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Gottfrieds ‹Tristan› lesen: Prolog, Haupttext, Wortpaare

von Magdalena Terhorst (Autor:in)
©2018 Dissertation 698 Seiten

Zusammenfassung

Der Band möchte nachweisen, dass es einen inhaltlichen Zusammenhang von Prolog und Haupttext in Gottfrieds ‹Tristan› gibt. Die Autorin macht dies insbesondere an Wortpaaren des Prologs fest, die im Haupttext wiederkehren. Mit Hilfe der Ergebnisse der Wortuntersuchungen gelingt es, den Prolog auf eine neue Art zu lesen – nämlich mit den Wortbedeutungen, die der Haupttext des mittelalterlichen Romans intendiert. Diese Lektüre geht weit über die bisher im Zentrum stehende rhetorische Bedeutung des Textstücks hinaus. Ein Ausblick auf Gottfrieds Fortsetzer, Hartmanns von Aue ‹Gregorius› und ‹Iwein› sowie Wolframs von Eschenbach ‹Parzival› belegt, dass es sich bei diesen Beobachtungen in Gottfrieds Text um ein bewusst gestaltetes Konzept handeln muss, das sich nur auf wenige Vorbilder stützen kann.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 0 Einleitung
  • 1 Ausgangspunkte und Grundlagen
  • 1.1 Forschungsüberblick zu Gottfrieds ‘Tristan’-Prolog
  • 1.1.1 Formaler Aufbau des Prologs
  • 1.1.2 Inhaltliche Interpretationen des Prologs
  • 1.2 Andere Prologe in der höfischen Dichtung des Mittelalters und mögliche Relationen dieser zu Gottfrieds ‘Tristan’-Prolog
  • 1.3 Einführung in Terminologie und Vorgehensweise dieser Arbeit
  • 1.3.1 Bisherige Forschungsansätze zu zweigliedrigen Ausdrücken
  • 1.3.1.1 Zur Terminologie der Forschung – von Zwillingsformel bis Wortpaar
  • 1.3.1.2 Exkurs: Zum Terminus Formel und zur Oral Formulaic Theory
  • 1.3.1.3 Zur zweiteiligen Form der Zwillingsformel
  • 1.3.1.4 Theorien zur Herkunft der Zwillingsformel
  • 1.3.1.4.1 (Antike) Stilmittel als Vorlage?
  • Dikola und bikola/bicola
  • Enumeratio
  • Accumulatio, frequentatio und hendiadyoin
  • Interpretatio
  • Wiederholung
  • Parallelvers
  • 1.3.1.4.2 Antike und mittelalterliche Vorbilder?
  • Cicero
  • Weitere Rhetoriker und Grammatiker der Antike und des Mittelalters
  • Altfranzösische Zwillingsformel
  • 1.3.1.5 Untergruppen der Zwillingsformel
  • Tautologische und antithetische Zwillingsformel
  • Alliterierende Zwillingsformel
  • Reimende Zwillingsformel
  • 1.3.1.6 Zwillingsformeln in Rechtstexten des Mittelalters
  • 1.3.1.7 Zwillingsformeln im Frühneuhochdeutschen
  • 1.3.1.8 Zwillingsformeln im Neuhochdeutschen
  • 1.3.1.9 Variation von Zwillingsformeln am Beispiel des (Alt- und Mittel-)Englischen
  • 1.3.2 Definition und Klassifikation der Termini Wortpaar, Paarwort, Einzelwort, Gruppenwort und Prologwort
  • 1.3.3 Begründung der Auswahl von Paar- und Gruppenwörtern
  • 1.3.4 Erläuterungen zur strukturellen Anordnung des Untersuchungsmaterials
  • 1.3.5 Erläuterungen zum Anhang
  • 1.3.6 Erläuterungen zu den Auswertungstabellen
  • 1.3.7 Bemerkungen zur semantischen Analyse des Untersuchungsmaterials
  • 1.3.8 Bemerkungen zur Auswahl der Textausgabe
  • 1.4 Genese und Rezeption des Romans
  • 2 Untersuchung von Gottfrieds ‘Tristan’
  • 2.1 Symmetrische Wortpaare mit Auftreten in dieser Form im Haupttext
  • 2.1.1 guot und übel
  • 2.1.1.1 Semantik
  • 2.1.1.2 Vorkommen und Verwendung im Haupttext
  • 2.1.1.2.1 Auftreten als Wortpaar
  • Textanalyse
  • Wortreihenfolge und Verhältnis der Wörter zueinander
  • 2.1.1.2.2 Auftreten als Einzelwörter
  • guot
  • guot und lîp
  • guot und lant
  • guot und gedenken
  • guot als Adjektiv-Attribut
  • übel
  • 2.1.2 êre unde lop
  • 2.1.2.1 Semantik
  • 2.1.2.2 Vorkommen und Verwendung im Haupttext
  • 2.1.2.2.1 Auftreten als Wortpaar
  • Textanalyse
  • Wortreihenfolge und Verhältnis der Wörter zueinander
  • 2.1.2.2.2 Auftreten als Einzelwörter
  • êre
  • êre âne êre
  • êre und guot
  • êre und lîp
  • lop
  • 2.1.3 mit herzen und mit munde
  • 2.1.3.1 Semantik
  • 2.1.3.2 Vorkommen und Verwendung im Haupttext
  • 2.1.3.2.1 Auftreten als Wortpaar
  • Textanalyse
  • Wortreihenfolge und Verhältnis der Wörter zueinander
  • 2.1.3.2.2 Auftreten als Einzelwörter
  • herze
  • herzesorge, herzesmerze und herzenôt
  • herze und hant
  • herze und lîp
  • herze und ouge
  • munt
  • munt und hant
  • munt und ouge
  • 2.1.3.2.3 Adjektiv-Attribut edele
  • Semantik
  • edelez herze
  • Weitere Verknüpfungen mit dem Adjektiv-Attribut edele
  • 2.1.4 liep unde leit
  • 2.1.4.1 Semantik
  • 2.1.4.2 Vorkommen und Verwendung im Haupttext
  • 2.1.4.2.1 Auftreten als Wortpaar
  • Textanalyse
  • Exkurs: herzeliep und herzeleit
  • Wortreihenfolge und Verhältnis der Wörter zueinander
  • 2.1.4.2.2 Auftreten als Einzelwörter
  • liep
  • liep und guot
  • liep mit êre
  • Exkurs: liep mit erbepfluoc
  • leit
  • leit unde haz
  • leit und jâmer
  • leit und laster
  • 2.1.5 herze und ôren
  • 2.1.5.1 Semantik
  • 2.1.5.2 Vorkommen und Verwendung im Haupttext
  • 2.1.5.2.1 Auftreten als Wortpaar
  • Textanalyse
  • Wortreihenfolge und Verhältnis der Wörter zueinander
  • 2.1.5.2.2 Auftreten des Einzelworts ôre
  • 2.2 Symmetrische Wortpaare mit Auftreten in anderer Form im Haupttext
  • 2.2.1 wegen unde stegen
  • 2.2.1.1 Semantik
  • 2.2.1.2 Vorkommen und Verwendung im Haupttext
  • 2.2.1.2.1 Gemeinsames Auftreten
  • Textanalyse
  • Wortreihenfolge und Verhältnis der Wörter zueinander
  • 2.2.1.2.2 Auftreten als Einzelwörter
  • wegen
  • stegen
  • 2.2.2 die rihte und die wârheit
  • 2.2.2.1 Semantik
  • 2.2.2.2 Vorkommen und Verwendung im Haupttext
  • 2.2.2.2.1 Gemeinsames Auftreten
  • Textanalyse
  • Wortreihenfolge und Verhältnis der Wörter zueinander
  • 2.2.2.2.2 Auftreten als Einzelwörter
  • rihte
  • reht und got
  • unreht
  • rihte im Haupttext
  • wârheit
  • wârheit und Unwahrheit
  • Quellenberufungen mit wârheit und wâr
  • 2.2.3 ir name und ir geschiht
  • 2.2.3.1 Semantik
  • 2.2.3.2 Vorkommen und Verwendung im Haupttext
  • 2.2.3.2.1 Gemeinsames Auftreten
  • Textanalyse
  • Wortreihenfolge und Verhältnis der Wörter zueinander
  • 2.2.3.2.2 Auftreten als Einzelwörter
  • name
  • geschiht
  • geschiht und ungeschiht
  • geschehen und guot
  • 2.3 Symmetrische Wortpaare ohne Auftreten in dieser oder anderer Form im Haupttext
  • 2.3.1 tiure unde wert
  • 2.3.1.1 Semantik
  • 2.3.1.2 Vorkommen und Verwendung im Haupttext
  • tiure
  • wert
  • werdekeit und wirde mit êre
  • wert mit liep und als Adjektiv-Attribut
  • 2.3.2 kunst unde sin
  • 2.3.2.1 Semantik
  • 2.3.2.2 Vorkommen und Verwendung im Haupttext
  • kunst
  • sin
  • sin und herze
  • sin und ouge
  • sin und wort
  • 2.3.3 lêre unde geleite
  • 2.3.3.1 Semantik
  • 2.3.3.2 Vorkommen und Verwendung im Haupttext
  • lêre
  • geleite
  • 2.3.4 ein senedære und ein senedærîn
  • 2.3.4.1 Semantik
  • 2.3.4.2 Vorkommen und Verwendung im Haupttext: senedære und senedærîn als Einzelwörter
  • 2.3.5 walschen unde latînen
  • 2.3.5.1 Semantik
  • 2.3.5.2 Vorkommen und Verwendung im Haupttext
  • walschen
  • latînen
  • 2.3.6 lange und iemer
  • 2.3.6.1 Semantik
  • 2.3.6.2 Vorkommen und Verwendung im Haupttext
  • lange
  • iemer
  • 2.4 Exkurs: Identische Wortpaare
  • 2.5 Paarwörter
  • 2.5.1 list
  • 2.5.1.1 Semantik
  • 2.5.1.2 Vorkommen und Verwendung im Haupttext
  • êre unde lop mit list
  • list als ambivalentes Gut
  • 2.5.2 nît
  • 2.5.2.1 Semantik
  • 2.5.2.2 Vorkommen und Verwendung im Haupttext
  • 2.5.3 tugent
  • 2.5.3.1 Semantik
  • 2.5.3.2 Vorkommen und Verwendung im Haupttext
  • tugent und êre
  • tugent als Adjektiv-Attribut
  • 2.5.4 leben
  • 2.5.4.1 Semantik
  • 2.5.4.2 Vorkommen und Verwendung im Haupttext
  • leben und tôt
  • leben und guot
  • leben und êre
  • 2.5.5 minne
  • 2.5.5.1 Semantik
  • 2.5.5.2 Vorkommen und Verwendung im Haupttext
  • 2.5.6 buoch
  • 2.5.6.1 Semantik
  • 2.5.6.2 Vorkommen und Verwendung im Haupttext
  • 2.5.7 ger
  • 2.5.7.1 Semantik
  • 2.5.7.2 Vorkommen und Verwendung im Haupttext
  • 2.6 Gruppenwörter
  • 2.6.1 werlt
  • 2.6.1.1 Semantik
  • 2.6.1.2 Vorkommen und Verwendung im Haupttext
  • werlt und guot
  • werlt und got
  • 2.6.2 velschen
  • 2.6.2.1 Semantik
  • 2.6.2.2 Vorkommen und Verwendung im Haupttext
  • 2.6.3 wellen
  • 2.6.3.1 Semantik
  • 2.6.3.2 Vorkommen und Verwendung im Haupttext
  • 2.6.4 lützelen
  • 2.6.4.1 Semantik
  • 2.6.4.2 Vorkommen und Verwendung im Haupttext
  • 2.6.5 swære
  • 2.6.5.1 Semantik
  • 2.6.5.2 Vorkommen und Verwendung im Haupttext
  • 2.6.6 fröude
  • 2.6.6.1 Semantik
  • 2.6.6.2 Vorkommen und Verwendung im Haupttext
  • fröude und êre
  • fröude und herze
  • fröude und leben
  • 2.6.7 muot
  • 2.6.7.1 Semantik
  • 2.6.7.2 Vorkommen und Verwendung im Haupttext
  • muot und herze
  • muot und wille
  • muot mit senede, minne und liep
  • 2.6.8 triuwe
  • 2.6.8.1 Semantik
  • 2.6.8.2 Vorkommen und Verwendung im Haupttext
  • triuwe und êre
  • getriuwe als Adjektiv-Attribut, untriuwe und triuwelôs
  • triuwe mit minne, liep und herze
  • 2.6.9 sælde
  • 2.6.9.1 Semantik
  • 2.6.9.2 Vorkommen und Verwendung im Haupttext
  • 2.6.10 niuwe
  • 2.6.10.1 Semantik
  • 2.6.10.2 Vorkommen und Verwendung im Haupttext
  • 3 Aufschlüsselung des Prologs
  • 4 Auswirkungen der Einzelanalysen auf den Fragmentschluss
  • 5 Ausblick
  • 5.1 Gottfrieds Fortsetzer
  • 5.1.1 Heinrich von Freiberg, ‘Tristan’
  • 5.1.2 Ulrich von Türheim, ‘Tristan’
  • 5.2 Andere Texte aus Gottfrieds zeitgenössischem Umfeld
  • 5.2.1 Hartmann von Aue, ‘Iwein’ und ‘Gregorius’
  • 5.2.2 Wolfram von Eschenbach, ‘Parzival’
  • 6 Zusammenfassung der Ergebnisse
  • 7 Literatur- und Abkürzungsverzeichnis
  • 7.1 Abkürzungen von Zeitschriften- und Reihentiteln
  • 7.2 Literaturverzeichnis
  • 7.2.1 ‘Tristan’-Ausgaben und Übersetzungen
  • 7.2.2 Ausgaben anderer Texte
  • 7.2.2.1 Mittelhochdeutsche Ausgaben
  • 7.2.2.2 Lateinische Ausgaben
  • 7.2.3 Forschungsliteratur
  • 7.2.4 Hilfsmittel
  • 7.2.4.1 Artikel aus Wörterbüchern und Lexika
  • 7.2.4.2 Weitere Hilfsmittel
  • 8 Anhang
  • 8.1 Worttabellen zu Gottfrieds von Straßburg ‘Tristan’
  • 8.2 Symmetrische Wortpaare aus ‘Tristran e Ysolt’ des Thomas von Britanje
  • 9 Register
  • Reihenübersicht

| 17 →

0 Einleitung

Schon Walter HAUG fordert in seiner ‘Literaturtheorie im deutschen Mittelalter’, die literarische Interpretation eines Prologs habe „sich aus den Fesseln der Rhetorik zu lösen.“1 Besonders Prologe, die über eine schlichte Einleitung hinausgingen, könnten „letztlich nicht mehr abgelöst von ihrer jeweiligen Thematik erörtert werden.“2 An diesen Grundgedanken knüpfe ich in der vorliegenden Arbeit an. Ziel ist es, den Nachweis für einen inhaltlichen Zusammenhang von Prolog und Haupttext3 in Gottfrieds ‘Tristan’ zu erbringen. Dabei geht es mir keineswegs darum, die traditionelle rhetorische Auslegung des Prologs für falsch zu erklären. Vielmehr möchte ich meine inhaltsbezogene Lektüre neben diese stellen.

Da ich mich bei meinen Beobachtungen insbesondere auf die Wortpaare4 des Prologs stütze, bildet ein entsprechender Forschungsüberblick die Grundlage meiner Arbeit.5 Für meinen Hauptteil6 erweitere ich das Korpus der Wortpaare um andere Wörter des Prologs, die ich begründet ausgewählt habe,7 und untersuche zunächst deren Verwendungsweise im Haupttext. Auf Basis dieser Ergebnisse, die eine ganze Reihe neuer Lektüren der untersuchten Textstellen aufzeigen können und somit auch ein neues Licht auf den Haupttext werfen, wende ich schließlich ein Verfahren an, das ich Aufschlüsselung nenne.8 Ich vergleiche ← 17 | 18 → dabei die Ergebnisse der Analyse des Hauptteils mit der Verwendungsweise der jeweiligen Wörter im Prolog und wäge mögliche Zusammenhänge ab. So entsteht eine auf den Inhalt des ‘Tristan’-Romans bezogene Interpretation des Prologs. Eine Darstellung der Auswirkungen meiner Einzeluntersuchungen auf den Fragmentschluss Gottfrieds9 und ein Ausblick auf die ‘Tristan’-Fortsetzungen von Heinrich von Freiberg und Ulrich von Türheim, auf Hartmanns von Aue ‘Iwein’ und ‘Gregorius’ sowie auf Wolframs von Eschenbach ‘Parzival’ runden die Arbeit ab.10


1 HAUG 1992, S. 14; vgl. dazu auch Punkt 1.2 dieser Arbeit.

2 HAUG 1992, S. 15.

3 Ähnlich spricht LUTZ in seiner Untersuchung mittelhochdeutscher Prologgebete von „Prolog und Werk“ (LUTZ 1984, S. 273, 347), wobei mir das Wort Haupttext inhaltlich klarer erscheint als das semantisch breitere Wort Werk. Mit dieser Zweiteilung leugne ich keineswegs die Tatsache, dass sich mit „Prolog und Erzählung, […] Exkursen und Handlung“ (CHRIST 1977, S. 5) weit mehr Erzählebenen im Roman befinden. Da ich mir aber zum Ziel gesetzt habe, den Prolog neu zu interpretieren, trenne ich ihn allein aus methodologischen Gründen zunächst vom restlichen Text ab. Dadurch, dass ich in der Analyse des Haupttexts stets den Kontext berücksichtige, geht auch die Unterscheidung von Handlungs- und Exkursebene nicht verloren und kann, obwohl ich sie nicht explizit durch zusätzliche Überschriften ausweise, in den Untersuchungen der jeweiligen Wörter nachvollzogen werden. Auf die behandelten Exkurse verweisen die Stichworte im Register.

4 Vgl. zur Definition dieses Terminus Punkt 1.3.1.1 dieser Arbeit.

5 Vgl. dazu Punkt 1.3.1 dieser Arbeit.

6 Vgl. dazu Punkt 2 dieser Arbeit.

7 Vgl. dazu Punkt 1.3.3 dieser Arbeit.

8 Vgl. dazu Punkt 3 dieser Arbeit.

9 Vgl. dazu Punkt 4 dieser Arbeit.

10 Vgl. dazu Punkt 5 dieser Arbeit.

| 19 →

1 Ausgangspunkte und Grundlagen

Vor dem eigentlichen Analyseteil möchte ich mit einer Einführung beginnen, in der ich zunächst die bisherigen Ergebnisse der Erfoschung des ‘Tristan’-Prologs vorstelle und im Anschluss daran allgemeine die Funktion mittelalterlicher Prologe darlege. Dem folgen ein Forschungsüberblick zu zweigliedrigen Ausdrücken sowie eine Beschreibung der weiteren Vorgehensweise meiner Arbeit.

1.1 Forschungsüberblick zu Gottfrieds ‘Tristan’-Prolog

Der nachfolgende Forschungsüberblick ist in zwei Teile gegliedert: Er konzentriert sich zunächst auf den formalen Aufbau der Textpassage, ehe er sich ihrer inhaltlichen Interpretation zuwendet. Auch wenn sich Überschneidungen in einzelnen Fällen nicht vermeiden lassen, erscheint es mir doch richtig, zunächst die grundsätzlichen Probleme bei der formalen Prologgliederung darzulegen und erst dann die teilweise daraus abgeleiteten inhaltlichen Deutungen vorzustellen.

1.1.1 Formaler Aufbau des Prologs

Über den formalen Aufbau des Prologs von Gottfrieds von Straßburg ‘Tristan’ herrscht in der Forschung keine Einigkeit. Nach Ansicht von KROHN gliedert er sich aufgrund seiner metrischen Form in zwei Teile: den sogenannten strophischen Prolog (V. 1–44), der aus fünf kreuzgereimten, fünf umarmend gereimten und einer erneut kreuzgereimten Strophe bestehe,11 wobei, wie HUBER ergänzt, alle Strophen stets identisch gereimt seien und damit nur über je zwei Reimwörter verfügten,12 sowie den sogenannten stichischen Prolog (V. 45–244), der überwiegend im höfischen Reimpaarvers abgefasst sei.13 Dieses Schema werde jedoch, so KROHN weiter, „durch eine Kreuzreim-Strophe“14 (V. 131–134) und ← 19 | 20 → eine umarmend gereimte „Doppelstrophe“15 (V. 233–238) unterbrochen, die beide erneut identische Reime besäßen. HAUG bestätigt die Trennung von strophischem und stichischem Teil, gliedert aber den stichischen Teil nochmals in zwei Abschnitte (V. 41–130 und 131–242/244 – je nach Ausgabe).16 Die Zweiteilung des stichischen Prologs erklärt HAUG inhaltlich: Zunächst gehe es um den Erzähler und das Publikum, dann um den Stoff selbst.17

Für SCHOLTE hingegen steht neben der Metrik vor allem die Symmetrie des Textes im Vordergrund.18 Entsprechend trennt er den Prolog in zwei Gruppen A und B, die wiederum erneut zweigeteilt werden. Gruppe A umfasse dabei die ersten zehn Strophen, die aus A I (V. 1–20) und A II (V. 21–40) zusammengesetzt seien.19 Die elfte Strophe (V. 41–44) bilde den „schmückenden Auftakt zum ersten stichischen Teil“20 B I (V. 41–130), dem sich eine weitere Kreuzreim-Strophe anschließe (V. 131–134), die wiederum den Auftakt zu B II (V. 131 bis ungefähr 240) darstelle.21 Die Teilung des stichischen Prologs entspricht somit im Wesentlichen der von HAUG.

BRINKMANN hingegen geht nicht von einer formalen, sondern von einer rhetorischen Zweiteilung des Prologs aus: Zunächst liege ein prologus præter rem (V. 1–120) vor, ein prooemium, das noch nicht ausdrücklich auf den Inhalt der Dichtung eingehe,22 was dann aber im prologus ante rem (V. 121–240), dem prologus, geschehe.23 JAFFE allerdings spricht sich generell gegen diese Zweiteilung ← 20 | 21 → von Prologen aus24 und kritisiert an BRINKMANN besonders dessen Glauben an eine „major division […] at the end of line 120, in the middle of what is, by general agreement, a syntactic and semantic unit”25. TOMASEK stimmt dem zu: JAFFE bemängele „nicht zu Unrecht die willkürlich anmutende Grenzziehung“26. HAUG zieht die Grenze entsprechend erst später: Seines Erachtens beginnt der prologus ante rem erst in Vers 123 und damit zu Beginn einer neuen syntaktischen Einheit.27

Für seine dreiteilige Gliederung des Prologs beruft sich TOMASEK „mit BONATH“28 auf das Akrostichon GDIETERICH und die durch das G eröffnete Verschachtelung des Namens des Dichters mit den Namen des Liebespaares, die zunächst im Prolog, dann aber auch im Haupttext fortgesetzt wird. Dass es sich bei DIETERICH um den Namen des Auftraggebers handelt, ist weitestgehend anerkannt.29 Die Frage, welcher Dieterich sich hinter diesem Gönner verbergen könnte, ist jedoch bis heute nicht eindeutig geklärt.30 Ich verzichte ← 21 | 22 → an dieser Stelle auf die Wiedergabe der Forschungsgeschichte der Aufdeckung des Initialenspiels und verweise stattdessen auf den ausführlichen Überblick von ANDERSEN31 sowie die Anmerkungen von HAUG und SCHOLZ.32 Aus den „Kryptogramminitialen“33, die am Ende einer langen Diskussion stehengeblieben sind, formt TOMASEK folgende Prologgliederung:

1. V. 1–4: G: Eröffnet den (strophischen) Prolog
  V. 5–40: DIETERICH: Strophischer Prolog.
2. V. 41–44: T: Eröffnet den Reimpaarprolog
  V. 45ff.: I: Reimpaarprolog (1. Teil)
3. V. 131–134: I: Folgt auf die Nennung der Helden und eröffnet den
  V. 135ff.: T: 2. Teil des Reimpaarprologs
  V. 244: Prologende34

Bekanntlich wurde das Initialenspiel im anschließenden Haupttext nicht vollständig ausgeführt.35 Wahrscheinlich sollte es aber wie folgt aussehen:

  G TIIT O RSSR T IOOI E SLLS (F TDDT R AEEA I NNNN T)
Vers:   1 1749 5067 12187
  41 1789 5097 12435
  45 1793 5101 12439
  131 1863 5175 12507
  135 1867 5179 1251136

Löst man den obigen Initialenkomplex auf und ergänzt ihn um DIETERICH, erhält man mit HUBER und OKKEN folgende Darstellung der einzelnen Bestandteile: ← 22 | 23 →

G O T E (F R I T)      
  DIETERICH  
  T R I S (T A N)      
    I S O L (D E N)    
      I S O L (D E N)  
        T R I S (T A N)37

Die eingeklammerten Teile entsprechen in dieser Darstellung denen, die Gottfried mutmaßlich ergänzen wollte. Da die „schwache Dativ- oder Akkusativform Isolden38 allerdings nur in wenigen Handschriften überliefert ist, schlussfolgert BONATH, dass sich Gottfried „eindeutig gegen die schwache Form entschieden“39 und stattdessen „Isôt/Isolt40 bevorzugt habe. Außerdem empfindet sie im Gegensatz zu HUBER, für den die Namen aufgrund der grammatischen Bindung etwa im Sinne von ‚Tristan für Isolde‘41 aufeinander bezogen werden, die Form Isolden neben dem männlichen Nominativ Tristan generell als „unbefriedigend“42 und schlägt stattdessen eine Variante vor, in der Gottfried „nur die sinntragende Silbe Trist-43 und die Form Isolt verwendet und mit den letzten beiden Buchstaben seines eigenen Namens verbunden hätte, die wiederum den Initialen des Paares entsprechen:

G O T E F R
  T R I S T I
  I S O L T   (T)
  I S O L T     T
  T R I S T       (I)44

Die eingeklammerten Buchstaben stehen für eine potentielle Verdopplung, die Gottfried möglicherweise vorgenommen hätte, „um deren Koinzidenz mit den Initialen der Helden zu betonen“45. HAFERLAND ist vorsichtiger und reduziert seine Darstellung auf das erhaltene Material: ← 23 | 24 →

G O T E
  T   R   I   S
    I     S     O     L46

Über das Akrostichon hinaus beschreibt OKKEN ein Akroteleuton im Prolog, das ebenfalls aus den Namen des Paars bestehe:

Das Schema zeigt, dass die Initiale der dritten Strophe (I) in Kombination mit dem Reimwort des zweiten und vierten Verses der vierten Strophe (sol) und der Initiale der fünften Strophe (T) den Namen Isolt ergibt. Das T ist wiederum gleichzeitig der erste Buchstabe für den Namen Tristan, der sich weiter aus der R-Initiale der siebten Strophe und den reimenden Bestandteilen der Strophen sechs (ist) und sieben (an) zusammensetzt. Außerdem fallen die in jeder Prologstrophe jeweils identischen Vokale in den Reimwörtern auf, die ein Vokalgerüst der Namen tristan, goturiet und dieterich formen.48 Zudem wird über die Existenz von Anagrammen im Prolog spekuliert, die die Namen goturiet, dieterich, tristan und isolt im Rahmen der ersten 44 Verse sowie weitere im gesamten Roman bilden sollen.49 Ob hier allerdings tatsächlich Anagramme vorliegen, ist umstritten, da das Stilmittel eigentlich erst in der französischen Literatur des 14. Jahrhunderts nachgewiesen werden kann.50 Mit der eigentlichen Prologgliederung haben Akroteleuton, Vokalgerüst und Anagramme jedoch nichts mehr zu tun. ← 24 | 25 →

1.1.2 Inhaltliche Interpretationen des Prologs

Der Prolog ist in der Vergangenheit bereits vielfach und mit unterschiedlichen Ergebnissen interpretiert worden. Ich kann und will im Folgenden nicht auf alle Ansätze eingehen, die hierzu bereits vertreten wurden.51 Meine Auswahl beschränkt sich daher auf die Eckpunkte, die später auch für meine Analyse wichtig sein werden.

Nach Einschätzung von SCHÖNE ist vor allem die Wortwiederholung52 kennzeichnend für Gottfrieds ‘Tristan’-Prolog. Die daraus abgeleitete religiös-metaphysische Lektüre SCHÖNEs53 lehnt EIFLER allerdings ab.54 Für ihn ist der Prolog „der klassische Fall einer insinuatorischen captatio benevolentiae55. Diese habe zum Ziel, das Publikum so für sich zu vereinnahmen, dass negative Kritik von Anfang an unterbunden werde.56 Auch OKKEN sieht im Prolog eine solche „Publikumsbelobigung“57 nach antik-rhetorischem Vorbild. Zugleich beobachtet er, dass der Prolog mit einer Sentenz beginnt. Sentenzen sind nach EIKELMANN und TOMASEK

autor- und textgebundene Sprüche, die als semantisch und syntaktisch selbstständige Ein-Satz-Texte im schriftliterarischen Kontext auf das menschliche Leben bezogenes ← 25 | 26 → Erfahrungs- und Orientierungswissen in stilistisch elaborierter Formulierung mit dem Anspruch allgemeiner Gültigkeit aussagen.58

Hiervon sei das Sprichwort zu unterscheiden:

Sprichwörter sind anonym tradierte Sprüche, die als semantisch und syntaktisch selbstständige Ein-Satz-Texte auf das menschliche Leben bezogenes Erfahrungswissen pointiert in apodiktisch-behauptendem Redegestus mit dem Anspruch allgemeiner Gültigkeit aussagen.59

Für die ersten zwei Verse des ‘Tristan’-Prologs habe, so OKKEN, die einleitende Sentenz von Sallusts ‘De coniuratione catilinae’ Vorbild gestanden.60 Aus ihr habe „der Dichter seinen eigenen um das Wohlwollen des Publikums werbenden Gedankengang abgeleitet, der sich aus dem Prolog des zitierten Werks“61 speise. TOMASEK wiederum liest den gesamten Roman als ein Werk, das von Sentenzen durchzogen sei.62 Besonders im Prolog seien diese zahlreich vertreten,63 was HUBER mit seiner Beobachtung, dass sich „durch die ersten zehn Strophen ein Feuerwerk von glitzernden Sentenzen“64 ziehe, bestätigt.

MAZZADI zufolge weist der Prolog wiederum „eine nach dem Muster des lateinischen Sermo aufgebaute rhetorische Struktur auf“65, die sich aus einer Darstellung und Unterteilung des Themas in einzelne Elemente (distinctiones) und einer nach einem Vier-Punkte-Schema (Darstellung-Tadel-Belehrung-Lob) verfassten Entfaltung (dilatatio) zusammensetze.66 STEIN ist jedoch schon früher überzeugt, dass eine rein auf rhetorische Konventionen konzentrierte Prologinterpretation im Fall von Gottfrieds ‘Tristan’ „der Textpartie nicht gerecht“67 wird. Während es ← 26 | 27 → für ihn aber in erster Linie der formale Schmuck der Textstelle ist, der sie über die normale rhetorische Übung hinaushebt,68 weil Gottfried die dichterischen Schmuckmittel zu Aussageträgern mache,69 sieht HUBER im Prolog eine ethische Dimension verwirklicht. Er beruft sich dabei insbesondere auf Abaelard und dessen Neuerung der Ethik im 12. Jahrhundert, die er in der Gottfried’schen Darstellung von guot vermutet.70 Diese anfängliche Diskussion um das, was der Roman als ‚Gut‘ anbiete, verschiebe sich, so HUBER, im weiteren Verlauf des Prologs auf eine ethische Ebene.71 Den als Publikum angesprochenen edelen herzen72 werde eine höfische Liebesdoktrin dargeboten, die etwa den Darstellungen von Andreas Capellanus ‘De Amore’ entspreche: Über die motivierende Kraft des Liebesaffekts werde die Liebe zur Grundlage aller Tugenden erklärt.73

Auf die edelen herzen beruft sich auch KUNISCH, wenn er ihr wiederholtes Vorkommen trotz des scheinbaren Widerspruchs zwischen der Liebesethik des Prologs und der tatsächlichen Romanhandlung74 als Argument für eine „Einheit des Werkes“75 verwendet. MAZZADI hingegen glaubt an eine Trennung von Prolog und Inhalt des Werks und sieht das rezipierende Publikum und die Wirkung des Werks auf dieses als Thema des Prologs an.76 Ob der ‘Tristan’-Prolog bereits Bezüge zum Romaninhalt aufweist, ist also eine umstrittene Frage, die meist nur für den zweiten Teil des Prologs bejaht wird.77 So schreibt etwa HAUPT: ← 27 | 28 →

Schon JAFFE verweise jedoch, so HAUG und SCHOLZ, neben seiner generellen Kritik an der Zweiteilung des Prologs darauf, dass auch im „erste[n] Teil sehr wohl vom Inhalt die Rede sei“.79 Deswegen gestehen HAUG und SCHOLZ es dem Prolog zu, dass „unausgesprochen auch der Bezug zur Dichtung mitgegeben sei.“80 TOMASEK bestätigt diese Einschätzung und konkretisiert sie an Beispielen:

Durch die Betonung des Gedenkens (Str. 1), der aufrichtigen Intention (Str. 2), der Bedeutung der Personenerkenntnis (Str. 5), der Unverzichtbarkeit der Ehre (Str. 7), der Kunst- und Neid-Thematik (Str. 9) sowie der Notwendigkeit, den mühevollen Weg zur Tugend zu gehen (Str. 10), werden Grundaspekte hervorgehoben, die für das Verständnis des Romans bedeutsam sind.81

So gesehen ist es also durchaus berechtigt, neben den anderen möglichen Lektüren auch einen inhaltlichen Prolog- und Haupttextzusammenhang anzunehmen.

1.2 Andere Prologe in der höfischen Dichtung des Mittelalters und mögliche Relationen dieser zu Gottfrieds ‘Tristan’-Prolog

Im Folgenden möchte ich in einem kurzen Überblick verschiedene Prologtheorien vorstellen, dabei zeigen, wie die Forschung mit ihnen Aufbau und Inhalt verschiedener Prologe der mittelalterlichen höfischen Dichtung erklärt hat und wie diese im Verhältnis zum oben vorgestellten ‘Tristan’-Prolog stehen. Ziel davon ist es nicht, eine eigene Prologtheorie zu entwerfen. Vielmehr möchte ich ← 28 | 29 → verschiedene Ansatzpunkte zusammentragen, die die generellen Funktionen dieser Prologe beleuchten.

Nach LÓPEZ MARQUÉS ist der Prolog, der in epischen Werken auch als Prooemium bezeichnet werde,82 der „Ort, an dem der Autor seine Meinung sowie sozialkritische, ideologische, didaktische oder moralische Aspekte jenseits des Inhalts seines Werkes erläutert und eine Beziehung zum Publikum herstellt.“83 Dabei ließen sich, so LÓPEZ MARQUÉS weiter, unter Bezugnahme auf die klassische Rhetorik und Poetik sechs verschiedene Prologfunktionen unterscheiden:

1. Selbstdarstellung des Dichters oder Abwehr von Kritik an seinem Werk. 2. Präsentation von Titel, Rollen, Szenen und Schreibanlässen. 3. Einführung in den Hintergrund und die Vorgeschichte der Handlung. 4. Begrüßung des Publikums und Bitte um Ruhe und Aufmerksamkeit. 5. Gewinnung der Publikumsgunst durch das Versprechen, eine Neuigkeit oder eine Überraschung zu präsentieren. 6. Ankündigung des Spielbeginns (so wie der Epilog das Spielende ankündigt).84

Der mittelalterliche Prolog wiederum ziele schwerpunktmäßig auf die captatio benevolentiae, also die aus der Antike stammende positive Beeinflussung des Publikums, das für die eigene Sache gewonnen werden solle, und auf die Aufmerksamkeit des Publikums ab.85 Dabei seien vier Topoi in Gebrauch: „1. Versprechen einer Neuigkeit. 2. Widmung an Gott oder an den Mäzen. 3. Notwendigkeit der Kenntnisweitergabe. 4. Bekämpfung der Versuchung des Müßiggangs.“86 Der Prolog könne sich darüber hinaus inhaltlich aus sieben weiteren Topoi zusammensetzen:

1. Bitte um Aufmerksamkeit. 2. Frage an die Hörer, ob sie das Gedicht hören möchten. 3. Aufforderungen an das Publikum. 4. Anrufung Gottes. 5. Lob der eigenen und Kritik fremder Werke. 6. Vorstellung der Handlung. 7. Behauptung der Wahrhaftigkeit des Werkes mit der Begründung, alles sei durch Augenzeugen und authentische Quellen belegt.87 ← 29 | 30 →

ARBUSOW wiederum nennt vier Topoi, die in mittelalterlichen Prologen gebraucht würden. Es handelt sich dabei jedoch um andere Gemeinplätze als die in der Darstellung von LÓPEZ MARQUÉS: „1. Affektierte Bescheideheitsformel […]; 2. Proverbium generale oder Sententia; 3. Causa scribendi, Begründungsformel; 4. Brevitas-Formel.“88 Darüber hinaus beschreibt er noch zahlreiche weitere Topoi, die in einzelnen Prologen Verwendung finden.89 Vor allem die darunter befindliche und auch von LÓPEZ MARQUÉS in den Vordergrund gestellte captatio benevolentiae konnte in der Forschung für den mittelalterlichen Prolog geltend gemacht werden. EIFLER und OKKEN lesen, wie bereits erwähnt, den ‘Tristan’-Prolog als Publikumsbeeinflussung90 und auch BRINKMANN lehnt sich an diesen Topos an, wenn er schreibt, dass der Prolog der Ort eines Gesprächs zwischen Verfasser und Zuhörer oder Leser sei und das Ziel verfolge, den Rezipienten für das eigene Anliegen zu gewinnen.91

Darüber hinaus hebt BRINKMANN die Bedeutung der Sentenz für den mittelalterlichen Prolog hervor. Eine Sentenz könne einerseits als „eine allgemeine Lebensweisheit […] von Anfang an eine Gemeinsamkeit zwischen dem Verfasser und seinen Hörern (Lesern)“92 bilden. Die Dichtung diene dann der „Bezeugung oder Bestätigung einer Wahrheit, an die der Hörerkreis glaubt“93. Andererseits werde „durch eine eröffnende Sentenz dem Werk eine Bedeutung verliehen, die das factum singulare der Dichtung als Repräsentanten eines Allgemeinen (ad significandum universale) verstehen“94 ließe. Durch die Sentenz würden die Rezipienten im Rahmen der Dichtung in ihren Erfahrungen und Überzeugungen ← 30 | 31 → bestätigt.95 Einleitende Sentenzen ließen sich etwa in den Prologen von Chrétiens ‘Erec et Enide’,96 Hartmanns ‘Iwein’97 und Wolframs ‘Parzival’98 nachweisen. Wie bereits oben erläutert, beobachten BRINKMANN und TOMASEK auch in Gottfrieds ‘Tristan’ eine Vielzahl von Sentenzen im Prolog.99 Inhaltlich könne eine solche einleitende Sentenz den memoria-Topos aufgreifen, wie es in Chrétiens ‘Erec et Enide’ und Gottfrieds ‘Tristan’ der Fall sei.100

Obschon es sich bei Prologen somit um hochstilisierte Textstücke handelt, können diese, so HAUG, durchaus spezifisch gestaltet sein. Er verweist dabei auf BEUMANN, der zeige, wie „Einhard […] die Topoi nämlich zu einem hintergründig-polemischen Spiel gegen bestimmte kirchliche Kreise am Hofe“101 verwende. Daraus schließt HAUG, „daß mit traditionellen Versatzstücken allein durch die Art ihrer Kombination höchst individuelle, situationsbezogene Aussagen möglich“102 seien. Der Gebrauch von Topoi könne somit „zugleich traditionell und individuell“103 sein.

Über die durch die Topoi festgelegten Inhalte und die mit ihnen verknüpften Funktionen hinaus ist der mittelalterliche Prolog nach LÓPEZ MARQUÉS in zwei Teile gegliedert.104 Der erste Teil sei das prooemium, auch prologus praeter rem genannt, in dem sich der Dichter mit dem Publikum in Verbindung setze.105 ← 31 | 32 → Dem schließe sich der prologus oder prologus ante rem „mit einer Einführung in das Werk selbst und einer Darlegung der Quellen sowie des Themas“106 an. Diese Zweiteilung besäßen, so BRINKMANN, beispielsweise Chrétiens ‘Erec et Enide’107 und der ‘Parzival’-Prolog Wolframs;108 für den ‘Tristan’ Gottfrieds ist sie allerdings umstritten: BRINKMANN bejaht sie, JAFFE und TOMASEK lehnen sie ab.109 BRINKMANN ist wiederum derjenige, der von der Parallelität der Prologe von Wolfram und Gottfried überzeugt ist. Er argumentiert unter Einbezug aller genannten Parameter:

Bei aller inhaltlichen Verschiedenheit entspricht der Bau des Prologs zum Tristan genau dem Bau des Parzivalprologs. Beide setzen (mit Hilfe einer konditional gefaßten Sentenz, die den Lesern eine Aufgabe stellt) in einem prinzipiell gehaltenen Eingang einen Maßstab für die Beurteilung der Leser und des Werkes. Beide begründen im Prooemium die Gesprächssituation, die Verbindung mit den Empfängern, und machen dann im Prologus mit der meine des Werkes bekannt.110

Die Theoretisierung der Zweiteilung eines Prologs in einen prologus praeter rem und einen prologus ante rem sowie die verwendeten Termini weist BRINKMANN bei Johannes von Garlandia und Conrad von Hirsau nach.111 JAFFE mache jedoch deutlich, so HAUG, dass BRINKMANN „die betreffenden Texte des Johannes von Garlandia und Konrads von Hirsau nicht mit der nötigen Genauigkeit interpetiert“112 habe:

Sie sprechen beide nicht von Prologteilen, sondern von Prologarten. Die Zweiteilung des mittelalterlichen Prologes im Sinne BRINKMANNs ist somit theoretisch nie festgelegt worden, und sie kann auch in der Praxis nicht als verbindlich gelten. Daß eine Tendenz besteht, im Prolog zunächst in allgemeiner Weise mit dem Publikum ins Gespräch zu kommen und darauf dann in den konkreten Stoff einzuführen, ist zwar nicht zu leugnen, doch dies ist ein so natürliches Verfahren, daß es sich immer wieder von selbst anbieten mußte; im übrigen ist es auch keineswegs auf das Mittelalter beschränkt.113 ← 32 | 33 →

Daraus ergibt sich für HAUG die Forderung, die „literarische Interpretation […] [habe] sich aus den Fesseln der Rhetorik zu lösen.“114 Es gebe

zwar in großer Anzahl schlicht-konventionelle Einleitungen, die sich damit begnügen, beim Publikum um Wohlwollen oder Aufmerksamkeit zu werben, aber der Tendenz nach zielt der literarische Prolog auf eine Erörterung dessen, was ein Werk an Sinn vermittelt, er reflektiert die Möglichkeiten und Grenzen dieser Sinnvermittlung und fragt nach ihrer Legitimation. Je mehr ein Prolog sich unter diesen Aspekten entfaltet, um so mehr werden die herkömmlichen Strategien zu etwas Beiläufigem, wenn sie sich nicht im Dienst der neuen Aufgabe verwandeln. […] Dieses Selbstverständnis der Dichtung kann letztlich nicht mehr abgelöst von ihrer jeweiligen Thematik erörtert werden.115

Ein solches Prologverständnis ebnet also entgegen der traditionellen Forschungsmeinung, dass es nicht zulässig sei, den sogenannten prologus praeter rem mit der Thematik des Werkes in Verbindung zu bringen,116 den Weg für eine Interpretation, in der auch dieser erste Teil eines Prologs nicht mehr zwingend von den Inhalten des zugehörigen Haupttexts freigehalten werden muss. HAUG distanziert sich damit auch von BRINKMANN, der einen inhaltlichen Zusammenhang von Prolog und Haupttext im ‘Parzival’ negiert.117 Das bedeutet aber nicht, dass Prolog und Haupttext gleichgesetzt werden. Vielmehr macht HAUG bewusst: „Von einem Prolog zu sprechen, rechtfertigt sich strenggenommen nur, wenn sich ein Einleitungsteil als allgemeine ästhetische Erörterung einigermaßen klar vom Gegenstand abheben lässt.“118 Ein Prolog könne also selbstständig sein und zugleich eine enge Verbindung mit dem Thema des Textes aufweisen.119 ← 33 | 34 →

Schließlich stellt sich die Frage, wie derartige Bezüge von Prolog und Haupttext in der poetischen Praxis gestaltet sein können. Ich möchte dies, ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, nur an einigen Beispielen illustrieren. HAUG stellt eine solche Verbindung in Hartmanns ‘Iwein’ her, wenn er sagt, dass „[d]as arthurische Fest als Ausgangssituation des Geschehens […] die Gattungserwartung, die durch die Nennung des Königs Artus in Vers 5 geweckt worden“120 sei, bestätige. Er weist aber auch darauf hin, dass Hartmann „auf den konkreten Stoff selbst […] in seinem Prolog nicht zu sprechen“121 komme. Für den ‘Tristan’ Gottfrieds liegen durch KUNISCH und MIEDER einzelne Beobachtungen zu Prolog- und Haupttextverbindungen durch die Wiederaufnahme der edelen herzen122 und der Zwillingsformel liep unde leit123 in der Forschung vor. In Rudolfs von Ems ‘Alexander’ wiederum beobachtet HAUG die Wiederkehr der bereits im Prolog behandelten sælde im Hauttext des Romans.124 Der ‘Alexander’-Prolog des ersten Buchs, der nach HAUG sowohl in formaler als auch in inhaltlicher Hinsicht an Gottfrieds ‘Tristan’-Prolog anknüpft,125 weist also ein Wort auf, das später den gesamten Roman durchzieht. Für HAUG ist sælde daher ein „Leitmotiv“126 des Romans, aus dem sich letztlich ein neues Verständnis des Verhältnisses von Dichtung und Publikum herleiten lässt:

Die Unsicherheit des Erfolgs gehört zum Rezeptionsmodus beispielhafter Dichtung. Dieser Typus versteht sich als Mittel der Demonstration, er ist also didaktisch-pädagogisch ausgerichtet. Er setzt damit eine Distanz zum Publikum voraus, die mit der Kraft der Überzeugung überwunden werden muß. […] Eine [solche] als Lehre verstandene Dichtung […] impliziert, daß sie ihr Publikum erst gewinnen muß, die Unsicherheit der sælde tritt deshalb an die Stelle der ethisch-ästhetischen Vorentscheidung. Und diese Unsicherheit schlägt dann auch auf das Selbstverständnis des Dichters zurück: in dem ← 34 | 35 → Maße, in dem er sich der Mittel seiner Kunst bewußt wird, erfährt er auch die Grenze ihrer Möglichkeiten.127

HAUG hebt die Diskussion um sælde im ‘Alexanderroman’ somit auf eine poetologische Ebene, die weit über die Interpretation einzelner Textteile hinausreicht.

1.3 Einführung in Terminologie und Vorgehensweise dieser Arbeit

Zweigliedrige Ausdrücke werden in der Forschung seit mehr als hundert Jahren in sämtlichen Philologien beobachtet und untersucht. Deswegen möchte ich zunächst die Forschungsgeschichte dieser Ausdrücke vorstellen, ehe ich vor diesem Hintergrund eine eigene Definition der in meiner Arbeit verwendeten Termini entwickle und meine Untersuchungsmethodik erläutere.

1.3.1 Bisherige Forschungsansätze zu zweigliedrigen Ausdrücken

Wie ich bereits im Vorwort geschildert habe, bilden die zweigliedrigen Ausdrücke des ‘Tristan’-Prologs den Grundstein meiner Arbeit. Ihr wiederholtes Auftreten im Haupttext des Romans ist es nämlich, das zuerst auf einen möglichen Zusammenhang von Prolog und Haupttext aufmerksam macht. Um der langen Forschungstradition gerecht zu werden, stelle ich meiner Analyse einen ausführlichen Forschungsüberblick voran, in dem ich einerseits die terminologische Varianz zweigliedriger Ausdrücke darstelle und andererseits darauf eingehe, welche möglichen Vorbilder diese besitzen und wie das Stilmittel über verschiedene Sprachstufen und Gattungen hinweg bis in die Gegenwartssprache hinein in wissenschaftlichen Arbeiten behandelt wird.

1.3.1.1 Zur Terminologie der Forschung – von Zwillingsformel bis Wortpaar

Trotz oder gerade wegen der langen Forschungsgeschichte der zweigliedrigen Ausdrücke liegt bis heute kein einheitlicher Begriff vor, um dieses Phänomen terminologisch zu erfassen. Stattdessen haben sich schon früh verschiedene Termini herausgebildet, die mal synonym, mal jedoch auch völlig verschieden voneinander verwendet werden:

Polarer Ausdruck, sprichwörtliche Formel, Parallelformel, Doppelformel und Zwillingsformel: all das sind Bezeichnungen für ein und denselben Begriff. Der glücklichste ← 35 | 36 → von ihnen, ‚Zwillingsformel‘, ist von R. M. Meyer geprägt worden. Er versteht unter ‚Zwillingsformeln‘ ‚stehende durch einen Partikel vermittelte Verbindungen zweier Worte gleicher grammatischer Kategorie (Substantiva, Adjektiva, Verba, Adverbia),128 die einen einheitlichen Sinn ergeben und auch durch ein einzelnes Wort der gleichen Kategorie (schwächer) wiedergegeben werden können.‘129

Eine Zwillingsformel liege jedoch nicht zwingend vor, wenn lediglich diese äußeren Bedingungen erfüllt seien. Entscheidend ist nach SCHULZE vor allem die Häufigkeit des Auftretens eines Ausdrucks. Entsprechend bezeichne er die Paare in seiner Analyse auch nicht als Zwillingsformeln, sondern als ‚sprichwörtliche Formeln‘130:

Sprichwörter und sprichwörtliche redensarten sind zwar im grunde auch formeln der sprache, im besonderen aber bezeichnet man mit diesem worte diejenigen sprichwörtlich gewordenen ausdrücke, welche aus zwei durch verbindende oder trennende conjunctionen mit einander verknüpften wörtern bestehen und dazu dienen, der rede mehr nachdruck und schmuck zu geben.131 ← 36 | 37 →

SALOMON distanziert sich von dieser Begriffsbestimmung, da seltenere, eben noch nicht sprichwörtlich gewordene Paarungen in ihr keinen Platz mehr finden würden.132 Während die Häufigkeit eines zweigliedrigen Ausdrucks für die Bestimmung als Paarformel bei SALOMON somit keine Rolle mehr spielt, steht für ihn MEYERs Forderung nach einem inhaltlichen Zusammenhang der Wörter im Mittelpunkt:

Das wichtigste Merkmal der Zwillingsformel ist die Einheitlichkeit des Sinns. Jeder zweigliedrige Ausdruck, der einen solchen einheitlichen Oberbegriff nicht ergibt, kann füglich nicht als Zwillingsformel angesprochen werden, und wenn er noch so häufig ist.133

Eine Zwillingsformel liegt dieser Bestimmung nach nur dann vor, wenn sich die Wörter zu einem einheitlichen Oberbegriff zusammenfassen lassen. In seiner Auffassung bestätigt sieht sich SALOMON vor allem deswegen, weil in vielen Fällen „unmittelbar neben die Zwillingsformel der Oberbegriff selbst gesetzt“134 werde; er könne ihr dabei vorausgehen oder nachfolgen. Dieses Nacheinander von Zwillingsformel und Oberbegriff bilde „den deutlichen Beweis für die Einheit des Gedankens innerhalb der Zwillingsformel.“135 Darüber hinaus trete „die begriffliche Einheit der Zwillingsformel dadurch ans Licht, daß statt ihrer Komposita erscheinen.“136 Ob die Zwillingsformel selbst oder das zugehörige Kompositum älter sei, lasse, „sich allgemein nicht beantworten, sondern nur von Fall zu Fall und auch da nicht immer mit Sicherheit entscheiden.“137

Ähnlich wie SALOMON verwendet auch DILCHER in seiner Untersuchung von Rechtstexten des frühen Mittelalters eine Reihe von synonymen Termini, in seinem Fall „Paarformel, Zwillingsformel, Doppelformel oder polarer Ausdruck“138. Auch für ihn müssen die beiden beteiligten Wörter der gleichen grammatischen Kategorie entstammen.139 Er distanziert sich allerdings von der Auffassung, dass ein einheitlicher, über dem Wortpaar stehender Oberbegriff in die Definition ← 37 | 38 → mit aufgenommen werden müsse und erklärt diese Bedingung für unzulässig: Ob es überhaut einen Oberbegriff gebe und welchen Sinn dieser habe, könne erst das Ergebnis einer Untersuchung sein.140 Dennoch bleibt auch seine Definition nicht frei von einer inhaltlichen Bestimmung. Er fasst „jedes Wortpaar“141 (!) als Paarformel auf, „das als technisches Mittel der Rechtssprache verwendet wurde.“142 Ob dies der Fall sei, könne allerdings „nur aus dem Zusammenhang jeweils entschieden werden.“143 Die Grenzen seien dabei fließend.144

Zu Recht kritisiert FIX in seinem Aufsatz über ‘Poetisches im altisländischen Recht’ bei all diesen Bestimmungen die fehlende Operationalisierbarkeit.145 Wir wüssten „[a]ls Nachgeborene […] eben nicht, welche Formeln im 13. Jahrhundert oder früher in Island ‚stehend‘ waren, wie man deren einheitlichen Sinn ermittelt.“146 Diese Aussage lässt sich meines Erachtens direkt auf andere Sprachstufen und damit auch auf das Mittelhochdeutsche übertragen: Nie können wir mit Sicherheit sagen, welche Ausdrücke tatsächlich als feststehende Formeln etabliert waren und nie können wir ganz sicher sein, den einheitlichen Sinn einer Formel richtig bestimmt zu haben. Jede Form der inhaltlichen Abgrenzung zweigliedriger Ausdrücke bei identischer äußerer Form ist also schnell dem Vorwurf der Willkür ausgesetzt. Um sich diesem Vorwurf zu entziehen, bleibt somit nur eine Definition von Zwillingsformel, die sich ausschließlich an der äußeren Form des zweigliedrigen Ausdrucks orientiert.147 Diese Form gestaltet sich nach FIX so, „daß nämlich zwei Wörter gleicher Wortklasse durch Partikel verbunden sind, eventuell durch Stabreim gebunden, d.h. die Form besteht aus drei aufeinander folgenden Wörtern.“148 Um herauszuarbeiten, ob es sich bei diesen Ausdrücken wirklich um mittelalterliche Formeln handelt, gibt FIX nun allerdings den Verzicht auf das Kriterium der Häufigkeit auf.149 Er erfasst dementsprechend in seiner Analyse der Texte ‘Grágás’ und ‘Jónsbók’ diejenigen Formeln, ← 38 | 39 →

Ähnlich beschreibt BERGER die Unterscheidung mehrfach auftretender Paare von nur einmalig auftretenden Paaren und einmaligen Variaten eines häufiger auftretenden Paares terminologisch als „eine Trennung zwischen formelhaften und nicht-formelhaften Wortpaaren“151. Damit führt sie die Bezeichnung Wortpaar fort, die, wie bereits oben erwähnt, schon DILCHER für alle Ausdrücke einführt, die diese äußere Form besitzen.152 Auch FIX bemüht sich trotz ← 39 | 40 → seiner Einschränkungen letztlich um neue Termini: „Geht man […] allein von der Form aus, so wären für die hier vorliegende syntaktische Figur die Termini ‚Wortpaar‘ oder ‚zweigliedriger Ausdruck‘ sicher adäquater“153. Ähnlich schreibt JEEP: „Es taucht in der Forschung immer wieder die Frage auf, welche Wortpaare als Formeln aufzufassen seien.“154 Zwillingsformeln sind demnach nur als ein Teilbereich der Wortpaare zu verstehen, der sich je nach angenommener Einschränkung anders gestaltet. Wählt man hingegen, wie BERGER, den Überbegriff Wortpaar für das konkret untersuchte Phänomen, so müssen die gegebenenfalls gewünschten Einschränkungen, etwa formelhaft und nicht-formelhaft, als Attribute beigegeben werden.

Wortpaar kristallisiert sich somit als eine geeignete und in der Forschung bereits angedachte Bezeichnung heraus, um einen bestimmten Typ zweigliedriger Ausdrücke allein aufgrund seiner äußeren Form terminologisch zu erfassen. In meinem Forschungsüberblick werde ich im Folgenden dennoch die Bezeichnung Zwillingsformel beibehalten, weil sie sich in der Forschung überwiegend durchgesetzt hat.

1.3.1.2 Exkurs: Zum Terminus Formel und zur Oral Formulaic Theory

SCHMID-CADALBERT bestimmt ‚Formel‘ als ein „Kompositionselement traditioneller, sowohl oraler wie schriftlicher Dichtung“155. Das Wort lasse sich vom lateinischen „formula (Diminutiv zu forma)“156 herleiten. Dabei handle es sich ← 40 | 41 → um einen „Begriff der römischen Rechtssprache“157, der „die offizielle schriftliche Wiedergabe eines Tatbestandes in vorgeprägten Wendungen“158 bezeichne. Für die gegenwärtige Literaturwissenschaft beschreibt SCHMID-CADALBERT drei verschiedene Verwendungen des Formelbegriffs: Zum einen benenne der Terminus eine „[f]este, wiederkehrende Wortfolge mit bestimmter emotiver, konativer und phatischer Funktion, z.B. Beteuerungs-, Demuts-, Heische-, Eingangs-, Überleitungs- und Schlußformel.“159 Daneben könne eine Formel ein

[w]iederkehrendes Textelement mit referentieller Funktion [sein], das als fixierte gültige Wendung die Ebene der sprachlichen Realisation und als in sich sinnvolle Motivverkettung oder Prägung eines Gedankens oder Begriffs die Sinnebene betrifft.160

Eine dritte Verwendung des Wortes sei in der Oral Formulaic Theory definiert worden. BERGER schreibt hierzu genauer:

M. Parry war der Begründer dieser Theorie über die Formelhaftigkeit mündlicher Dichtung, die er in seiner Untersuchung der homerischen Epen entwickelte und die von seinem Schüler Lord weiter ausgebildet wurde. Nach Parrys klassischer Definition ist eine Formel ‚a group of words which is regularly employed under the same metric conditions to express a given essential idea.‘ Repetition ist demnach das entscheidende Kriterium für die Identifizierung einer Formel.161

Die Beschäftigung mit der Formelhaftigkeit mittelhochdeutscher Texte trennt LUTZ in zwei Phasen, nämlich in die vor und die nach Bekanntwerden der Oral Formulaic Theory.162 Vor Erscheinen der Theorie habe ‚Formel‘ Phänomene auf zwei verschiedenen Ebenen bezeichnen können, nämlich auf der Ebene der Motivik und auf der Ebene der sprachlichen Realisierung dieser Motivik. Im ersten Fall sei es etwa ein Naturbild, das als Eingangsformel eines Textes diene; im zweiten Fall eine konkrete sprachliche Erscheinung, eine „fixierte, wiederholbare, gültige Wendung“163, die Formel genannt werde.164 Diesen Definitionen fehle jedoch, so LUTZ, die Angabe heuristischer Verfahrensweisen, mit denen ← 41 | 42 → eine empirische Absicherung möglich würde.165 Mit dem Bekanntwerden der Oral Formulaic Theory habe die Formel „eine zentrale Rolle“166 in „der aus dieser Theorie abgeleiteten Dichotomie ‚Mündlichkeit‘ – ‚Schriftlichkeit‘“167 zugewiesen bekommen. Im Gegensatz zu PARRY und LORD habe BOWRA jedoch die oben beschriebene metrische Bedingung nicht in seine Formeldefinition aufgenommen.168 Er verstehe unter einer Formel im Rahmen dieser Theorie ausschließlich eine sprachliche Einheit, die in einer bestimmten Situation immer verwendet werde – ‚Formel‘ sei nun also „kontextuell determiniert“169. Die Wörter einer solchen sprachlichen Einheit dürften dabei gar nicht oder nur sehr gering variieren.170 BOWRA unterscheide generell zwei Klassen von Formeln:

Auf der einen Seite stehen die Substantiv-Adjektiv-Kombinationen […]. Auf der anderen Seite stehen die Wiederholungen von Phrasen, die als Teile von Zeilen, je eine komplette Zeile oder ganze Zeilengruppe auftreten können.171

Die Funktionsweise der Oral Formulaic Theory beschreibt LUTZ in einem Funktionsmodell:

Die Theorie mit ihren einzelnen Elementen [Variation, Metrik, Vers, Rhythmus, Thema, Häufigkeit] funktioniert als Beschreibungsmechanismus für die Bauprinzipien des INPUTs ‘mündliches Epos’; als OUTPUT wird die Organisation dieses INPUTs als auf Erzählformeln und Erzählschablonen, etc. basierend beschrieben.172

Der OUTPUT sei „somit eine Strukturanalyse, die das Bauprinzip des INPUTs [also des mündlichen Epos] deskriptiv“173 erfasse, „aber keine Analyse, die ein unbekanntes Charakteristikum des INPUTs explanativ“174 entdecke. Die Theorie sei daher „nicht dafür konzipiert, einen Text als ‚mündlich‘ oder ‚schriftlich‘ ← 42 | 43 → zu charakterisieren bzw. zu identifizieren“175. Mündlichkeit sei allerdings eine „empirische Vorbedingung bzw. Plausibilitätserklärung“176 der Theorie. Für die mittelhochdeutsche Dichtung sei die Theorie deswegen auch nicht unmittelbar anwendbar, da ein mündliches Epos nicht zweifelsfrei als INPUT angenommen werden könne.177 Im Zusammenhang mit der mittelhocheutschen Heldendichtung kommt HAFERLAND zu einem ähnlichen Ergebnis. Er stellt zunächst RYCHERs Vergleich dreier Fassungen der ‘Prise d’Orange’ vor, die zeigen,

daß Formelhaftigkeit und Motivik beim Kompositionsprozess eine entscheidende Rolle spielen. Nicht festgestellt ist damit, wann dieser Kompositionsprozeß stattgefunden hat. Es scheint aber, als sei er einem Vortrag je schon vorausgegangen. Dann aber hat Formelhaftigkeit hier nichts mir Improvisation zu tun, sondern mit Memorieren. Und vielleicht stellt sie auch eher sprachliche Stereotype dar als Formelhaftigkeit in dem Sinne, wie sie von der Oral Formulaic Theory bemüht wird. Dies wäre ein Befund, wie er sich auch für die mittelhochdeutsche Heldendichtung herausstellt. Traditionen des Memorierens dürften also recht verbreitet sein, so daß der Eindruck trügt, den die Oral Formulaic Theory von ihrem vermeintlichen Gegenstand, der oral poetry aller Zeiten und Kulturen, vermittelt hat.178

Formelhaftigkeit in der mittelhochdeutschen Dichtung kann mit der Oral Formulaic Theory somit nicht erklärt werden.

1.3.1.3 Zur zweiteiligen Form der Zwillingsformel

Die äußere Form der Zwillingsformel ist nicht die einzige Möglichkeit, Wörter in einem zweigliedrigen Ausdruck miteinander zu verbinden. In der lateinischen Sprache, so KOSKENNIEMI, stehe etwa ein asyndetisches „usus fructus besides usus et fructus, usus fructusque.“179 In den germanischen Sprachen hingegen gebe es kaum Paare, in denen die Wörter asyndetisch miteinander verbunden seien. KOSKENNIEMI beschreibt die Konjunktion deswegen als „an almost indispensable element“180 einer Zwillingsformel. Die darüber hinaus beteiligten Wörter wurden vor allem unter dem Aspekt der Reihenfolge ihres Auftretens untersucht. BEHAGHEL unterscheidet in seinem Aufsatz über „Beziehungen zwischen Umfang ← 43 | 44 → und Reihenfolge von Satzgliedern“181 zwei Typen von Wortgruppen: „Bestimmungsgruppen, d.h. solche, bei denen ein Glied zur Bestimmung eines anderen dient, und […] Erweiterungsgruppen, d.h. solche, deren Glieder einander gleichberechtigt sind.“182 Seine Untersuchung gilt schließlich den Erweiterungsgruppen, genauer denjenigen, „deren Glieder durch Konjunktion verknüpft sind.“183 BEHAGHEL interessiert sich speziell für die Frage, „ob Beziehungen zwischen Umfang und Anordnung von […] ungleichen Gruppengliedern bestehen“184, das heißt, ob es eine bestimmte Regel gibt, nach der Wörter oder Wortgruppen ungleicher Länge in einer Paarung angeordnet sind. Er kommt dabei zu dem Ergebnis, dass in den meisten Fällen vor der Konjunktion zuerst der kürzere und danach der längere Bestandteil stehe. Diese Beobachtung nennt er „das Gesetz der wachsenden Glieder“185. KOSKENNIEMI sieht diese Überlegungen BEHAGHELs gerade darin bestätigt, dass einige Zwillingsformeln die Tendenz aufweisen würden, „that the second part of the […] formula […] consists of several words.“186

Auch KRAUSE bestätigt die Beobachtung, dass das längere Glied überwiegend an zweiter Stelle stehe;187 entwickelt aber darüber hinaus eine Bestimmung der Wortreihenfolge nach inhaltlichen Gesichtspunkten. Es gebe einerseits ein ‚Prinzip der absteigenden Linie‘, nach dem „das gewichtigere Glied voranzustellen“188 sei. ‚Gewichtiger‘ bezieht sich in diesem Fall nicht auf die Wortmenge oder Wortlänge, sondern auf das inhaltliche Gewicht, wie das Beispiel „Menschen und wilde Tiere“189 illustriere. Andererseits existiere ein „Prinzip der aufsteigenden ← 44 | 45 → Linie“190, in welchem wiederum beabsichtigt sei, „den Eindruck der Worte dadurch zu steigern, daß man sich das Gewichtigere […] gewissermaßen als Trumpf für die zweite Stelle aufspart.“191 Dies sei etwa bei „Frau und Ehemann“192 der Fall. Aufgrund der Beleglage im Altawestischen193 hält KRAUSE das Prinzip der absteigenden Linie für das ältere.194 Somit steht nach KRAUSEs Vorstellung traditionell das inhaltlich wichtigere, aber formal kürzere Glied an erster Stelle. Dies sei noch an den „seit altersher besonders fest eingewurzelte[n] Formeln […] mit dem Wort ‚Vater‘ im ersten Glied“195 erkennbar.

Darüber hinaus verweist KRAUSE auf den möglichen Einfluss des Ablauts auf die Wortreihenfolge.196 In Zwillingsformeln stünde das Wort mit dem Vokal /i/ „lieber als erstes Glied“197, da dieser Vokal der hellere sei und ein hellerer Vokal „im Allgemeinen […] an erster Stelle“198 stehe. Dies entspreche der Tatsache, dass in Zwillingsformeln das erste Glied musikalisch höher gesprochen werde als das zweite.199 Dieses Prinzip könne erklären, warum „wir neben Gold und Silber ebenso gut Silber und Gold sagen“200. Es sei so stark, dass es sogar die anderen Prinzipien aufheben könne.201 Der unmittelbare Zusammenhang dieser Beobachtung mit dem Ablaut ist mir allerdings nicht klar.

DONALIES führt darüber hinaus noch weitere Theorien an: die Wert-Theorie, nach der „zuerst das Gute, dann das Schlechte“202 genannt wird; die Belebtheitstheorie, die „das Belebte vor dem Unbelebten“203 anführt; die „Theorie der proximalen vor distaler Deixis“204, die besagt dass „zuerst das Nahe und dann ← 45 | 46 → alles Entferntere, alles Weitere“205 steht; und die damit verwandte Theorie des „anthropozentrische[n] Me-first-Prinzip[s], nach dem zuerst der Mensch und dann in sich entfernender Folge alles übrige angeführt wird.“206

Obwohl diese Gesetze und Theorien für sich betrachtet zunächst einleuchtend erscheinen mögen, ist im Hinblick auf die nachweisliche Austauschbarkeit der Wörter innerhalb eines Paares207 und die Widersprüchlichkeit der Gesetze selbst offensichtlich, dass keines von ihnen in allen Fällen zutreffen kann. Auch KRAUSE selbst verweist mehrfach darauf, sich bestimmte Formen nicht erklären zu können.208 Dazu passt, dass DONALIES zu all ihren Theorien nicht nur Beispiele anführt, sondern mitunter auch Gegenbeispiele.209 Ähnlich bemerkt FIX in Bezug auf das Gesetz der wachsenden Glieder BEHAGHELs: „Das Material zeigt jedoch allenfalls eine Tendenz, sich nach diesem Gesetz zu verhalten. Auch andere Gründe, wie logische Folge, Ursache und Wirkung etc. dürfen ganz wesentlich sein.“210 Obschon FIX KRAUSEs Arbeit nicht bespricht, deutet also auch FIX hier an, dass es inhaltliche Komponenten gibt, die Einfluss auf die Wortreihenfolge nehmen können. Dennoch lässt er keine einheitliche Regelung der Wortabfolge zu: „Die Wortfolge ist in einer Reihe von Zwillingsformeln reversibel, wie das Bindewort auswechselbar ist.“211

Eine solchermaßen beliebig anmutende Austauschbarkeit der Komponenten innerhalb eines Paares darf jedoch nicht als ein Kennzeichen mangelhafter Zusammengehörigkeit der Wörter betrachtet werden. BERGER verweist auf CHRISTIANI, die die Variantenbildung vielmehr als „ein Anzeichen besonders fester Zusammengehörigkeit der beiden Komponenten“212 sehe:

Denn Schwankungen in der Wortstellung bei […] gebräuchlichen Verbindungen […] sprechen vielmehr für eine besonders feste, formelhafte Verknüpfung der Glieder als für eine durch die Umstellung beabschtigte besondere Hervorhebung eines Gliedes.213 ← 46 | 47 →

KOSKENNIEMI versucht, eine genauere Erklärung für die Austauschbarkeit der Wörter zu finden. Sie vermutet den tatsächlichen Grund im stilistischen Kontext der Paare:

Da KOSKENNIEMI in ihrer Untersuchung ausschließlich Prosatexte behandelt,215 bleibt der Rhythmus von Verstexten außen vor. Gerade dieser ist es aber, den FIX für die Reihenfolge der Wörter in einem Paar verantwortlich macht:

Das Bindewort hat als unbetonte Silbe in sehr vielen Zwillingsformeln eine wichtige rhythmische Funktion und erscheint unentbehrlich, wenn man rhythmische Gesichtspunkte bei der Betrachtung nicht außer Acht läßt. Es stellt die notwendige Senkung in einer als Halbzeile gesehenen Zwillingsformel dar, wenn die erste Komponente einsilbig ist.

akr eđa eng

munnr eđa nǫs

réttr ok sannr.216

SALOMON führt die Hiatvermeidung als den gewichtigsten Grund für eine bestimmte Anordnung der Wörter an.217 Meines Erachtens darf dabei auch die Endreimbindung nicht als Ursache übersehen werden. Sie kann in der dichterischen Praxis den Ausschlag für eine bestimmte Wortreihenfolge in einer Zwillingsformel geben. Noch stärker formuliert dies BICHSEL in Bezug auf Zwillingsformeln ← 47 | 48 → im französischen Chanson: „Wortreihenfolge und Wortwahl müssen sich der metrischen Struktur und dem Endreim unterordnen“218.

Neben den Zwillingsformeln gibt es auch Ausdrücke, die aus mehr als nur zwei Gliedern bestehen. MATZINGER-PFISTER versteht solche Paarungen, „die gelegentlich zum drei- oder viergliedrigen Ausdruck ausgeweitet werden“219, oder auch „[m]ehrgliedrige Ausdrücke von höherer Gliederzahl, […] [die] durch kettenartiges Aneinanderfügen von Paarformeln gebildet“220 werden, als eine Art Erweiterung der zweiteiligen Form. KOSKENNIEMI beschreibt dies ähnlich:

The two-member phrase and the one consisting of more words than two can be regarded, however, as belonging essentially to the same type of linguistic amplification (even admitting the presence of different rhetorical and stylistic trends).221

JEEP nennt „[v]erwandte Phraseme mit mehr als zwei Elementen […] Mehrlingsformeln“222. DONALIES verfährt ebenso, fasst allerdings auch Zwillingsformeln, die sie als Paarformeln bezeichnet, unter Mehrlingsformeln. Sie unterscheidet: Paarformeln: Haus und Hof; Dreierformeln: Himmel, Arsch und Zwirn; Viererformeln: Messer, Gabel, Schere, Licht.223 Obwohl im letzten Beispiel die übliche Konjunktion fehlt, fügt sich DONALIES’ Auffassung dennoch insofern an die obigen an, als dass auch sie den zweiteiligen Ausdruck als Grundform betrachtet,224 die bisweilen eine Erweiterung zum mehrteiligen Paar erfährt.

1.3.1.4 Theorien zur Herkunft der Zwillingsformel

Um die Herkunft der Zwillingsformel zu erklären, werden in der Forschung unterschiedliche Ansätze herangezogen. Diese reichen von der Vorstellung, verschiedene Stilmittel würden der Zwillingsformel entweder entsprechen oder hätten zumindest für diese Vorbild gestanden, bis hin zu der Überzeugung, die Verwendung von Zwillingsformeln sei von antiken Grammatikern und Rhetorikern postuliert worden oder die mittelhochdeutschen Dichter hätten die Formeln schlichtweg aus den altfranzösischen Vorlagentexten abgeschrieben. Im Folgenden möchte ich diese Überlegungen kurz vorstellen und zugleich kritisch beleuchten. ← 48 | 49 →

1.3.1.4.1 (Antike) Stilmittel als Vorlage?

In der klassischen Rhetorik finden sich mit dikolon, enumeratio, accumulatio, frequentatio, hendiadyoin und Interpretatio verschiedene Stilmittel, die der Zwillingsformel im Hinblick auf verschiedene Gesichtspunkte ähneln, aber dennoch nicht mit ihr gleichgesetzt werden dürfen. Die Wiederholung und die sogenannten Parallelverse wiederum wurden in der Forschung als Ausgangspunkte für die Entstehung von Zwillingsformeln behandelt, was sich aber, wie sich zeigen wird, nicht beweisen lässt.

Dikola und bikola/bicola

Dikola (Sg. dikolon) und bikola (Sg. bikolon), auch in der Schreibung bicola verbreitet, sind sowohl aus dem biblischen Hebräisch225 als auch aus dem Altgriechischen226 und dem Lateinischen227 bekannt. Der Terminus dikolon leitet sich aus dem altgriechischen Wort δῐκωλος ab, das der Bedeutung „with two members“228 entspricht. SICKING verweist darauf, dass die metrische Figur des dikolons in der Forschung verschieden definiert wird: „Strenggenommen ist ein Dikolon ein aus zwei metrischen Kola (d.h. aus entweder in dem unmittelbaren Kontext oder anderswo als rhythmische Kola erscheinenden Segmenten) zusammengesetzter Vers.“229 Das rhythmische Kolon definiert SICKING als „die Versteile, die durch ← 49 | 50 → die Zäsur getrennt werden“230. Ein Beispiel für ein dikolon sei entsprechend der daktylischen Pentameter,231 der folgende Verteilung von longum ‚–‘ und breve‘ aufweise:232

1 2 3 4 5 | 6 7 8 9 10

– , – – ||233

Es handelt sich bei dieser strengen Auffassung von dikolon also um zwei metrisch identisch gebaute Teile innerhalb eines Verses, die durch eine Zäsur geteilt werden.

Daneben beschreibt SICKING auch weniger strikte Definitionen für dikolon, die „für Verse [gelten], die man sich aus zwei anderswo nicht als Kola belegten, metrischen Gruppen zusammengesetzt denkt.“234 Die Zuordnung zu den dikola könne dann aufgrund verschiedener Merkmale erfolgen: wenn der Vers Juxtaopposition von entweder identischen oder untereinander verschiedenen metrischen Gruppen zeige, wenn er die Wiederholung einer Sequenz besitze, wenn der Versrhythmus nach einer bestimmten Sequenz zur Anfangssequenz zurückkehre235 sowie dann, wenn im Verlauf eines Verses die Rückkehr zu einem rhythmisch nicht gestalteten Anfang erfolge.236

Außer für die genannten Fälle, die sich alle auf Verdopplungen innerhalb eines Verses beziehen, wird dikolon auch für den parallelen Aufbau zweier Verse verwendet. BAUMGARTEN zitiert folgendes „Kinderlied“237 als Beispiel für ein dikolon:

Doch was er hat, das will er nicht,

Und was er will, das hat er nicht.238 ← 50 | 51 →

Dass er mit dikolon nicht die Zweiteilung der Verse selbst, sondern tatsächlich den Parallelismus der beiden Verse meint, belegt sein Beispiel für ein trikolon:

BAUMGARTENs Auffassung von dikolon als Parallelismus zweier Verse spiegeln auch die Beispiele bei WITTE240 und AVISHUR241 wieder, wobei AVISHUR dieses Phänomen als bikolon bezeichnet.242 Mit bikolon liegt nach SEGERT eine Bezeichnung vor, die ein lateinisches Präfix mit einem altgriechischen Wort kombiniert: „In the commonly used term ‚bicolon‘ the Latin component bi- is combined with the Greek word for ‚member‘.“243 Das griechische Präfix δῐ- wurde hier somit lediglich durch das bedeutungsgleiche lateinische bi- ersetzt. Was sich hier implizit andeutet, lässt sich auch in der Forschungsliteratur beobachten: Beide Termini werden, soweit man dies bei derart verschiedenen Definitionen überhaupt sagen kann, synonym gebraucht. Synonym meint in diesem Fall: Es gibt keine klaren Unterscheidungskriterien, die ein dikolon von einem bikolon trennen. Auch meine anfängliche Vermutung, dass dikolon in der Erforschung der bibelhebräischen und altgriechischen Sprache und bikolon für den Bereich der lateinischen Philologie verwendet wird, hat sich nicht bestätigt.

Obschon es sich bei dikolon und bikolon somit um Termini für zweigliedrige Ausdrücke handelt, stellen diese kein bibelhebräisches, altgriechisches oder lateinisches Äquivalent zur Zwillingsformel dar, da selbst den parallel gestellten Wörtern innerhalb eines Verses oder ebensolchen Versteilen die Verbindung durch eine Konjunktion fehlt.

Enumeratio

Unter enumeratio, auch „frequentatio“244 genannt, versteht man „eine aufzählende, wiederholende oder zusammenfassende Fügung gleichgeordneter Wörter ← 51 | 52 → oder Wortgruppen.“245 SCHÖPSDAU unterscheidet zwischen verschiedenen enumeratio-Typen, die seit der Antike „ungeachtet einzelner terminologischer Modifikationen bis in die Neuzeit maßgebend“246 geblieben seien. Im Hinblick auf die Zwillingsformel ist besonders die antike Verwendung von enumeratio als Bezeichnung für eine „asyndetische oder polysyndetische Häufung“247 interessant,

bei der sich zwei Unterarten unterscheiden lassen: (α) Die Glieder der Häufung sind semantisch verschieden, z.B.: ‚mulier, tyranni saeve crudelitas, patris amor, ira praeceps, temeritatis dementia‘ (das Weib, des Tyrannen wilde Grausamkeit, die Liebe zum Vater, der Jähzorn, der Unverstand seiner Unbesonnenheit) […]; (β) die Glieder der Aufzählung sind semantisch identisch, z.B.: ‚abiit, excessit, erupit, evasit‘ (er ging weg, er entwich, er verschwand, er stürzte davon).248

Es handelt sich bei diesem Gebrauch der enumeratio also um ein Stilmittel, das eine ähnliche inhaltliche Zweiteilung erfährt wie die Zwillingsformeln.249 Von der äußeren Form her stimmt die asyndetische Form als Darstellung einer „‚Unverbundenheit‘ durch Weglassung des Bindewortes“250 allerdings nicht mit den Zwillingsformeln überein. Die polysyndetische Form hingegen ist eine „‚Vielverbundenheit‘ durch Bindewörter“251 und damit das „Gegenteil des Asyndetons“252. Dennoch liegt auch hier keine direkte Übereinstimmung mit der Zwillingsformel vor, da die Bezeichnung polysyndeton nach ARBUSOW für Fälle wie „eine Reihe von mit ‚Et‘ beginnenden Kurzsätzen“253 verwendet wird. ← 52 | 53 →

Accumulatio, frequentatio und hendiadyoin

Als accumulatio, so CELENTANO,

bezeichnet man eine gedrängte Anordnung von Ideen und Aussagen durch Koordination, Subordination oder einfache Aneinanderreihung der Satzglieder, die sich gegenseitig ergänzen, ohne sich zu wiederholen.254

Die accumulatio ist somit „ein syntaktisches Stilmittel zur Aneinanderreihung von Wörtern oder Sätzen“255, bei dem zwischen der koordinierenden und der subordinierenden accumulatio unterschieden werde.256 Mit einer koordinierenden accumulatio sei entweder eine „Aufzählung einzelner Wörter oder Sätze“257 oder eine „Aufteilung einer Idee in unterschiedliche Begriffe“258 gemeint, wobei „die Satzglieder [in der Aufzählung] unmittelbar nebeneinander“259 stünden, während sie in der Aufteilung „durch einen Abstand getrennt“260 seien. Eine Stilfigur mit diesen Funktionen werde erstmals „im 1. Jh. v. Chr. in der ‘Rhetorica ad Herennium’ […] unter der Bezeichnung ‚frequentatio‘“261 erwähnt.

ARBUSOW bestimmt frequentatio als eine „gedrängte Zusammenhäufung früher vereinzelt angegebener Daten“262. Im ‘Tristan’ beobachtet er:

Als Beispiele für dieses nennt er exemplarisch zwei Sätze aus dem Roman, die mit der Konjunktion und(e) verbundene Satzteile besitzen:

als Thômas von Britanje giht,

der âventiure meister was

und an britûnschen buochen las

aller der lanthêrren leben

und ez uns ze künde hât gegeben.[…]

Details

Seiten
698
Jahr
2018
ISBN (PDF)
9783631763445
ISBN (ePUB)
9783631763452
ISBN (MOBI)
9783631763469
ISBN (Hardcover)
9783631758793
DOI
10.3726/b14478
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Oktober)
Schlagworte
Zwillingsformel Paarformel Parzival Iwein Hartmann Wolfram
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2018., 698 S., 63 Tab., 2 Graf.

Biographische Angaben

Magdalena Terhorst (Autor:in)

Magdalena Terhorst studierte Germanistik und Europäische Ethnologie/Volkskunde. Sie wurde im Fachbereich Deutsche Sprache und Literatur des Mittelalters an der Philologisch-Historischen Fakultät der Universität Augsburg promoviert.

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Titel: Gottfrieds ‹Tristan› lesen: Prolog, Haupttext, Wortpaare
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