur erschlossen. Der zweite diachrone Teil widmet sich der literargeschichtlichen und theologischen Analyse des Textes. Dieser besteht aus einem vermutlich vorexilischen Kern, der während und nach dem Exil sukzessiv erweitert wurde. Dtn 10,12ff. erweist sich dabei nicht nur als Keimzelle des paränetischen Rahmenwerkes des Deuteronomiums, sondern spiegelt zugleich auch dessen theologiegeschichtliche Entwicklung wider.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhalt
  • Einleitung
  • TEIL I: SYNTAKTISCH-RHETORISCHE ANALYSE
  • 1 Aufgabe und Ziel einer syntaktisch-rhetorischen Analyse
  • 1.1 „Syntax“ und „Rhetorik“ – Zwei gegensätzliche Kategorien?
  • 1.2 Divergierende Entwürfe einer „rhetorischen Analyse“
  • 1.3 Kunstprosa und die Problematik des masoretischen Akzentsystems
  • 1.4 Konzept einer „syntaktisch-rhetorischen Analyse“
  • 2 Syntaktisch-rhetorische Analyse der einzelnen Sinneinheiten
  • 2.1 Der Umfang der Texteinheit
  • 2.2 Analyse der einzelnen Sinneinheiten
  • 2.2.1 Dtn 10,12–13 (Sektion I)
  • 2.2.2 Dtn 10,14–19 (Sektion II)
  • 2.2.3 Dtn 10,20–11,1 (Sektion III)
  • 2.2.4 Dtn 11,2–7 (Sektion IV)
  • 2.2.5 Dtn 11,8–12 (Sektion V)
  • 2.2.6 Dtn 11,13–17 (Sektion VI)
  • 2.2.7 Dtn 11,18–21 (Sektion VII)
  • 2.2.8 Dtn 11,22–25 (Sektion VIII)
  • 2.2.9 Dtn 11,26–32 (Sektion IX)
  • 2.3 Ergebnis
  • 3 Die literarische Gesamtstruktur
  • 3.1 Der Aufbau von Dtn 10,12–11,32 im Lichte der Forschung
  • 3.2 Die literarische Struktur von Dtn 10,12–11,32
  • 3.2.1 Rekonstruktion eines Grundgerüstes
  • 3.2.2 Einbindung der übrigen Abschnitte
  • 3.2.3 Auswertung und Folgerungen
  • 3.3 Die rhetorisch-narrative Struktur des Textes
  • 3.3.1 Die fiktive Ebene
  • 3.3.2 Die Ebene des impliziten Autors bzw. Lesers
  • 3.3.3 Die Ebene des realen (= aktuellen) Lesers
  • 3.4 Ergebnis
  • TEIL II: Literargeschichtlich-Theologische Analyse
  • 4 Eckdaten der bisherigen literargeschichtlichen Diskussion
  • 4.1 Vorbemerkungen
  • 4.2 Erklärungsversuche auf Basis eines Schichtenmodells
  • 4.2.1 Quellenscheidung aufgrund des ‚Numeruswechsels‘
  • 4.2.2 Quellenscheidung aufgrund terminologischer und inhaltlicher Kriterien
  • 4.3 Erklärungsversuche auf Basis eines Blockmodells
  • 4.4 Die Verbindung von Schichten- und Blockmodell durch Norbert Lohfink
  • 4.5 Folgerungen
  • 5 Diachrone Analyse von Dtn 10,12–11,32
  • 5.1 Signale auf der Strukturebene – ein Kerntext mit Fortschreibungen?
  • 5.2 Literarkritische Untersuchung von Dtn 11,18–32
  • 5.2.1 Dtn 11,18–21
  • 5.2.2 Dtn 11,22–25
  • 5.2.3 Dtn 11,26–32
  • 5.2.4 Zusammenfassung und Auswertung
  • 5.3 Literarkritische Untersuchung von Dtn 10,12–11,17
  • 5.3.1 Dtn 10,12–11,17 als ursprüngliche Einheit? – Literarkritische Hinweise aus Dtn 9–10 und 5–6
  • 5.3.2 Das Verhältnis zu Dtn 7 und 8 als Gegenprobe
  • 5.3.3 Die literargeschichtliche Entwicklung von Dtn 10,12–11,17
  • 5.4 Ergebnis
  • 6 Das theologische Profil von Dtn 10,12–11,32
  • 6.1 Die Theologie von Dtn 10,12–11,32 im Kontext seiner Literargeschichte
  • 6.1.1 Die Kernperikope Dtn 10,12–11,17*
  • 6.1.2 Die erweiterte Perikope Dtn 10,19; 11,8*.18–32
  • 6.2 Dtn 10,12–11,32 im Spiegel der redaktionsgeschichtlichen Entwicklung des Deuteronomiums
  • 6.2.1 Gehorsam zwischen Segen und Fluch: Dtn 6,10–15.20–25; 10,12–11,17; 26,17–19; 27,1.9–10; 28,1–44
  • 6.2.2 Rechtsauslegung durch Rahmung: Dtn 5,1; 6,2–3; 11,18–21.26–12,1; 26,16; 31,9–13
  • 6.2.3 Verdienst oder Gabe: Rechtfertigung nach DtrN und DtrÜ
  • 6.2.4 Umkehr und Gnade: Dtn 4 und 29–30
  • 6.3 Ergebnis
  • Zusammenfassung
  • Summary
  • ANHANG 1: Sprechzeilengliederung von Dtn 10,12–11,32
  • ANHANG 2: Übersetzung von Dtn 10,12–11,32
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Literaturverzeichnis
  • Bibelstellenverzeichnis
  • Reihenübersicht

Alexander Kraljic

Deuteronomium 10,12-11,32:
Gottes Hauptgebot, der Gehor-
sam Israels und sein Land

Eine Neuuntersuchung

Autorenangaben

Alexander Kraljic studierte katholische Theologie und Orientalistik an der Universität Wien. Neben seiner Tätigkeit in der Erzdiözese Wien lehrt er orientalische Sprachen, Altes Testament und Kulturgeschichte des Nahen Ostens bei den Theologischen Kursen und anderen Einrichtungen.

Über das Buch

comDie Studie behandelt mit Dtn 10,12-11,32 einen bislang wenig beachteten Abschnitt des Deuteronomiums. Im ersten synchronen Hauptteil wird die Perikope nach text- und sprachwissenschaftlichen Kriterien untersucht und ihre literarische und rhetorische Struktur erschlossen. Der zweite diachrone Teil widmet sich der literargeschichtlichen und theologischen Analyse des Textes. Dieser besteht aus einem vermutlich vorexilischen Kern, der während und nach dem Exil sukzessiv erweitert wurde. Dtn 10,12ff. erweist sich dabei nicht nur als Keimzelle des paränetischen Rahmenwerkes des Deuteronomiums, sondern spiegelt zugleich auch dessen theologiegeschichtliche Entwicklung wider.

Zitierfähigkeit des eBooks

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Vorwort

Als mir Georg Braulik als Dissertationsthema eine Untersuchung zu Dtn 10,12–11,32 vorschlug, ahnte ich nicht, was mich dabei erwarten würde. Mit der Mehrheit der Autoren ging ich davon aus, dass es sich dabei um einen relativ späten Text handelt, der einfach deswegen im Vergleich zu anderen Abschnitten des Deuteronomiums bisher „weniger“ untersucht worden ist, weil die darin angesprochenen Themen ohnedies bereits an verschiedenen anderen Stellen und dort meist klarer und ausführlicher behandelt wurden. Ich musste bald erkennen, dass dem nicht so ist. Der erste Irrtum war, dass es überhaupt Stellen im Deuteronomium gibt, die nicht bereits in unzähligen Beiträgen bearbeitet worden sind (was freilich noch nichts über den Gehalt dieser Publikationen aussagt), der zweite, dass die literargeschichtlichen Verhältnisse in diesen eineinhalb Kapiteln tatsächlich so eindeutig sind, wie eingangs erwähnt.

Dass ich im Dickicht der in der Forschung vertretenen Theorien und Hypothesen nicht vollends die Orientierung verloren habe, ist vor allem zwei Umständen zu verdanken: erstens den detaillierten Korrekturen und Literaturhinweisen von Georg Braulik, die mir geholfen haben, verwinkelte, aber begehbare Wege von Sackgassen zu unterscheiden, und zweitens den zahlreichen wertvollen Beobachtungen in den Publikationen von Norbert Lohfink, die, auch wenn sie zum Teil ursprünglich in einem anderen Kontext geäußert wurden, sich in den allermeisten Fällen bestätigt haben. Beiden möchte ich deshalb in ganz besonderer Weise danken. Mein Dank richtet sich außerdem an Ludger Schwienhorst-Schönberger für wertvolle Hinweise zum Thema „Rhetorik“ sowie einmal mehr an Georg Braulik für die Aufnahme meiner Dissertation in die von ihm betreute Reihe der Österreichischen Biblischen Studien. Vor allem aber gilt meine Dankbarkeit meiner Familie, die mir während meiner Forschung große Geduld entgegengebracht und in dieser Zeit auf vieles verzichtet hat.

Methodisch, inhaltlich und theologisch habe ich insbesondere aus den Werken von Norbert Lohfink eine Fülle von Anregungen und Ideen empfangen, die in unterschiedlicher Weise in die vorliegende Arbeit eingeflossen sind. In Bewunderung seines Wissens und seiner Kreativität möchte ich ihm deshalb diese Studie widmen.

Wien, im November 2017 Alexander Kraljic←5 | 6→ ←6 | 7→

Inhalt

Einleitung

TEIL I: SYNTAKTISCH-RHETORISCHE ANALYSE

1 Aufgabe und Ziel einer syntaktisch-rhetorischen Analyse

1.1 „Syntax“ und „Rhetorik“ – Zwei gegensätzliche Kategorien?

1.2 Divergierende Entwürfe einer „rhetorischen Analyse“

1.3 Kunstprosa und die Problematik des masoretischen Akzentsystems

1.4 Konzept einer „syntaktisch-rhetorischen Analyse“

2 Syntaktisch-rhetorische Analyse der einzelnen Sinneinheiten

2.1 Der Umfang der Texteinheit

2.2 Analyse der einzelnen Sinneinheiten

2.2.1 Dtn 10,12–13 (Sektion I)

2.2.2 Dtn 10,14–19 (Sektion II)

2.2.3 Dtn 10,20–11,1 (Sektion III)

2.2.4 Dtn 11,2–7 (Sektion IV)

2.2.5 Dtn 11,8–12 (Sektion V)

2.2.6 Dtn 11,13–17 (Sektion VI)

2.2.7 Dtn 11,18–21 (Sektion VII)

2.2.8 Dtn 11,22–25 (Sektion VIII)

2.2.9 Dtn 11,26–32 (Sektion IX)

2.3 Ergebnis

3 Die literarische Gesamtstruktur

3.1 Der Aufbau von Dtn 10,12–11,32 im Lichte der Forschung

3.2 Die literarische Struktur von Dtn 10,12–11,32

3.2.1 Rekonstruktion eines Grundgerüstes←7 | 8→

3.2.2 Einbindung der übrigen Abschnitte

3.2.3 Auswertung und Folgerungen

3.3 Die rhetorisch-narrative Struktur des Textes

3.3.1 Die fiktive Ebene

3.3.2 Die Ebene des impliziten Autors bzw. Lesers

3.3.3 Die Ebene des realen (= aktuellen) Lesers

3.4 Ergebnis

TEIL II: Literargeschichtlich-Theologische Analyse

4 Eckdaten der bisherigen literargeschichtlichen Diskussion

4.1 Vorbemerkungen

4.2 Erklärungsversuche auf Basis eines Schichtenmodells

4.2.1 Quellenscheidung aufgrund des ‚Numeruswechsels‘

4.2.2 Quellenscheidung aufgrund terminologischer und inhaltlicher Kriterien

4.3 Erklärungsversuche auf Basis eines Blockmodells

4.4 Die Verbindung von Schichten- und Blockmodell durch Norbert Lohfink

4.5 Folgerungen

5 Diachrone Analyse von Dtn 10,12–11,32

5.1 Signale auf der Strukturebene – ein Kerntext mit Fortschreibungen?

5.2 Literarkritische Untersuchung von Dtn 11,18–32

5.2.1 Dtn 11,18–21

5.2.2 Dtn 11,22–25

5.2.3 Dtn 11,26–32

5.2.4 Zusammenfassung und Auswertung

5.3 Literarkritische Untersuchung von Dtn 10,12–11,17

5.3.1 Dtn 10,12–11,17 als ursprüngliche Einheit? – Literarkritische Hinweise aus Dtn 9–10 und 5–6

5.3.2 Das Verhältnis zu Dtn 7 und 8 als Gegenprobe←8 | 9→

5.3.3 Die literargeschichtliche Entwicklung von Dtn 10,12–11,17

5.4 Ergebnis

6 Das theologische Profil von Dtn 10,12–11,32

6.1 Die Theologie von Dtn 10,12–11,32 im Kontext seiner Literargeschichte

6.1.1 Die Kernperikope Dtn 10,12–11,17*

6.1.2 Die erweiterte Perikope Dtn 10,19; 11,8*.18–32

6.2 Dtn 10,12–11,32 im Spiegel der redaktionsgeschichtlichen Entwicklung des Deuteronomiums

6.2.1 Gehorsam zwischen Segen und Fluch: Dtn 6,10–15.20–25; 10,12–11,17; 26,17–19; 27,1.9–10; 28,1–44

6.2.2 Rechtsauslegung durch Rahmung: Dtn 5,1; 6,2–3; 11,18–21.26–12,1; 26,16; 31,9–13

6.2.3 Verdienst oder Gabe: Rechtfertigung nach DtrN und DtrÜ

6.2.4 Umkehr und Gnade: Dtn 4 und 29–30

6.3 Ergebnis

Zusammenfassung

Summary

ANHANG 1: Sprechzeilengliederung von Dtn 10,12–11,32

ANHANG 2: Übersetzung von Dtn 10,12–11,32

Abkürzungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

Bibelstellenverzeichnis←9 | 10→ ←10 | 11→

Einleitung

Wenn die Leserinnen und Leser des Deuteronomiums zur Perikope 10,12–11,32 gelangen, haben sie schon eine lange literarische Wegstrecke hinter sich. Seit Kap. 4 versucht Mose, wie Wellhausen es einst formulierte, „zur Sache [zu] kommen, kommt aber nicht dazu“.1 Nachdem er bereits die Verlautbarung der Gesetze und Rechtsentscheide angekündigt hat (5,1), verwickelt er sich in eine umfangreiche Schilderung dessen, was er und das Volk vor vierzig Jahren am Horeb erlebten, wie ihnen der Dekalog offenbart wurde und er selbst anschließend von JHWH die Gebote mitgeteilt bekam, die er das Volk lehren sollte. Ein zweiter Anlauf, das Gesetz vorzutragen, bleibt bei der Verkündigung des Hauptgebots (6,4 f.) stecken, die eine lange Paränese über die Bewahrung und Weitergabe der Gebote nach sich zieht, vor den Gefahren der Selbstzufriedenheit und Gottvergessenheit warnt und zur Abgrenzung gegenüber den religiösen Praktiken der Landesbewohner mahnt. Die Klage über Israels Halsstarrigkeit (9,6 f.) löst eine weitere Erzählung aus, wie es am Horeb, noch bevor der Bundesschluss vollendet war, durch die Sünde mit dem gegossenen Kalb fast zur Katastrophe gekommen wäre, die nur durch Moses beherzte Intervention gerade noch abgewendet werden konnte. Die Übergabe der neuen Tafeln, ihre Deponierung in der Lade und der darauffolgende Aufbruchsbefehl wecken die Erwartung, dass nun endlich die angekündigten Gesetze und Rechtsentscheide vorgetragen werden. Doch dann wird mit einer neuerlichen Paränese in Dtn 10,12–11,32 die Geduld der Leserinnen und Leser nochmals auf die Probe gestellt …

Ähnlich haben es wohl auch viele Kommentatoren des Deuteronomiums empfunden, zumindest drängt sich dieser Eindruck auf, wenn man manche Bewertungen liest: „… auch nicht ein einziger Gedanke, der nicht schon im Vorhergehenden bis zur Ermüdung vorgetragen worden wäre2, „…es will kaum gelingen, in diesem Stück einen ordentlichen Gedankengang nachzuweisen3, „… ein klarer Gedankengang lässt sich im gegenwärtigen Text nicht erkennen4, „… ganz brüchig, ohne strenge Gedankenfolge und voll von Wiederholungen5, „… aucun plan d’ensemble ne s’y révèle6, „… ausgesprochen undurchsichtig7, „… bereitet der Auslegung erhebliche←11 | 12→ Schwierigkeiten, weil […] ein logischer Gedankengang zu fehlen scheint8, „… a loosly structured collection of fragments of Deuteronomic preaching […], best be described as somewhat free-formed résumé of the already repetitive argument of the preceding parenetic/hortatory material9. Doch es gibt auch vereinzelte positive Stimmen, wenngleich sie im Chor der Kritiker leicht zu überhören sind: „… unquestionably one of the richest texts in the Hebrew Bible, exalted and poetic in its language, comprehensive and challenging in its message10, „… one of the loveliest, most powerful, most freighted summations of covenantal theology offered in the book of Deuteronomy11, „… hermeneutischer Schlüssel für die Funktion des vorderen Rahmens in Dtn 1–11 im Ganzen des Buches Deuteronomium12, um nur einige Beispiele zu nennen.

Tatsächlich scheint der Text auf den ersten Blick wenig Neues zu enthalten. Die meisten Aussagen finden sich in ähnlicher Form auch an anderen Stellen innerhalb des Rahmenwerkes und sind dort oft ausführlicher und klarer formuliert. So kann durchaus der Eindruck entstehen, dass jemand kurz vor der eigentlichen Präsentation der Gesetze und Rechtsentscheide verschiedenste Zitate und Anspielungen aus anderen Teilen der Einleitung zusammengestellt hat, um deren Hauptargumente nochmals in Erinnerung zu rufen.13 Bei näherem Hinsehen lässt sich jedoch feststellen, dass Dtn 10,12–11,32 auch eine Reihe von Aussagen und Motiven enthält, die innerhalb des Deuteronomiums einmalig sind, etwa die hymnischen Hoheitsaussagen in 10,14 („JHWH, deinem Gott, gehören der Himmel und die Himmel der Himmel, die Erde und alles, was auf ihr ist“), 10,17 („JHWH, euer Gott, ist der Gott der Götter und der Herr der Herren, der große, heldenhafte und furchterregende Gott“) und 10,21 („er ist dein Lobgesang, er ist dein Gott“), die Beschreibung der liebevollen Hinwendung JHWHs zu den Vätern und der Erwählung ihrer Nachkommen (10,15), der Verweis auf die Auswanderung nach Ägypten und die Vermehrung Israels „wie die Sterne des Himmels an Zahl“ (10,22), die Darstellung der Vernichtung der ägyptischen Streitmacht in den Fluten des Meeres sowie der Aufrührer Datan und Abiram in der Wüste (11,4.6), die Schilderung des einzigartigen Wasserreichtums (11,10–12) und der Fruchtbarkeit (11,14–15) des Landes, aber auch der katastrophalen Folgen des Ausbleibens der Niederschläge (11,17) und anderes mehr. Wenn Dtn 10,12–11,32 tatsächlich ein Resümee der vorausgehenden Abschnitte darstellt, drängt sich die Frage auf,←12 | 13→ weshalb man sich die Mühe gemacht hat, unmittelbar vor der Gesetzessammlung noch eigens Themenfelder anzusprechen, die weder davor noch danach eine Rolle spielen. Auf der anderen Seite finden sich innerhalb der Perikope Segmente, die eindeutig mit anderen Abschnitten des Buches in Beziehung stehen (z. B. 11,18–21 mit Dtn 6,6–9, 11,26–28 mit Dtn 28 oder 11,29 mit Dtn 27) und offenbar vor allem strukturierende Funktion haben. Besonders auffallend ist die wechselnde Abfolge von Gebotsforderungen und Aussagen über Israels Geschichte und die Eigenschaften des Landes, die im ersten Teil des Textes (10,12–11,12) nach dem Schema „Gebot – Begründung“, im zweiten Teil (11,13–17.22–25) in Form von Konditionalsätzen konzipiert sind. Die Perikope besitzt demnach nicht nur eine eigenständige literarische Gestalt, sondern auch ein spezifisches inhaltliches Profil. Dies soll im Folgenden an zwei Beispielen illustriert werden.

1) Norbert Lohfink hat darauf aufmerksam gemacht, dass Dtn 10,12–11,32 in seinem Gottesbild gewisse archaische Züge aufweist, durch die sich der Abschnitt von anderen Texten des Rahmenwerkes unterscheidet.14 Dazu zählen u. a. die Vorstellung von JHWH als Herrscher des Kosmos (10,14), als oberster Gott, furchterregender Krieger und unbestechlicher Richter (10,17), als Fürsorger und Beschützer der Waisen, Witwen und Fremden (10,18), als Spender von Regen und Fruchtbarkeit (11,12.14–15), aber auch als unerbittlicher Exekutor seines göttlichen Strafgerichts (11,4.6.17). Vor allem drei Aspekte sind dabei beachtenswert: a) die „polytheistische“ Diktion der Formulierung „Gott der Götter und Herr der Herren“ (10,17)15; b) JHWHs „königliche“ Funktion als gerechter Richter und Helfer gesellschaftlicher Randgruppen und c) seine Rolle im Kreislauf der Natur, die teilweise Züge altorientalischer Wettergottheiten trägt. Alle diese Momente sind eingebettet in die Kategorie des Bundes, der in der wiederholten Forderung des Hauptgebots nach ungeteilter Loyalität und Liebe gegenüber dem göttlichen Souverän zum Ausdruck kommt.

2) Dtn 10,12–11,32 ist wie kein anderer Text des Dtn durch das Wortfeld „Liebe“ geprägt. Insgesamt siebenmal begegnet innerhalb des Abschnitts die Wurzel bhalieben“ (10,12.15.18.19; 11,1.13.22), dazu kommen zwei Belege von qbdanhaften, sich anschmiegen, festhalten“ (10,20; 11,22) sowie einmal der Begriff qvxan jdm. hängen, mit jdm. eng verbunden sein, ins Herz schließen“ (10,15). Dabei lässt sich, wie Braulik festgestellt hat, eine Systematik im Wortgebrauch erkennen: Während 10,12–19 vier chiastisch verschränkte Aussagen mit Israel und JHWH als Subj.←13 | 14→ enthält (V. 12: Israel soll JHWH lieben – V. 15: JHWH hat die Väter geliebt – V. 18: JHWH liebt den Fremden – V. 19: Israel soll den Fremden lieben), bringen 11,1.13.22 durch die Verbindung von rmv bzw. [mv und bha zum Ausdruck, dass JHWH zu lieben vor allem bedeutet, sein Gesetz zu befolgen.16 Diese Forderung durchzieht als Hauptgebot die gesamte Perikope17 und ruft Israel in Erinnerung, dass es zuerst von Gott geliebt und erwählt wurde und seine eigene Liebe daher Antwort auf diese geschichtliche Erfahrung ist.18 Vor diesem Hintergrund löst sich auch die von heutigen Leserinnen und Lesern oft empfundene Spannung zwischen „Gottesfurcht“ und „Gottesliebe“ (10,12) auf, die sich als komplementäre Aspekte ein und derselben positiven Haltung gegenseitig auslegen und dadurch sicherstellen, dass Furcht nicht als Angst und Liebe nicht als unangemessene Vertraulichkeit missverstanden werden.19

Was die Datierung betrifft, betrachtet die Mehrheit der Autoren Dtn 10,12–11,32 als jungen Text, der erst in spät- oder sogar nachexilischer Zeit entstanden ist.20 Nur wenige halten es für möglich, dass einzelne Teile – insbes. in 10,12–11,17* – bereits vorexilischen Ursprungs sein könnten21, wofür neben der oben erwähnten Gottesvorstellung vor allem formkritische und stilistische Argumente ins Treffen geführt werden. Andererseits enthält die Perikope vor allem in ihrem Schlussteil zweifellos junge Passagen (häufig genannt werden etwa 11,22–25 oder 11,30), was auf ein kontinuierliches Wachstum des Textes hindeutet. Von Dtn 10,12–11,32 allein aus lässt sich diese Frage allerdings kaum entscheiden. Nur ein literarkritischer Vergleich mit anderen Texten des Rahmenwerkes kann dazu beitragen, das diachrone Verhältnis der Perikope zu den übrigen Teilen von Dtn 5–11 und gegebenenfalls darüber hinaus zu bestimmen. Dafür erscheint jedoch ein grundlegender methodologischer Perspektivenwechsel erforderlich. Wurde bisher die Frage nach der redaktionellen Zusammensetzung und Funktion von Dtn 10,12–11,32 fast ausschließlich im Rahmen von literargeschichtlichen Untersuchungen oder←14 | 15→ Kommentaren zur Einleitungsrede insgesamt gestellt und dabei jeweils die in den vorausgehenden Kapiteln gewonnenen Ergebnisse direkt oder indirekt auf den Schlussabschnitt übertragen, müsste, um etwaige literarkritische Interferenzen auszuschalten, zunächst einmal die Perikope selbst ins Zentrum der Betrachtung rücken. Dabei sind synchrone und diachrone Arbeitsschritte streng voneinander zu trennen. Erst wenn die syntaktischen, stilistischen und rhetorischen Eigenschaften des Textes in der vorliegenden Endgestalt erfasst und sein spezifischer Aussagegehalt erschlossen worden sind, ist ein redaktionskritischer Vergleich mit anderen Textabschnitten sinnvoll. Dieser darf sich freilich nicht auf eine Gegenüberstellung von einzelnen Formeln und Begriffen beschränken, sondern muss den jeweiligen strukturellen und inhaltlichen Kontext der Stellen sowie deren Aussageintention mit einbeziehen. Methodisch handelt es sich deshalb nicht um einen deskriptiven, sondern um einen analytischen Vorgang. Ziel der Untersuchung wäre eine ganzheitliche Sicht des Textes, bei der sich synchrone und diachrone Aspekte wie in einem Hologramm zu einem dreidimensionalen Bild verdichten.

Entsprechend diesen Kriterien umfasst die folgende Arbeit zwei unterschiedliche Hauptteile. Der synchron orientierte erste Teil ist der syntaktisch-rhetorischen Analyse von Dtn 10,12–11,32 gewidmet. Im 1. Kapitel werden anhand divergierender forschungsgeschichtlicher Ansätze Aufgabe und Ziel einer derartigen Untersuchung dargelegt und diese hinsichtlich der anzuwendenden Methodik definiert. Danach erfolgt im 2. Kapitel eine detaillierte sprachwissenschaftliche Beschreibung des Textes, der dafür in zusammenhängende Sinneinheiten gegliedert wird. Diese Abschnitte werden jeweils unter textkritischen, (makro-)strukturellen, syntaktischen und rhetorisch-stilistischen Gesichtspunkten analysiert, wodurch das literarische Profil von Dtn 10,12–11,32 schrittweise zutage tritt. Im 3. Kapitel wird anhand textimmanenter Gliederungssignale zunächst das strukturelle Gefüge der Perikope erhoben, wobei inhaltlich zwischen Haupt- und Nebenstrukturen zu unterscheiden ist, aus denen sich wiederum die einzelnen Argumentationslinien des Textes ableiten. Im Anschluss daran sollen die verschiedenen Kommunikationsebenen in ihrer Eigenart beschrieben und auf diese Weise die rhetorisch-narrative Struktur der Makroeinheit erfasst werden.

Der diachrone zweite Teil der Arbeit widmet sich der literargeschichtlich-theologischen Analyse des Textes. Im 4. Kapitel werden die forschungsgeschichtlichen Eckdaten der bisherigen Diskussion dargestellt und hinsichtlich ihres methodologischen Ansatzes systematisiert. Das 5. Kapitel befasst sich mit der Untersuchung der diachronen Gestalt von Dtn 10,12–11,32. Ausgehend von der oben vorgenommenen Gliederung in Sinnabschnitte und den Ergebnissen der sprachlichen Analyse werden Indizien für mögliche redaktionelle Zäsuren innerhalb der Makroeinheit erhoben und die betroffenen Stellen anschließend←15 | 16→ einem literar- und redaktionskritischen Vergleich mit Paralleltexten des dtn Rahmenwerkes und in einzelnen Fällen auch darüber hinaus unterzogen. Aus den gewonnenen Resultaten sollen sodann die Entstehungsgeschichte der Perikope rekonstruiert und eventuelle Vorstadien des heutigen Textes erschlossen werden. Im abschließenden 6. Kapitel wird das theologische Profil von Dtn 10,12–11,32 in den verschiedenen Phasen seiner Entwicklung beleuchtet. Dazu werden zuerst die kerygmatischen Schwerpunkte der einzelnen Stadien skizziert und diese danach im Kontext des dtn Rahmenwerkes entfaltet. Auf diese Weise entsteht ein Netz von theologischen Verbindungslinien, das nicht nur die literargeschichtliche Entwicklung der Perikope selbst, sondern auch die des Deuteronomiums insgesamt widerspiegelt. Ein Ausblick auf die Wirkungsgeschichte des Textes in Dtn 4 und 30, die vermutlich zu den jüngsten Teilen des Buches zählen, rundet die Untersuchung ab.←16 | 17→


1 Wellhausen, Composition, 193

2 Staerk, Deuteronomium, 67.

3 Bertholet, KHC, 33.

4 Steuernagel, HKAT1, 37; ähnlich HKAT2, 88.

5 Hölscher, Komposition, 172.

6 Buis, VSalAT, 177.

7 Achenbach, Israel, 378.

8 Veijola, ATD2, 244.

9 Biddle, SHBC, 177.

10 Wright, NIBC, 144.

11 Brueggemann, AOTC, 128.

12 Otto, HThK, 1018.

13 Vgl. dazu die Liste der entsprechenden Parallelen bei Miller (Int, 124).

14 Vgl. Lohfink, Gott, 118; Auslegung, 33 ff.; ähnlich Braulik, Geburt, 128 ff. Ähnliche Motive finden sich am ehesten noch in Dtn 28.

15 Dem entspricht, wie Braulik (SKK.AT, 50) aufgezeigt hat, die Identifizierung JHWHs mit „El, dem Schöpfergott und Götterkönig der kanaanäischen Götterwelt“ in der zweiten Hälfte von V. 17.

16 Vgl. Braulik, Liebe, 559 ff.; Gotteserkenntnis, 269.

17 Dass „Liebe“ hier vorrangig als ein juristisches Treueverhältnis definiert wird, schließt nicht aus, dass sie sich zugleich in einer persönlichen und gefühlvollen Beziehung verwirklicht (s. Braulik, Lust, 104; Liebe, 552), oder wie es Lapsley (Feeling, 369) ausdrückt: „The emotionally loving response to the deity is not an irrelevant footnote to obedience to the law, but is fundamental to a proper relationship with God.“

18 Vgl. Braulik, Gotteserkenntnis, 268.

19 Vgl. Arnold (Antinomy, 567): „Love prevents terror and fear prevents irreverent familiarity.“

20 So im deutschsprachigen Raum u. a. Preuss (Deuteronomium, 103), Achenbach (Israel, 378 ff.), Veijola (Bundestheologie, 208; ATD2, 4 f.242ff.) und Otto (HThK, 1027 ff.).

21 So u. a. Lohfink (Hauptgebot, 227 ff.; Gott, 112 f. [Anm. 45]), Braulik (SKK.AT, 49; Geburt, 131), Rose (ZBK, 342 ff.).

1 Aufgabe und Ziel einer syntaktisch-rhetorischen Analyse

1.1 „Syntax“ und „Rhetorik“ – Zwei gegensätzliche Kategorien?

Eines der auffälligsten Merkmale des Deuteronomiums ist seine elegante, einprägsame Sprache. Kunstvoll gebaute Perioden, durchwoben mit Alliterationen und Reimen, die bald breit und gleichmäßig dahinfließen, bald in staccatoartigen Rhythmen ins Ohr der Hörer dringen, bestimmen das Erscheinungsbild des Textes. Dem aufmerksamen Betrachter entgehen schwerlich die zahlreichen chiastischen, konzentrischen und parallelistischen Figuren, durch die bestimmte Wörter, Wortgruppen oder Motive in einen Textabschnitt eingebettet sind. Mit beständiger Beharrlichkeit kehren Formulierungen wieder, die äußerlich ident erscheinen, im Detail jedoch oft kleine Variationen enthalten und dadurch zugleich Vertrautheit und Neuartigkeit signalisieren. Weit entfernt von Monotonie und Gleichförmigkeit, steht die Sprache des Dtn ganz im Dienste ihrer Botschaft. Sie will mit rationalen und emotionalen Argumenten überzeugen und die Zuhörer zur Entscheidung rufen (vgl. 30,19). Sie versteht sich selbst als eine Sprache, die zu Herzen geht (vgl. 6,6; 10,16; 11,18), und allein diesem Zweck ist ihre äußere Eleganz untergeordnet.

So faszinierend und eindrucksvoll der Stil des Dtn erscheinen mag, so schwierig ist es, ihn in Regeln zu fassen.1 Ein erster Zugang bietet sich über die syntaktische Struktur des Textes.2 Diese bildet gewissermaßen den Bauplan, nach dem die phatischen Elemente einer Aussage in ihrer jeweiligen Position sowie in Relation zueinander definiert sind.3 Dieses Beziehungsgeflecht stellt nicht nur die äußere←19 | 20→ Einfassung der Sequenz dar, sondern ist zugleich ein Indikator für deren syntaktische Konsistenz. Die Kombination der einzelnen Komponenten erfolgt auf den Ebenen des Wortes, der Wortfügung, des Satzes und der Satzfügung4, wobei dem Verb aufgrund seiner Fähigkeit, Satzglieder an sich zu binden, zentrale Bedeutung zukommt.5 Diese Eigenschaft, die mit dem aus der Chemie entlehnten Begriff „Valenz6 bezeichnet wird, ermöglicht eine Unterscheidung zwischen grammatikalisch←20 | 21→ notwendigen „Syntagmen“ und fakultativen „Circumstanten7, die einzelne Glieder oder auch das Satzgefüge als Ganzes modifizieren.8 Unterschiedliche Valenzen können deshalb ein Indiz für Bedeutungsvarianten sein, wobei die semantische Prägnanz eines Verbums desto vager erscheint, je mehr syntaktische Kombinationsmöglichkeiten es zulässt.9 Während sich die Valenztheorie definitionsgemäß nur auf Verbalsätze bezieht, kann das Syntagmenmodell auch auf Nominalsätze angewendet werden. Die Funktion des Prädikats übernimmt hier jedoch ein Nominal- oder Präpositionalausdruck, der neben einem – in diesem Fall obligatorischen – Sy 1 (= Subj.) weitere syntagmatische Elemente binden kann.10 Einen Sonderstatus nehmen Partizipialsätze ein, deren Prädikat zwar formal in die Kategorie des Nomens fällt, die sich jedoch syntaktisch an der Verbalrektion ori←21 | 22→entieren.11 Im Unterschied zu anderen Sprachen ist im Althebräischen die Position des Prädikats in Verbalsätzen und verbalen Nominalsätzen (mit einer Form von hyh als Kopula)12 syntaktisch relevant: So dulden die sogenannten „Konsekutivtempora“13 wayyiqōl (PK-KF) und we-qāal keine weiteren syntagmatischen oder nicht-syntagmatischen Elemente vor sich und müssen, wo es die grammatikalische Struktur erfordert, durch (we-)x-qāal bzw. (we-)x-yiqōl (PK-LF) ersetzt werden.14 Doch auch die Abfolge der übrigen Satzglieder unterliegt bestimmten Regeln15 und kann vom Autor nur in eingeschränktem Maß verändert werden.16 Vor allem die Gestaltung des sog. „Vorfeldes“ (d. h. des Segmentes vom Satzbeginn bis zur Konstituente Verb) ist syntaktisch genau definiert17, während das „Hauptfeld“ (d. h. der Abschnitt nach dem Verb) sowie das Satzende weniger klare Normen erkennen lassen18 und in erster Linie dem Kriterium der Verständlichkeit verpflichtet sind.

Inwieweit ist eine syntaktische Analyse nun geeignet, Phänomene wie die deuteronomische Kunstprosa adäquat zu beschreiben? Jede sprachliche Äußerung (von experimenteller Lyrik vielleicht abgesehen) muss sich, um kommunikabel zu sein, auf bestimmte normative Muster stützen, die durch das jeweilige Idiom vorgegeben sind. Die syntaktische Struktur eines Textes bildet daher ein verlässliches Fundament für die Erschließung seiner Botschaft. Da ein Autor allerdings selten die angewandten linguistischen Prinzipien bewusst reflektiert, sondern sich←22 | 23→ ihrer entsprechend seiner literarischen Kompetenz bedient, ist es Aufgabe des Interpreten, mit sprachwissenschaftlichen Methoden den zugrundeliegenden syntaktischen Bauplan zu rekonstruieren. Eine morphologische Inventarisierung des Wortmaterials erlaubt einen ersten Einblick in das Textgefüge. Aus der Verteilung von verbalen und nominalen Formen, der Anzahl der verwendeten Adjektive und Deiktika, der Häufigkeit und Art von Präpositionen, Konjunktionen und anderen grammatikalischen Klassen lassen sich Erkenntnisse über die stilistische Gestaltungsweise gewinnen.19 Die Verklammerung der Elemente auf der Wortfügungsebene20 gibt nicht nur Aufschluss über die syntaktische, sondern zugleich auch über die semantische Dichte des Textes. Entscheidende Bedeutung kommt jedoch der Syntagmenbestimmung zu: Erst durch die Identifizierung von syntagmatisch-obligatorischen und circumstantial-fakultativen Gliedern erscheint eine Aussage über den Informationsgehalt eines Satzes überhaupt möglich. Syntaktische Leerstellen erfordern eine aktive Beteiligung sprachkompetenter Leser/innen bei der Rekonstruktion des Sinnpotentials, während stilistische Redundanz zwar ein Kriterium für die literarische Fähigkeit des Autors darstellt, jedoch keinen materiellen Erkenntnisgewinn vermittelt. Auf der Satzfügungsebene schließlich lassen die unterschiedlichen Arten der Verknüpfung – syndetisch/asyndetisch, koordinativ/subordinativ – und die damit zusammenhängende Wahl der Prädikatsform (wayyiqōl :: x-al, we-qāal :: x-yiqōl) die zeitlichen Relationen innerhalb des Textes zutage treten.21 Zugleich kommt mit der Bestimmung der Satzart←23 | 24→ (Affirmation, Frage, Aufforderung u. dgl.) sowie des Aussagemodus (Indikativ, Imperativ, Injunktiv, Jussiv u. dgl.) dessen pragmatische Dimension in den Blick und ermöglicht so den Übergang von einer deskriptiven zu einer funktionalen Definition von Grammatik.22

Details

Seiten
580
Jahr
2018
ISBN (PDF)
9783631757895
ISBN (ePUB)
9783631757901
ISBN (MOBI)
9783631757918
ISBN (Hardcover)
9783631756218
DOI
10.3726/b14221
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (September)
Schlagworte
Deuteronomium Literarkritik Rhetorik Redaktionsgeschichte Gesetzesparänese
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien. 2018. 6 s/w Abb., 114 s/w Tab.

Biographische Angaben

Alexander Kraljic (Autor:in)

Alexander Kraljic studierte katholische Theologie und Orientalistik an der Universität Wien. Neben seiner Tätigkeit in der Erzdiözese Wien lehrt er orientalische Sprachen, Altes Testament und Kulturgeschichte des Nahen Ostens bei den Theologischen Kursen und anderen Einrichtungen.

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Titel: Deuteronomium 10,12-11,32: Gottes Hauptgebot, der Gehorsam Israels und sein Land
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