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Philosophische Sprache zwischen Tradition und Innovation

von Dennis Sölch (Band-Herausgeber:in) David Hommen (Band-Herausgeber:in)
©2019 Andere 324 Seiten

Zusammenfassung

Die Neuartigkeit einer Philosophie bemisst sich an der Sprache, in der sie zum Ausdruck kommt. In der Reflexion der philosophischen Terminologie offenbart sich die Bedingtheit unseres Denkens, das sein begriffliches Inventar nicht ad hoc entwickelt, sondern in Philosophiegeschichte und Alltagssprache bereits vorfindet. Das Wechselspiel zwischen Tradition und Innovation der Fachsprache gleicht dabei einem Balanceakt: Wer nur der Konvention verhaftet bleibt, vermag nichts Neues zu sagen, wer jeden Bezug zu vertrauten Vokabularen verliert, klingt esoterisch. Der Band zeigt exemplarisch den Bedeutungswandel philosophischer Termini, die Anforderungen an eine philosophische Terminologie und die Implikationen der Beschäftigung mit der philosophischen Sprache für unser Verständnis von Philosophie.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Einleitung
  • Das Mittelalter als ‚zweiter Anfang‘ der Philosophie.: Die unterschätzte Bedeutung der mittelalterlichen Philosophie
  • Metaphysik in der Perspektive ihrer Vermittlung – : Ockham, Buridan, Nikolaus von Kues
  • Die Wirklichkeit der Worte.: Petrus Johannis Olivi über die Ontologie der Bezeichnung
  • Etwas (aliquid) – ein Schlüsselbegriff der frühmittelalterlichen Ontologie des Gilbert von Poitiers
  • Translationen des dominium. Wie ein Begriff zentrale Bedeutung in der Rechtsgeschichte gewinnt – und wieder verliert
  • Mantik – die alte Sprache der Zukunft
  • Historische Philosophie als Wissenschaft : komplexer Umgebungsnetzwerke
  • Von der Notwendigkeit der Geschichte der Philosophie
  • ‚Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen‘ (W. Benjamin).: Eine kleine Phänomenologie der Sprache
  • Rationalität versus Vernunft?: Bemerkungen zu einer Unterscheidung bei John Rawls (und anderen)
  • Ab wann kann man (legitim) vom Digitalen Zeitalter sprechen?: Eine Untersuchung aufbauend auf Hans Blumenbergs Konzept der Epochenschwelle samt einer historiographischen Typologie von Epochenwenden
  • Humpty Dumpty in der Philosophie?: Zur Ethik terminologischer Transformationen
  • Induktive Metaphysik – : Ein vergessenes Kapitel der Metaphysikgeschichte
  • Begriffe und Eigenschaften – Versuche eines Pragmatisten
  • Personenindex

←8 | 9→

David Hommen / Dennis Sölch

Einleitung

Die Philosophie ist seit jeher in einzigartiger Weise auf ihre eigene Geschichte bezogen. Dort findet sie Probleme und Lösungsansätze artikuliert, die auch die Gegenwart nach wie vor bewegen. Zugleich offenbart sich in der historischen Reflexion immer wieder die Bedingtheit des eigenen Denkens, das sein begriffliches Inventar nicht ad hoc entwickelt, sondern in der Tradition bereits vorfindet. Insofern gleicht die Philosophie einem Gespräch, in dem es sich fortwährend zu vergewissern gilt, dass man noch dieselbe Sprache spricht – einem Wechselspiel zwischen der Konvention, die Verständlichkeit ermöglicht, und der Innovation, die neue Bereiche des Denkens erschließt. Wer in der Terminologie anderer Autoren verhaftet bleibt, wird nur schwer eine originäre Sichtweise hervorbringen; wer jeden Bezug zu vertrauten Vokabularen verliert, wirkt esoterisch und opak. „Die Vermittlung zwischen Traditionsbezug und Innovation der philosophischen Fachsprache gleicht damit einem Balanceakt.“1 Es gilt, die Fachsprache zu beherrschen, ohne sich von ihr gefangen nehmen zu lassen oder dem Irrtum aufzusitzen, sie ermögliche bereits die adäquate und präzise Artikulartion jedes beliebigen philosophischen Problems.

Einen echten Beitrag zur Philosophie kann also nur leisten, wer sich das tradierte Vokabular angeeignet, um es dann jedoch so zu verändern, dass es neue Denkweisen und Konzeptionen zum Ausdruck zu bringen vermag. Der unumgängliche ‚Balanceakt‘, den das Philosophieren somit erfordert, unterstreicht darüber hinaus, dass die Philosophie auch dann, wenn sie in erheblichem Maße auf eine eigene Fachterminologie zurückgreift, niemals streng voraussetzungsfrei sein kann. Die philosophische Terminologie besteht aus einem Netz technischer, halbtechnischer und nichttechnischer Begriffe, „und wohl nirgends ist die Komplexität des Mischungsverhältnisses geeigneter, übersehen zu werden, Verständigungsprobleme zu erzeugen oder aber neue Ausdrucksmöglichkeiten zu eröffnen, als in der Philosophie.“2 Gerade das Spannungsfeld zwischen ←9 | 10→ Fachsprache und Normalsprache lässt sich für die poetische Dimension der Philosophie, neue Ideen und bisher nur vage antizipierte Bedeutungen begrifflich zu erschließen, fruchtbar machen. Da aber nur selten explizite Definitionen herangezogen werden, um Bedeutungsvariationen und begriffliche Transkontextualisierungen nachvollziehbar zu machen, zählt die perennierende Reflexion ihrer sprachlichen Mittel zu den wichtigsten Werkzeugen der Philosophie. Insofern die Bedeutung eines Begriffs sich nicht isoliert, sondern nur im Kontext der verschiedenen (philosophischen) Sprachspiele entfaltet, kann eine solche Reflexion nicht auf punktuelle Begriffsanalysen beschränkt bleiben. Sie erfordert vielmehr einen umfassenden, kenntnisreichen Nachvollzug der Art und Weise, wie Meinungen und Gedanken in Texten und Gesprächen artikuliert werden, um so deren originellen Gehalt zu erfassen.

Diese unauflösbare Angewiesenheit der Philosophie auf ihre eigene Geschichte hat Alfred North Whitehead rhetorisch und sachlich zugespitzt in der These zum Ausdruck gebracht, die abendländische Philosophietradition ließe sich am treffendsten als eine „Reihe von Fußnoten zu Platon“3 charakterisieren. Mit der Feststellung ist freilich weder eine Marginalisierung der europäischen Philosophie noch eine direkte exegetische Abhängigkeit nachplatonischer Philosophie von einem dogmatischen Ausgangspunkt impliziert. Fußnoten verweisen im wissenschaftlichen ebenso wie im philosophischen Diskurs nicht auf epistemische Autoritäten, sondern auf Wegmarken und Orientierungspunkte. Die Fußnotenthese Whiteheads konstatiert entsprechend in pointierter Weise, dass unser Verständnis von Philosophie untrennbar mit ihrer Geschichtlichkeit verbunden ist, mithin jede systematische Definition von Philosophie notwendigerweise die historische Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Philosophie in ihrer methodologischen wie auch inhaltlichen Dimension miteinschließen muss.4 Die Gesamtheit dessen, was der Begriff der Philosophie meint, also das, was die Einheit die Philosophie in der Vielfalt ihrer Erscheinungsformen und Positionen ausmacht, konstituiert sich somit „in beständiger philosophiegeschichtlicher Orientierung“5. Die Philosophie lässt sich zwar nicht anhand eines Spektrums an Themen oder Methoden erschöpfend definieren, doch was Philosophie ist, lässt sich nicht unabhängig von einer Entwicklung verstehen, die in Platon ihren archimedischen Punkt hat ←10 | 11→ und auf den das philosophische Denken in allen Jahrhunderten immer wieder in den unterschiedlichsten Kontexten zurückgekommen ist. Salopp formuliert könnte man diagnostizieren: Angesichts der schier unüberschaubaren Fülle philosophischer Schulen, Methoden, Themen und Forschungsperspektiven ist eine scharfe Abgrenzung der Philosophie von anderen Fächern oder akademischen Disziplinen genauso wenig möglich wie eine rein systematische Bestimmung des größten gemeinsamen Nenners aller philosophischen Disziplinen und Subdisziplinen. Was all diesen philosophischen Strömungen und Bereichen jedoch gemeinsam ist, das ist die Präsenz ihrer eigenen Entstehungsgeschichte, die von Platon über Aristoteles und Augustinus, Thomas und Descartes, Hume und Kant bis in die heutige Zeit führt. Diese Präsenz, die sich nicht zuletzt in unserem philosophischen Begriffsinventar niederschlägt, gilt es sich immer wieder vor Augen zu führen, will man nicht Gefahr laufen, durch das nurmehr übernommene Vokabular hinsichtlich der eigenen Denkmöglichkeiten Beschränkungen zu unterliegen, derer man sich als solcher nicht bewusst ist.

Die Bedeutung der philosophischen (Fach-)Sprache, die nicht nur Medium, sondern auch Gegenstand des Philosophierens ist, steht im Mittelpunkt des vorliegenden Bandes, der Christoph Kann zu Ehren seines 60. Geburtstags gewidmet ist – einem Philosophen, der die begrifflich-terminologische Präsenz und Unhintergehbarkeit der Philosophiegeschichte immer wieder explizit zum Thema macht: Sie prägt schlichtweg sein eigenes Selbstverständnis als Philosoph. Das durchaus nicht immer selbstverständliche Bekenntnis dazu, dass auch sogenannte rein systematische oder analytische Philosophie historisch informiert sein darf und von einer historischen Perspektive profitiert, schlägt sich nahezu im gesamten bisherigen Werk Christoph Kanns nieder – ob es die Entwicklung der Semantik der Dauer in der mittelalterlichen Logik betrifft6, das strittige Verhältnis von analytischer und mittelalterlicher Philosophie7, die historisch-systematischen Präsuppositionen neuerer Strömungen in der Kognitionswissenschaft, wie beispielsweise der sogenannten Frametheorie8, oder aber die ←11 | 12→ Kosmologie Whiteheads, deren philosophiehistorische Voraussetzungen Kann in seiner Habilitationsschrift Fußnoten zu Platon. Philosophiegeschichte bei A.N. Whitehead rekonstruiert. Unter dem Titel Philosophische Sprache zwischen Tradition und Innovation sind im Folgendem Beiträge langjähriger Weggefährten, Freunde und Schüler Christoph Kanns versammelt, die sich alle in der ein oder anderen Weise von seinen Schriften haben inspirieren lassen und aus unterschiedlichen Perspektiven bei ihm anklingende Themen oder Thesen aufgreifen und weiterführen.

So setzt sich Ludger Honnefelder in seinem einleitenden Beitrag mit der weit verbreiteten Annahme auseinander, die Entwicklung der Philosophie im Mittelalter sei von der Theologie beherrscht und daher ohne weitere Bedeutung für das Selbstverständnis der modernen Philosophie. Demgegenüber beschreibt Honnefelder die Entwicklung der mittelalterlichen Philosophie als einen ‚zweiten Anfang‘ der Philosophie. Dieser wird durch die Begegnung der antiken Philosophie mit den abrahamitischen Religionen initiiert, die insbesondere durch neue Sichtweisen auf Transzendentalität, Moralität und Modalität zu einer tiefen Wandlung des philosophischen Selbstverständnisses führt, worin der Reflexion transkategorialer Begriffe, den Phänomenen von Individualität und Materialität sowie der kontingenten Faktizität des Seins erstmals Raum gegeben wird. Das Mittelalter, so Honnefelder, erscheint damit nicht länger als eine Phase der Gefangenschaft der Philosophie im Dienst der Theologie, sondern als die Epoche, in der die Philosophie durch die Begegnung mit einem Anderen einen maßgeblichen Entwicklungsschub erfährt: Sie gewinnt nicht nur das ihr eigene ursprüngliche Gewicht zurück; die ihr eigene Fragestellung erfährt eine den antiken Themenkosmos sprengende Erweiterung und Vertiefung und lässt das durch sie heraufgeführte wissende Selbstverhältnis in Form der ‚Bildung durch Wissenschaft‘ zum Ingrediens der mit Neuzeit und Moderne sich durchsetzenden Kultur werden.

Gerhard Krieger zielt in seinem Beitrag auf eine Analyse des metaphysischen Denkens Ockhams, Buridans und des Nikolaus von Kues in ihrem Verhältnis zum Verständnis des Ausdrucks Metaphysik im Sinne des in der betreffenden Schrift des Aristoteles realisierten metaphysischen Denkens. Den ausgewählten Autoren wird dabei unterstellt, dass sie in ihrem Denken insgesamt im Sinne mittelalterlicher Intellektualität ansprechbar sind, wie sie ihre Gestalt in der Universität erfährt und entwickelt: eine Haltung, die sich aus einem christlichen Selbstverständnis heraus versteht, das der Philosophie und damit dem Prinzip der Rationalität einen legitimen Platz zuerkennt. Insoweit werden die aristotelische Metaphysik und das darin realisierte Denken als eine Herausforderung begriffen, die nicht allein die Frage einschließt, wie das Verständnis des ←12 | 13→ metaphysischen Denkens im Sinne der aristotelischen Auffassung zu betrachten ist. Ebenso steht infrage, inwieweit die aristotelische Sicht in kritischer Weise aufgenommen und weiter entwickelt zu werden vermag. Krieger zeigt auf, dass bei den drei betrachteten Autoren die individuelle Identität und Bestimmtheit in zentraler Bedeutung in den Fokus der Metaphysik tritt: bei Ockham im Reflex der betreffenden sprachlichen Bezugnahme, bei Buridan in der subjektiven Bedingtheit der Erkenntnis und des Wissens, schließlich bei Cusanus in der Perspektivität und Standpunkthaftigkeit menschlicher Erkenntnis.

Christian Rode s Beitrag beschäftigt sich mit dem ontologischen Status der Signifikation bei Peter Olivi. Wie Rode zeigt, schreibt Olivi der Signifikationskraft gesprochener oder geschriebener Zeichen ein reales Sein zu. Bezeichnung ist jedoch nicht real im Sinne aristotelischer Substanzen oder Akzidentien, sondern existiert vielmehr als ein extra- oder transprädikamentaler Aspekt oder eine Relation (ratio respectiva). Olivi skizziert seine Theorie der Bezeichnung im Zusammenhang mit einer Ontologie des Sozialen, der zufolge Sprache und willentliche Zeichen das Bindemittel unserer sozialen Realität sind. Ohne sie könnten die göttliche Ordnung und der Wille Gottes nicht in den Bereich der menschlichen Gesellschaft, des Gesetzes und der Sakramente überführt werden. Zwei Fragen stellt sich Rode in diesem Zusammenhang: Warum weist Olivi der Bezeichnung, anders als große Teile der nachfolgenden semantischen Tradition, reales Sein zu? Und wie beschreibt er die universelle Referenz allgemeiner Zeichen? Rode möchte zeigen, dass sowohl für die Frage nach der Realität der Bezeichnung als auch für die Frage nach der allgemeinen Referenz Olivis relationale Ontologie, seine Theorie der fundamentalen rationes respectivae, von größter Bedeutung ist. Die soziale Welt und mit ihr die Welt der willentlichen Zeichen ist eine Welt der realen Aspekte oder Relationen, im Gegensatz zur natürlichen Welt der aristotelischen Wesenheiten, Substanzen und Akzidentien.

Nicht jeder philosophische Begriff ergibt sich schon auf den ersten Blick als solcher zu erkennen. Einem in diesem Sinne augenscheinlich weder traditionsreichen noch besonders innovativen Terminus wendet sich Isabelle Mandrella zu, die sich in ihrem Beitrag mit dem Wort aliquid als Schlüsselbegriff der erkenntnistheoretisch ausgerichteten Metaphysik des frühen Mittelalters auseinandersetzt. Im Kontext der frühmittelalterlichen Ontologie kommt dem aliquid eine entscheidende Rolle in der transzendentalen oder transkategorialen Bestimmung des Erkenntnisgegenstandes zu, insofern diesem, im Ausgang von Avicenna, neben seiner Existenz zugleich immer auch eine Etwashaltigkeit zugesprochen wird, die es erlaubt, ihn als etwas zu erkennen. Die begrifflich gleichermaßen differenzierungsstarke und komplexe Ontologie des Gilbert von Poitiers bemüht sich vor diesem Hintergrund um eine Analyse dessen, was allem ←13 | 14→ Seienenden wesenhaft zugrundeliegt und zugleich konstitutiv für seine Singularität ist. Das platonische Modell von Idee und Teilhabe ebenso hinter sich lassend wie das boethianische System der Substanzen und Akzidentien wird bei Gilbert das unscheinbare aliquid zu einer Art transkategorialem Prädikat, das in seiner Bestimmtheit und Singularität eine entscheidende Rolle dabei spielt, die Metaphysik als Realwissenschaft verstehen zu können.

Matthias Kaufmann beschäftigt sich in seinem Beitrag mit dem ideengeschichtlichen Aufstieg und Fall des Begriffs des dominium. Dieser entstammt dem römischen Recht und wird in den Institutionen und Digesten mit diversen Variationen für bestimmte Formen von Besitz und Eigentum verwendet. Seine besondere Karriere beginnt mit dem sogenannten franziskanischen Armutsstreit, wenn in den Debatten zwischen der Kurie und den radikalen Franziskanern die Bedeutung als Eigentum mit der anderen Wortverwendung im Sinne von Herrschaft vermengt wird und diverse Legitimationsdiskurse damit eine besondere Schärfe erhalten. Diese Doppelbedeutung ist bei Kant zumindest in den Reflexionen und Vorarbeiten zu seinen publizierten Texten noch deutlich zu finden, während sie bei Hegel völlig verschwindet, wenn er sich – wesentlich pejorativ – wieder auf die Formulierungen des römischen Rechts bezieht. Diese Bedeutungsverschiebungen möchte Kaufmann mithilfe des theoretischen Instruments der Translation untersuchen. Kerngedanke dieses Verständnisses von Translation ist, dass durch die Wanderung bestimmter Termini und Theoriestücke in einen neuen sozialen, ökonomischen und diskursiven Kontext sich sowohl diese Theoriestücke in ihren Implikationen als auch jener soziale Kontext verändern. Nicht jedes soziale Phänomen, auch nicht jeder Transfer und nicht jede Übersetzung, stellt eine Translation in diesem Sinne dar. Zur Translation kommt es erst, wenn der transferierte Inhalt in seinem neuen sozialen Kontext positiv oder negativ oder in kreativer Veränderung aufgenommen wird und dort eine eigene Dynamik entfaltet. Kaufmann versucht anhand einiger markanter Autoren der Philosophiegeschichte zu zeigen, dass sich die Bedeutungsverschiebungen des Terminus dominium als Translation dieser Art interpretieren lassen.

Im Fokus des Beitrags von Wolfram Hogrebe steht die Mantik: jene Kunst der antiken Seher und Zukunftsdeuter, der schon Platon misstraute und die Euripides mehr oder weniger auf kundiges Schlussfolgern auf Datenbasis zurückführte. Dabei unterscheidet die Mantik zunächst nicht viel von der Wissenschaft. Auch der Wissenschaftler hat seine Daten und sein Wissen um bekannte Gesetzmäßigkeiten und kann im Einzelfall auf dieser Basis erschließen, was sein wird. Die wissenschaftliche Vorhersage bewährt sich in überprüfbaren Prognosen. Demgegenüber spielten die Daten des Sehers für ihn die Rolle von Anzeichen oder Omina. Was er nur rudimentär oder in Form mythischen ←14 | 15→ Wissens hatte, waren noch keine Gesetzmäßigkeiten im modernen Sinne, sondern ein Wissen um den göttlichen Willen. Abseits dieser mythischen Einbettung möchte Hogrebe die Mantik nichtsdestotrotz als eine besondere und bis heute wirksame Erkenntnisfakultät rehabilitieren, die uns in einem vorprädikativen Raum empfindlich für Nuancen und unser Mitteninne in einer undefinierten Realität macht. Hogrebe unterscheidet entsprechend eine messtechnische, d.h. eine skalenrelativ registrierte Welt der Wissenschaften mit ihren mathematisierten Gesetzmäßigkeiten, eine sprachlich registrierte Lebenswelt, wie sie je nach Lebensbereich (Wissenschaft, Kunst, Politik, Religion etc.) eine eigene Hermeneutik verlangt, und eine vorsprachliche Welt, die unseren Distinktionen und Erklärungen vorhergeht und auch solche Unterscheidungen wie die gerade vorgenommene erst mantisch möglich macht.

Das traditionsreiche Begriffsinventar der Philosophie, das mitunter quer zu den wissenschaftlichen Beschreibungen der Gegenwart zu verlaufen scheint, ist nicht selten Angriffspunkt für eine Kritik an einer sich an der Vergangenheit abarbeitenden Philosophie, die es durch eine an reinen Sachfragen orientierte Philosophie abzulösen gelte. Aljoscha Berve zielt in seinem Beitrag auf die Überwindung dieser vermeintlich evidenten Dichotomie von historischer und systematischer Philosophie, die beiden Perspektiven einen Stellenwert für das Selbstverständnis der Disziplin zuschreibt. Dabei scheint insbesondere der Begriff des Historischen selbst klärungsbedürftig, der sich weniger als gegebener Teilbereich des Wirklichen denn vielmehr als spezifische Art und Weise der sinnhaften Betrachtung von Wirklichkeit verstehen lässt. Was historische Philosophie ist, unterliegt selbst kontingenten historischen Faktoren und ist von einem sich wandelnden Rezeptionskontext abhängig, der den Untersuchungsgegenstand mitkonstituiert. Dabei lassen sich drei unterschiedliche Gesichtspunkte einer methodischen Bestimmung des Umgangs der Philosophie mit ihrer Geschichte bestimmen: erstens als Begriffs- und Ideengeschichte, die in den argumentativen Schauplätzen philosophischer Debatten den Ausdruck maßgeblicher Problemstellungen einer Zeit verdichtet sieht, zweitens über das Paradigma der Ähnlichkeit als kulturwissenschaftlich rekonstruierbare Kontextbestimmung und schließlich drittens mittels des Komplexitätsbegriffs als Ausdifferenzierung von Positionen in vielschichtigen Umgebungen und Diskursen.

Noch deutlicher plädiert Theo Kobusch dafür, die historische Dimension der Philosophie als unabdingbare Voraussetzung des Philosophierens überhaupt anzuerkennen. Insofern die Sprache als Grundlage jedes Verstehens immer schon etwas Tradiertes ist, bedarf es einer Kenntnis der Herkunft eines Textes, eines Begriffes oder einer Idee, um sie sinnhaft explizieren und Verantwortung für ihren Gebrauch übernehmen zu können. Dass die Frage nach der Bedeutung ←15 | 16→ der Geschichte insbesondere der philosophischen Terminologie keine bloße Sache des Geschmacks oder der akademischen Tagespolitik ist, sondern konkrete Auswirkungen auf die Bedeutung von Begriffen hat, veranschaulicht Kobusch anhand der philosophiegeschichtlichen Entwicklung von Begriffsdichotomien. So erweist sich der scheinbar zeitlose Gegensatz von Subjekt und Objekt als Resultat einer facettenreichen Begriffsgeschichte, der im Laufe seiner Genealogie gänzlich verschiedene und nicht selten miteinander inkompatible Frageperspektiven und Lösungsansätze hervorgebracht hat. Gleiches gilt auch für die Geschichte abstrakter Begriffe, die gewissermaßen ein Eigenleben, losgelöst von der Geschichte ihrer konkreten Äquivalente, zu entwickeln vermögen.

Die Funktion von Sprache kann aus unterschiedlicher Perspektive analysiert werden: sie liegt an der Schnittstelle von Literatur, Entwicklungspsychologie, Ästhetik, Verhaltensbiologie, Theologie und selbstverständlich Philosophie. Regine Kather orientiert sich in ihren Überlegungen zur Sprache an einem Essay von Walter Benjamin von 1916, der in ungewöhnlich kompakter und bisweilen kryptischer Form das ganze Spektrum des Phänomens der Sprache Revue passieren lässt. Zum einen erstreckt sich für Benjamin die menschliche Sprache nicht nur auf das gesprochene oder geschriebene Wort; sie ist keineswegs auf das beschränkt, was sich mit Hilfe von Begriffen erfassen lässt. Es gehört wesentlich zum Menschen, dass er sich in seinen Intentionen und Gedanken, aber auch in seinen Emotionen, ästhetischen Empfindungen und Bedürfnissen zum Ausdruck bringt – durch Worte und Bewegungen, aber auch durch Gegenstände, die unter technischer oder ästhetischer Perspektive geformt wurden, durch Riten und durch Systeme, die das soziale Leben regeln. Zum anderen geht Benjamin einen entscheidenden Schritt über die Bestimmung von Sprache als Vielfalt symbolischer Ausdrucksformen und der sich in den erzeugten Objekten manifestierenden Intentionen hinaus: Schlechthin alles, was ist, bringt sich in seinem Sein zum Ausdruck, beeinflusst seine Umgebung und bestimmt Erscheinungsweise und Aktionsmöglichkeiten anderer Entitäten. Um an dieser Gemeinschaftlichkeit zu partizipieren, muss der Mensch nicht nur die Sprache von seinesgleichen, sondern auch die der Dinge und der Natur verstehen und respektieren. Andernfalls schließt er sich selbst aus dieser universalen Sprachgemeinschaft aus.

Der Vernunfts- oder Rationalitätsbegriff ist nach Meinung vieler ein, wenn nicht gar der Zentralbegriff der Philosophie. Nichtsdestotrotz sind Philosophen bislang weder zu einer einheitlichen Theorie noch zu einem klaren Begriffsverständnis, ja nicht einmal zu einer einigermaßen gesicherten Terminologie gelangt. Thomas Sturm meint in seinem Beitrag, unser Verständnis von Rationalität leide an einer zunehmenden Fragmentierung. Um dies zu illustrieren, diskutiert er John Rawls jüngere Unterscheidung zwischen „the rational“ und „the ←16 | 17→ reasonable“, die sich auf zwei unterschiedliche, irreduzible praktische Fähigkeiten beziehen soll. Rawls gibt diesem Kontrast den Anschein, nicht nur sachlich zu bestehen, sondern auch in der Alltagssprache verankert zu sein. Demgegenüber möchte Sturm zeigen, dass die Trennung zwischen „the rational“ und „the reasonable“ erstens nicht zwingend ist, sondern – zumindest in der Terminologiegeschichte – auch umgekehrt gefunden werden kann; und dass zweitens die Terminologie noch ganz andere begriffliche Füllungen bekommen kann als die, die Rawls und andere mit ihm als alltagssprachlich verankert ansehen. In diesem Zusammenhang plädiert Sturm für einen ‚vernünftigen Kontextualismus‘: Man müsse beachten, ob die terminologische Unterscheidung gebraucht wird, um dadurch Gebiete unserer Forschung aufzuteilen, ob Normenkontroversen eine Rolle spielen, und nicht zuletzt, zugunsten welcher Forschungsziele und vor dem Hintergrund welcher Forschungskontexte und -programme sie angewendet wird. Nur so könne man Sinn und Zweck der Unterscheidung bestimmen und auch kritisch bewerten.

Ab wann darf man legitim von einem neuen Zeitalter sprechen? Dieser Frage geht Peter Seele am Beispiel des Begriffs des ‚Digitalen Zeitalters‘ nach. Die Einteilung von Zeitabschnitten in Epochen ist keineswegs eine althergebrachte Tradition. Es waren vielmehr die italienischen Renaissancehumanisten, die das Epochenschema ‚erfunden‘ haben, um eine Distanz zum christlich geprägten Mittelalter zu markieren – welches im Sinne eines Interregiums zwischen Antike und Neuzeit verstanden wurde, dessen nennenswerte Qualität darin zu bestehen schien, zwischen den Zeitaltern zu liegen, während ‚Neuzeit‘ diejenige Zeit bezeichnete, die in Abgrenzung zum Mittelalter und im Rückgriff auf die Antike eine ‚neue‘ Zeit einläutet. Wesentliches Merkmal dieses Epochenbegriffs ist das Narrativ der Identitätsstiftung durch Epochenzugehörigkeit. Demgegenüber kann nach Hans Blumenbergs einflussreicher Konzeption der Epochenschwelle im philosophisch-historiographischen Sinne erst dann nachweislich von einer Epochenwende gesprochen werden, wenn ex post eine Differenz begrifflich fixiert werden kann. Im Lichte dieser verschiedenen Typen von Epochenschwellen argumentiert Seele, dass vom Anbruch eines Digitalen Zeitalters (noch) keine Rede sein kann: Einerseits seien die Interessen der Behauptenden von kommerziellem Eigennutz motiviert und weniger von philosophisch-historiographischer Präzision. Andererseits mangele es im Anschluss an die Kriterien, wie sie von Blumenberg vorgebracht werden, an dem Nachweis, dass eine alte Epoche unwiederbringlich zum Abschluss gekommen ist und nicht nur etwas Neues begonnen hat.

Dieter Birnbacher betrachtet die Geschichte begrifflicher Transformationen in der Philosophie aus ethischer Perspektive. Philosophen verändern ←17 | 18→ immerfort die von anderen Philosophen übernommene Terminologie, um sie ihren jeweiligen eigenen Konzeptionen anzupassen. Andererseits sind sie, um sich verständlich zu machen, auf eine durch verlässliche Konventionen festgelegte Semantik ihrer Termini festgelegt. Die semantischen Modifikationen, die sie für nötig halten, um ihre Inhalte zu transportieren, dürfen also nicht so weit gehen, dass diese Inhalte nicht mehr erfolgreich vermittelbar sind. Doch während die Freiheiten, die sich Philosophen bei der Neuinterpretation traditioneller Termini nehmen, gemeinhin nicht so weit gehen wie in Lewis Carrolls Karikatur des Humpty Dumpty, der mit Ausdrücken der Alltagssprache regelmäßig etwas von ihrer Standardbedeutung meilenweit Entferntes meint, resultieren Transformationen philosophischer Begriffe wie etwa Substanz, Wahrheit, Gott, Person, Freiheit oder Gerechtigkeit gelegentlich doch in einer regelrechten Umkehrung ihrer konventionellen Bedeutungen. In seinem Beitrag exemplifiziert Birnbacher kritische, legitimatorische und camouflierende Funktionen terminologischer Transformationen in der Geschichte der Philosophie und plädiert für eine Reihe ‚ethischer‘ Grenzen, die diese Transformationen respektieren sollten – darunter etwa die Forderung, Eindeutigkeit und Verständlichkeit herzustellen und auf die essentialistische Anmaßung zu verzichten, mit der innovativen Interpretation eines tradierten Terminus dessen richtigen, wahren oder eigentlichen Sinn zu erfassen bzw. dem Wesen des damit Gemeinten eher gerecht zu werden als andere, die sich des Terminus bedient haben.

Oliver Scholz widmet sich in seinem Beitrag dem Auftauchen des Programms der sogenannten induktiven Metaphysik in der Geschichte der Metaphysik. Traditionell klingt diese Begriffsverbindung nach einem Unding: Metaphysik galt und gilt gemeinhin als eine Wissenschaft, die nach notwendigen und absolut gewissen Wahrheiten strebt und bei dieser Suche allein auf Erkenntnisquellen a priori zurückgreift, wobei sie typischerweise von deduktiven Schlüssen und der axiomatisch-deduktiven Methode Gebrauch macht. Für Kant etwa muss ein System der Metaphysik aus lauter synthetischen Sätzen a priori bestehen; sichere Kennzeichen des Apriori sind nun aber nach Kant Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit, die nachdrücklich von komparativer Allgemeinheit, wie sie allenfalls durch induktive Schlüsse zu erreichen wäre, unterschieden wird. Für Scholz ist das Programm der empirisch-induktiven Metaphysik jedoch nicht nur in der Sache berechtigt, sondern auch bei seinen besten Vertretern bereits wohldurchdacht und für die gegenwärtige und zukünftige Diskussion immer noch vielversprechend. Dies möchte der Autor anhand einer historischen und bibliographischen Erschließung der Ansätze zu einer induktiven Metaphysik aufzeigen. Der historische Schwerpunkt liegt dabei in der Zeitspanne von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. ←18 | 19→Der systematische Schwerpunkt liegt auf den wissenschaftlichen Zielen, den erkenntnistheoretischen Hintergrundannahmen der induktiven Metaphysik sowie den verwendeten Methoden und Schlussformen.

Details

Seiten
324
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631771914
ISBN (ePUB)
9783631771921
ISBN (MOBI)
9783631771938
ISBN (Hardcover)
9783631766460
DOI
10.3726/b15210
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (März)
Schlagworte
philosophische Terminologie Sprachphilosophie Philosophie des Mittelalters historische und systematische Philosophie Philosophiegeschichte Hermeneutik Metaphysik Philosophie der Neuzeit
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019, 324 S.

Biographische Angaben

Dennis Sölch (Band-Herausgeber:in) David Hommen (Band-Herausgeber:in)

David Hommen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und regelmäßiger Lehrbeauftragter an der Universität Duisburg-Essen. 2012 promovierte er mit einer Verteidigung des Epiphänomenalismus, für die er 2013 den drupa-Preis erhielt. Seine Forschungs- und Interessensgebiete reichen von der Philosophie des Geistes über Theorien der Kausalität bis hin zur Metaphysik von Unterlassungen und Abwesenheiten. Dennis Sölch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Geschäftsführer der Deutschen Whitehead Gesellschaft. 2013 promovierte er mit einer Arbeit über die Tradition der Prozessphilosophie und war 2016 „William James Scholar in Residence" am William-James-Center in Potsdam. Seine Forschungsgebiete umfassen Prozessmetaphysik, Kulturphilosophie und die Geschichte der amerikanischen Philosophie vom Transzendentalismus bis zum Neopragmatismus.

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Titel: Philosophische Sprache zwischen Tradition und Innovation
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