Lade Inhalt...

Erster Weltkrieg im östlichen Europa und die russischen Revolutionen 1917

von Alexander Trunk (Band-Herausgeber:in) Nazar Panych (Band-Herausgeber:in)
©2019 Sammelband 334 Seiten

Zusammenfassung

Der Band enthält Beiträge aus zwei inhaltlich verknüpften interdisziplinären Ringvorlesungen des Zentrums für Osteuropa-Studien der Universität Kiel, die verschiedene Aspekte des Ersten Weltkrieges unter besonderer Berücksichtigung des östlichen Europa beleuchten und in diesem Zusammenhang einen besonderen Fokus auf die aus dem Weltkrieg hervorgegangenen russischen Revolutionen des Jahres 1917 legen. Der Band kann auch als historische Hintergrundlektüre zum besseren Verständnis heutiger Spannungslagen in der Region – Beziehungen EU-Russland, Ukraine, Georgien u.a. – gelesen werden. Politische, juristische, historische, wirtschaftliche und kulturwissenschaftliche Gesichtspunkte müssen im Zusammenhang betrachtet werden, um Konflikte zu lösen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Die Bedeutung der Oktoberrevolution für das russische Recht – aus heutiger Sicht
  • Hundert Jahre der ersten Republik Georgiens und Deutschland
  • Die Auswirkungen der russischen Revolutionen des Jahres 1917 auf die Entstehung des ukrainischen Staates (anhand von Zeitdokumenten)
  • Die polnische Minderheit in den USA und die Polenfrage zu Beginn des Ersten Weltkriegs im Spiegel der Emigrantenzeitschrift Free Poland
  • Zwischen Hochverrat und Nationalheldentum. Die Nutzung von Kriegsgefangenen durch die Mittelmächte im Ersten Weltkrieg
  • „Verzögerung bedeutet den Tod!“ Eine Analyse ausgewählter Schriften Lenins aus der Zeit der Oktoberrevolution
  • Impulse und Parallelen. Die russischen Revolutionen und der Kieler Matrosenaufstand
  • Politische und künstlerische Revolution(en): Vom Lubok zum ROSTA- Fenster
  • Russische Kunst im Ersten Weltkrieg zwischen Propaganda, Trauerarbeit und Gegenstandslosigkeit
  • Der brave Soldat Schwejk in den Wirren der Oktoberrevolution
  • Der Krieg als Groteske – Jaroslav Hašeks Roman Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk – Osudy dobrého vojáka Švejka za světové války (1923)
  • Die Kirchen im östlichen Europa im Ersten Weltkrieg1
  • List of Figures
  • Autoren

Alexander Trunk

Die Bedeutung der Oktoberrevolution für das
russische Recht – aus heutiger Sicht

Abstract: Nach einer Einführung über Strukturmerkmale der frühen Sowjetgesetzgebung gibt der Beitrag einen Überblick über die wichtigsten Gesetzgebungsakte der Jahre 1917/1918 im Verfassungsrecht, Wirtschafts- und Zivilrecht, Justiz- und Strafrecht sowie auf dem Gebiet der Außenpolitik. Der Beitrag schließt mit einer differenzierenden Bewertung aus heutiger Sicht.

Stichworte: Sozialistisches Recht, Oktoberrevolution, Scheinkonstitutionalismus, Lenin, Provisorische Regierung, Metriksystem, Kalenderreform, Entkirchlichung, Erziehungsdiktatur, Verfassung, Zivilgesetzbuch, Dekret über den Frieden, Rechtsstaat, Sowjetrecht, Dekrete, Zentralkomitee, Räte, Allrussischer Sowjet, Grundrechte, Verstaatlichung, Meinungsfreiheit, Alphabetisierung, Modernisierung, Bürgerkrieg, Kriegskommunismus, Kommunistische Partei, Bodenreform, Unternehmensrecht, Arbeiterkontrolle, Zentralverwaltungswirtschaft, internationales Wirtschaftsrecht, Außenhandelsmonopol, April- Thesen, Familiengesetzbuch, Gleichberechtigung, Erbrecht, Arbeitsrecht, Strafrecht. Justiz, Justizdekrete, Tscheka, Volksgerichte, Todesstrafe, Brest-Litowsk, Selbstbestimmungsrecht der Völkera

Die russische Oktoberrevolution1 ist primär ein politisches und historisches Geschehen. Die Oktoberrevolution lässt sich aber – wie alle politischen Revolutionen – auch unter juristischen Gesichtspunkten analysieren2. Im Zentrum ←9 | 10→stehen dabei die Erschütterung und Neugestaltung der Verfassungsordnung durch die revolutionären Ereignisse bis hinab in die Verästelungen revolutionärer Einzelgesetzgebung. Nicht außer Acht bleiben darf dabei auch die – ebenfalls juristisch geprägte – Vorgeschichte der Revolution. Die Analyse einer Revolution unter juristischen Gesichtspunkten hilft, das Revolutionsgeschehen gedanklich zu strukturieren, grundlegende Gesichtspunkte von Begleitelementen zu unterscheiden und Entwicklungstendenzen zu erkennen. Speziell im Fall der Oktoberrevolution kommt als persönliche Komponente hinzu, dass Wladimir Lenin ausgebildeter Jurist war3. Für ihn war es selbstverständlich, die Revolution auch juristisch zu gestalten, viele grundlegende Revolutionsdekrete wurden von ihm selbst entworfen oder zumindest redigiert4. Die Oktoberrevolution ist stärker durch juristische Methodik geprägt als viele andere Revolutionen; dies zeigt allerdings auch, dass der Einsatz juristischer Methodik nicht notwendig mit der Achtung von Menschenrechten verbunden ist und zu ganz unterschiedlichen ideologischen Zwecken benutzt werden kann. Obwohl seit der Oktoberrevolution mittlerweile über hundert Jahre vergangen sind und man geneigt sein könnte, sie spätestens seit der Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991 als abgeschlossenes Kapitel der Weltgeschichte zu betrachten, wirft sie doch weiter Schatten in die Gegenwart. Als universelles Experiment hat sie auch heute noch ihre Faszination nicht verloren und wirkt in manchen politischen Zirkeln oder sogar Staaten weiterhin identitätsstiftend5. Der folgende Beitrag konzentriert sich auf die Oktoberrevolution als zweite der beiden russischen Revolutionen des Jahres 19176. Die vorausgehende Februarrevolution 1917 und die Revolution von 1905 werden nur am Rande berührt.

←10 | 11→

Im Zusammenhang mit der Oktoberrevolution fällt häufig der Begriff des „sozialistischen Rechts“7. Darunter werden Rechtsvorstellungen oder Rechtsordnungen verstanden, die sich zu ihrer Legitimation und auch in ihren Inhalten im Kern auf die Philosophie des Marxismus, im russischen Kontext auch des Marxismus-Leninismus stützen8. Hauptbeispiel einer sozialistischen Rechtsordnung war nach der Oktoberrevolution das russische (später sowjetische) Recht, aber in den nachfolgenden Jahrzehnten – insbesondere nach dem 2. Weltkrieg und in der Zeit des Kalten Kriegs – wurden dem so genannten sozialistischen Rechtskreis zahlreiche weitere Staaten zugerechnet, z.B. die meisten Staaten Mittel- und Südosteuropas, aber etwa auch die Volksrepublik China, Nordvietnam, Nordkorea und verschiedene Staaten Afrikas9. Seit dem Zusammenbruch der meisten sozialistischen Regimes in den Jahren 1989–1991 wird der Begriff des „sozialistischen Rechts“ kaum mehr verwendet, obwohl sich beispielsweise China und Vietnam auch heute noch als „sozialistische“ Staaten bezeichnen und ihre Rechtsordnungen durchaus noch Elemente aufweisen, die bekannten Phasen des Sozialismus entstammen10. Die Grundcharakteristika sozialistischen Rechts wurden durch und in der Oktoberrevolution entwickelt. Es wäre aber unrichtig, das sozialistische Recht auf die Oktoberrevolution zu reduzieren. Schon die Betrachtung von Russland (seit 1922 der Sowjetunion) zeigt, dass das sozialistische Recht in den Jahrzehnten zwischen der Oktoberrevolution 1917 und der Auflösung der UdSSR 1991 erhebliche Wandlungen erfahren hat – die Jahre der Stalinzeit mit fürchterlichen Repressionen, aber auch der politischen „Stabilisierung“ des Systems hatten auch in rechtlicher Hinsicht ein anderes Gesicht als die Reformjahre nach der Entstalinisierung und gar die Zeit der Perestrojka seit der Mitte der 1980er Jahre11.

←11 | 12→

Gegenstand dieses Beitrags wird die Anfangsphase der Oktoberrevolution sein, im Wesentlichen der Zeitraum der Revolutionsjahre 1917 und 191812. Da aber bereits die Oktoberrevolution wesentliche juristische Pflöcke eingeschlagen hat, die zum Teil bis heute fortwirken, führt dies auch zu einem Blick auch auf das heutige Russland – und vielleicht auch darüber hinaus auf andere Länder mit „sozialistischer“ Vergangenheit.

A Strukturmerkmale der frühen Sowjetgesetzgebung

Zum Verständnis der juristischen Komponenten der Oktoberrevolution ist es erforderlich, vorab die revolutionären Entwicklungen in Russland seit dem Jahr 1905 im Verhältnis zum russischen Ancien Régime kurz zu rekapitulieren. Bis zum Jahr 1905 war Russland im staatsrechtlichen Selbstverständnis eine Autokratie (samoderzhavie), in der sowohl die Gesetzgebung als auch die Exekutive und die Judikatur ihre Legitimation im russischen Kaiser („Imperator“)13 hatten14. Der Kaiser konnte z.B. Gesetze ohne Mitwirkung eines Parlaments und auch ohne Gegenzeichnung durch die Regierung erlassen. Natürlich bestanden eine Regierung und verschiedene den Kaiser beratende Organe, und das Russische Kaiserreich verfügte auch über ein ausgebautes Justizwesen, das in den 1860er Jahren nach französischem Vorbild reformiert worden war15. In der Revolution des Jahres 1905 wurde Russland zu einer konstitutionellen Monarchie umgewandelt, in der die Gesetzgebungskompetenz in den Händen eines – allerdings von der Mitwirkung des Kaisers abhängigen – Zweikammerparlaments (Duma und Staatsrat) lag. Da die Stellung des Kaisers und der ihn stützenden monarchistischen Eliten auch in diesem System sehr ausgeprägt war, wurde das durch die Revolution von 1905 geschaffene System etwa von Max Weber, aber auch von weiten Kreisen des politischen Spektrums in Russland als „Scheinkonstitutionalismus“ gebrandmarkt16.

←12 | 13→

Durch die zunehmend schwierige Lage der russischen Truppen im 1. Weltkrieg und damit verbundene Hungerunruhen und Streiks kam es im Februar 1917 zur zweiten russischen Revolution, der sog. Februarrevolution, die mit der Abdankung des Zaren endete17. „Gewinner“ dieser Revolution waren in erster Linie verschiedene bürgerliche Parteien, es kam zur Bildung der so genannten Provisorischen Regierung durch die russische Duma in Abstimmung mit dem Petrograder Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten18. Da die Provisorische Regierung den Krieg fortsetzte und auch keine grundlegenden anderen Reformen sichtbar wurden, insbesondere nicht auf dem Gebiet des Agrarsektors, entwickelte sich zunehmend eine noch weitergehende revolutionäre Stimmung. Am 1. September 1917, kurz vor der Oktoberrevolution, versuchte die Provisorische Regierung die politische Kontrolle u.a. durch Ausrufung Russlands zur Republik wiederzugewinnen19. Diese Versuche scheiterten aber, und mit der Stürmung des Winterpalasts, des Sitzes der Provisorischen Regierung, am 25. Oktober 1917 (julianischer Kalender) bzw. am 7. November 1914 (gregorianischer Kalender) erfolgte die von der Partei der Bol’sheviki (offiziell: Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands) organisierte, letztlich erfolgreiche Oktoberrevolution20.

An dieser Stelle setzt die Betrachtung des in bzw. nach der Oktoberrevolution von den neuen Machtorganen geschaffenen revolutionären, „sozialistischen“ Rechts ein. Man kann bei dem durch die Revolutionsorgane geschaffenen neuen Recht eine ideologische und eine pragmatische Komponente unterscheiden.

Die ideologische, schon nach der Bezeichnung als „sozialistisches Recht“ naheliegende Komponente steht dafür, dass verschiedene wichtige Regelungen der neuen Machtorgane sich aus ideologischen Vorgaben der Bol’sheviki, insbesondere ihres Vorsitzenden und wichtigsten Theoretikers Lenin ergaben. Dazu gehören etwa Regelungen über die Nationalisierung von Grund und Boden sowie Unternehmen, über eine zentrale Organisation der Wirtschaft, aber insbesondere auch über die Einrichtung einer „Diktatur des Proletariats“ mit Verfolgung ←13 | 14→realer oder vermuteter Oppositionskräfte21. Im weiteren Sinne wird man hierzu auch Regelungen rechnen können, mit denen die Machtorgane eine nicht per se „sozialistische“ Modernisierung der russischen Gesellschaft bezweckten, die zugleich die Überlegenheit des neuen sozialistischen Systems gegenüber dem Ancien Régime belegen sollten. Hierzu rechnen beispielsweise die Übernahme des westlichen Metriksystems, des gregorianischen Kalenders, aber auch z.B. die Einführung eines kostenlosen Bildungssystems oder die „Entkirchlichung“ und Liberalisierung des Ehe- und Familienrechts.

Die pragmatische Komponente zeigt sich beispielsweise im Aufgreifen von Themen, die man als situationsbedingt bewerten kann (z.B. um die Bevölkerung für das neue Regime zu gewinnen), etwa die Bemühungen um rasche Beendigung der russischen Beteiligung am 1. Weltkrieg und die Abschaffung der Todesstrafe an der Front, aber auch in der nur stufenweise verwirklichten, sich aber bald verschärfenden Regelung bestimmter Themen, z.B. bei der Verstaatlichung von Grund und Boden und von Unternehmen22. Häufig verbinden sich auch ideologische und pragmatische Gesichtspunkte. So hatte die Deklaration des Selbstbestimmungsrechts der im russischen Kaiserreich vertretenen Nationalitäten23 sicher eine ideologische (oder ideelle) Grundlage, zog aber auch pragmatisch die Konsequenz aus Unabhängigkeitsbestrebungen in verschiedenen Teilen des bisherigen Russischen Kaiserreichs. Gerade dieses Thema zeigt aber, dass sich ideologische Überlegungen wieder durchsetzten, sobald die Machtverhältnisse es zuließen, indem die Bol’sheviki in verschiedenen zeitweise unabhängigen Reichsteilen bolschewistische Regierungen und Sowjets (Räte) installierten, die dann auch den Beitritt zu der im Jahr 1922 gegründeten UdSSR (Sowjetunion) erklärten.

Bei all dem ist auch die Rolle der Partei der Bol’sheviki für die Ausgestaltung des sozialistischen Rechts nach der Oktoberrevolution systemprägend. Nicht nur folgte die Gesetzgebung von Anfang an häufig entsprechenden Beschlüssen der Partei bzw. ihrer Führung, die Partei bestimmte darüber hinaus die Anwendungspraxis der Gesetze und das gesamte gesellschaftliche Leben24. Dass in diesem Kontext für Unabhängigkeit der Gerichte, die Wahrung von Grund- und Menschenrechten und den Schutz Andersdenkender wenig Raum war, liegt auf ←14 | 15→der Hand und lässt sich durch die Gesetzgebung und die Praxis der Rechtsanwendung belegen („Telefonrecht“ etc.)25.

Es wäre aber zu einfach, ein durchgehend negatives Bild zu zeichnen. In vieler Hinsicht entsprach die Politik der Bol’sheviki, auch im Bereich der Gesetzgebung, den Wünschen und Vorstellungen weiter Teile der damaligen Bevölkerung, z.B. dem Wunsch nach Frieden und nach der Abschaffung von Standesprivilegien der Zarenzeit. Das Regime der Bol’sheviki nach der Oktoberrevolution wird in der Literatur gelegentlich als „Erziehungsdiktatur“ bezeichnet26, und dies trifft für viele Aspekte auch der rechtlichen Regelungen nach der Oktoberrevolution durchaus zu, z.B. für die Bildungspolitik, andere Teile der Kulturpolitik, den Aufbau einer Sozialversicherung, die Einführung des metrischen Systems etc. Die Tragik der Oktoberrevolution liegt darin, dass diese positiven Entwicklungen von Anfang an durch weitflächige Menschenrechtsverletzungen begleitet waren und zudem auf ökonomischen Vorstellungen beruhten, die sich langfristig als nicht tragfähig erwiesen.

B Überblick über die Gesetzgebungsakte der frühen Sowjetzeit (1917–1918)

Allein im Jahr 1917, also seit Ende Oktober, erließen die sowjetischen Machtorgane etwa 60 Dekrete, und im 1. Halbjahr 1918 kamen etwa weitere 100 Dekrete hinzu27. Dies ist eine beträchtliche Zahl, zumal sie ganz unterschiedliche Themen betreffen und häufig grundsätzliche Fragen regeln. Allerdings sind viele dieser Dekrete sehr kurz und wurden durch weiterführende Dekrete ergänzt. Aber es ist doch festzustellen, dass die neue Herrschaft ihr System stark durch juristische Maßnahmen gestaltet und vorangetrieben hat. Betrachtet man die Dekrete genauer, so stellt man zunächst fest, dass sie nicht nur Gesetzgebungsmaßnahmen enthalten, sondern teilweise auch politische Deklarationen wie z.B. das berühmte Dekret über den Frieden vom 26. Oktober (8. November) 1918, oder Beschlüsse zu konkreten Ereignissen, wie z.B. das Dekret vom 6. (19.) Januar 1918 über die Auflösung der Verfassunggebenden Versammlung. ←15 | 16→Die Tradition, dass im Gesetzblatt Russlands nicht nur Gesetze, sondern auch andere Beschlüsse des Parlaments enthalten sind, setzt sich übrigens bis in die heutige Zeit fort. Eine weitere Besonderheit des Sowjetrechts, von der Frühzeit an, besteht darin, dass Dekrete (Gesetze) von ganz unterschiedlichen Stellen erlassen werden konnten und erlassen wurden. Die Sammlung der sowjetischen Dekrete der Frühzeit umfasst sowohl Dekrete des „Allrussischen Sowjets (Rates) der Arbeiter, Soldaten und Bauerndelegierten“, der zuerst allein nach seinem Selbstverständnis, seit der Oktoberrevolution aber auch offiziell als oberstes staatliches Machtorgan fungierte. In der ersten sowjetrussischen Verfassung vom Juli 1918, die von eben diesem Sowjet erlassen wurde, wurde diese Stellung des Allrussischen Sowjets auch formell verankert. Da der Sowjet aber nur selten und wenige Tage lang tagte, übertrug er seine Machtkompetenzen für die Zwischenperioden dem aus ca. 200 Personen bestehenden Zentralkomitee des Sowjets, das ebenfalls nur selten und kurz tagte und für die Zwischenperioden wiederum seine Kompetenzen auf das Präsidium des Zentralkomitees übertrug. Die Dekrete der Jahre nach der Revolution sind daher teilweise vom Allrussischen Sowjet, teilweise vom Zentralkomitee, teilweise vom Präsidium des Zentralkomitees erlassen, ohne dass eine klare Zuständigkeitsabgrenzung bestand. Hinzu kamen Dekrete der sowjetischen Regierung, des Rates der Volkskommissare, der ebenfalls sowohl Exekutiv- als auch Legislativbefugnisse hatte. Das System der Vermischung der Zuständigkeiten, sowohl von Gesetzgebung und Exekutivgewalt als auch der zuständigen Staatsorgane, blieb bis zum Ende der Sowjetunion ein Merkmal des sowjetischen Rechts. Im Folgenden soll die Gesetzgebung der Jahre 1917 und 1918 etwas genauer betrachtet werden.

I Verfassungsrecht und Verfassungsordnung

Das wichtigste und grundlegende Rechtsdokument eines Landes ist typischerweise die Verfassung. Im vorrevolutionären Russland existierte keine Verfassung als gesonderte Gesamtregelung über die Grundlagen des Staates und seiner Rechtsordnung. Es gab aber mehrere Einzelgesetze, die ursprünglich vom Kaiser allein erlassen worden waren und die Bezeichnung „Grundlegende Gesetze des Staates“ trugen. In der Revolution von 1905 waren diese Gesetze um ausführliche, „westlichen“ Standards entsprechende Grundrechtsvorschriften ergänzt worden, und außerdem war die Duma als gesetzgebendes Organ einer konstitutionellen Monarchie eingeführt worden.

Noch während des unmittelbaren Verlaufs der Oktoberrevolution verabschiedete der zeitgleich tagende 2. Allrussische Sowjet (Rat) der Arbeiter, Soldaten und Bauerndelegierten am 7. November 1917 ein Dokument, in dem es ←16 | 17→heißt, der Rat „nehme die Macht in seine Hände“ (съезд берет власть в свои руки) und „alle Macht in den verschiedenen Landesteilen gehe auf die Sowjets der Arbeiter, Soldaten und Bauerndelegierten über“, die „die echte revolutionäre Ordnung einführen sollten“28. Der Sache nach handelt es dabei um das erste Verfassungsdekret der neuen Sowjetmacht. Im Laufe der nächsten Monate wurde es durch weitere Dekrete ergänzt. Beispiele dafür sind etwa das Dekret vom 8. November 1917 über die Bildung der sowjetischen Regierung, des Rates der Volkskommissare, oder – vielleicht nicht so grundlegend, aber anschaulich – das Dekret vom 1. April 1918 über die Staatsflagge der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR29).

Zu einer Konsolidierung der verschiedenen verfassungsrechtlichen Einzelregelungen kam es dann in der vom V. Allrussischen Sowjetkongress am 10. Juli 1918 verabschiedeten ersten Verfassung der RSFSR30.

Die Verfassung ist in sechs Abschnitte mit insgesamt 17 Kapiteln und 90 Artikeln gegliedert. Der erste Abschnitt ist mit „Deklaration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes“ überschrieben und integriert die gleichlautende Deklaration des 3. Allrussischen Sowjetkongresses vom 18. (31.)1.1918 in die Verfassung. Danach wird Russland zur Republik der Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndelegierten auf der Grundlage eines freien Bundes freier Nationen erklärt. Zugleich wird das Ziel der Beseitigung jeglicher Ausbeutung des Menschen durch den Menschen deklariert und zu diesem Zweck die Verstaatlichung des gesamten Bodens und der Wirtschaft angeordnet. Der zweite Abschnitt (Art. 9 – 23) enthält allgemeine Bestimmungen zu der Verfassung. Sie beginnen mit der Ausrufung der Diktatur des Proletariats, treffen einige Grundaussagen über die Staatsorgane und proklamieren danach mehrere Grundrechte (Gewissensfreiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit) bzw. Grundprinzipien der Verfassung wie z.B. die Trennung von Staat und Kirche. Die Grundrechte werden allerdings im Vergleich zu klassischen Grundrechten meist „umgedreht“31. Unter dem Obersatz, eine „wirkliche“ Gewährleistung dieser ←17 | 18→Grundrechte solle gewährleistet werden, werden der Sache nach Verbote ausgesprochen oder Eingriffe des Staates angeordnet. Beispielsweise beschränkt sich die Regelung zur Meinungsfreiheit (Art. 14) darauf, dass zum Zweck einer „wirklichen“ Gewährleistung der Meinungsfreiheit alle technischen und materiellen Mittel zur Herausgabe von Zeitungen, Büchern und anderen Druckerzeugnissen in die Hand der Arbeiterklasse überführt werden. „Echte“ Grundrechtsgewährleistungen wurden – wohl aufgrund der persönlichen Erfahrungen vieler der Revolutionäre – für das Asylrecht ausgesprochen (Art. 2132), aber auch der allgemeine Gleichheitssatz findet sich als klassisches Grundrecht (Art. 22). Mit dem Recht auf volle, allseitige und kostenlose Bildung wird in Art. 17 ein soziales Grundrecht verankert, das auch heute eine positive Bewertung verdient. Damit ist bereits in der Verfassung von 1918 die spätere sowjetische Alphabetisierungspolitik angelegt.

Die Stellung der Kommunistischen Partei33 wird in der Verfassung von 1918 nicht angesprochen. Die führende Rolle der Partei war aber in zahlreichen Parteidokumenten verankert34 und lag auch der staatlichen Praxis zugrunde. In der UdSSR-Verfassung von 1936 (Stalin-Verfassung) wurde die führende Stellung der KPdSU dann auch formell in den Verfassungstext aufgenommen (Art. 126 und 141)35.

Auch Aussagen zur Justiz im Sowjetstaat enthält die Verfassung von 1918 nicht, ebenso wenig Hinweise auf das Rechtsstaatsprinzip. Die richterliche Unabhängigkeit war den Revolutionären des Jahres 1917 kein besonderes Anliegen. Die Schwäche der Justiz im Sowjetsystem war damit bereits in der Verfassung von 1918 angelegt, auch wenn sich die Justiz später wieder konsolidierte. Dass die Stalin-Verfassung von 1936 in Art. 112 die richterliche Unabhängigkeit garantierte, mag man als zynisch betrachten; immerhin wurde damit aber ein Standard für die Zukunft (wieder) eingeführt.

←18 | 19→

II Wirtschaftsrecht: Unternehmen und Agrarsektor

Der marxistisch-leninistischen Lehre entsprechend waren Aussagen zum Wirtschaftsrecht36 von Anfang an Teil des Programms der Bol’sheviki. Die so genannten April-Thesen, die Lenin im Jahr 1917 kurz nach seiner Rückkehr aus dem schweizerischen Exil verfasste37, enthielten bereits wesentliche Grundlagen der späteren sowjetischen Gesetzgebung: Enteignung des Großgrundbesitzes und sofortige Landaufteilung; Kontrolle der Arbeiter über die Industrie; Verstaatlichung der Banken. Unmittelbar nach der Oktoberrevolution folgten die entsprechenden grundlegenden Dekrete zur Bodenreform und zum Wirtschaftsrecht.

1 Bodenreform

Das Dekret Nr. 3 vom 26. Oktober (8. November) 1917 über den Boden leitete die sogenannte Bodenreform ein, die in mehreren Stufen zur Verstaatlichung des gesamten Grund und Bodens in Russland führte. Die von den Bol’sheviki vor der Revolution versprochene – und wohl einen wesentlichen Teil ihrer relativen Popularität begründende – Verteilung des Großgrundbesitzes an einzelne Bauern wurde zunächst in der Form realisiert, dass die Bauern ein Nutzungsrecht an verstaatlichtem Boden erhielten. Der Staat erlegte ihnen aber bald zunehmende Ablieferungspflichten landwirtschaftlicher Erzeugnisse auf, die zu passivem Widerstand der Bauern führten. Ab dem Jahr 1919 verschärfte sich die staatliche Politik und förderte in zunehmendem Maße staatliche und kollektive Wirtschaften zulasten der privaten Landwirtschaft. Nach einer Zwischenperiode der Liberalisierung in der ersten Hälfte der 1920er Jahre (NEP-Periode) wandte sich der Staat dann endgültig einer Politik der Zwangskollektivierung zu38.

2 Unternehmensrecht

Bereits die April-Thesen Lenins enthielten den Programmpunkt der Verstaatlichung der Banken. In der Deklaration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes vom Januar 1918, die später in die Verfassung vom Juli 1918 einging, wurde dieser Punkt zu einem Konzept der Verstaatlichung des gesamten privaten Wirtschaftssektors weiter entwickelt (s. Art. 3 Buchst.c der Verfassung). Ein erster Schritt hierzu war die Einführung einer Arbeiterkontrolle in ←19 | 20→allen Betrieben mit mehr als vier Arbeitern durch ein Dekret vom 14. November (27. November) 1917. Es begründete Betriebsräte mit Weisungsbefugnissen gegenüber dem Betriebsinhaber und ermöglichte im Konfliktfall eine Verstaatlichung des Betriebs. Ein zweiter Schritt war die Einrichtung eines Obersten Wirtschaftsrats mit weitgehenden administrativen und legislativen Befugnissen durch ein Dekret vom 15.12.1917. Damit war im Kern die Grundlage für die später entwickelte Zentralverwaltungswirtschaft gelegt. Es folgte eine Kette von Verstaatlichungen: am 27.12.1917 ein Dekret über die Verstaatlichung aller Banken, am 28.06.1918 ein Dekret über die Nationalisierung der Großindustrie und der Privatbahnen und am 21.11.1918 ein Dekret über die Nationalisierung des Binnenhandels. Den Abschluss fand diese Entwicklung in einer Verordnung des Obersten Wirtschaftsrates vom 29.11.1920 über die Nationalisierung der mittleren und kleineren Betriebe. Praktisch war damit – von kleinsten Betrieben abgesehen – die gesamte Wirtschaft Russlands verstaatlicht bzw. kollektiviert. Abgerundet wurde dies durch ein Dekret vom 03.02.1918 über die Annullierung aller von früheren Regierungen Russlands aufgenommenen Staatsschulden gegenüber inländischen oder ausländischen Gläubigern. Damit war zugleich auch das Thema des internationalen Wirtschaftsrechts angesprochen. Die wohl zentrale Neuregelung auf diesem Gebiet war die Einführung eines staatlichen Außenhandelsmonopols durch Dekret vom 22.04.1918 über die Nationalisierung des Außenhandels. Das staatliche Außenhandelsmonopol blieb für das sowjetische Wirtschaftssystem bis in die Schlussphase der Sowjetunion hinein systemprägend.

III Zivilrecht (einschließlich Arbeits- und Sozialrecht)

Das Russische Kaiserreich verfügte über keine in sich abgestimmte, moderne Zivilrechtskodifikation. Das russische Zivilrecht (unter Einschluss u.a. des Handelsrechts und Arbeitsrechts) war vielmehr in der historisch gewachsenen, nur grob geordneten Kompilation des Svod Zakonov Rossijskoj Imperii aus dem Jahr 1833 enthalten, der in gewissen Abständen überarbeitet und fortgeführt wurde (zuletzt 1916)39. Das noch zur Zarenzeit begonnene Projekt eines russischen Zivilgesetzbuchs konnte vor Ausbruch des 1. Weltkriegs nicht mehr fertiggestellt werden.

Die Oktoberrevolution brachte insofern einen erheblichen Fortschritt, denn im Jahr 1922 – in der so genannten NEP-Epoche – gelang es, das russische ←20 | 21→Zivilrecht in einem Zivilgesetzbuch der RSFSR zu kodifizieren40. Das ZGB der RSFSR von 1922 knüpft an die Vorarbeiten der Zarenzeit an und steht dem (auf der Grundlage des römischen Rechts entwickelten) deutschen Recht in vielerlei Hinsicht nahe, wenn auch die sowjetideologische Prägung in Einzelfragen nicht zu verkennen ist. Dem Erlass des ZGB ging eine Reihe revolutionärer Dekrete zu unterschiedlichen Aspekten des Zivilrechts voraus, die später teilweise in das ZGB Eingang fanden.

So wurde bereits kurz nach der Oktoberrevolution – im Jahr 1918 – ein Familiengesetzbuch (1918) erlassen41, das – im Gegensatz zum vorrevolutionären Recht – vom Grundsatz der Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie dem Ziel einer Liberalisierung (und Entkirchlichung) des Familienrechts geprägt war42. Mit diesem Familiengesetzbuch setzte sich Sowjetrussland an die Spitze einer Modernisierung des Familienrechts, die in Westeuropa erst Jahrzehnte später erfolgte.

Auf dem Gebiet des Erbrechts nahm der sowjetische Gesetzgeber zunächst eine ideologisch bedingte, äußerst restriktive Haltung ein und beseitigte in einem Dekret vom 27. April 1918 das Erbrecht vollständig. Nur in Fällen geringwertiger Nachlässe wurde Ehegatten und nächsten Verwandten des oder der Verstorbenen ein erbrechtsähnliches Verwaltungsrecht zugestanden43. Das ZGB von 1922 lockerte diese Position wieder ein wenig und ließ das Erbrecht grundsätzlich zu, allerdings ebenfalls nur in sehr engen Grenzen. Eine weitere Öffnung (jedoch verbunden mit der Einführung einer hohen Erbschaftssteuer) erfolgte im Zuge einer Reform des ZGB im Jahr 192644.

In den Themenbereichen des Schuld- und Sachenrechts kam es nach der Revolution zunächst nur zu punktuellen, wenn auch wirtschaftlich einschneidenden Eingriffen. So erklärte bereits das Dekret vom 26.10. (08.11.) 1917 über ←21 | 22→den Boden die Veräußerung, Belastung sowie die Vermietung von Grund und Boden für unzulässig45. Ein anderes Dekret (vom 20.05.1918) erklärte Schenkungen nicht geringfügigen Wertes für unwirksam46, und weitere Eingriffe betrafen das Wohnungsmietrecht47.

Eine ganze Reihe von Dekreten befasste sich mit Fragen des Arbeitsrechts. Einige Maßnahmen erscheinen auch aus heutiger Sicht durchaus nachvollziehbar und sozialpolitisch begründet, wie z.B. die Begrenzung der Arbeitszeit auf einen 8-Stunden-Tag (Dekret vom 11.11.1917)48 und die Einführung einer allgemeinen Sozialversicherung (Dekret vom 01.11.1917 und Folgeregelungen). Andere dagegen dienten machtpolitisch-ideologischen Zwecken wie z.B. die Unterstellung der Gewerkschaften unter die Kontrolle der Partei bzw. staatlicher Strukturen49. Eine gesetzgebungstechnisch bedeutende Leistung war schließlich der Erlass eines ersten Arbeitsgesetzbuchs der RSFSR am 04.11.1918.

IV Justizrecht (einschließlich Strafrecht)

Bereits kurz nach der Revolution hatte sich der neue sowjetische Gesetzgeber mit Fragen der Justiz zu beschäftigen, sowohl im Bereich des Strafrechts als auch des Zivilrechts. Das erste Justizdekret erging am 22.11. (05.12.) 1917 und erklärte die bestehenden Justizeinrichtungen, d.h. insbesondere die Gerichte, für aufgelöst. Zugleich wurde die Gründung neuer Gerichte (Volksgerichte50) angeordnet. Die Richter der Volksgerichte sollten durch die Bevölkerung oder durch die Sowjets der Arbeiter, Bauern und Soldaten gewählt werden.

Die Justizdekrete regelten nicht nur die Gerichtsorganisation und einzelne Aspekte der Verfahrensdurchführung, sondern auch materiellrechtliche Fragen des anwendbaren Rechts. Dabei lässt sich von den beiden ersten Justizdekreten zum dritten Justizdekret (vom 30.11.1918) eine Akzentverlagerung feststellen. Das beiden ersten Justizdekrete (1917 und Februar 1918) erlaubten noch grundsätzlich die Anwendung vorrevolutionären Rechts. Dieses durfte nur insoweit nicht angewandt werden, als es neuem Recht oder „dem revolutionären ←22 | 23→Rechtsbewusstsein“ widersprach. Das dritte Justizdekret (November 1918) verbot dagegen ausdrücklich die Anwendung vorrevolutionären Rechts; soweit eine Frage noch nicht durch neues Recht geregelt sei, sollten die Gerichte sich unmittelbar durch revolutionäres Rechtsbewusstsein leiten lassen51. Erst später, im Bereich des Zivilrechts eigentlich erst mit dem ZGB von 1922 und dem Erlass einer Zivilprozessordnung im Jahr 1923, erfolgte wieder eine Rückkehr zu klarer normativ geregelten Verfahren.

Da Justiz in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit häufig vor allem mit Strafverfahren verbunden wird, soll hier auch kurz die Entwicklung des Strafrechts nach der Oktoberrevolution angesprochen werden. Einzelne neue Dekrete sahen Milderungen der Strafbarkeit vor, z.B. die Abschaffung der Verhängung der Todesstrafe an der Front (Dekret vom 26.10.191752), grundsätzlich wurden aber Strafbarkeiten oder Strafverschärfungen angeordnet. Ein besonders dunkles Kapitel der Strafverfolgung und Machtwillkür wurde mit der Gründung des neuen Geheimdienstes Tscheka (Allrussische Besondere Kommission zur Bekämpfung der Konterrevolution) durch Dekret vom 07.12. (20.12.) 1917 und durch das Dekret vom 5. September 1918 „Über den Roten Terror“ eingeleitet. Ein sowjetrussisches Strafgesetzbuch kam erst im Jahr 1922 zustande; vorher behalf sich die Praxis im Wesentlichen mit „Leitsätzen des Strafrechts“ des Volkskommissars für Justiz vom 12.12.191953

V Außen- und Nationalitätenpolitik aus juristischer Sicht

Eines der zentralen Versprechen der Bol’sheviki im Vorfeld der Oktoberrevolution war die sofortige Beendigung des (Ersten) Weltkrieges54, und bereits das erste Dekret der neuen Sowjetmacht rief alle kriegführenden Parteien („Völker“) zum Waffenstillstand und Abschluss eines Friedens ohne Annexionen und Kontributionen auf (Dekret vom 26.10. (08.11.) 1917 „Über den Frieden“). Inhaltlich handelte sich dabei nicht um eine gesetzlich-normative Regelung, sondern um eine politische Deklaration, die auf die Einleitung von Friedensverhandlungen abzielte. In allgemeiner Form war darin auch das Selbstbestimmungsrecht der Völker („Nationen“) angesprochen, das auch im Rahmen des Friedensschlusses Berücksichtigung finden solle. In der weiteren Folge nahm die neue Regierung Friedensverhandlungen mit den Kriegsgegnern Deutschland ←23 | 24→Österreich-Ungarn, Bulgarien und der Türkei auf, die zum Abschluss des Friedensvertrages von Brest-Litowsk am 03.03.1918 führten. In diesem Vertrag verzichtete Sowjetrussland u.a. auf die russischen Hoheitsrechte in Polen und im Baltikum und erkannte die staatliche Unabhängigkeit Finnlands und der Ukraine an55. Am 15.03.1918 stimmte der Allrussische Sowjetkongress dem Vertrag zu56, obwohl dieser als ungerecht empfunden wurde57. Die sowjetische Seite hoffte aber darauf und erwartete, dass die Ergebnisse dieses Friedens nicht von Dauer sein würden. Dies bestätigte sich mit der bald danach erfolgenden Niederlage der Mittelmächte im 1. Weltkrieg gegenüber der Entente und den damit verbundenen revolutionären Entwicklungen auch in Deutschland, Österreich-Ungarn und der Türkei.

Details

Seiten
334
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631776650
ISBN (ePUB)
9783631776667
ISBN (MOBI)
9783631776674
ISBN (Hardcover)
9783631773536
DOI
10.3726/b15026
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Juli)
Schlagworte
Osteuropaforschung Außenpolitik Osteuropäisches Recht Osteuropäische Geschichte Literatur, Sprache, Kunst in Osteuropa
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019., 334 S., 26 s/w Abb.

Biographische Angaben

Alexander Trunk (Band-Herausgeber:in) Nazar Panych (Band-Herausgeber:in)

Alexander Trunk ist Vorsitzender des Zentrums für Osteuropa-Studien der Universität Kiel (seit 2014) und Direktor des Instituts für Osteuropäisches Recht der Universität Kiel (seit 1998). Sowohl der Herausgeber als auch die anderen Mitglieder des Zentrums für Osteuropa-Studien unterhalten zahlreiche wissenschaftliche Kooperationen mit Staaten Osteuropas. Nazar Panych ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Osteuropäisches Recht der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.

Zurück

Titel: Erster Weltkrieg im östlichen Europa und die russischen Revolutionen 1917
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
book preview page numper 31
book preview page numper 32
book preview page numper 33
book preview page numper 34
book preview page numper 35
book preview page numper 36
book preview page numper 37
book preview page numper 38
book preview page numper 39
book preview page numper 40
336 Seiten