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Das Selbstleseverfahren – Grund und Grenzen

Unter besonderer Berücksichtigung der Perspektive der Strafverteidigung

von Manuela Schlund (Autor:in)
©2018 Dissertation 308 Seiten
Reihe: Criminalia, Band 61

Zusammenfassung

Das Selbstleseverfahren dient der Ökonomisierung der Beweiserhebung im Strafverfahren. Insbesondere in Wirtschaftsstrafverfahren ist eine Hauptverhandlung ohne Selbstleseverfahren nahezu nicht mehr vorstellbar. Die Flut an Urkunden, die beispielsweise durch die Sicherstellung von E-Mailkorrespondenz und die Spiegelung ganzer Server entsteht, ist heute anders nicht mehr zu beherrschen. Trotz dieser Bedeutung im Alltag der Strafjustiz bestehen bei der geltenden Gesetzeslage grundlegende rechtliche wie auch praktische Grenzen, die eine Modernisierung des Selbstleseverfahrens erforderlich machen. Die Autorin erörtert diese Problemfelder und zeigt, unter besonderer Berücksichtigung der Belange der Strafverteidigung, Lösungsvorschläge auf.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • A. Einführung
  • B. Gesetzliche Regelung
  • I. Der Begriff
  • II. Entstehungsgeschichte
  • 1. Fassung von 1979
  • 2. Fassung von 1987
  • 3. Fassung von 1994
  • III. Gesetzliche Voraussetzungen
  • 1. Anwendungsbereich
  • a. Strafprozessualer Urkundenbegriff
  • b. Einführungsfähige Urkunden
  • aa. Exemplarische Urkunden des § 249 Abs. 1 S. 2 StPO
  • bb. Digital gespeicherte Dokumente
  • cc. Andere Schriftstücke
  • c. Ersetzung der Inaugenscheinnahme
  • 2. Anordnung durch den Vorsitzenden
  • 3. Widerspruch
  • 4. Kenntnisnahme
  • 5. Protokollierung
  • a. Feststellung der Kenntnisnahme durch Richter
  • b. Feststellung der Kenntnisnahme durch übrige Beteiligte
  • c. Protokollierung der Feststellung
  • IV. Verhältnis zu § 249 Abs. 1 StPO
  • V. Zusammenfassung
  • C. Grund
  • I. Verfahrensbeschleunigung
  • 1. Beschleunigungsgebot im Strafverfahren
  • 2. Beschleunigungswirkung des Selbstleseverfahrens
  • 3. Kritik
  • II. Verfahrensvereinfachung
  • 1. Vereinfachende Faktoren für die Hauptverhandlung
  • 2. Stimmen aus der Gesetzgebung und Literatur
  • III. Vorteile gegenüber der Verlesung
  • 1. Praktikabilität in Umfangsverfahren
  • 2. Besseres Verständnis durch selbstständiges Lesen
  • a. Allgemeine Eindrücke
  • b. Erkenntnisse der Wissenschaft
  • c. Ergebnis
  • 3. Kein ermüdendes Verlesen
  • IV. Zusammenfassung
  • D. Grenzen
  • I. Rechtliche Grenzen
  • 1. Mündlichkeitsgrundsatz
  • a. Vereinbarkeit aus Sicht des Gesetzgebers und der Rechtsprechung
  • b. Vereinbarkeit aus Sicht der Literatur
  • c. Eigene Stellungnahme
  • 2. Öffentlichkeitsgrundsatz
  • a. Vereinbarkeit mit dem Verfahrensgrundsatz
  • b. Selbstleseverfahren anstatt Ausschluss der Öffentlichkeit
  • c. Beweisaufnahme ausschließlich durch Selbstleseverfahren – „All-In“
  • aa. Gesetzliche Regelung
  • bb. Vergleich mit dem Strafbefehlsverfahren
  • cc. Auswirkungen auf das Revisionsverfahren
  • dd. Ergebnis
  • 3. Unmittelbarkeitsgrundsatz, § 250 StPO
  • a. Vereinbarkeit mit dem Unmittelbarkeitsgrundsatz
  • b. Grundsatz der persönlichen Vernehmung, § 250 StPO
  • c. Urkundenbeweis mit Protokollen, § 251 StPO
  • d. Verbot der Protokollverlesung nach Zeugnisverweigerung, § 252 StPO
  • e. Protokollverlesung zur Gedächtnisunterstützung, § 253 StPO
  • f. Verlesung von Geständnisprotokollen, § 254 StPO
  • g. Protokollierung der Verlesung und audio-visuelle Aufzeichnungen von Zeugenvernehmungen §§ 255, 255a StPO
  • h. Erweiterter Urkundenbeweis, § 256 StPO
  • 4. Anspruch auf rechtliches Gehör
  • 5. Unanwendbarkeit des Selbstleseverfahrens
  • a. Anwendungsbereich
  • b. Anklagesatz
  • c. Einschränkungen durch Unmittelbarkeitsgrundsatz
  • 6. Beweisverwertungsverbote
  • a. Unmittelbarkeitsgrundsatz
  • b. Verwertungsverbot § 51 BZRG
  • c. Allgemeine Beweisverwertungsverbote
  • 7. Akteneinsichtsrecht von Schöffen
  • a. Zulässigkeit der Überlassung von Aktenteilen an Schöffen
  • b. Akteneinsicht vor Beginn der Hauptverhandlung
  • c. Ergebnis
  • 8. Bezugnahme auf das Selbstleseverfahren im Urteil
  • 9. Zusammenfassung
  • II. Praktische Grenzen
  • 1. Wahrnehmungs- und Verständnisprobleme im Selbstleseverfahren
  • a. Rechtliche Grundlagen
  • aa. Rechte und Pflichten des Angeklagten
  • bb. Rechte und Pflichten des Gerichts
  • cc. Rechte und Pflichten der sonstigen Verfahrensbeteiligten
  • dd. Schlussfolgerungen für das Selbstleseverfahren
  • b. Erscheinungsformen in der Praxis
  • aa. Blinde und Sehbehinderte
  • bb. Fremdsprache
  • cc. Analphabetismus
  • dd. Inhaltliches Verständnis
  • 2. Übernahme der durch das Selbstleseverfahren verursachten Kosten
  • a. Blinde und sehbehinderte Verfahrensbeteiligte
  • b. Fremdsprache
  • c. Analphabetismus
  • d. Lektüre des Verteidigers
  • aa. Vergütung bei Zeithonorar gemäß § 3a RVG
  • bb. Vergütung bei Abrechnung nach gesetzlichen Gebühren
  • cc. Pauschgebühr bei umfangreichen Selbstleseverfahren
  • dd. Handlungsbedarf seitens des Gesetzgebers
  • 3. Zusammenfassung
  • E. Handhabung in der Praxis
  • I. Anwendungsfälle
  • 1. Wirtschaftsstrafverfahren
  • 2. Sonstige Umfangsverfahren
  • 3. Selbstleseverfahren bei schriftlicher Antragstellung, § 257a StPO
  • 4. Selbstleseverfahren nach Verfahrensabsprachen, § 257c StPO
  • 5. Schiebetermin
  • a. Entscheidung des 3. Strafsenats vom 16.10.2007
  • b. Entscheidung des 5. Strafsenats vom 28.11.2012
  • c. Stellungnahme und Ergebnis
  • 6. Ordnungswidrigkeitenverfahren
  • 7. Verfahren vor dem Jugendgericht
  • 8. Zahlreiche Dokumente mit vergleichbarem Inhalt
  • 9. Selbstleseverfahren und Beweis durch Augenschein
  • a. Selbstleseverfahren zur Einführung von Telekommunikationsüberwachung
  • aa. Literaturmeinungen zur Überlassung von Tonaufzeichnungen
  • bb. Rechtsprechung zur Überlassung von Tonaufzeichnungen
  • cc. Umsetzung im Selbstleseverfahrens
  • dd. Ergebnis
  • b. Selbstleseverfahren bei graphischen Darstellungen
  • c. Ergebnis
  • 10. Verbotene Mitteilungen über Gerichtsverhandlungen, § 353d Nr. 3 StGB
  • 11. Zusammenfassung
  • II. Umsetzung durch Verfahrensbeteiligte
  • 1. Kenntnisnahme durch Berufsrichter und Schöffen
  • 2. Gelegenheit zur Kenntnisnahme der übrigen Verfahrensbeteiligten
  • 3. Kontrolle der Kenntnisnahme
  • III. Aufgaben des Gerichts
  • 1. Anordnung des Selbstleseverfahrens
  • a. Pflichtgemäßes Ermessen des Vorsitzenden
  • b. Zeitpunkt
  • aa. Frühzeitige Ankündigung des Selbstleseverfahrens
  • bb. Anordnung des Selbstleseverfahrens
  • cc. Abschluss des Selbstleseverfahrens
  • dd. Zusammenfassung
  • 2. Bezeichnung und Bereitstellen der umfassten Urkunden
  • a. Bezeichnung der umfassten Urkunden
  • b. Bereitstellen von Kopien in Papierform
  • c. Bereitstellen von digitalen Kopien
  • 3. Möglichkeit der Stellungnahme für die Verfahrensbeteiligten
  • a. Persönlicher Anwendungsbereich
  • b. Inhaltliche Grenzen
  • c. Zeitliche Grenzen
  • d. Protokollierung
  • 4. Vorgehen nach Widerspruch eines Verfahrensbeteiligten
  • 5. Protokollierung
  • 6. Urteilsgründe
  • 7. Zusammenfassung
  • IV. Tätigwerden des Verteidigers
  • 1. Widerspruch
  • a. Anlass zu Erhebung des Widerspruchs für den Verteidiger
  • b. Zeitpunkt und Form
  • c. Entscheidung des Gerichts
  • 2. Erklärungsrecht des Verteidigers, § 257 Abs. 2 StPO
  • a. Eigenständiges Erklärungsrecht
  • b. Gestaltungsmöglichkeiten bei der Wahrnehmung des Erklärungsrechts
  • c. Keine Vorwegnahme des Plädoyers
  • d. Reaktionsmöglichkeiten des Verteidigers bei Missachtung des Erklärungsrechts
  • e. Kritik am Erklärungsrecht im Zusammenhang mit dem Selbstleseverfahren
  • 3. Antrag auf richterliche Entscheidung, § 238 Abs. 2 StPO
  • 4. Antrag auf richterliche Erklärung
  • a. Antrag auf Einschränkung der Selbstleseanordnung
  • b. Antrag auf Erklärung zur Bewertung des Beweiswerts einer Urkunde
  • aa. Richterlicher Hinweis, § 265 StPO
  • bb. Rechtsgedanke des Zivilprozessrechts
  • cc. Recht auf ein faires Verfahren
  • dd. Fürsorgepflicht des Gerichts
  • ee. Ergebnis
  • V. Tätigwerden der Staatsanwaltschaft
  • VI. Das Revisionsverfahren
  • 1. Entscheidung zwischen Verlesung und Selbstleseverfahren
  • 2. Nicht ordnungsgemäße Protokollierung
  • a. Protokollierung der Anordnung des Selbstleseverfahrens
  • aa. Fehlerhafte Abfolge von Protokollierung der Kenntnisnahme und der Anordnung des Selbstleseverfahrens
  • bb. Nur Protokollierung der Anordnung des Selbstleseverfahrens
  • b. Protokollierung der Kenntnisnahme durch das Gericht
  • aa. Protokollierung der Kenntnisnahme des Inhalts der Urkunden statt des Wortlauts
  • bb. Protokollierung der Kenntnisnahme der Urkunde statt des Wortlauts der Urkunde
  • cc. Protokollierung der Gelegenheit zur Kenntnisnahme durch die Berufsrichter und Schöffen
  • dd. Fehlende Protokollierung betreffend die Kenntnisnahme durch alle Mitglieder des Gerichts
  • 3. Negative Beweiskraft des Protokolls
  • 4. Protokollberichtigung und Rügeverkümmerung
  • 5. Verfahrensfehler bei der Durchführung des Selbstleseverfahrens
  • a. Keine Gelegenheit zur Kenntnisnahme
  • b. Keine Kenntnisnahme durch Berufsrichter oder Schöffen
  • 6. Selbstleseverfahren bei unzulässigen Urkunden
  • 7. Fehlen der Widerspruchbescheidung
  • 8. Umdeutung in einen Bericht des Vorsitzenden
  • 9. Beruhen des Urteils auf dem fehlerhaften Selbstleseverfahren
  • F. Rechtsvergleich mit Österreich
  • I. Regelung des § 252 Abs. 2a ÖStPO
  • II. Vergleichbare Regelungen in Deutschland
  • III. Vergleich Österreich – Deutschland
  • 1. Vergleich der Möglichkeit des Berichts durch den Vorsitzenden
  • 2. Selbstleseverfahren im Entwurf der Strafprozessnovelle in Österreich
  • 3. Stellungnahme
  • G. Ausblick
  • Literaturverzeichnis
  • Reihenübersicht

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A. Einführung

Das Selbstleseverfahren im Strafprozess – jeder Verteidiger, jeder Richter und jeder Staatsanwalt kennt es aus seinem Arbeitsalltag.

Gerade in Umfangsverfahren, hier insbesondere in Wirtschaftsstrafverfahren, ist eine Hauptverhandlung ohne Selbstleseverfahren nahezu nicht mehr vorstellbar. Die Flut an Urkunden ist heute anders nicht mehr zu beherrschen. Ein Hauptverfahren, in dem jede entscheidungserhebliche Urkunde mittels Verlesung eingeführt werden muss, würde sich über die Maßen in die Länge ziehen. Viele Strafkammern – die ohnehin schon mehr als ausgelastet sind – kämen ohne die Prozessökonomisierung durch das Selbstleseverfahren an ihre Belastungsgrenze.

Dies scheint der Gesetzgeber bereits bei der Einführung des Selbstleseverfahrens erkannt zu haben. In den Gesetzgebungsmaterialen aus dem Jahr 1978 wurde davon ausgegangen, dass Wirtschaftsstrafverfahren der Hauptanwendungsfall des Selbstleseverfahrens sein werden.1 Dies hat sich in der Praxis bestätigt. Das Selbstleseverfahren kam im Zeitraum von 2009 bis 2014 in 47% bis 75% aller Wirtschaftsstrafverfahren zur Anwendung.2

Das heutige Strafverfahren zeichnet sich häufig – insbesondere in Wirtschaftsstrafverfahren und sonstigen Umfangsverfahren – dadurch aus, dass im Ermittlungsverfahren große Datenmengen sichergestellt oder erhoben werden und zu den Akten gelangen. Der größte Teil der StPO trat aber zu einer Zeit in Kraft, in der diese Entwicklung nicht abzusehen war. Seit seiner Einführung wurde das Selbstleseverfahren bereits zweimal überarbeitet. Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD zeigt, dass eine erneute Modernisierung geplant ist.3

Es wäre wünschenswert, dass der Gesetzgeber diese Gelegenheit nutzt, um die gesetzliche Regelung des Selbstleseverfahrens an die Bedürfnisse der Strafjustiz im digitalen Zeitalter anzupassen und bekannt Probleme und Lücken zu beseitigen. Es gilt Themen wie die Erstattung von Kosten für den Ausdruck von Teilen der E-Akte und die Beweisaufnahme betreffend Audiodateien außerhalb der Hauptverhandlung zu berücksichtigen. ← 17 | 18 →

Auch wenn das Selbstleseverfahren von Strafverteidigern aufgrund der beschleunigenden Wirkung und der größeren Freiheit beim Zeitmanagement geschätzt wird, hat es doch einen entscheidenden Nachteil. Durch die fehlende Diskussion der Urkunden in der Hauptverhandlung hat die Verteidigung keine Anhaltspunkte, wie das Gericht die erhobenen Beweise würdigt. Werden umfangreiche Urkunden oder gar ganze Konvolute von einer Selbstleseanordnung umfasst, fehlt der Verteidigung jeglicher Hinweis, welchen Dokumenten das Gericht welche Bedeutung für die Urteilsfindung beimisst. Die Schaffung einer Regelung gleichlaufend zu den §§ 139 Abs. 2, 279 Abs. 3 ZPO, die den Verfahrensbeteiligten ein Recht auf richterlicher Erklärung zur Würdigung eines erhobenen Beweises einräumt, würde Abhilfe schaffen.

Ein weiteres Problem stellt die im Moment bestehende Möglichkeit, sämtliche relevanten Urkunden im Wege des Selbstleseverfahrens einzuführen, dar.

Die Einschränkung der Transparenz der Hauptverhandlung durch das Selbstleseverfahren wird grundsätzlich von allen Seiten aufgrund der positiven Auswirkungen auf die Prozessökonomie akzeptiert. Dies kann jedoch nicht gelten, wenn in der Hauptverhandlung keine einzige Urkunde verlesen wird und die Öffentlichkeit dadurch von einem großen Teil der Urteilsfindung ausgeschlossen wird. Dies führt zwangsläufig zu Misstrauen in der Öffentlichkeit gegenüber der Strafjustiz.

Eine Regelung, dass ein „All-In“ unzulässig ist und zumindest der Inhalt der Urkunden, die für die Entscheidung des Gerichts wesentlich sind, in der Hauptverhandlung zur Sprache kommen muss, ist daher unumgänglich.

Eine gesetzliche Normierung des Ersatzes von Kosten, die durch die Anordnung des Selbstleseverfahrens entstehen, fehlt bislang. So ist eine Vergütung der Durchführung des Selbstleseverfahrens im RVG nicht vorgesehen. Diese fehlende Vergütung im Rahmen der gesetzlichen Gebühren ist nicht weiter hinnehmbar.

Daneben können Aufwendungen, die zur Schaffung von Barrierefreiheit bei der Durchführung des Selbstleseverfahrens erforderlich sind – Vorleser für Sehbehinderte und Analphabeten, Übertragung in für Sehbehinderte wahrnehmbare Formate und Übersetzungen in Fremdsprachen – nur durch einen Rückgriff auf das GVG und die EMRK erstattet werden. Hier würde eine auf das Selbstleseverfahren zugeschnittene Regelung Rechtssicherheit schaffen.

Zur Durchsetzung prozessualer Rechte wie dem Widerspruch gegen die Durchführung des Selbstleseverfahrens oder die erfolgreiche Begründung einer Revision wäre es wichtig, dass den Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit zur Überprüfung der Kenntnisnahme der Urkunden durch das Gericht zur Verfügung steht. Durch ein Antragsrecht auf einen Bericht des Vorsitzenden über den ← 18 | 19 → wesentlichen Inhalt der mittels Selbstleseverfahren einzuführenden Urkunden in der Hauptverhandlung könnte sichergestellt werden, dass Berufsrichter wie Laienrichter von allen in den Urkunden enthalten Beweistatsachen, die Teil der Grundlage des Urteils werden, Kenntnis genommen haben.


1 BT-Drs. 8/976, S. 23.

2 Ferber, Strafkammerbericht, S. 119.

3 Ein neuer Aufbruch für Europa Eine neue Dynamik für Deutschland Ein neuer Zusammenhalt für unser Land Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 19. Legislaturperiode, S. 123, Zeile 5794; abrufbar unter http://www.cdu.de/koalitionsvertrag-2018, zuletzt abgerufen am 11.04.2018.

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B. Gesetzliche Regelung

Das Selbstleseverfahren ist im Rahmen des Urkundenbeweises in § 249 Abs. 2 StPO gesetzlich geregelt.

I. Der Begriff

Die Strafprozessordnung sieht für die Einführung des Urkundenbeweises zwei Möglichkeiten vor, die Verlesung gemäß § 249 Abs. 1 StPO und das Selbstleseverfahren gemäß § 249 Abs. 2 StPO. Der Vorhalt von Schriftstücken ist keine Form des Urkundebeweises, sondern eine Vernehmungshilfe bei der Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen.4

Verlesen bedeutet, dass eine Urkunde durch lautes Lesen der Öffentlichkeit zur Kenntnis gebracht wird.5 Bei der Verlesung von Urkunden werden diese ganz oder, falls sie nicht vollständig verwertet werden sollen, in Teilen durch den Vorsitzenden oder in dessen Auftrag durch ein Gerichtsmitglied oder den Protokollführer verlesen.6 Der Verlesung kann ein entsprechender Beschluss vorausgehen, dies ist aber nicht erforderlich.7

Im Selbstleseverfahren gemäß § 249 Abs. 2 StPO hingegen wird der Inhalt der Urkunden der Öffentlichkeit nicht bekannt gemacht. Das Gericht bestimmt in einer Selbstleseanordnung den Umfang der von den Verfahrensbeteiligten selbst zu lesenden Schriftstücke.8 Nach Abschluss des Selbstleseverfahrens gelten die Urkunden als in das Verfahren eingeführt und können im Urteil verwertet werden.9 Der Inhalt der vom Selbstleseverfahren umfassten Urkunden wird der Öffentlichkeit – zumindest im Ansatz – nur dann bekannt, wenn in der mündlichen Verhandlung Stellungnahmen dazu abgegeben werden oder ein Vorhalt erfolgt. Die Benennung der vom Selbstleseverfahren umfassten Urkunden kann bei der Verlesung der Selbstleseanordnung vorgenommen werden.10 ← 21 | 22 →

II. Entstehungsgeschichte

Das Selbstleseverfahren wurde im Jahr 1979 eingeführt. Der Gesetzesbegründung ist zu entnehmen, dass es der Beschleunigung und Konzentration der Hauptverhandlung dienen sollte.11 Eine erste Änderung erfolgte 1987. 1994 führte eine Erweiterung des Anwendungsbereiches zu der heute gültigen Fassung.

1. Fassung von 1979

Das Selbstleseverfahren wurde durch das Strafverfahrensänderungsgesetz 1979 vom 05.10.1978 erstmals in § 249 Abs. 2 StPO (1979) geregelt. Es sollte zur Beschleunigung und Konzentration der Hauptverhandlung12 und zur Entlastung der Gerichte ein vereinfachtes Verfahren beim Urkundenbeweis geschaffen werden.13 Der Gesetzgeber strebte „eine Beschleunigung und Konzentration der Hauptverhandlung auf das Wesentliche […] durch die Möglichkeit einer vereinfachten Einführung von Urkunden und andere[r] als Beweismittel dienenden Schriftstücke in die Verhandlung“14 an. Die neue Regelung sollte die bisherige BGH-Rechtsprechung, die in Fällen, in denen es auf den Wortlaut der Urkunde nicht ankam, einen streng sachlichen Bericht des Vorsitzenden über die Urkunde zuließ15, dahingehend erweitern, dass bei Einverständnis aller Beteiligten ein Absehen von der Verlesung möglich ist.16 Bereits bei der Einführung des § 249 Abs. 2 StPO wurde der Hauptanwendungsfall des Selbstleseverfahrens in Umfangsverfahren, insbesondere Wirtschaftsstrafverfahren, gesehen.17

Der Einführung des Selbstleseverfahrens ging in der Literatur erhobene Forderung voraus, dass der Gesetzgeber eine Möglichkeit zur vereinfachten Erhebung des Urkundenbeweises schaffen muss.18

Hermann19 forderte noch kein Selbstleseverfahren in dem später Gesetz gewordenen Umfang, sondern dachte an eine Überlassung von Urkunden an Verteidigung und Staatsanwaltschaft in Verbindung mit der Verlesung von wichtigen ← 22 | 23 → Passagen und zusammenfassenden Berichten durch den Vorsitzenden. Er prangerte an, dass die tagelange Verlesung von Urkunden eine reine Wahrung der Form darstelle und keinerlei Erkenntnisgewinn mit sich bringe.

Grünwald erkannte bereits 1974 mögliche Vorzüge und Probleme bei der Beweisaufnahme mittels vereinfachtem Urkundenbeweis:

Grünwald führt weiter aus, dass zur Wahrung des Mündlichkeitsprinzips ein Verlesungsverzicht nur bei Schriftstücken, die verkürzt wiedergegeben werden können, in Betracht kommt, womit Urkunden, bei denen es auf den genauen Wortlaut ankommt, nicht vom Anwendungsbereich des vereinfachten Beweisverfahrens erfasst sein könnten.21

Damit vertraten sowohl Hermann als auch Grünwald die Ansicht, dass der vereinfachte Urkundenbeweis mittels Selbstlesung nur durchgeführt werden kann, wenn eine ergänzende Zusammenfassung des Inhalts der Urkunden in der Hauptverhandlung vorgenommen wird. Diese Sichtweise spiegelt sich in der Fassung des § 249 Abs. 2 StPO von 1979 wieder: ← 23 | 24 →

Die ursprüngliche Fassung von 1979 weist gegenüber der geltenden Fassung zwei entscheidende Unterschiede auf:

Das Selbstleseverfahren war nur möglich, wenn Staatsanwaltschaft, Verteidiger und Angeklagter kumulativ auf die Verlesung verzichteten. Diese Regelung war nicht unumstritten. Es wurde auch ein Entwurf diskutiert, in dem eine Zustimmung der Verfahrensbeteiligung zur Ersetzung der Verlesung durch die Selbstlesung nicht vorgesehen war. Dies wurde damit begründet, dass die Verfahrensbeteiligten in aller Regel zwar der Durchführung des Selbstleseverfahrens zustimmen werden, es aber auch Ausnahmefälle geben könne, in denen dies nicht der Fall sei und die Verlagerung der Erhebung des Urkundenbeweises in die Zeiträume außerhalb der Hauptverhandlung zur Verfahrensbeschleunigung geboten sei.23 Der Bundestag brachte in seiner Beschlussempfehlung jedoch zum Ausdruck, dass ein Verzicht auf die Zustimmungserklärung der Verfahrensbeteiligten den Zweck der Verfahrensbeschleunigung konterkarieren könnte:

„In Übereinstimmung mit dem Regierungsentwurf hält der Ausschuß es für sachgerecht, den Verzicht auf die Verlesung an das Einverständnis der Prozeßbeteiligten zu knüpfen. Würde hiervon gegen den Willen eines Prozeßbeteiligten abgesehen werden, so müßte in der Hauptverhandlung mit verfahrensverzögernden Erörterungen und Beweisantritten gerechnet werden.“24

Der Verzicht auf die Verlesung musste nicht ausdrücklich erklärt werden. Es war jedoch zu protokollieren, dass ein Verzicht erfolgt ist.25 Durch eine Verweigerung der Verzichtserklärung konnten die Verfahrensbeteiligten – die Staatsanwaltschaft, anwesende Verteidiger und Angeklagte – eine Verlesung der einzuführenden Urkunde erzwingen. Der Verzicht war zwar unwiderruflich und bedingungsfeindlich, die Beteiligten konnten jedoch bei Fragen, § 240 Abs. 2 StPO, und im Plädoyer wesentliche Passagen der Urkunden, die durch ← 24 | 25 → das Selbstleseverfahren eingeführt worden waren, durch wörtliches Zitieren hervorheben.26 Dies galt insbesondere auch dann, wenn der Vorsitzende den Inhalt zuvor nicht zusammenfassend bekannt gemacht hatte.27

Dies führt zu einem weiteren Unterschied der Fassung von 1979 im Vergleich zur Regelung von 1994, die bis heute geltendes Gesetz ist28: Es war eine Mitteilung des wesentlichen Inhalts der vom Selbstleseverfahren umfassten Urkunden geregelt, § 249 Abs. 2 S. 2 StPO (1979). Zwar handelte es sich auch damals nur um eine Sollvorschrift, eine Information der Öffentlichkeit war jedoch grundsätzlich vorgesehen. Dies ist heute nicht mehr der Fall und daher im Rahmen der Vereinbarkeit des Selbstleseverfahrens mit dem Öffentlichkeitsgrundsatz zu diskutieren.29

Zweck der Mitteilung war, dass der Inhalt der Schriftstücke zum Gegenstand der öffentlichen Hauptverhandlung gemacht wird. Diese Notwendigkeit wurde zum einen darin gesehen, dass nicht mit Sicherheit festgestellt werden konnte, dass alle Beteiligten vom Inhalt der Urkunden ausreichend Kenntnis genommen haben. Zum anderen sollte der Öffentlichkeitsgrundsatz gewahrt werden.30

Die neu geschaffene Möglichkeit des Urkundenbeweises wurde durchaus kritisch gesehen. So bemängelte Schroeder, dass durch die Voraussetzung, dass der Angeklagte und der Verteidiger auf die Verlesung verzichten müssen, zwar die Rechte der Verteidigung gewahrt werden, das Ziel der Einführung des Selbstleseverfahrens, die Verhinderung von Verfahrensverzögerungen, jedoch gefährdet sei.31

Er führt weiter aus, dass aus seiner Sicht die in Kraft getretene Regelung des Selbstleseverfahrens, die den Bericht des Vorsitzenden über den wesentlichen Inhalt der Urkunden als Sollvorschrift ausgestaltet, zu einem Verstoß gegen § 261 StPO führt, sobald sich das Urteil auf eine Urkunde, die im Selbstleseverfahren eingeführt wurde und über deren Inhalt nicht berichtet wurde, bezieht.32 Dieser Auffassung ist entgegenzuhalten, dass aus heutiger Sicht die Beweiserhebung durch Einführung von Urkunden durch das Selbstleseverfahren lediglich das Studium der Urkunden in den Zeitraum außerhalb der Hauptverhandlung verschiebt. Die Beweiserhebung durch Anordnung des Selbstleseverfahrens und Protokollierung der Durchführung in der Hauptverhandlung bewirken, dass ← 25 | 26 → auch Urkunden, die im Wege des Selbstleseverfahrens eingeführt werden ohne dass der Vorsitzende zusammenfassend über deren Inhalt berichtet, zum Inbegriff der Hauptverhandlung werden.33

Auch der Einwand, dass das Studium der Urkunden durch die Schöffen einen absoluten Revisionsgrund nach § 338 Nr. 5 StPO schaffen könnte, wenn nicht der Vorsitzende mit der weiteren Beweiserhebung wartet, bis die Schöffen die Urkunden zur Kenntnis genommen haben,34 greift nicht. Die Selbstlesung findet, auch nach dem Verständnis der ursprünglichen Fassung von 1979, nicht während der Hauptverhandlung, sondern während Unterbrechungen und in Sitzungspausen statt.35 Ansonsten könnte auch das Ziel der Verfahrensbeschleunigung36 nicht erreicht werden.

Rudolphi hingegen begrüßte die Einführung des Selbstleseverfahrens:

„Durch die Regelung des § 249 II […] hat der Gesetzgeber mit Recht einer bereits vielfacht erhobenen Reformforderung entsprochen. Damit wird erstmals die Möglichkeit eröffnet, das bisher vor allem in Wirtschaftsstrafverfahren notwendige und oft tagelang andauernde sinnlose Verlesen von Urkunden zu vermeiden. Den sich aus dieser neuen Form des Urkundebeweises ergebenden Gefahren für die Wahrheitsfindung ist dadurch vorgebeugt, daß alle Richter von dem Wortlaut der Urkunden Kenntnis genommen haben müssen und zudem wichtige Stellen auch weiterhin zu verlesen sein werden.“37

2. Fassung von 1987

Bereits kurz nach der Einführung des Selbstleseverfahrens wurde bei dem Entwurf des Strafverfahrensänderungsgesetzes 1984 (StVÄG 1984) die Notwendigkeit gesehen, die Regelung des Selbstleseverfahrens in der Neufassung vereinfacht und klarer zu formulieren, um dadurch eine häufigere Anwendung zu erreichen.38

Die durch Art. 1 Nr. 16 StVÄG 1987 eingeführte Fassung des § 249 Abs. 2 StPO von 1987 war bereits weitgehend identisch mit der heute gültigen:

Die zuvor zwingend erforderliche Verzichtserklärung wurde durch die Möglichkeit des unverzüglichen Widerspruchs gegen die Durchführung des Selbstleseverfahrens ersetzt, da den Prozessbeteiligten eine formalisierte Einflussnahme auf die Entscheidung des Gericht über die Art und Weise der Erhebung des Urkundenbeweises erhalten bleiben sollte.40 Dies wurde als notwendig erachtet, da die Justizreferenten von Bund und Ländern in einer Arbeitsunterlage 1982 argumentierten, dass Verteidiger und Angeklagte oft aus sachfremden Gründen keine Verzichtserklärung abgeben und damit die Durchführung des Selbstleseverfahrens blockieren würden.41 Die in § 249 Abs. 2 S. 2 StPO (1979) vorgesehene Mitteilung durch das Gericht entfiel im selben Zug, wie auch die Vorschrift, dass Schöffen erst nach Verlesung des Anklagesatzes von den Urkunden Kenntnis nehmen dürfen.

Kempf kritisierte diese Neuerungen, da das Mündlichkeitsprinzip und der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt seien und der Angeklagte in Verfahren, in denen ganze Ordner mittels des Selbstleseverfahrens eingeführt werden, nicht mehr wisse, wogegen er sich verteidigen muss. Dies sind bis heute vorgebrachte Kritikpunkte, die im Folgenden noch ausführlich zu diskutieren sind.42

Im Gegensatz zur aktuellen Fassung waren die Verlesung von Protokollen, § 251 StPO, und die Verlesung von Behörden- und Ärzteerklärungen, § 256 StPO, noch vom Anwendungsbereich des Selbstleseverfahrens ausgenommen.

Details

Seiten
308
Jahr
2018
ISBN (PDF)
9783631769980
ISBN (ePUB)
9783631769997
ISBN (MOBI)
9783631770009
ISBN (Hardcover)
9783631769973
DOI
10.3726/b14752
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (November)
Schlagworte
Prozessökonomisierung Wirtschaftsstrafverfahren Urkundenbeweis Augenscheinbeweis Mündlichkeitsgrundsatz Unmittelbarkeitsgrundsatz
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien. 2018. 308 S.

Biographische Angaben

Manuela Schlund (Autor:in)

Manuela Schlund studierte Rechtswissenschaft an den Universitäten Erlangen-Nürnberg und München. Sie hat an der Universität Freiburg promoviert und ist in einer wirtschafts- und steuerstrafrechtlich ausgerichteten Anwaltskanzlei in München tätig.

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Titel: Das Selbstleseverfahren – Grund und Grenzen
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