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Ästhetische Erkenntnis und politisches Handeln: Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt in Konstellationen ihrer Zeit

von Julia Röthinger (Autor:in)
©2018 Dissertation 364 Seiten
Reihe: Mikrokosmos, Band 83

Zusammenfassung

Aufgrund der besonderen soziohistorischen Bedingungen konnten sich in der Schweizer Literatur- und Theaterszene der Nachkriegsära Konstellationen herausbilden, die den Aufstieg des „Dioskurenpaares" Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt als international berühmte Autoren ermöglichten. Das Buch spürt diesen Verbindungen nach und deckt das vielfältige Beziehungsgeflecht auf, in das die beiden Schriftsteller eingebunden sind. Im Kontext der Spätmoderne entwickeln sie ein Schreiben, das im Erkenntniswert von Literatur ihren politischen Gehalt erblickt. Indem die Studie den Weg vom Drama und Theater der Nachkriegszeit bis zu den späten Autofiktionen nachverfolgt, entwirft sie eine umfassende Übersicht über das Schaffen der beiden Autoren und legt bislang nicht oder kaum beachtete Bezüge offen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt: Dynamiken einer Freundschaft
  • 1.1 Konstellation und Denkraum
  • 1.2 Forschungsüberblick
  • 1.3 Fiktion und Erkenntnis
  • 2. Zur Situation von Drama und Theater in der Nachkriegszeit
  • 2.1 Zwischen Wiederaufbau und Konsolidierung
  • 2.1.1 Zäsur und Kontinuität
  • 2.1.2 Der Einfluss Bertolt Brechts
  • 2.2 Alle „interessierten sich für diese jungen Menschen“: Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt und der Beginn zweier Karrieren
  • 2.2.1 Max Frisch: Die Sinnlichkeit des Theaters
  • 2.2.2 Friedrich Dürrenmatt: Die Darstellung des Menschen
  • 2.3 Zwischen l’art pour l’art und littérature engagée
  • 2.3.1 Konstellationen und Diskurse
  • 2.3.2 Entwicklungen und Tendenzen
  • 3. Die spätmoderne Dramatik von Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt
  • 3.1 Max Frisch: Biografie: Ein Spiel
  • 3.1.1 Der Abschied von der Bühne
  • 3.1.2 Todesbewusstsein als Lebensfreude
  • 3.1.3 Die Selbsterfahrung im Spiel
  • 3.2 Friedrich Dürrenmatt: Der Mitmacher. Ein Komplex
  • 3.2.1 Das Experiment ‚Theater‘
  • 3.2.2 Γνώθι σεαυτόν (Erkenne dich selbst)
  • 3.2.3 Das Theater als ‚Mausefalle‘
  • 4. Spätwerk I: Schreiben jenseits des Sprachlichen – Experimentelle Prosa
  • 4.1 Max Frisch: Der Mensch erscheint im Holozän. Eine Erzählung
  • 4.1.1 Die Todesflucht des Technologen
  • 4.1.2 Erkenntnis des Alterns
  • 4.1.3 Darstellung als Schwarzes Quadrat
  • 4.2 Friedrich Dürrenmatt: Minotaurus. Eine Ballade
  • 4.2.1 Was ist der Mensch?
  • 4.2.2 Das Labyrinth der Sprache
  • 4.2.3 Selbst-Werdung im Dialog
  • 5. Spätwerk II: Leben im Zitat – Autofiktionale Texte
  • 5.1 Max Frisch: Die Selbstinszenierung als Künstler
  • 5.1.1 Tagebuch 1966–1971 – Die Rolle des Schriftstellers
  • 5.1.2 Montauk. Eine Erzählung – Die Authentizität des Zitats
  • 5.1.3 Resümee: Der ganze Mensch
  • 5.2 Friedrich Dürrenmatt: Die Flüchtigkeit des Ichs
  • 5.2.1 Labyrinth. Stoffe I–III – Das Ich als Fiktion
  • 5.2.2 Turmbau. Stoffe IV–IX – Fragment und Zweifel
  • 5.2.3 Resümee: Die Grenzen der Erkenntnis
  • 6. Der aufklärerische Skeptizismus von Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt
  • 7. Literaturverzeichnis
  • 8. Anhang
  • 9. Index
  • Reihenübersicht

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1.  Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt: Dynamiken einer Freundschaft

„Wir stellten einmal am schweizerischen Schriftstellerhimmel ein Doppelgestirn dar“, so Friedrich Dürrenmatt in späten Jahren über seine Beziehung zu Max Frisch: „Kastor und Pollux, wobei es unklar ist, wer von uns beiden Kastor und wer Pollux darstellt“.1 Kaum erwähnt, schien Dürrenmatt diesen Vergleich jedoch selbst problematisch zu finden; denn auch wenn es sich bei Kastor und Pollux um Zwillinge handelt, so ist nur einer der beiden – nämlich Letzterer – ein Zeussohn und als solcher unsterblich.2 Nun würde zwar das höhere Alter von Max Frisch – folgt man der Argumentation Dürrenmatts mit ihrem Sprung vom griechischen Mythos zum Sternbild der Zwillinge – nahelegen, dass dieser Kastor repräsentiert, den älteren, von der Erde weiter entfernteren Stern;3 doch würde dieser Schluss zugleich implizieren, dass der Jüngere Pollux ist: der Unsterbliche.4 Ein Fazit, das von Dürrenmatt mit der Geste einer captatio benevolentiae umgehend wieder verworfen wird: die größere Chance auf Unsterblichkeit habe Frisch.5 Unklar ist allerdings nicht nur die Zuweisung innerhalb des Dioskurenpaars, unergründlich und wechselvoll ist auch die Beziehung der zwei Sterne zueinander: „Vorher“, so heißt es im Text,

schien unsere Bahn umeinander in einer Ellipse zu verlaufen, bald näherten wir uns, bald entfernten wir uns, um uns wieder zu nähern, jetzt sinken wir auf einer Hyperbelbahn auseinander […] und ins Alter hinab.6

In nuce beschreibt diese Skizze die Dynamiken einer „Arbeitsfreundschaft“7 – und zwar nicht nur mit Blick auf die Beziehung zum Schriftstellerkollegen, sondern auch hinsichtlich des Bedeutungsverlusts, den Frisch und Dürrenmatt, einst ← 9 | 10 → gefeierte Dramatiker, seit den 1970er Jahren erleben. Nur kurze Zeit nach ihrem Erscheinen auf der Bühne in den 1940er Jahren machten die beiden Jungschriftsteller von sich Reden, ihre Stücke galten als ebenso revolutionär wie eigenwillig:8 „Nie“, so Kurt Hirschfeld, seit den 1930er Jahren Dramaturg am Zürcher Schauspielhaus,9 „hatte die Schweiz einen Dramatiker! Und plötzlich kamen da zwei junge Menschen an! […] [A]lle interessierten sich für diese jungen Menschen.“10 Auch die deutschen Theatermacher, kam doch aus dem eigenen Land, wie Günther Rühle in seiner umfangreichen Studie zur Nachkriegsdramatik bemerkt, „nichts Vergleichbares“.11 Frisch und Dürrenmatt bot sich daher die Chance, die deutschsprachigen Bühnen auf zwei Ebenen zu bespielen: Während sie zum einen in einer zerrütteten Nachkriegslandschaft aufsehenerregende, ja skandalträchtige Stücke zu präsentieren vermochten,12 so lenkten sie zum andern – und gerade hierdurch – den Blick der literarischen Weltöffentlichkeit auf die Schweiz.13 Dabei war es in dieser Konstellation der Ältere, schon mit der ← 10 | 11 → Schweizer Literaturszene Vertrautere, der dem jungen Dürrenmatt den Zugang zum Theater ermöglichte und für dessen Erstling Es steht geschrieben lobende Worte fand: „Verehrter Herr Fritz Dürrenmatt!“ – so Max Frisch in einem aus dem Jahr 1947 datierenden Schreiben,

Herr Reiss [gemeint ist Kurt Reiss, Gründer des gleichnamigen Theaterverlags] hat mir neulich Ihren Namen und Ihr Stück erwähnt, ich bat ihn um das Manuskript, das ich nun ein erstes Mal gelesen habe, und ich bin begeistert davon. […] Das Ganze hinterlässt mir einen tiefen Eindruck, eine Vision, die anhält, […] und ich bewundere vorallem [sic] die starke und eigene Vorstellungskraft, die sich in allem offenbart, in der Sprache wie in der bühnenmässigen Verbildlichung. Ich glaube, dass man das Stück, obschon es etliche Schwierigkeiten bietet, auf eine gute Bühne bringen müsste, und ich habe bereits auch mit Herrn Dr. Hirschfeld darüber gesprochen. Ferner habe ich mein Buch heute an Heinz Hilpert [bis 1944 Intendant des Deutschen Theaters Berlin] gegeben, damit er es noch vor seiner Abreise liest. Hoffentlich sind Sie mir nicht böse; […] ich möchte Sie nur wissen lassen, wie sehr ich begeistert bin und überzeugt, dass in Ihnen ein wirklicher Dichter angetreten ist, und ich beglückwünsche Sie zu Ihrem ersten Stück.

Mit herzlichem Gruss

Max Frisch

NB. Wenn Sie möchten, dass ich mit Professor Muschg spreche, ob er es in die Sammlung Klosterberg nehmen will, lassen Sie es mich wissen; ich möchte nicht ohne Ihr Einverständnis mich einmischen.14

So also das erste überlieferte Zeugnis, in dem sich Max Frisch, dessen literarischer Erstling Jürg Reinhart schon im Jahr 1934 erschien,15 an den jüngeren Nachwuchsautor wendet – und dabei zugleich auf Eigentümlichkeiten hinweist, die auch in den folgenden Texten Dürrenmatts zutage treten werden: die Vision, die Vorstellungskraft und die Verbildlichung. Frisch ist hellsichtig genug, um bereits vor der Uraufführung zu erkennen, dass das Stück in seiner Umsetzung Schwierigkeiten bietet; auch dies ist ein Aspekt, der noch eine entscheidende Rolle spielen wird. Dürrenmatt selbst begegnet Frisch jedoch mit Euphorie: ← 11 | 12 → „[I]ch kann Ihnen nur […] von ganzem Herzen danken“,16 heißt es in dem zwei Tage später abgeschickten Antwortschreiben.

Dieser Eindruck einer Einmütigkeit wird allerdings in den nächsten Jahren von vereinzelten Diskrepanzen getrübt; so löst das 1947 von Frisch veröffentlichte Tagebuch mit Marion, Vorläufer des drei Jahre später publizierten Tagebuchs 1946–1949, bei Dürrenmatt eine starke Irritation aus:17 „Tagebuch sicher nötig aber ohne literar. Form“,18 so ein auf Januar 1950 datierender Agenda-Eintrag. Und im Februar wird vermerkt: „Teuflische Idee: Einer schreibt ein Tagebuch, alles erlogen, die unanständigsten Sachen, was er alles getrieben, mit Frauen usw. nach seinem Tod wird alles geglaubt.“19 Mitte der 1950er Jahre blüht die sich zu Beginn andeutende Freundschaft dann noch einmal auf; während eines Besuchs von Dürrenmatt in Männedorf, seit Kurzem Wohnort von Max Frisch, schmieden die beiden Pläne, den Biedermann-Stoff gemeinsam weiterzuentwickeln – ein Projekt, das allerdings mit Dürrenmatts Abreise nicht weiter verfolgt wird, Frisch arbeitet alleine weiter.20 Zunehmend fällt es Dürrenmatt schwer, seine Kritik an den literarischen Veröffentlichungen des einstigen Mentors zurückzuhalten.21 1961 kommt es schließlich zum Eklat, als Dürrenmatt direkt im Anschluss an die Uraufführung von Andorra in der Kronenhalle der versammelten Presse die Mängel des von Frisch gezeigten dramatischen Modells auseinandersetzt.22 Spätestens jetzt schlägt die ehemalige „Arbeitskameradschaft“ der beiden in eine „Rivalität“23 um.

Trotzdem bildet der von Dürrenmatt zu verantwortende Skandal nur den Kristallisationspunkt einer sich vorher schon andeutenden Entfremdung, die nun, mit den Jahren, stetig zunimmt. Ablesen lässt sich dieser Prozess anhand des Briefwechsels der beiden Autoren, der mit nur 36 überlieferten Zeugnissen ohnehin recht schmal ist;24 das Gros der überlieferten Dokumente datiert aus den beiden Nachkriegsjahrzehnten, in den 1970er und 1980er Jahren wurden nur vier Briefe ← 12 | 13 → verschickt.25 Der letzte Brief, von Dürrenmatt anlässlich des 75. Geburtstags von Max Frisch verfasst, fand keine Antwort mehr: „[E]s war für Dich einst ein Problem, dass ich zehn Jahre jünger bin als Du“, heißt es dort –

[d]as spielt jetzt keine Rolle. Unserer beider Rutschbahn, im Nichts endend, die wir noch hinunterzuschlittern haben, ist ungefähr gleich lang. Wenn wir schon beide ältere Herren geworden sind, eine Tatsache die, dass sie einmal eintreten könnte, ich nie ins Auge gefasst habe, so weiss ich nicht, ob wir einander kondolieren oder gratulieren sollen. Wie es auch sei, wir haben uns beide wacker auseinander befreundet. Ich habe dich in Vielem bewundert, Du hast mich in Vielem verwundert und verwundet haben wir uns auch gegenseitig. Jedem seine Narben. Diese Zeilen schreibe ich nicht ohne Nostalgie. Ich habe mich nie sonderlich um die Schriftstellerei unserer Zeit gekümmert, du bist seiner Zeit [sic] einer der wenigen gewesen, die mich beschäftigt haben – ernsthaft beschäftigt wohl der Einzige. Als einer, der so entschlossen wie Du seinen Fall zur Welt macht, bist Du mir, der ebenso hartnäckig die Welt zu seinem Fall macht, stets als Korrektur meines Schreibens vorgekommen. Dass wir uns auseinanderbewegen mussten, war wohl vorgezeichnet[.]26

Das gespannte Verhältnis, das hier zur Sprache kommt, ist für Frisch und Dürrenmatt kennzeichnend: das Gegenpolige und Sich-voneinander-Abstoßende. Das Zwillingshafte manifestiert sich in dieser Beziehung gerade nicht in einer gemeinschaftlichen Realisation literarischer Projekte, in einer gegenseitigen Herausforderung und freundschaftlichen Kritik, wie es bei Goethe und Schiller, dem Dioskuren-Paar der Weimarer Klassik, der Fall war.27 Es zeigt sich vielmehr in einer Form der Distanzierung, des Abstand-Nehmens – und wirkt gerade so als Antrieb für das eigene Schaffen: „[W]enn Frisch […] ein neues Stück geschrieben hat“, so Dürrenmatt, „komme ich rein sportlich wieder in Schwung; das Gefühl, nachspurten zu müssen, ist schließlich auch in der Schriftstellerei belebend, nicht nur im Sport.“28 Der andere bleibt damit Referenz, so gegenteilig das Verständnis dessen, was mit der Schriftstellerei denn nun zur Sprache gebracht werden soll, auch sein mag. Wenn also Dürrenmatt in seinen späten Jahren seine Kritik an Max Frisch nicht mehr verhehlte und auch öffentlich kundtat, setzte er sich trotzdem intensiv mit dessen Texten auseinander – erinnert sei hier nicht nur an die umfangreichen Kommentare zu Graf Öderland und Stiller, 29 ← 13 | 14 → sondern auch an die Auseinandersetzungen mit Biografie: Ein Spiel, Triptychon und Montauk.30 Max Frisch wiederum beschäftigte sich nicht nur in extenso mit Dürrenmatts Romulus und Besuch der alten Dame,31 er adaptierte sogar Motive, die für den dürrenmattschen Gedankenkosmos als zentral angesehen werden können,32 ja er erschuf aus seinem Gegenüber gar eine literarische Gestalt: Herrn Neuenburger, der gerne einen alten Bordeaux trinkt, über Astronomie redet und sich mit Einstein beschäftigt.33 Mit seinen Gesprächen im Alter versuchte sich Frisch zudem explizit an einem Gegenentwurf zu Charlotte Kerrs Dürrenmatt-Biopic Portrait eines Planeten.34 Doch trotz aller Versuche, sich von Dürrenmatt zu distanzieren, bekennt Max Frisch in seinem erst 2014 veröffentlichten und in den 1970er Jahren geführten Berliner Journal, dass er nur zwei Autoren kenne, die seiner Meinung nach den Maßstab für eine schriftstellerische Existenz erfüllten: Uwe Johnson – und Friedrich Dürrenmatt.35 Die anfängliche und im ersten Brief bereits formulierte Überzeugung, dass es sich bei diesem um einen ‚wirklichen‘ Dichter handele, blieb also erhalten, trotz aller Diskrepanzen. Und so kam die Beschäftigung mit den literarischen Produktionen des Gegenübers auf beiden Seiten nicht zum Stocken; der andere blieb ein Gegenspieler, mit dem es sich auseinanderzusetzen galt.36

Doch bewegte sich die Laufbahn der zwei Schriftsteller, dieser Bezugnahme zum Trotz, nicht nur auseinander, wie im Eingangszitat formuliert; sie bewegte sich auch und zur gleichen Zeit von der Höhe in die Tiefe hinab: eine Rutschbahn, deren Ende das Nichts sein wird, um hier eine Wendung von Dürrenmatts letztem an Frisch gerichteten Brief aufzugreifen. Denn auch wenn die Produktivität der beiden Schriftsteller mit dem Alter nicht nachließ, veränderte sich doch das Genre, in dem sich Frisch und Dürrenmatt literarisch betätigten. So wandten sie sich mit Beginn der 1970er Jahre von der Bühne ab und dem prosaisch-essayistischen ← 14 | 15 → Schreiben zu. Dieser Wandel wurde von der Kritik mit negativen Kommentaren bedacht; während sich Dürrenmatt – paradoxerweise, möchte man sagen – dem Vorwurf ausgesetzt sah, er würde nur mehr bereits bekannte Stoffe und Motive reproduzieren, ohne dabei noch entscheidende Entwicklungsschritte zu vollziehen,37 wurde Frisch gar einer auktorialen Verweigerungshaltung bezichtigt: zu lakonisch, spröde und abweisend sei sein Alterswerk.38 Diesen Urteilen entsprechend, endet die Karriere der beiden Schriftsteller in der Literaturgeschichtsschreibung für gewöhnlich schon in den 1960er Jahren.39

Die vorliegende Studie setzt an genau dieser Stelle an und möchte einen neuen Blick auf das bekannte Schriftstellerpaar werfen. Zum einen interessiert sie sich dabei für das diskursive Netz, in das die Dramen und Romane, Erzählungen und Essays von Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt eingebettet sind; so sollen ausgehend vom Denkraum der Nachkriegszeit, innerhalb dessen die beiden Schriftsteller eine für sie je signifikante Ästhetik entwickeln, zentrale, aber seitens der Forschung oft zu wenig beachtete Texte von Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt analysiert und interpretiert werden. Zum andern hinterfragt die Studie die Gründe, die für den Umbruch der zwei Schriftstellerkarrieren meist geltend gemacht werden, und stellt die Frage, ob dieser vermeintliche Abbruch nicht vielmehr als eine Form des Aufbruchs zu deuten ist. Um diese Fragen adäquat beantworten zu können, ist ein tragfähiges heuristisches Instrumentarium nötig. Aus diesem Grund wird das folgende Kapitel zunächst auf das von Dieter Henrich entwickelte Verfahren der Konstellationsforschung eingehen, und dabei wesentliche Ansätze dieser Methode für die eigene Untersuchung fruchtbar machen. Ziel ist, mittels der so angeeigneten und hinsichtlich der untersuchten Konstellation angepassten Forschungsmethode bislang unentdeckte Beziehungen und dialogische Strukturen im Werk von Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt nachzuzeichnen und aufzudecken.

1.1  Konstellation und Denkraum

Abhängigkeit und Bewunderung, Verwunderung und Stichelei, Rivalität und Freundschaft: zwischen all diesen Faktoren schwankt die Beziehung zwischen Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt, richtet sich immer wieder neu aus, auch in den Phasen gegenseitigen Verstummens. Der Andere mag nicht mehr direkt angesprochen werden, wahrgenommen wird er trotzdem. Ob Graf Öderland oder Der Besuch der alten Dame, ob Biografie: Ein Spiel oder der Roman Justiz – die Entwürfe des anderen regen die eigene Produktivität an und befördern so die Weiterentwicklung der literarisch-ästhetischen Konzeption. Beispielhaft lässt sich dies am Briefwechsel zu Graf Öderland nachverfolgen:40 Die ‚Moritat‘ veranlasst Dürrenmatt zu einem mehrseitigen Schreiben, in dem er ausführlich auf die Figurenkonstellation des Dramas eingeht, allerdings nur, um dabei in Anlehnung an Sören Kierkegaard gleich eine neue Zuweisung vorzunehmen: „Oederland [sic] als Läufer: / Diagonale zwischen Ethischer und Ästhetischer Linie die ins Nichts führt. Räumt vorher noch alle ethischen Bauern auf“ – oder: „Öderland: Ein Schiffbrüchiger, der vom Orkan des Ethischen an der Klippe des Ästhetischen zerschmettert wird.“41 Frisch wiederum kontert mit einer ebenso ausführlichen Darlegung seines Ansinnens: „[M]einer Absicht nach wäre es ja so, dass der Graf Oederland [sic], die mythische Figur, durchaus eine solche bleibt, d.h. dass sie sich nicht verkörpert und nicht die Bühne betritt“.42 Graf Öderland ← 15 | 16 → : ein Hochstapler, ein Mann, der nicht ist, was er scheint – „wie Don Juan […] oder wie Blaubart“,43 so Frisch. Deutlich wird an diesem Beispiel, wie jeder der beiden Autoren ein ganz eigenes Konzept vertritt. Interessiert sich der eine, beeinflusst von der Philosophie Kierkegaards, für den Weg zwischen den Klippen des Ethischen und Ästhetischen, so fragt der andere nach der Differenz zwischen Sein und Schein, nach den Bedingungen der Möglichkeit personaler Identität. Die Divergenzen, die hier zum Ausdruck kommen, prägen auch das Spätwerk von Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt und finden sich somit bereits im Briefwechsel angelegt. Dabei trägt gerade der Austausch mit dem Schriftstellerkollegen zur Konturierung des eigenen Profils bei.

Doch auch die Stimmen weiterer Autoren und Denker beeinflussen das literarische Schaffen und befördern die Konzeptualisierung des eigenen Stils. Die folgende Studie hat insofern zum Ziel, das diskursive Netz zu bestimmen, vor dessen Hintergrund Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt ihre Texte und Überlegungen entwickeln. Methodisch orientiert sie sich am Verfahren der Konstellationsforschung, ein von Dieter Henrich entwickeltes Programm, das bislang vorwiegend in der Philosophiegeschichtsforschung Anwendung findet. 44 ← 16 | 17 → Ausgangspunkt von Henrichs grundlegenden Studien zum Deutschen Idealismus ist die Frage, wie sich die explosionsartige Entwicklung dieser geistesgeschichtlichen Strömung am Ausgang des 18. Jahrhunderts erklären lässt.45 Henrich entwirft hierfür die Methode der Konstellationsforschung, deren Ziel es ist, wechselseitige Einflüsse zwischen verschiedenen Denkern innerhalb eines Denkraums ausfindig zu machen, um so, über das Zusammenspiel der unterschiedlichen Impulse, eine Erklärung für die Produktivität in der Entstehung von Theorien und Denkansätzen zu finden.46 Von zentraler Bedeutung ist dabei der Gedanke, dass sich diese Entwicklung nur über die Untersuchung ihres Gesamtzusammenhangs – eben: der Konstellation – erschließen lässt; eine bloß isolierte Betrachtung der je einzelnen Tendenzen ermöglicht kein tiefergehendes Verständnis hinsichtlich des zu beobachtenden Phänomens.47

Aber was meint der Begriff ‚Konstellation‘ überhaupt? Mit Martin Mulsow, der das von Henrich entwickelte Konzept fortführt und gegenüber anderen Ansätzen abgrenzt, sind unter Konstellationen „sowohl Personen und ihre Motivationslagen als auch Ideen, Probleme und Theorien“48 zu verstehen; zu berücksichtigen sind also die für den untersuchten Zeitraum virulenten theoretischen Begriffe und Systeme einerseits, und die persönlichen Beziehungen und Gespräche der in das Geschehen involvierten Akteure andererseits.49 Dabei handelt es sich bei den aus diesem Zusammenspiel hervorgehenden Denkansätzen um Lösungsangebote, d.h. um Antworten, die auf ein spezifisches Problem reagieren.50 Damit die Frage gelöst werden kann, worauf die Denkansätze nun reagieren, muss die Konstellationsforschung ihrerseits den Horizont erweitern: auf den Denkraum, innerhalb dessen der zu untersuchende Prozess angesiedelt ist; dieser wird erschlossen über die „faktisch ausgebildeten elementaren Begriffsformen“,51 die innerhalb des fraglichen Diskurses auftreten. Mit anderen Worten: er lässt sich extrapolieren aus der Frage danach, was mit welchen Argumenten diskutiert wurde.52

Um nun den zu untersuchenden Prozess in seiner Entwicklung adäquat nachvollziehen zu können, müssen jedoch zwei Momente bedacht werden: zum einen der zeitliche Verlauf des gesamten Prozesses, zum andern die Spannungen ← 17 | 18 → innerhalb dieses Geschehens. Hinsichtlich des ersten Aspekts zeigt sich, dass eine Studie, die auf das Verfahren der Konstellationsforschung abhebt, notwendigerweise diachron angelegt sein muss, dass sie also ihr Augenmerk auf die zu betrachtende Entwicklung in ihrer Ganzheit zu legen hat.53 Hinsichtlich des zweiten Aspekts ist zu bemerken, dass sich eine Dynamik nicht nur im zeitlichen Verlauf, sondern zugleich in der je momenthaften Grundstruktur der einzelnen Relationen feststellen lässt.54 Dieter Henrich verwendet hierfür den Begriff der Di-Kon-Stellation, insofern sich eine anfangs statische Beziehung zunehmend auseinander entwickelt, wobei jeder der in diesen Prozess involvierten Akteure einen eigenen Ansatz entwirft, dessen Ziel die Überwindung der sich im Denkraum manifestierenden Problemanordnung darstellt.55 Die Dynamik, die innerhalb der untersuchten Konstellation aufkommt, erklärt sich aus der Schärfe der gegensätzlichen Positionen;56 dabei ist jedoch die Verbindung zwischen den einzelnen Akteuren mitunter so eng, dass es, wie Henrich bemerkt, gar nicht möglich ist, auch nur eine der neu aufkommenden Theorien

auf die Konzeptionskraft eines Einzelnen zurückzuführen. Ohne den Bezug auf das Vorbild, die Kritik und die Anregungen anderer und ohne ihren Ansporn und die Konkurrenz mit ihnen müssen der Höhenflug und mehr noch die Rapidität im Hervorgang dieser Konzeption unverständlich bleiben.57

Die Konzeption des Einzelnen ist also nicht nur Resultat der Denkkraft desselben, sie ist vielmehr Produkt eines Austauschs mit anderen, deren Kritik und Anregungen der einzelne Denker aufnimmt. Nur vor dem Hintergrund dieses Wechselspiels lässt sich die Genese der einzelnen Konzeption erklären, nicht jedoch,

wenn man von einer einzelnen Biographie und Werkgeschichte ausgeht, um in die Dynamik des Denkens eines Einzelnen die für ihn wesentlichen Begegnungen immer dann einzufügen, wenn sich dies aufdringt oder als geboten erscheint. Man muss von dem Geschehen als Ganzem ausgehen und von ihm her über die Wege der Einzelnen Aufschluss gewinnen[.] 58 ← 18 | 19 →

Im Fokus steht folglich die Konstellation in ihrer Ganzheit, von ihr aus werden die Entwicklungen des Einzelnen beleuchtet.59

Auch wenn die Konstellationsforschung ihren Fokus primär auf die Genese theoretischer Konzepte lenkt und vom einzelnen Akteur als solchem abstrahiert, so ist dieser trotzdem nicht zu vernachlässigen. So bemerkt Henrich in seiner gut zwanzig Jahre nach den Konstellationen erschienenen Schrift Werke im Werden, dass die Konstellationsforschung „einer Komplettierung durch eine andere Verfahrensart“60 bedürfe. Diese andere, von Henrich im zuletzt genannten Titel entwickelte Methodik, fragt nach den Entstehungsbedingungen von Hauptwerken: von Texten, in denen eine für das Œuvre eines spezifischen Denkers grundlegende und wegweisende Konzeption entfaltet wird.61 Die Notwendigkeit, solche Hauptwerke gezielt in die konstellatorische Analyse einzubinden, ergibt sich nicht nur daraus, dass sich die fraglichen Schriften eben im Rahmen einer Di-Kon-Stellation entwickeln – sondern vor allem insofern, als sich der zu untersuchende Gesamtzusammenhang allein über die einzelnen Denkansätze herausbildet, sprich: deren Resultat darstellt.62 Insofern lassen sich Hauptwerke als Marksteine einer Konstellation begreifen: sie gehen aus dem Zusammenspiel hervor und machen es hierdurch sichtbar. Dabei folgen die Werke in ihrer Genese, Henrich zufolge, einem vierphasigen Schema. So ist für das erste Stadium das Moment einer Grundeinsicht zentral, die Erkenntnis eines elementaren Mangels:63

In einer frühen Phase ihres Nachdenkens gelangen bedeutende Autoren zu der Diagnose eines grundlegenden Defizits, welches die in ihrer Zeit vorherrschenden Lehren, trotz aller Differenzen zwischen ihnen, allesamt durchzieht. Aus diesem Defizit erklärt sich ihnen das Ungenügen, das ihr Studium dieser Lehren und ihre eigenen ersten Versuche untergründig begleitet hatte. 64 ← 19 | 20 →

Der Denker stößt sich an einem Defizit, er erkennt ein Problem, für das er allerdings (noch) keine Lösung sieht, auch nicht bei den schon vorgelegten ‚Lehren‘. Dieses Ungenügen bildet den ersten Moment in der Entwicklung, und initiiert gerade aufgrund des Gefühls einer Defizienz die folgenden Schritte. Im zweiten Moment nämlich erhellt sich dieses Ungenügen zu einer Einsicht, wodurch sich das beobachtete Defizit beheben lasse.65 Allerdings ist dieser Gedanke zunächst amorph, er muss, vorläufig, in verschiedenen Schriften, Studien und Skizzen ausgearbeitet und konzeptualisiert werden – um schließlich, in der vierten und letzten Phase, seine Ausgestaltung in Form eines Hauptwerks zu finden.66 Das Moment der Erkenntnis erschließt dabei für den Betreffenden selbst auf eine ‚offenbarende‘ Art und Weise „die maßgebende Perspektive für sein gesamtes Werk“.67 Gerade dadurch bewirkt es, so Henrich, eine Änderung in der inneren Haltung des Denkers, es verleiht seinem Leben eine neue Orientierung.68 Konzeption und Handlung bilden eine Einheit, die Erkenntnis wirkt sich also auf die Praxis aus.69 Insofern initiieren diese Momente einer Einsicht

dramatische Wendungen in einer Lebensgeschichte, und sie heben sich vom Arbeitsalltag eines Denkers als Ereignisse ganz außerhalb der gewohnten Ordnung ab. Aber sie kommen niemals von ungefähr, sondern sind doch in den Zusammenhang des Hervorgehens einer neuen und maßgebenden Konzeption eingebunden. Stets setzen sie eine Problemlage und die Arbeit an ihr oder, mehr noch, eine Auseinandersetzung mit ihr voraus. Und sie erweisen sich als folgenreich bis hin zur Findung einer literarischen Form, in der ein philosophisches Hauptwerk hat komponiert werden können.70

Von zentraler Bedeutung ist hier also die Form, über die das zugrundeliegende Problem gelöst wird. Die Konzeption wirkt nicht allein über ihren Inhalt, sondern primär über die Art und Weise ihrer Gestaltung.71

Eine analoge Zäsur lässt sich in der Schaffensbahn von Frisch wie auch von Dürrenmatt nachweisen. So untergliedert sich die Karriere der beiden Autoren in zwei Phasen: in einen ersten, von ca. 1949 bis 1969 andauernden Abschnitt, in dem das Drama den Schwerpunkt der schriftstellerischen Betätigung darstellt, ← 20 | 21 → und in einen zweiten, von ca. 1969 bis 1989 datierenden Zeitraum, in dem sich der Fokus auf die essayistische Prosa verschiebt.72 Ausgehend von dieser Beobachtung, lautet eine der zentralen Fragestellungen dieser Arbeit: Aus welchen Gründen kam es zu diesem Bruch, zu diesem Genrewechsel? Eine einfache Erklärung könnte darauf abheben, dass diese Zäsur schlichtweg den äußeren Bedingungsfaktoren geschuldet sei, sprich: der Veränderung der Theaterlandschaft Ende der 1960er Jahre. Doch erklärt dies noch nicht, warum sich Frisch und Dürrenmatt gänzlich von jeglicher Form dramatischen Schreibens distanzieren. Um den im Folgenden genauer nachzuzeichnenden Genrewechsel adäquat nachvollziehen zu können, muss kurz auf den bereits erwähnten Umbruch im Bereich des Theaters eingegangen werden. Denn auch wenn dieser nicht die Ursache für die Abkehr darstellt, so dürften die sowohl das literarische als auch theaterpraktische Schaffen affizierenden Umwälzungen die Entscheidung für die Distanzierung von Drama und Theater befördert haben.

Auf einer institutionellen Ebene manifestiert sich die erwähnte Transformation nämlich in einer ‚Herausforderung‘ des Theaters; im Zuge der von den ‚68ern‘ ausgelösten Protestbewegung wird „nicht nur die gesellschaftliche Rolle des Berufstheaters als Institution“ hinterfragt, sondern „zugleich auch die Wirkungsmächtigkeit seiner künstlerischen Mittel“73 problematisiert. Das Theater soll nicht mehr nur die kulturellen Eliten ansprechen, sondern popularisiert und für die Massen geöffnet werden.74 Dieses Bestreben äußert sich in der Erprobung neuer Theaterformen, wie beispielsweise dem happening oder dem ← 21 | 22 → Straßentheater.75 Beide Varianten verstehen sich als „subversive Praktiken“, und zielen ab auf eine „Aufkündigung des Einverständnisses mit etablierten Sichtweisen und Ordnungskonzeptionen“.76 Das Theater als Institution, mit Berufsschauspielern und Abonnements, wird damit nachdrücklich infrage gestellt; neue Formen theatraler Darbietung, die statt den Brettern des Schauspielhauses den öffentlichen Raum zur Bühne erklären, entstehen, und haben im Sinne der Agitation eine direkte ‚Aufklärung‘ der Masse zum Ziel.

Zwangsläufig führen diese Umwälzungen zu einem veränderten Umgang mit der literarischen Vorlage als solcher – steht die performance im Vordergrund, wird der Text demgegenüber nachrangig. Ein zweites ‚transformatorisches‘ Moment lässt sich daher auf der inszenatorischen Ebene ausmachen: in der Entstehung des postdramatischen Theaters, mit seiner Entkoppelung von Stück und Inszenierung.77 Das Theater versteht sich nun nicht mehr nur als bloße „Reproduktionsmaschine dramatischer Dichtkunst“,78 es begreift sich als mit der Literatur gleichrangig.79 Genuin theatrale Mittel erfahren eine Aufwertung, Stimme und Körper werden in der Aufführung exponiert, Musik und Medien in das dargestellte Geschehen integriert.80 Der Schwerpunkt der Darbietung liegt nicht mehr auf dem schriftlich fixierten Text, der auf der Bühne zu realisieren ist, sondern auf den theatralen Gestaltungsmitteln als solchen: auf den Darstellern mit ihrer Gestik, Mimik und Proxemik; auf der Ausstattung mit Maske, Kostüm und Requisiten; auf der Bühne mit Licht, Ton und Raum.81

Trotzdem: die ‚Retheatralisierung‘ führt nicht zu einer „Vertreibung der Literatur als solcher aus dem Theater“,82 wie es zunächst scheinen mag. Vielmehr initiiert sie eine Veränderung innerhalb der dramatischen Gattung – sie mündet, und hier wird der Bereich der textuellen Ebene berührt, in der Genese des ‚nicht mehr dramatischen Theatertextes‘.83 Gerda Poschmann definiert diesen in ihrer grundlegenden Studie zum ‚postdramatischen Drama‘ als einen für das Theater geschriebenen Text, dem bereits als solchem eine „performative, ← 22 | 23 → theatralische Dimension innewohnt“84 – und zwar, als sich hier der Text selbst in seiner Sprachlichkeit ausstellt.85 Sprache dient hier nicht mehr der Kommunikation und dem Dialog, sie wird zu einem klanglichen Mittel, dem als solches ein Selbstzweck eigen ist.86 Figur und Handlung werden destruiert, Sprecherzuweisungen entfallen; der Text bezieht sich rekursiv auf sich selbst, Klang und Bild stehen im Vordergrund und werden assoziativ aneinandergereiht.87 Damit stellt sich der Theatertext in seiner Textualität aus, er inszeniert sich als Text; oder, anders formuliert: Der Text wird sich selbst zur Bühne, er ist sein eigener Gegenstand, der sich als solcher zur Darbietung bringt.

Dass sich diese Form dramatischen Schreibens mit dem „Parabeltheater“,88 wie es von Frisch und Dürrenmatt in den Nachkriegsjahren auf die Bühne gestellt wurde, nicht unbedingt deckt, dürfte schnell offensichtlich sein. Trotzdem offenbart ein genauer Blick auf die Texte der zwei Autoren, dass neben den äußeren Bedingungsfaktoren auch andere Motive zur Veränderung im Schreiben beitragen. Wie im Verlauf der folgenden Untersuchungen zutage treten wird, initiieren die Theaterkrisen, die Frisch und Dürrenmatt Ende der 1960er Jahre erleben, einen Reflexionsprozess über das eigene Schaffen – in dessen Verlauf beide zu der Schlussfolgerung gelangen, dass das Drama nicht die für sie adäquate literarische Form darstellt. Wo liegen also die Vorzüge der Prosa, was kann diese, was das Drama nicht kann? Frisch und Dürrenmatt, so zeigt die Studie, versuchen sich in unterschiedlichen Bereichen – vom Roman über die Erzählung, vom Essay über die Ballade, bis hin zu den ebenso umfangreichen wie vielgestaltigen Autofiktionen des Spätwerks. Wenn sich damit im Schaffenswerk der Schriftsteller eine ähnliche Entwicklung konstatieren lässt, wie sie von Dieter Henrich mit Blick auf die Entstehung von Hauptwerken dargelegt wurde, so stellt sich damit die Frage, auf welches Problem die solcherart entwickelten Konzeptionen reagieren.

Auf diese Frage eine Antwort zu finden, ist eines der Hauptanliegen der vorliegenden Arbeit. Zur Lösung der Fragestellung wird zunächst der Denkraum untersucht, vor dessen Hintergrund Frisch und Dürrenmatt ihre Texte entwerfen. Den Annahmen der Konstellationsforschung entsprechend wird davon ausgegangen, dass Frisch und Dürrenmatt – da in ein gemeinsames diskursives Netz eingewoben – sich mit denselben Frage- und Problemstellungen konfrontiert ← 23 | 24 → sehen, jedoch mit ihren Texten jeweils differente Lösungsstrategien entwickeln. Diese Ansätze mit ihrer je spezifischen Ästhetik sollen im Folgenden aufgelöst und hinsichtlich ihrer verbindenden wie divergierenden Momente hinterfragt werden, dabei stets mit Blick auf ihren soziohistorischen und ideengeschichtlichen Kontext. Denn das Ziel dieser Studie liegt nicht in einer komparatistischen Betrachtung der beiden Autoren; ausschlaggebend ist vielmehr die Frage, wie sich die Texte von Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt vor dem Hintergrund ihrer Zeit verorten lassen, inwiefern sie durch die entsprechenden Diskurse im gemeinsamen Denkraum geprägt sind, mit welchen Autoren, Denkern und Philosophen die beiden Schriftsteller in Kontakt standen, und inwiefern sich ein Einfluss eben dieser im jeweiligen Œuvre nachweisen lässt. Notwendigerweise, dies sei bereits im Vorfeld vermerkt, kann eine solche Darstellung nur selektiv verfahren; auf zahlreiche Beziehungen und Einflussgeber kann nicht im Einzelnen eingegangen werden, und die Nachweise mögen in ihrer Gesamtheit eklektisch wirken. Doch nur so lässt sich ein möglichst umfangreiches Panorama entfalten. Nur vor diesen zahlreichen Stimmen, Impulsen und Akteuren wird der Denkraum sichtbar, in dem sich Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt befinden und vor dessen Hintergrund sie ihre Literatur und auch ihr Verständnis von Literatur entwickeln. Zentrales Moment für die Analysen dieser Studie ist insofern, wie die jeweiligen Bezüge das eigene Konzept nachhaltig beeinflussen und in seiner Form prägen. Im Zentrum steht damit die Ästhetik von Frisch und Dürrenmatt, die Frage, welche Form sie ihren Texten verleihen – und warum sie, im Zuge ihrer jeweiligen Selbstreflexion, schließlich dem prosaisch-essayistischen Schreiben den Vorzug geben. Doch bevor diese Fragen eine Antwort finden, sei zunächst im folgenden Kapitel umrissen, welche Schwerpunkte die Frisch- und Dürrenmatt-Forschung bislang gesetzt hat.

1.2  Forschungsüberblick

Der vom einzelnen Denker entwickelte und im Hauptwerk vorgelegte Entwurf ist also mit Dieter Henrich nicht singulär auf die Konzeptionskraft des Einzelnen zurückzuführen, sondern resultiert aus einem Zusammenspiel mit anderen Denkern. Diese beeinflussen mit ihrem Lob und ihrer Kritik die Konzeption des Einzelnen und befördern durch die Vorlage von Konkurrenzwerken dessen Produktivität. Schaffensbahn und Umfeld können also nicht getrennt voneinander betrachtet werden: Der Einzelne setzt sich in seinem Schaffen mit den Ideen und Anregungen der anderen auseinander, während seine eigenen Überlegungen umgekehrt auf eben diese zurückwirken. Angesiedelt ist dieses Wechselspiel vor dem Hintergrund eines gemeinsamen Denkraums, der durch eine spezifische ← 24 | 25 → Problemkonstellation gekennzeichnet ist, auf welche die vorgelegten Entwürfe alle eine Antwort zu geben versuchen. Das Verfahren der Konstellationsforschung hebt darauf ab, entsprechende Di-Kon-Stellationen aufzudecken, um so die Entstehung von Theorien und Denkansätzen hinsichtlich eines bestimmten Zeitraums zu erklären. Dabei fungiert das aus dem Austausch hervorgehende Hauptwerk nicht nur als Lösungsangebot für das den Reflexionen zugrundeliegende Problem, es ist zugleich Resultat einer sich dem Denker infolge einer Erkenntnissituation ‚offenbarenden‘ neuen Perspektive.

Diese beiden Aspekte, wie sie von Henrich in Konstellationen und Werke im Werden entwickelt wurden, sollen für die folgende Studie fruchtbar gemacht werden. Denn zum einen ist zu konstatieren, dass die Beziehung zwischen Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt, trotz aller Differenzen, eine überaus produktive war – finden sich doch beiderseits noch in den späten Notaten Bekundungen, wonach der andere ein wesentlicher Impulsgeber für das eigene Schaffen ist –; zum andern wiederum lässt sich sowohl in der schriftstellerischen Karriere von Max Frisch als auch in der von Friedrich Dürrenmatt eine markante Zäsur feststellen, wobei in diesem Fall die beiden Brüche nicht direkt miteinander verbunden sind. Die Theaterkrise, die Frisch und Dürrenmatt zeitgleich und doch unabhängig voneinander durchleben, befördert im Zuge einer selbstreflexiven Auseinandersetzung mit dem eigenen Schreiben dessen Neuausrichtung. Ausgehend von diesen Prämissen liegt das Ziel der vorliegenden Studie darin, einen neuen Blick auf die beiden Autoren zu werfen, und auf bislang nicht oder kaum beachtete Kontexte und Hintergründe aufmerksam zu machen. Die Texte von Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt sollen somit vor der Folie des gemeinsamen Denkraums neu erschlossen werden.

Demgegenüber beschäftigt sich ein Großteil der Forschung bislang nur mit einem der beiden Literaten. Allerdings zeigt sich gerade hier eine ‚junge‘ Produktivität, wie sich anhand des Frisch-Jahrs, das 2011 anlässlich des 100. Geburtstags des Schriftstellers begangen wurde, illustrieren lässt. So wartete dieses mit zahlreichen Publikationen und Neuerscheinungen auf, in denen Frisch nicht nur der Öffentlichkeit neu zugänglich gemacht werden sollte,89 sondern in dessen Folge auch einige Neueditionen herausgegeben und gar bislang unedierte Texte des Autors erstmalig publiziert wurden.90 Noch in den letzten Jahren erschienen zahlreiche Publikationen zu Max Frisch, und erst 2015 wurde das letzte von ← 25 | 26 → Frisch verfasste Typoskript als Faksimile-Edition veröffentlicht.91 Auch die Forschung widmete sich in den letzten Jahren vermehrt den Schriften von Frisch,92 obgleich hier neue Ansätze, die sich nicht nur mit dem Komplex der Bildnis- und Identitätsproblematik beschäftigen – Themengebiete, die schon mit Beginn der Frisch-Forschung behandelt wurden93 – zu vermissen sind.94 Insofern ist der von Daniel Müller Nielaba et al. geäußerten Bemerkung zuzustimmen, wonach sich die Forschung vor die Aufgabe gestellt sieht, sich „von selbstverständlich gewordenen Lesegewohnheiten zu lösen und Frischs Schreiben noch einmal neu zu erschließen“.95 Denn nicht nur lassen sich ungewohnte Perspektiven in den Texten von Max Frisch entdecken, auch harrt das bislang kaum beachtete Spätwerk noch einer eingehenden Betrachtung.96

Ähnlich verhält es sich mit Friedrich Dürrenmatt. Zwar entsteht auch hier eine ‚junge‘ Forschung,97 der über zwei neue Buchreihen – gemeint sind die Bände der Sommerakademie sowie die Dürrenmatt-Studien – ein Publikationsforum zur Verfügung steht;98 doch ist trotz dieses Interesses und auch der neuen Ansätze, mit denen Dürrenmatt nun begegnet wird,99 zu konstatieren, dass dieser „nicht zu den Favoriten der Forschung“100 gehört. Noch immer herrscht eine Skepsis, wenn nicht eine Unkenntnis bezüglich des Schriftstellers vor, nicht zuletzt hinsichtlich des – wie im Falle von Max Frisch – kaum zur Kenntnis genommenen Spätwerks.101 Erst zögerlich widmen sich die ersten ← 26 | 27 → Arbeiten den späten Texten, wobei sich zwei Schwerpunktsetzungen herauskristallisieren: zum einen das autofiktionale Stoffe-Projekt, das den Schlusspunkt von Dürrenmatts schriftstellerischer Karriere bildet; zum andern der Aspekt der Intermedialität, der bei Dürrenmatt wiederholt auftaucht und mitunter, wie in Midas oder Die schwarze Leinwand: ein ‚Film zum Lesen‘,102 ausdrücklich thematisiert wird – war Dürrenmatt doch zeit seines Lebens nicht nur Schriftsteller, sondern auch Maler.103

Trotz dieser innovativen Ansätze, die sich in den genannten Abhandlungen auffinden lassen: eine tiefergehende Darstellung des Wechselspiels zwischen den beiden Schriftsteller-Größen, die zugleich das jeweilige Schreiben in den gemeinsamen Kontext einzuordnen versucht, fehlt bislang. Und das, obgleich der Briefwechsel der beiden Schriftsteller bereits Ende der 1990er Jahre der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde – denn so schmal diese Korrespondenz auch sein mag, gerade in der stockenden und schließlich zum Abbruch gelangenden Kommunikation zeigt sich das Spannungshafte und Wechselvolle innerhalb dieser Beziehung. Jedoch mag die isolierte, ‚solitäre‘ Betrachtung der beiden Autoren gar von Peter Rüedi, dem Herausgeber der Briefedition, selbst befördert worden sein, spricht sich dieser doch in seinem beigefügten Essay ausdrücklich gegen eine ‚Zwangsverkoppelung‘ von Frisch und Dürrenmatt aus.104 Mit dieser Bemerkung bezieht Rüedi nachdrücklich Stellung gegen die ältere Forschung, die die Schriftsteller überwiegend komparatistisch betrachtet und dabei die Differenzen zwischen den beiden herausarbeitet105 – ungeachtet des soziohistorischen Kontextes, den sich Frisch und Dürrenmatt teilen, sind doch beide Kinder der (Nach-)Kriegsära, Zeitzeugen, die die Entstehung und die Folgen von Nationalsozialismus und Holocaust beobachten, miterleben, sich damit auseinandersetzen: aus der Ferne, im geschützten Raum der Schweiz, die als solche von den unmittelbaren Auswirkungen des Kriegs nicht betroffen ist. Dieser gemeinsame Hintergrund ist es, der trotz aller Differenzen Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt zum Schreiben motiviert und den jeweiligen Stil der beiden prägt; eben jenen Aspekt herauszuarbeiten und in seiner Komplexität klar zu konturieren, ist das Ziel der vorliegenden Arbeit.

Mit der Fokussierung auf die Gegensätze, auf das Trennende zwischen den beiden Schriftstellern, schwindet der Gesamtzusammenhang, der jenseits der ← 27 | 28 → durchaus vorhandenen Diskrepanzen das Gemeinsame zu offenbaren vermag. Repetitiv werden so über Jahrzehnte hinweg von der Forschung die immer gleichen Differenzen konstatiert. Bemerkt Hans Bänziger bereits Ende der 1980er Jahre, dass Frisch, politisch betrachtet, eher dem liberalen, Dürrenmatt hingegen dem konservativen Spektrum zuzuordnen sei,106 so wird dieser Dissens noch gut drei Jahrzehnte später von Peter von Matt in seiner spannungsvollen Friktion thematisiert.107 In ähnlicher Weise werden auch die Texte der beiden Autoren, was ihren inhaltlichen Grundtenor angeht, voneinander getrennt. Wird für Dürrenmatt veranschlagt, dass sich dieser mit erkenntnistheoretischen Problemen und moralphilosophischen Fragestellungen auseinandersetze, so wird Frisch als ein Schriftsteller konturiert, der in seinen Werken nicht nur existenziellen Fragen nachgehe, sondern der in der Behandlung und Darstellung dieses Themas auf subjektiv-persönliche Erlebnisse zurückgreife, ja sie literarische aufarbeite.108 Diese Art der Gegenüberstellung, die auch noch in der neuesten Forschung als common sense gilt,109 wurde allerdings nicht zuletzt von Dürrenmatt selbst stark befördert. So bemerkt dieser gegenüber Heinz Ludwig Arnold, dass Frisch eher vom Unmittelbaren und Subjektiven ausgehe, wohingegen er, Dürrenmatt, seine Erlebnisse ‚absacken‘ lasse, um sie schließlich aus der Distanz heraus zu verwandeln:

[I]ch bewunderte – und bewundere immer noch – in Frisch die Kühnheit, mit der er vom ganz Subjektiven ausgeht. Ich bewundere in Frisch, daß er sich als Fall ansah. Frisch ist immer der Fall, sein Fall ist der Fall. Das ist seine Ehrlichkeit. Das bewunderte ich und bewundere es noch. Dagegen erscheint bei mir alles gefiltert. Alles, was ich erlebe, was mir vorkommt, sinkt wie in ein Dunkel zurück und kommt dann verwandelt, als eine ganz fremde Gestalt, wieder, in der ich mich erst viel später wiedererkenne. In Frisch bewundere ich die Unmittelbarkeit des Erlebens, des Umsetzens; er ist für mich immer noch der große Impressionist, um ein malerisches Bild zu nehmen. […] Ich bin ein Expressionist. Ich brauche das Erleben im gleichen Maße wie Frisch, aber ich brauche es, um es absinken zu lassen in eine Mitte, die ich nicht kenne, aus der dann etwas ganz Verwandeltes herausstößt. […] Ich brauche alles, was ich erlebe, um es durch meinen Verstand zu filtern, zu prüfen, zu verwandeln, zu gestalten. Ich brauche Stoffe, um zu gestalten. Ich brauche die Erlebnisse als Sedimente, um aus dieser Mitte heraus, die sie besetzen, etwas zu formen. 110 ← 28 | 29 →

Auch wenn Friedrich Dürrenmatt hier Max Frisch als kühn bezeichnet, so dient diese Begriffswahl wohl eher der Verschleierung einer grundsätzlichen Kritik – stilisiere sich Frisch doch zum Exempel, indem sein Fall der Fall schlechthin sei. Der Unmittelbarkeit des Erlebens und auch der literarischen Umsetzung dieser Erlebnisse, wie sich dies bei Frisch zeigt, setzt Dürrenmatt seine Technik des Filterns entgegen; so lasse er seine Erlebnisse zunächst absinken, um sie sodann über den Verstand zu filtern, ja zu sortieren und zu gestalten. Eben dieser Form- und Gestaltungswille, die Fähigkeit zur Differenzierung, die sich hierin manifestiert, wird Frisch indirekt abgesprochen; der Unmittelbarkeit und Spontaneität von Max Frisch wird die eigene Reflexivität entgegengehalten. Die von Dürrenmatt vorgenommene Polarisierung mag dabei durchaus der Konturierung des eigenen Profils dienen: Frisch wird so zu einem Gegner, der gerade als solcher zu einer Auseinandersetzung mit dem eigenen Schreiben anspornt. Konstatiert Heinz Ludwig Arnold also bereits Ende der 1970er Jahre, dass die Beziehung zwischen Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt ein für die Literaturwissenschaft noch ungelöstes Problem darstelle,111 so unterstreicht dieses Beispiel die Virulenz von Arnolds Befund. Erst recht, wenn man einen Blick auf die bisherige Forschung wirft, zeigt sich doch hier, dass die Relation zwischen den beiden Schriftstellern in ihrer vollumfänglichen Komplexität erst noch zu untersuchen ist. Insofern besitzt die Bemerkung Arnolds unverändert an Gültigkeit, auch noch nach mehr als vierzig Jahren.

Trotzdem: gänzlich unbeachtet blieb die Beziehung zwischen Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt seitens der Forschung auch wieder nicht, vor allem die Studien von Ursula Amrein und Claudia Müller haben der fraglichen Di-Kon-Stellation einen genaueren Blick gewidmet. So untersucht Amrein die frühen Theaterstücke der beiden Schriftsteller, und führt in diesem Zusammenhang aus, dass sich jene nicht nur durch eine Gegensätzlichkeit kennzeichnen, sondern dass sie über ihre Differenzen hinweg eine grundlegende Gemeinsamkeit aufweisen: eine Ästhetik der Distanz, die ihren Hintergrund in den historischen Geschehnissen der 1930er, 1940er Jahre habe. Während sich Dürrenmatt des Faktors Zeit bediene, um in seinen Stücken eine Distanz zur Gegenwart herzustellen, bemühe sich Frisch, dasselbe Ergebnis über den Faktor Raum zu erzielen; siedle Dürrenmatt die dargestellte Handlung in einer fernen historischen Epoche an, so verfremde Frisch die auf der Bühne gezeigten und an das aktuelle Geschehen angelehnten Ereignisse, indem er sie in ein anderes ← 29 | 30 → räumliches Umfeld transponiere.112 Amrein gelingt es dadurch, jenseits einer dualistischen Gegenüberstellung auf die Gemeinsamkeit in der Differenz zu verweisen – beide Autoren antworten auf die Frage nach der Darstellbarkeit der zeitgenössischen Geschehnisse mit einer je differenten Ästhetik, wobei das Ziel – die Herstellung von Distanz – dasselbe ist. Im Unterschied zu Amrein behandelt Claudia Müller nicht das Früh-, sondern das Spätwerk der beiden Literaten. Dabei stellt sie die These auf, dass Frisch in seiner späten Prosa an die Grenzen der Sprache stoße, ja sich an der Sprache abarbeite, wohingegen Dürrenmatt in seinen Stoffen eine Mehrstimmigkeit erlange und sich der mündlichen Rede annähere.113 Auch Müller diagnostiziert eine Gemeinsamkeit in der Differenz: so liege das verbindende Element gerade in den unterschiedlichen Reaktionen auf Sprache – Verstummen versus Polyphonie –, und in dem Moment der „Befreiung“, das hierin zum Ausdruck komme; es würden sich beide Schriftsteller mit ihrer späten Prosa vom Drama ‚befreien‘, müsse sich doch hier „jede Stimme in einer Figur inkarnier[en]“, wohingegen in prosaischen Texten „nicht jede Stimme einen Körper haben“ müsse und so der Schriftsteller die Möglichkeit erlange, die Sprache in ihrer „Eigendynamik“114 zu entfalten. Analog zu Amrein arbeitet Müller demnach einen verbindenden Problemkomplex heraus, auf den die beiden Autoren mit einer je differenten Lösungsstrategie antworten.

Aufbauend auf diesen Ansätzen, wird in den folgenden Einzeluntersuchungen das Gemeinsame in der Differenz zwischen Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt herausgearbeitet. Ausgehend vom soziohistorischen und ideengeschichtlichen Kontext, vom Denkraum und seinen Konstellationen, wird gezielt nach der Ästhetik der beiden Schriftsteller zu fragen sein und danach, auf welchen Problemkomplex sie eine Antwort zu finden suchen. Worauf reagieren ihre Texte, welches Problem gilt es zu lösen? Indem die vorliegende Studie ihren Blick sowohl auf die Anfänge der schriftstellerischen Laufbahn richtet als auch auf das jeweilige Alterswerk, strebt sie eine ganzheitliche Darstellung an, in der die Entwicklung innerhalb der einzelnen Schaffensbahn verfolgt und diese in ihren Relationen sichtbar gemacht werden soll. Stets bleibt dabei der gemeinsame Denkraum im Blick sowie die Sicht auf die Ideengeber, die an der Konzeptualisierung der je eigenen Ästhetik Anteil haben. Welchem Aufbau die entsprechenden Ausführungen hierfür folgen, dies sei im folgenden Kapitel näher dargelegt. ← 30 | 31 →

1.3  Fiktion und Erkenntnis

Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt – wurde der eine vor mehreren Jahren noch als „[b]röselndes Alpengestein“115 bezeichnet und über den andern geurteilt, dass dessen Texte inzwischen doch arg „verblasst und verstaubt“116 seien, so hat sich dieses Bild in der letzten Zeit gewandelt. Zumindest in der Forschung lässt sich ein aufblühendes Interesse an den beiden ‚Urgesteinen‘ der Schweizer Literatur feststellen – wenn auch nur für je einen der beiden. Denn in Abkehr von der älteren Forschungspraxis, die Frisch und Dürrenmatt zusammenspannt, nur um sie im Anschluss wieder voneinander zu trennen, umgeht die jüngere Forschung den kontrastiven Vergleich. So gelangt aber nur einer der beiden ‚Zwillinge‘ in den Fokus, und aus dem Blickfeld gerät damit die Gemeinsamkeit des Denkraums, den sich Frisch und Dürrenmatt teilen: die Beziehungen untereinander, die Kontexte und Konstellationen, die das Schaffen des einen wie auch des andern prägen. Wenn Marta Famula in diesem Sinne eine Zäsur in der schriftstellerischen Karriere Dürrenmatts bemerkt und, bezugnehmend auf die Studien Ulrich Webers, hinterfragt, inwiefern diese Entwicklung einer inneren Logik folgt, nämlich einem Schreiben, das seinen ‚Grund‘ im zutiefst Subjektiven findet117 – so mag dieser Beobachtung in Hinblick auf ihren Gegenstand zwar zuzustimmen sein; allerdings wird damit zugleich ausgeblendet, dass sich in der Schaffensbahn von Max Frisch ein ebensolcher Bruch feststellen lässt. Womit die skizzierte Begründung wiederum an ihrer Stichhaltigkeit verliert, erhebt sich doch mit der Gleichzeitigkeit des Umbruchs die Frage nach einem übergreifenden Begründungszusammenhang. Ein ausschließlich auf einen der beiden Schriftsteller gerichteter Blick bleibt insofern defizitär, da er die Hintergründe und Motive der jeweiligen Zäsur nur in begrenztem Maße zu erfassen vermag.

Details

Seiten
364
Jahr
2018
ISBN (PDF)
9783631768372
ISBN (ePUB)
9783631768389
ISBN (MOBI)
9783631768396
ISBN (Hardcover)
9783631768105
DOI
10.3726/b14697
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Dezember)
Schlagworte
Schweizer Literatur Spätmoderne Dramatik Experimentelle Prosa Autofiktionalität Skeptizismus Nachkriegsliteratur
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2018. 357 S., 9 s/w Abb.

Biographische Angaben

Julia Röthinger (Autor:in)

Julia Röthinger studierte Germanistik und Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und arbeitete in der Politik. Sie ist Mitarbeiterin am Institut für Deutsche Philologie der LMU München.

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Titel: Ästhetische Erkenntnis und politisches Handeln: Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt in Konstellationen ihrer Zeit
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