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Grenzen des Zumutbaren – Aux frontières du tolérable

von Lena Seauve (Band-Herausgeber:in) Vanessa de Senarclens (Band-Herausgeber:in)
©2019 Sammelband 264 Seiten
Reihe: Romania Viva, Band 28

Zusammenfassung

Literarische Texte thematisieren nicht nur Grenzen, sie sind durch immanente Grenzen konstituiert. Die Rede ist von historisch variablen Grenzen des Sag- oder Zeigbaren, die nach moralischen oder ästhetischen Kriterien definiert und wahrgenommen werden. Der Band nähert sich den «Grenzen des Zumutbaren» aus einer zugleich poetologischen und rezeptionsästhetischen Perspektive. «Grenzen des Zumutbaren» werden in literarischen Texten historisch reflektiert, gleichzeitig implizieren und provozieren Grenzen stets auch die Möglichkeit oder den Versuch ihrer Überschreitung. Dieser Sammelband nimmt sowohl durch Grenzen definierte epochale Selbstverständnisse als auch Strategien der Transgression in Erzähltexten und Dramen der französischsprachigen Romania vom 16.-21. Jahrhundert in den Blick.
Les textes littéraires se constituent et organisent leurs effets autour de frontières, tantôt explicites, tantôt implicites. Dans cet ouvrage, il est question de l’acceptable et du tolérable pour le lecteur et le spectateur, ainsi que des déplacements et des modifications de ces conceptions esthétiques et morales au fil des époques et au gré des sensibilités littéraires. Il porte donc sur les «frontières du tolérable» , à la fois comme une catégorie poétologique, ainsi que dans la perspective de la réception des œuvres. Les «frontières du tolérable» mettent en jeu des régimes d’historicité; elles constituent aussi pour les auteurs des seuils à repousser et autour desquels expérimenter.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Über die Grenzen des Zumutbaren – Sur les frontières du tolérable
  • „les graves circonstances de la vie“ – Poetik der Zumutung in Nervals Aurélia
  • Prédication, vision sacrée et sexes parlants. La superposition des normes religieuses et de la critique philosophique dans Les Bijoux indiscrets (1748) de Diderot
  • Insupportable Œdipe : Commentaires et réécriture de la tragédie Œdipe Roi de Sophocle par Voltaire
  • Occurrences at Owl Creek Bridge. Emotionale Funktionen von erzähltem Protagonistenleid an der Grenze des Zumutbaren
  • „Une descente pour ressortir au jour“: Surrealistische und kulturelle Transgressionen in Antonin Artauds Reisebericht Les Tarahumaras
  • Die Leiche im Mörtel. Novellenpoetik und Wirkungsästhetik in Marguerite de Navarres Heptaméron
  • Schrift als Stigma – Die Grenzen des Körperlichen bei Zola
  • L’espace de la guerre et de la violence. La Méditerranée selon Zone de Mathias Énard
  • Dire et montrer le nazisme
  • Der begehrende Blick des Scharfschützen. Unzumutbare Perspektiven in Mathias Énards La Perfection du tir (2003)
  • „C’est ma répulsion que je regarde“: Zum Erzählen des Unzumutbaren in Nicole Caligaris’ Le paradis entre les jambes (2013)
  • Grenzüberschreitung als Herausforderung des Sagbaren bei Jean Genet
  • Schuld und Zumutung. Thomas Bernhards Heldenplatz und Michel Houellebecqs Soumission

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Lena Seauve und Vanessa de Senarclens

Über die Grenzen des Zumutbaren – Sur les frontières du tolérable

Dieser Band versammelt die überarbeiteten Beiträge einer Sektion des Frankoromanistentages, der im Herbst 2016 in Saarbrücken stattfand. Der literatur- und kulturwissenschaftliche Teil des Kongresses widmete sich dem Thema der Grenzen – in erster Linie verstanden als reale geographisch-historische und politische Wirklichkeiten – und deren Präsenz und Thematisierung in der Literatur. Mit der metaphorischen Deutung des Begriffs „Grenzen“ als extern oder intern formierte Normen literarischer Texte suchten wir in unserer Sektion einen anderen Zugang und widmeten uns sowohl Fragen der poetologischen Voraussetzungen literarischer Texte als auch der impliziten oder expliziten Grenzen des inhaltlich Sagbaren, denen sich diese unterordnen, annähern oder die sie überschreiten1. Darüber hinaus involviert unsere Fragestellung die Beschäftigung mit dem Kommunikationsakt, den Literatur voraussetzt, samt seines jeweiligen historischen Kontextes und seiner wirkungsästhetischen Rahmenbedingungen.

In seinem Werk von 1997 L’Œuvre de l’art. La relation esthétique2 betont selbst Gérard Genette, der – wie kaum ein anderer Literaturtheoretiker – mit seiner Erzähltheorie versucht hat, die Literarizität eines Textes anhand interner Parameter zu analysieren, dass der Inhalt eines literarischen Werkes nicht von seinem Verhältnis zum Leser abstrahiert werden kann. Literarische Texte erfordern eine bestimmte Form der Aufmerksamkeit seitens des Lesers, die sich von alltäglich-pragmatischer Kommunikation unterscheidet. Man betrachtet einen Text oder ein Kunstwerk anders als ein Naturereignis, ein Gedicht über den majestätischen Gipfel des Matterhorns anders als das Matterhorn selbst. Literarische Werke fordern eine Herangehensweise, die – bewusst oder unbewusst – von Informationen und Vorkenntnissen über ihre jeweilige Gattung geprägt ist. Innerhalb der unterschiedlichen literarischen Gattungen liest man einen Krimi mit anderen Erwartungen als einen lyrischen Text oder ein Epos. Man rezipiert als Leser einen Text als Teil seiner Gattungsgeschichte. Genette verwendet für ←7 | 8→diesen Vorgang die Formel von der informierten Beurteilung, der „appréciation informée“3. Als kommunikative Form steht die Literatur immer in einem metadiskursiven Verhältnis zur Geschichte. Als künstlerische Form steht sie im Dialog mit vergangenen Texten, an denen sie sich reibt, an die sie sich anlehnt oder von denen sie sich distanziert, um die Gegenwart mit ihren eigenen Mitteln zu reflektieren.

Das Lesen fiktionaler Texte ist überdies mit einem weit zu fassenden Lustbegriff verknüpft, der den gesamten Prozess der Lektüre bedingt. In seinem Buch L’expérience esthétique4 fasst Jean-Marie Schaeffer die Lektüre von fiktionalen Texten als Zugang oder Eintritt in ein paralleles Universum auf – um dabei die Parallelität des literarischen Raums zum alltäglichen zu betonen, benutzt er die räumliche Metapher einer „Enklave“5 –, ein Universum, das von abweichenden kommunikativen Regeln bestimmt wird. Dabei ist die Bereitschaft des Lesers dieses Universum zu betreten, über seine Schwelle zu gehen, an ein hedonistisches Versprechen der Texterfahrung geknüpft: Der Leser verspricht sich von der Lektüre ein Vergnügen. Insbesondere im Fall der Tragödie und ihrer oft unerträglich grausamen Handlung tritt die Komplexität und Fragilität dieses Kalküls zutage. Trotz Darstellungen von Tod, Selbstmord und großem Leid der Protagonisten bleiben die Zuschauer in ihren Theatersesseln sitzen, eben weil sie von dieser fiktionalen „Enklave“ eine letztlich positive emotionale Erfahrung erwarten. Schaeffer betont aber gleichzeitig den bedrohten Charakter jenes unsichtbaren Raums, den die Fiktion um ihren Rezipienten herum schafft: Jederzeit kann der Zuschauer aufstehen, um den Raum zu verlassen, jederzeit kann der Leser sein Buch zuklappen. So schnell wie er in den Raum der Fiktion eintaucht, so schnell kann er ihn auch verlassen und dem Text seine Aufmerksamkeit entziehen. Vor allem wenn es um die Darstellung von menschlichem Leid und Grausamkeit geht, ist die Balance zwischen dem Dargestellten und der Erfahrung des Lesers, der hieraus eine positive ästhetische und emotionale Erfahrung zieht, prekär.6

1. Das Unzumutbare und das „intolérable“

Die Rede vom Unzumutbaren, vom intolérable oder insupportable, erfordert zunächst eine Einordnung dieser im Übrigen nicht ganz synonymen Ausdrücke. Der deutsche Begriff der Zumutbarkeit findet sich in einschlägigen Lexika ausschließlich als ein juristischer und bezeichnet: „[…] die Angemessenheit einer Anforderung an ein bestimmtes Verhalten […].“ Weiter wird diese Angemessenheit noch präzisiert: „Ist ein Handeln oder Hinnehmen (Dulden) nicht zumutbar, so kann strafrechtlich ein Entschuldigungsgrund gegeben sein und zivil- und arbeitsrechtlich eine Rechtsverpflichtung entfallen.“7 Zumutbar wäre demnach ein Begriff, mithilfe dessen das Verhalten von Individuen in konkreten Lebenssituationen evaluiert werden kann. Wird ein bestimmtes – unter normalen Gegebenheiten gefordertes – Verhalten aufgrund der Umstände durch eine juristische Instanz als unzumutbar bewertet, liegt es also jenseits einer Grenze des Zumutbaren, kann das betroffene Individuum nicht für sein Handeln (oder Nicht-Handeln) verantwortlich gemacht, bzw. juristisch belangt werden. Die Definition dieser Grenze des Zumutbaren unterliegt dabei der externen Bewertung beispielsweise durch ein Gericht, in jedem Falle aber einer Instanz außerhalb des betroffenen Individuums. Das Zumutbare definiert, welche Belastung (physischer oder psychischer Natur) einem Menschen in einer konkreten Situation abverlangt werden kann. Das Unzumutbare ist der Bereich, der sich jenseits dieser Grenze befindet, genauer gesagt: Es beschreibt eine Belastung, unter der an das betroffene Individuum abweichende Kriterien (beispielsweise der moralischen Bewertung seines Verhaltens) angelegt werden müssen.

Übertragen auf das Verhältnis Text – Leser ließe sich dazu Folgendes annehmen: Literarische Texte, die die Grenzen des Zumutbaren berühren oder überschreiten, stellen eine übermäßige Belastung des Lesers dar. Dies kann beispielsweise auf Texte zutreffen, die aufgrund ihres Umfangs, der Struktur oder der verwendeten Sprache unlesbar, absichtlich unverständlich oder verrätselt sind. Es kann sich aber auch um Texte handeln, deren Inhalt (z.B. Gewalt oder Pornographie) den moralischen Überzeugungen des Lesers zuwiderläuft. Häufig sind beide Elemente kombiniert, d.h. die Art und Weise der ästhetischen Darstellung moralisch/ethisch problematischer Inhalte bereitet dem Leser Unbehagen, wird als unzumutbar empfunden. Im Falle der Rezeption literarischer Texte gibt es im engeren Sinn keine einem Gericht vergleichbare übergeordnete Instanz, die über Zumutbarkeit entscheiden könnte, es ist vielmehr der Leser selbst, ←9 | 10→der – höchst subjektiv – einen Text oder Aspekte eines Textes als unzumutbar zurückweist. Die Rede vom Unzumutbaren involviert dabei im Deutschen eine externe Instanz, die den französischen Begriffen des tolérable oder des supportable fehlt. Jemandem etwas zuzumuten ist ein Vorgang, der einen dritten Akteur impliziert – konkreter, auf den vorliegenden Kontext übertragen: Ein Autor mutet einem Leser einen Text zu, der dessen moralische/ethische/ästhetische Grenzen überschreitet.

Der französische Begriff des tolérable, laut dem „Trésor de la Langue Française“ weitgehend synonym zu supportable, umfasst im engeren Sinne nur zwei Elemente. Etwas (ein Mensch, ein Zustand, eine Aufgabe) wird von einem Subjekt als gerade noch erträglich empfunden: „Qui peut être toléré, que l’on peut admettre en faisant preuve d’indulgence […]. Qui peut être supporté sans effort pénible, sans douleur forte, sans dommage.“8 Betont wird in diesen Definitionen implizit die unmittelbare Nähe zu einer Grenze, es wird deutlich, dass zum intolérable oder insupportable nur ein kleiner Schritt fehlt – eben ein Schritt über jene Grenze, jenseits derer das bewertete Element nicht mehr erträglich ist.

Die Formulierung vom „seuil de tolérance“, der Toleranzschwelle, gehörte auf Französisch zunächst dem medizinischen Register an, genauer gesagt dem Bereich der Semiologie des Schmerzes und seiner Variabilität für den Patienten. Sie wurde in den sechziger Jahren auch im Bereich der Soziologie verwendet. Literaturwissenschaftlich wurde „Seuils“ von Gérard Genette verwendet als Oberbegriff für alle Paratexte in der Architektur des Buches. Nun bekommt dieser Begriff mit dem 2016 erschienenen Essay von Françoise Lavocat, Fait et Fiction. Pour une frontière9, eine andere Wendung. In diesem Werk verteidigt die Autorin die Grenze zwischen Fakten und Fiktion und verwehrt sich aller (vor allem politischen) Theorien, die eine Relativierung bzw. eine Verwischung dieser Grenze hervorrufen. Unsere Fragestellung baut auf der Verteidigung dieser Grenze auf, denn eines lässt sich mit Blick auf die in diesem Band versammelten Beispiele aus den verschiedenen Epochen festhalten: Wenn ein literarischer Text an die Grenzen des Zumutbaren stößt und einen politischen oder ästhetischen Skandal oder die starke Ablehnung des Lesers oder Zuschauers hervorruft, geschieht dies in der Regel im Verhältnis zu einer wie auch immer dargestellten Realität.

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Der feine Unterschied zwischen dem deutschen Begriff des Zumutbaren und dem französischen des tolérable besteht also in einer unterschiedlichen Gewichtung des aktiven bzw. passiven Parts im Akt der Kommunikation, die das Schreiben und Lesen eines Textes letztlich bedeutet. Die Lektüre eines unzumutbaren Textes kann von einem Menschen nicht verlangt werden, einen Text, den sein Leser als intolérable bezeichnet, kann dieser nicht ertragen.

2. Kalkulierte Grenzüberschreitung – Transgression als literarische Strategie

Wahrnehmungen und Festschreibungen von Grenzen des Zumutbaren und deren Transgressionen definieren literarische Epochen in ihrem historischen Selbstverständnis: Was in einer Epoche als unzumutbar galt, ist es in einer anderen nicht mehr oder noch nicht. Wodurch wird also ein Text für den Leser unzumutbar? Wo liegen die Grenzen des Sagbaren? Gibt es einen ästhetischen Reiz, an diese Grenzen zu gehen, sie literarisch auszuloten? Sind sie von Text zu Text variabel, wie die Schmerzgrenzen eines Individuums? Kann die Auseinandersetzung mit Grenzen vergangener Epochen, ihre Neuverhandlung, kreative Prozesse freisetzen?

Die implizite oder explizite Wahrnehmung und Beschreibung von Grenzen ist unmittelbare Voraussetzung für den strategischen Einsatz von Transgressionen in dramatischen und narrativen Texten von Voltaire bis Houellebecq. Michel Foucault spricht von einem Verhältnis der Reziprozität zwischen Grenze und Transgression, die sich durch ihre Wechselbeziehung gegenseitig befruchten, verdichten, gar ihre jeweilige Existenz einander verdanken:

Inwiefern werden in literarischen Texten Grenzen des Zumutbaren kalkuliert überschritten und mit welchem Ziel? Wer definiert, dass ein bestimmtes Textelement unzumutbar ist, außerhalb einer Grenze liegt? An welchem Akteur innerhalb des literarischen Prozesses orientiert sich die Literaturwissenschaft in dieser Frage? Sowohl Autor als auch Text und Leser bieten sich als Ausgangspunkt für die Suche nach dem Unzumutbaren an. Für den Autor gilt dies in dem ←11 | 12→Maße, in dem er überhaupt poetologische Aussagen über sein eigenes Schaffen getroffen hat, hier verbirgt sich die in der Literaturwissenschaft traditionell gern umgangene Frage nach der Autorintention. Genette verteidigt das Konzept von der Intentionalität des Kunstwerks11, zumindest als Konstrukt des Rezipienten:

Ce qui est propre aux œuvres d’art, c’est la fonction esthétique intentionnelle, ou fonction artistique; ou pour le dire en termes plus subjectifs: ce qui confère à un objet aux yeux de son récepteur, le statut d’œuvre d’art, c’est le sentiment, fondé ou non, que cet objet a été produit dans une intention au moins partiellement esthétique…12

Des Lesers Einschätzung oder Reaktion kann teilweise aus Rezeptionszeugnissen abgeleitet werden, die empirische Leserforschung arbeitet gar mit Laborversuchen. Der sogenannte Emotional Turn13 brachte auch den Literaturwissenschaften eine Hinwendung zu Emotionen und den Methoden der Neurowissenschaft zu ihrer Messung. Am schwierigsten, aber paradoxerweise auch am unumstrittensten, ist zweifelsohne die Einschätzung bezüglich des Textes selbst: Woran können, bei der ausschließlichen Betrachtung eines literarischen Textes, Strategien der Transgression festgemacht werden, ohne dass der subjektive Leseeindruck des Wissenschaftlers in den Mittelpunkt gestellt wird? Emotionen spielen ohne Zweifel für die Einschätzung von Grenzen des Zumutbaren und deren Überschreitung eine zentrale Rolle, gerade Emotionen sind jedoch im Kontext von Literatur schwer messbar. Der Beitrag von Claudia Hillebrandt in diesem Band unterbreitet einen Vorschlag für ein Analyseraster zur Erfassung und Analyse emotionalisierender Textmerkmale, das diesem methodologischen Problem Abhilfe schaffen soll.

3. Kategorien der Unzumutbarkeit

Unabhängig von den beschriebenen Bedeutungsvarianten kann das Unzumutbare oder das intolérable in literarischen Texten unterschiedliche Formen annehmen; die Beiträge in diesem Band bilden ein weites Spektrum dieser nicht immer scharf trennbaren Kategorien ab.

Bereits erwähnt wurde fehlende Lesbarkeit als Kriterium des Unzumutbaren. So definiert Angela Calderón Villarino in ihrem Beitrag über Nerval dessen Text Aurélia ou le Rêve et la Vie (1855) als absichtsvoll unlesbar. Die enge ←12 | 13→Verknüpfung von realem Wahn und dessen metapoetischer Reflexion sei es, die den Text unlesbar mache. Der Verlust der Kohärenz wird dabei als Teil einer Strategie ausgemacht, die letztlich eine Aufforderung zum alternativen Lesen und damit auch Verstehen und Interpretieren darstelle. Auch Adrien Paschouds Lesart von Diderots Les Bijoux indiscrets (1748) konstatiert den Verlust stabiler interpretativer Markierungen in diesem schwer einzuordnenden Werk des Enzyklopädisten. Das Subversive und Unzumutbare an den Bijoux indiscrets liegt eben nicht im offensichtlich Anstößigen, der Fähigkeit des Sultans, direkt mit weiblichen Geschlechtsteilen zu konversieren, sondern in einem philosophischen Dialog, in dem Diderot die Grenzen zwischen dogmatischen und philosophischen Argumenten, Metaphysik und Spinozismus verwischt und sich dem Anspruch des Lesers verweigert, die Welt mithilfe stabiler Anhaltspunkte interpretieren zu wollen.

Was in einer vorangegangenen Epoche als unzumutbar galt, wirkt als eine Herausforderung für die Erneuerung tradierter Stoffe in der eigenen Gegenwart. Diese Perspektive wird vor allem deutlich in dem Artikel von Vanessa de Senarclens über Voltaires Œdipe, tragédie (1718). Im Zuge der Beschäftigung mit der Tragödie der Antike entsteht ein neues Bewusstsein für die unterschiedlichen Toleranzschwellen des Zumutbaren in der Geschichte. Die antiken Tragödien stellen für die Modernes eine klare Überschreitung der Grenze des bon goût dar. Doch verlaufen bei Voltaire die Grenzen des Zumutbaren in der Tragödie des Ödipus von Sophokles nicht entlang der Gebote der Sittlichkeit, sondern auf einer metaphysischen Ebene: Die Grausamkeit der Götter, die die aufgeklärten Monarchen wie Ödipus und Jocaste scheitern lassen, erweist sich als unerträglich für den Mann der Aufklärung.

Eine weitere Form der literarischen Zumutung stellt das Unterlaufen oder Ausloten von gattungsbedingten Lesererwartungen dar. Die Beiträge von Andrea Gremels und Annika Nickenig reflektieren Spielarten dieses Verfahrens anhand unterschiedlicher Textbeispiele. Antonin Artauds autobiographische Reisberichte über die Tarahumaras, La Danse du Peyotl (1943) und Le Rite du Peyotl chez les Tarahumaras (1947), verwischen, so Gremels in ihrer Untersuchung, die Grenzen zwischen ethnographischen, autobiographischen und surrealistischen Schreibweisen und schaffen dadurch sowohl Probleme für die Glaubwürdigkeit des Berichts als auch bezüglich der Lesbarkeit des literarischen Textes. Weiß der Leser nicht, an welche Gattungskonventionen und damit impliziten Rezeptionsannahmen er sich zu halten habe, werde der Text zunehmend unlesbar. Nickenigs Beitrag über das Heptaméron Marguerite de Navarres (1559) konzentriert sich auf die Herausarbeitung der metafiktionalen Reflexion von Grenzen des Zumutbaren. Durch die binäre Struktur der Gattung der Novellensammlung, ←13 | 14→die die eigene Wirkung auf der Rahmenebene stets mitreflektiert, erfolgt auch die Diskussion dessen, was als zumutbar gelten kann, im Text selbst.

Claudia Hillebrandts Beitrag, der sich durch seinen heuristischen Charakter von den anderen Texten unterscheidet, zeigt in erster Linie die Möglichkeiten und Grenzen analytischer Modelle zur Erfassung von Leseremotionen auf. Am Beispiel der Erzählung An Occurrence at Owl Creek Bridge (1891) von Ambrose Bierce weist Hillebrandt konkret nach, wie das Überschreiten von Gattungsnormen bzw. die aus ihnen resultierende Enttäuschung von Lesererwartungen ein erhöhtes emotionales Erleben beim Leser generiert, welches letztlich in einer Intensivierung die Leseerfahrung mündet.

Die Beiträge von Stephanie Béreiziat-Lang, Cornelia Ruhe und Luc Rasson beschäftigen sich mit Modi der fiktionalen Darstellung historischer Realitäten, die aus unterschiedlichen Gründen als unzumutbar definiert werden können. Der Körper als Ort der Grenzüberschreitung bzw. als Verkörperung der Grenze selbst in Zolas Germinal (1885) ist das Thema des Beitrags von Béreiziat-Lang. Dabei entfaltet sich das Unzumutbare des Zola’schen Textes ausgerechnet in seiner fehlenden außertextuellen Referenz, seiner mangelnden politischen Lesbarkeit. Die Schrift selbst wird zum Folterinstrument, das den Leser mit unzumutbaren Grausamkeiten traktiert. Diese werden nur um ihrer selbst willen aufs Papier gebracht – gerade in seiner fehlenden ethischen, über sich selbst hinausweisenden Dimension, liegt das Skandalon des Textes. Das Unzumutbare in Mathias Énards Roman Zone (2008) findet sich, so Ruhe, auf unterschiedlichen Ebenen des Textes. Es liegt in der ästhetischen Form, dem fieberhaften Monolog des Täters, der sich als einen Satz ohne Punkt über 500 Seiten erstreckt. Es liegt aber auch in der zynischen Haltung des Erzählers, der die Grausamkeiten der Geschichte als unausweichlich darstellt und seiner persönlichen Verantwortung keinen Raum lässt. Rassons Untersuchung von Texten und Filmen aus der Perspektive von NS-Tätern beschäftigt sich mit der Zumutbarkeit von alternativen Blickwinkeln. Die Frage, ob es moralisch zulässig sei, den historischen Tätern eine Stimme zu geben, beantwortet er eindeutig positiv – auch und gerade, weil solche Texte und Filme die Grenzen des Zumutbaren überschreiten.

Einer vergleichbaren Frage widmet sich der Beitrag von Lena Seauve, wenn auch die historische Referenz in dem von ihr gewählten Beispieltext La Perfection du tir von Mathias Énard (2003) weniger eindeutig ist. Die durch die homodiegetische Erzählperspektive provozierte Identifikation des Lesers mit einem Gewalttäter erweist sich als eine die Grenzen des Zumutbaren überschreitende Erzählstrategie. Auf einer ähnlichen Strategie basiert schließlich auch der von Franziska Kutzick untersuchte Text von Nicole Caligaris, Le Paradis entre les jambes (2013). Das Erzählen eines realen kannibalistischen Mordes zeige, inwiefern ←14 | 15→die literarische Repräsentation von Gewalt selbst eine Form von Gewalt erzeuge, der der Leser jenseits der Grenzen des Zumutbaren ausgesetzt werde.

Literarische Texte, die als Provokationen aufgefasst werden, die literarische Skandale auslösen, spielen häufig mit den Grenzen des Zumutbaren. Die Beiträge von Jan Knobloch und Sarah Izzo zeigen mehrere Beispiele dieser Variante des Unzumutbaren. Izzo macht in ihrer Untersuchung zweier autobiographischer Texte Jean Genets, Journal du voleur (1949) und Un captif amoureux (1986), den scharfen Kontrast zwischen den moralisch-ethischen Positionen der Erzählinstanz und der von ihr angesprochenen Adressaten als bewusste Provokation des Lesers aus. Auch Thomas Bernhard und Michel Houellebecq spielen, so Knobloch, in Heldenplatz (1988) und Soumission (2015) mit der provokativ gesteigerten Diskrepanz zwischen der (vermeintlichen) politischen Position des Autors und dem gesellschaftlich Sagbaren bzw. Zumutbaren. In beiden Fällen werden die Texte auch zum Gegenstand öffentlicher Debatten und Skandale. Dabei nimmt Knoblochs Beitrag anhand des rezentesten der Beispieltexte, Houellebecqs Soumission, abschließend noch einmal die eingangs formulierte Frage nach der historischen Variabilität von Grenzen des Zumutbaren auf. Unter Rückgriff auf Hans-Georg Gadamers Konzept vom „Zeitenabstand“, also jener Vorstellung, nach der ein literarischer Text überhaupt erst nach Ablauf einer gewissen Zeit verstanden werden könne, vermutet Knobloch, dass „das Skandalon der konkreten Erfahrung des Unzumutbaren im Rückblick nur bedingt einzufangen“14 sei. Interessant ist hier die Rede von der Erfahrung des Unzumutbaren, die ein unmittelbares emotionales Erleben als Teil des Rezeptionsprozesses impliziert. Das Unzumutbare wäre im Umkehrschluss, gerade für den idealerweise zeitlich und emotional distanzierten Literaturwissenschaftler, immer schon kein Unzumutbares mehr. Der Gadamersche Zeitenabstand würde so das Unzumutbare in ein Zumutbares überführen.

Bibliographie

Anz, Thomas: „Emotional Turn? Beobachtungen zur Gefühlsforschung“. In: literaturkritik.de 12/2006, https://literaturkritik.de/id/10267, (22.02.2018).

Foucault, Michel: „Préface à la transgression (1963)“. In: Dits et écrits I, 1954–1975, Gallimard: Paris 2001, S. 233–250.

Genette, Gérard: L’ Œuvre de l’ art. La relation esthétique. Seuil: Paris 1997.

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Jannidis, Fotis: Die Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Niemeyer: Tübingen 1999.

Details

Seiten
264
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631776179
ISBN (ePUB)
9783631776186
ISBN (MOBI)
9783631776193
ISBN (Hardcover)
9783631770139
DOI
10.3726/b15001
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Februar)
Schlagworte
Transgression Poetik Rezeption Poetologie Rezeptionsästhetik
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 264 S.

Biographische Angaben

Lena Seauve (Band-Herausgeber:in) Vanessa de Senarclens (Band-Herausgeber:in)

Lena Seauve ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Romanistik der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie arbeitet an einem Habilitationsprojekt über zeitgenössische französisch- und spanischsprachige Romane. Vanessa de Senarclens ist Privatdozentin der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie ist Spezialistin der französischen Aufklärung mit Veröffentlichungen zu Montesquieu, Rousseau, Voltaire u.a.

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Titel: Grenzen des Zumutbaren – Aux frontières du tolérable
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