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Biographies médiatisées – Mediatisierte Lebensgeschichten

Medien, Genres, Formate und die Grenzen zwischen Identität, Biografie und Fiktionalisierung

de Maximilian Gröne (Éditeur de volume) Florian Henke (Éditeur de volume)
©2019 Collections 230 Pages
Série: Romania Viva, Volume 27

Résumé

Biografie und Autobiografie stehen nicht allein in einem komplexen Spannungsfeld zwischen Fakten und Fiktion, sie unterliegen zudem der Prägung durch die Medien, in denen sie realisiert sind oder auf die sie rekurrieren. Der Band Biographies médiatisées – Mediatisierte Lebensgeschichten analysiert in seinen Beiträgen die daraus resultierenden Fragestellungen anhand eines breit angelegten Spektrums literarischer Texte aus dem Bereich der Frankoromania bzw. der Frankophonie.
Non seulement la biographie et l’autobiographie sont prises en étau entre la réalité et la fiction, ce qui s’avère déjà particulièrement complexe, mais encore elles sont profondément marquées par les médias par le biais desquels elles s’expriment ou auxquels elles renvoient. Dans les contributions qu’il réunit, le volume Biographies médiatisées – Mediatisierte Lebensgeschichten analyse les questions qui en résultent, et cela à partir d’une large palette de textes littéraires français et francophones.

Table des matières

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Biographies médiatisées – Mediatisierte Lebensgeschichten
  • Des biographies politisées dans un mensuel culturel – le Nouveau Mercure galant (1714–1716) au service de la monarchie française
  • ,J’essaierai […] de dire la vérité vraie sur moi.’ Paul Verlaines Confessions (1895) zwischen Autobiografie, Hagiografie und künstlerischer Selbststilisierung
  • Dernières nouvelles du biographique
  • Jenseits von autofiction und exofiction: Gattungshybridisierung in fiktionalen Metabiografien bei Pierre Michon und Emmanuel Carrère
  • Zwischen den Zeilen, zwischen den Bildern: Die biografische und autobiografische Suche in Florent Sillorays graphic novel ‚Le carnet de Roger‘
  • Nadja, autobiographie bicéphale et polymédiale
  • (Auto)Biografien nach der Shoah: Marcel Cohens Sur la scène intérieure und Marianne Rubinsteins C’est maintenant du passé
  • Enquêtes et contre-enquêtes de Didier Blonde. Les vies posthumes de Leïlah Mahi
  • Autofiction et posture. Analyse de l’image d’auteur dans l’œuvre de Jacques Godbout et Jacques Poulin
  • Une (auto)biographie en ligne et entre les lignes. Médiatisation d’une existence d’auteur à l’exemple de Jean-Philippe Toussaint
  • Je autobiographique et effets interdiscursifs : La construction de soi à travers l’interprétation littéraire
  • Eddy Bellegueule / Édouard Louis – Autobiografisches Erkunden des homosexuellen Habitus
  • Biobibliografische Notizen

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Maximilian Gröne / Florian Henke

Biographies médiatisées – Mediatisierte Lebensgeschichten

Die (Auto)Biografieforschung ist in den letzten Jahrzehnten durch eine Neufassung des Autorbegriffs wie auch durch eine Erweiterung des diesbezüglich einschlägigen Gattungsspektrums gekennzeichnet. Die Infragestellung der Kategorien Subjekt, Schrift und Wahrheit im Zuge vor allem des dekonstruktivistischen Poststrukturalismus einerseits, die durch die Foucaultsche Diskursanalyse angestoßene Betonung institutioneller wie auch medialer konstituierender Faktoren andererseits münden in einer Problematisierung des Verständnisses von (Auto)Biografie, zumal fiktionale Anteile deren vermeintlich mimetischen Wirklichkeitsbezug unterminieren und eine grundlegende Skepsis gegenüber jedweder Form von ‚Authentizität‘ bedingen.1

Die nachhaltige Erschütterung des Vertrauens in die Repräsentationsfähigkeiten der Literatur bleibt nicht ohne Reaktion. Indem sich das ‚Leben‘ der/des Einzelnen als Gegenstand einer definitorischen Zuschreibung entzieht, tritt analog zumal der fragile Gestus künstlerischer Selbstsetzung in den Vordergrund. Er löst in vielerlei Hinsicht das einstige Vertrauen in die evokative Kraft des realistischen Portraits ab, das seit der Renaissance die abendländische Individuation begleitet. Ebenso ist der Rousseausche Anspruch der Aufrichtigkeit verfallen, um eine Selbstbefragung über die Grenzen der Widerspiegelung hinaus in den Bereich der Metareflexivität2 zu tragen. Wenn in diesem Sinne der ←7 | 8→Glaube an einen (auto)biografischen Essenzialismus zusehends einer konstruktivistischen Auffassung von Identitätsbekundung gewichen ist, so stellt sich im Anschluss nicht zuletzt die Frage nach einer auch literaturgeschichtlich relevanten Neubewertung der narrativen und medienspezifischen Überformung3 von Lebens-Geschichten, von den hagiografischen Texten der Frühen Neuzeit bis hin zu den ‚vies imaginaires‘ des 20. und 21. Jahrhunderts.

Vor diesem allgemeinen Hintergrund situieren sich auch die Betrachtungen Pierre Bourdieus zur ‚illusion biographique‘.4 Bourdieu analysiert die „histoire de vie“5 eines Individuums im Sinne eines auf Kohärenz und inhärente Logik ausgelegten Entwurfs, der von der Heterogenität der tatsächlichen Lebens-Facetten abstrahiert. Gerade in der literarischen Gestaltung wird eine solche Vorstellung einer in sich geordneten Existenz letztlich als „création artificielle de sens“6 bzw. als „illusion rhétorique“7 greifbar, als ‚Erzählung‘ und Eingrenzung einer Lebensgeschichte, in die sich der Habitus der Person und die Mechanismen der sie umgebenden Felder einschreiben.

Diese Betrachtung der illusionsbildenden Lebensgeschichte reiht sich ein in ein jüngeres transdisziplinäres Forschungsfeld, das immer stärker an Kontur gewinnt und den Konstruktcharakter (auto)biografischer Lebensschilderungen erkundet. Eingeleitet bzw. vorangetrieben wurde die spezifische Auseinandersetzung mit den narrativen oder medialen Gestaltungsverfahren unter anderem durch die Untersuchungen der neueren Historiografie zu Zeitzeugenschaft und oral history, ferner im Bereich der narrativen Psychologie, der soziologischen Biografieforschung8 und der Medienwissenschaften.9

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Im Bereich der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung liegen mittlerweile ebenfalls erste eingehende Reflexionen vor. So widmet sich die im französischen Kontext als Sammelbegriff konzipierte und nun von Alexandre Gefen systematisierte Kategorie der ‚biofictions‘10 den fiktionalen Simulationen von Lebensläufen. Im Gegenzug hat sich in der Autobiografieforschung der von Jörg Dünne und Christian Moser eingeführte Begriff der ‚Automedialität‘11 etabliert, um Formen eines sich medial konstituierenden Selbstbezugs zu beschreiben.

In diese eingeschlagene Richtung dringen die Beiträge des vorliegenden Bandes weiter vor. Dabei wird einerseits eine dezidiert frankoromanistische Perspektive gewählt, die über die gemeinsame literaturgeschichtliche Rahmung die Möglichkeit diachroner Bezüge und Kontrastbildungen eröffnet. Zugleich werden die Akzente auf eine Zusammenschau von Formen der Biografie wie auch der Autobiografie gelegt, um den grundsätzlichen formgebenden Einfluss medialer Vermittlung genauer in den Blick zu nehmen. Die in diesem Zusammenhang analysierten Medien und Genres wiederum können mit Sicherheit das breite Spektrum der Formen und Formate nur im Ansatz evozieren, setzen aber dennoch über die angestrebte Diversifizierung der Untersuchungsgegenstände ein Zeichen für seine Reichhaltigkeit. Ein besonderes Augenmerk liegt nicht zuletzt auf der Relativität der dargestellten Lebens-Konstrukte, die bereits aus den internen Bedingungen ihrer medialen Konfiguration heraus sich den Betrachtenden entziehen und die Illusion einer ‚wahrhaftigen‘ Persönlichkeit scheitern lassen.

Mit dem näherungsweisen Nullpunkt der Biografie befasst sich David Reitsam. Er analysiert „Des biographies politisées dans un mensuel culturel“ am Beispiel des Nouveau Mercure galant der Jahre 1715 und 1716. Dessen Redakteur Hardouin Le Fèvre de Fontenay verfasste eine kontinuierliche Reihe von „Articles des Morts“ in Form monatlich publizierter Nekrologe, die dem Adel des Ancien Régime als Nachruf dienten. Die schnörkellose Knappheit der Todesanzeigen kontrastiert hier mit den andernorts anzutreffenden ausführlichen Würdigungen der moralistischen Oraisons funèbres Bossuets oder der Hommes illustres von Perrault. Stattdessen bedingt das Format der Zeitschrift eine Konzentration auf die Mitteilung exakter Kerninformationen (Titel, Abstammung, Todestag). Die einzig zulässige Würdigung der Verstorbenen beschränkt sich – im Rahmen ←9 | 10→der publizistischen Verknappung – auf die vorbildgebenden Leistungen der Verblichenen um die Monarchie oder den Glauben und destilliert damit die Quintessenz des absolutistischen Staatsverständnisses.

Wenn Paul Verlaines autobiografische Confessions die Erwartungshaltung seines zeitgenössischen Publikums (und nachfolgender Literaturkritiker) ‚enttäuschten‘, so lag es an der über weite Partien unpersönlich und in ihrer Episodenhaftigkeit unzusammenhängend wirkenden Narration, wie Julia Lichtenthal in ihrem Beitrag aufzeigt („‚J’essaierai […] de dire la vérité vraie sur moi.’ Paul Verlaines Confessions (1895) zwischen Autobiografie, Hagiografie und künstlerischer Selbststilisierung“). Denn während die Leserschaft der Zeitschrift Fin de siècle in voyeuristisch anmutender Neugier sich eine Lebensbeichte des poète maudit erhoffte, leitete Verlaine in seinen vermeintlich fragmentarischen, da selektiven Erinnerungen ein modern wirkender Gestus der Unmittelbarkeit und Authentizität. Ebenso werden die klischeebeladenen Legenden der eigenen Berufung zum Dichter bzw. der Rückkehr des Sünders in die bürgerliche Tugendhaftigkeit nur noch evoziert, um sogleich in der Selbstreflexion als zu einfache Wahrheiten widerrufen zu werden.

Gestützt auf eine breite Textbasis resümiert Alexandre Gefen in seinem Beitrag „Dernières nouvelles du biographique“ die jüngste Entwicklung im Bereich fiktionaler und dokumentarischer biografischer Narrationen. Die Erzählungen von ‚fremden‘ Leben eröffnen in ihnen den LeserInnen die Möglichkeit, jenseits einer simplen Neugier am Unbekannten mit anderen Existenz- und Denkweisen, mit anderen Seinsproblematiken und Wertvorstellungen in Kontakt zu treten. Grundlegend hierfür ist die von Gefen für den zeitgenössischen französischen Roman konstatierte Orientierung an realistischen Beschreibungstechniken und vor allem eine verstärkt anzutreffende Arbeit an den Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache. Letztere richtet das Augenmerk auf die Wahrnehmung der inneren und äußeren Welt durch die Protagonisten und wird dadurch zum Schauplatz der Erkundung von Identität. Die Leserschaft wird in diesen Prozess mit einbezogen, es entsteht ein ‚lien affectif‘, der sie in einer empathischen Anteilnahme an den fiktional entworfenen Biografien über den eigenen existentiellen Bezugsrahmen hinausblicken lässt und sie für fremde Schicksale und deren Perspektiven sensibilisiert. Diese Fähigkeit von Literatur, andere subjektive Seinswahrnehmungen zu vermitteln, bildet das Herzstück des von Gefen konstatierten neuen Ethos in der postmodernen biografischen Narration.

Einen kritischen Überblick über die im Zeichen von Autofiktion und Exofiktion kursierenden Gattungsbezeichnungen gibt Florian Henke zu Beginn seines Beitrages („Jenseits von autofiction und exofiction: Gattungshybridisierung in fiktionalen Metabiografien bei Pierre Michon und Emmanuel Carrère“), wobei speziell die heuristische Funktion des ‚Labels‘ Exofiktion in Frage gestellt wird. ←10 | 11→Dass in der französischen littérature de l’extrême-contemporain ohnehin gerade Mischformen mit auto- und biofiktionalen Anteilen narrativ anspruchsvolle Lebensbeschreibungen bereitstellen, exemplifiziert Henke an fiktionalen Metabiografien. Sie situieren sich nicht allein zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen, sondern hybridisieren biografische und autobiografische Bezüge durch die jeweilige starke Position der Erzählinstanz und der von ihr ausgehenden Selbstreferentialisierung des Erzählens. Die bewusst anerkannte Lückenhaftigkeit und Unzuverlässigkeit jeglicher (auto)biografischer Illusion wird hier als poetologisches Programm fassbar.

Die Text-Bild-Relation als mediales Charakteristikum der graphic novel begünstigt metareflexive Erzählverfahren, die sich im Rahmen biografischer Spurensuche zur autobiografischer Identitätserkundung entfalten können, wie Maximilian Gröne am Beispiel von Florent Silloray zeigt („Zwischen den Zeilen, zwischen den Bildern: Die biografische und autobiografische Suche in Florent Sillorays graphic novelLe carnet de Roger‘). Fremd- und Selbstbezug treten hier in ein komplexes Wechselverhältnis von Bild und Text, Zeichnung und Schrift, Dokumentation und Darstellung, empathischer Aufarbeitung und reflektierender Betrachtung, Rezeption und Kreativität, wobei auf der metanarrativen Ebene die Genese des graphic novel-Bandes selbst nachvollzogen wird.

Das mediale Zusammenspiel von Bildmaterial und Text ist ebenfalls Grundlage der Betrachtung in Hélène Faus Ausführungen zu André Bretons ‚iconoroman‘ Nadja („Nadja, autobiographie bicéphale et polymédiale“). Der Akzent liegt dabei auf der gegenseitigen Durchdringung von Nadjas Zeichnungen und Bretons Erzählung, welche einander erst im Akt der Begegnung dialogisch hervorbringen. Während Nadja ihr Selbstbild als Collage disparater Elemente entwirft und damit zur Personifikation der wesentlichen Grundform surrealistischer Ästhetik wird, entstehen Bretons zwischen Tagebuch und Biografie sondierende Aufzeichnungen aus der Kontaktfläche mit den pikturalen Elementen. Beides zugleich erschafft ein Doppelportrait als Hybridform von Biografie und Autobiografie, Bild und Text.

Die Konfrontation mit Fotografien eröffnet im Weiteren die Rekonstruktionsversuche von Lebensläufen im Umfeld der Shoah, mit denen sich Anna Larissa Walter auseinandersetzt („[Auto]Biografien nach der Shoah: Marcel Cohens Sur la scène intérieure und Marianne Rubinsteins C’est maintenant du passé“). Cohen begibt sich als ehemaliges enfant caché vor dem Hintergrund des Verlustes seiner Angehörigen auf eine Spurensuche, die sich aus Kindheitserinnerungen, Rechercheergebnissen und der fotografischen Inventarisierung von Erinnerungsstücken zusammensetzt. Sie alle bleiben indes bruchstückhaft, können und sollen nicht zu einem Narrativ verknüpft werden, um die unüberbrückbare Lückenhaftigkeit der Erinnerung zu erhalten. Rubinstein wiederum versucht als Tochter eines enfant caché dem ←11 | 12→Schweigen des Vaters zu seiner individuellen Geschichte eine eigene Rekonstruktion entgegenzusetzen, in der Fotografien und anderweitige Zeitdokumente eine emotionale Beziehung zur imaginierten Vergangenheit aufbauen. In beiden Fällen tragen die Fotografien als ‚points of memory‘ dazu bei, in der nur ansatzweise erfassbaren Familiengeschichte eine automediale Selbsterkundung der AutorInnen zu initiieren.

Die Welt des Kinos rückt mit Laurent Demanzes Beitrag zu „Enquêtes et contre-enquêtes de Didier Blonde. Les vies posthumes de Leïlah Mahi“ in den Blick. Der Stummfilmstar Mahi wird darin als Gegenstand einer Spurensuche sichtbar gemacht, die eine alternative Biografieschreibung anstrebt. Blonde geht es gerade nicht um die klare Konturierung einer bekannten Persönlichkeit, sondern er interessiert sich für deren charakterliche Brüche und die Grauzonen einer im Nachhinein nicht mehr aus den divergierenden Lebensspuren zu rekonstruierenden Geschichte. Das Bemühen um die biografische ‚Wahrheit‘ beginnt dabei gemäß der Grundstruktur des analytischen Kriminalfilms mit dem Tod der zu betrachtenden Person. Ihre sukzessiv aufgedeckte Existenz erlebt indes keine Auferstehung aus den Archiven der historiografischen Quellensammlungen, sondern muss unvollständig aus den Erinnerungsakten interessierter Laien zusammengesetzt werden, die in ihrer Perspektivenvielfalt eher die möglichen Leben der Mahi vorgeben, als deren letztgültiges Porträt.

Unter den speziellen Bedingungen des literarischen Feldes im frankophonen Teil Kanadas untersucht Alex Demeulenaere die Strategien von Schriftstellern, die zwischen Selbstinszenierung und Fiktionalisierung ein Bild vom Autor entwerfen, das auf die öffentliche „surconscience auctoriale“ reagiert („Autofiction et posture. Analyse de l’image d’auteur dans l’œuvre de Jacques Godbout et Jacques Poulin“). Ausgangspunkt der Betrachtung ist die Wahrnehmung von Autorinnen und Autoren im Zuge der fortlaufenden frankokanadischen Diskussion um die eigene kulturelle Identität. Vor diesem Hintergrund, so zeigt die Analyse, werden sowohl die intellektuelle Selbstpositionierung der Personen in der öffentlichen Debatte, wie auch die fiktionale Gestaltung von AutorInnen-Figuren innerhalb der literarischen Texte einer gezielten Stilisierung im Sinne einer „posture“ unterworfen, die zwischen Autofiktion und Fiktion rangiert. Die unterschiedlichen Profile von Godbout und Poulin bieten hierfür ein komplexes Anschauungsmaterial, wobei auffällige Diskrepanzen zwischen persönlicher Selbstaussage, etwa im Interview, und romanesker Gestaltung von schriftstellernden Protagonisten aus den Charakteristika der jeweiligen Medien heraus abgeleitet werden können.

Die medialen Möglichkeiten, die das Internet für schriftstellerische Selbstentwürfe bereitstellt, erforscht Hannah Steurer in „Une (auto)biographie en ligne et entre les lignes. Médiatisation d’une existence d’auteur à l’exemple de ←12 | 13→Jean-Philippe Toussaint“. Toussaint bedient sich einerseits der Struktur des world wide web, um auf seiner persönlichen Autoren-Homepage über eine verlinkte Weltkarte die Spuren seines publizistischen Schaffens abrufbar zu machen, die von über den Globus verteilten KorrespondentInnen in ihrer jeweiligen Sprache bereitgestellt werden. Gleichermaßen stellt auch Toussaint selbst Dokumente zur Verfügung – Notizen, Manuskripte, nicht publizierte Entwürfe –, die in der Zusammenschau als Portrait seines Schaffens aufgefasst werden können. Die Virtualität des Netzes tritt daneben andererseits auf einer zweiten website noch stärker als kreative Struktur zutage: das „projet Borges“ fordert die interessierte web community auf, eine ebenso als apokryph wie verloren imaginierte, letztlich rein fiktive Borges-Novelle durch selbstverfasste Versionen nachdichterisch zu ersetzen. In seiner eigenen Variante der erfundenen Novelle demontiert Toussaint wiederum die Grenzen zwischen Autor, Erzähler und Figur, um in einem metanarrativen Spiel die Grenzen zwischen biografischer Realität und Fiktion einzureißen.

Den Sonderfall der autofiktionalen Schriften von LiteraturwissenschaftlerInnen sondiert Frank Reiser in „Je autobiographique et effets interdiscursifs: La construction de soi à travers l'interprétation littéraire“. In ihnen zeichnet sich eine zusätzliche Ebene der metaliterarischen Kritik ab, die wiederum maßgeblichen Einfluss auf die im Text entworfene Selbstkonstruktion nimmt. An prominenter Stelle wird zunächst der für die Autofiktion prototypische Roman Fils von Serge Doubrovsky einer Re-Lektüre unterzogen, die neue Aspekte zutage fördert, die Reiser unter dem Begriff der „biolexie“ rubriziert. Denn indem das Erzähler-Ich Doubrovsky in Fils gerade in seiner Rolle als Literaturwissenschaftler entworfen wird, entsteht aus seiner beruflich bedingten Auseinandersetzung mit prominenten Interpretationen zu Racines Phèdre eine zusätzliche Dimension der Selbstkommentierung. Allem voran die psychoanalytische Phèdre-Deutung Charles Maurons mit ihrem Fokus auf der ödipalen Problematik, welche der Mutter-Sohn-Beziehung in der Tragödie unterliegt, wird zum Angelpunkt einer Spiegelung von Doubrovskys eigener Beziehung zu seiner Mutter. Die Gattung literaturkritischer Studien wird ferner auch in La règle du Je von Chloé Delaume zur Prüfstein der eigenen Existenz. Hatte die Autorin sich zuvor in ihrer Auseinandersetzung mit autofiktionalem Schreiben selbst im Text eine neue Identität als ‚Chloé Delaume‘ erschaffen und ihre vorherige Existenz unter dem Namen Nathalie Abdallah verabschiedet, so wird sie bei einem literaturwissenschaftlichen Kolloquium in Cerisy-la-Salle – auf dem sie als Expertin für Autofiktion auftritt – in ihrem Verständnis der ‚Gattung‘ Autofiktion, und damit in ihrem Selbstverständnis, erschüttert.

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Im Falle von Édouard Louis, alias Eddy Bellegueule, erweist sich der geschulte Blick des Soziologen als bedingender Faktor des Versuchs der Selbstbeschreibung. In seinen beiden autobiografisch fundierten ‚Romanen‘ möchte Louis die eigene homosexuelle Entwicklung vor dem Hintergrund des sie determinierenden provinziellen und proletarischen Milieus offenlegen. Dieses Unternehmen nimmt dabei, wie Christoph Mayer in seinem Beitrag demonstriert („Eddy Bellegueule / Édouard Louis – Autobiografisches Erkunden des homosexuellen Habitus“), für den Bourdieu-Schüler Louis zugleich den Charakter einer soziologischen Studie an. Indes scheitert dieses Bemühen um den Nachweis eines sozial generierten Habitus gerade an der erzählerischen Notwendigkeit, das biografische Substrat durch Fiktionalisierung im Sinne einer tieferliegenden ‚Wahrheit‘ auszudeuten.

Die hier versammelten Beiträge sind aus der 4. literaturwissenschaftlichen Sektion des Saarbrücker Frankoromanistentages 2016 hervorgegangen. Um dessen Motto „Grenzbeziehungen – Beziehungsgrenzen. Liaisons frontalières“ gerecht zu werden, haben wir uns entschlossen, die Beiträge in der jeweils von der Autorin / dem Autor gewählten Konferenzsprache abzudrucken. Wir bedanken uns an dieser Stelle nicht allein für die Mitwirkung der BeiträgerInnen an diesem Band, sondern zugleich für die anregenden Gespräche, die wir mit ihnen im Umfeld der Tagung führen konnten. Unser Dank gilt dem Vorstand des Frankoromanistenverbandes für die Gewährung eines großzügigen Druckkostenzuschusses sowie den Reihen-HerausgeberInnen Uta Felten, A. Francisco Zurian Hernández and Anna-Sophia Buck für die Aufnahme unseres Bandes in die Reihe „Romania Viva. Texte und Studien zu Literatur, Film und Fernsehen der Romania“. Ein spezieller Dank für die Hilfestellung bei der redaktionellen Betreuung des Bandes gilt schließlich Frau Miriam Steinitz.

Résumé des informations

Pages
230
Année
2019
ISBN (PDF)
9783631773628
ISBN (ePUB)
9783631773635
ISBN (MOBI)
9783631773642
ISBN (Relié)
9783631767771
DOI
10.3726/b14888
Langue
français
Date de parution
2019 (Février)
Mots clés
Biografie Autobiografie Mediatisierung Autofiktion Exofiktion Autorbilder
Published
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 230 S., 6 s/w Abb.

Notes biographiques

Maximilian Gröne (Éditeur de volume) Florian Henke (Éditeur de volume)

Maximilian Gröne ist Akademischer Oberrat für französische und italienische Literaturwissenschaft an der Universität Augsburg. Florian Henke ist Studiendirektor im Hochschuldienst in der Fachrichtung Romanistik der Universität des Saarlandes.

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