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Die Entwicklung der zivilrechtlichen Unterbringung volljähriger psychisch Kranker

Vom Allgemeinen Landrecht (1794) bis zum Betreuungsgesetz (1992)

von Tillmann M. Gimm (Autor:in)
©2019 Dissertation 316 Seiten
Reihe: Rechtshistorische Reihe, Band 480

Zusammenfassung

Das Buch zeichnet die rechtshistorische Entwicklung eines der problematischsten Bereiche des heutigen Betreuungsrechts nach. In zeitlicher Hinsicht erstreckt sich die Darstellung vom Ausgang der frühen Neuzeit (1794) über das 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Dabei liegt der Fokus zunächst auf den preußischen Regelungen des Allgemeinen Landrechts und der Vormundschaftsordnung, erweitert sich aber später mit Geltung des Bürgerlichen Gesetzbuches auch auf die übrigen deutschen Länder. Wiederkehrende Fragestellungen, wie etwa der Stellenwert des fürsorgerechtlichen Unterbringungsbegriffs, die Rolle der Gutachter im Verfahren oder aber die Abgrenzung zu anderen Formen der Unterbringung werden jeweils epochenweise beleuchtet. Darüber hinaus leistet der Autor durch die Darstellung der Behandlung psychisch kranker Menschen einen sozialgeschichtlichen Beitrag und stellt somit eine Verbindung zwischen der Disziplin des Rechts und der Sozialwissenschaft her.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • A) Einleitung
  • I) Untersuchungsgegenstand
  • 1) Thematischer Rahmen
  • a) Die zivilrechtliche Unterbringung
  • aa) Die zivilrechtliche Unterbringung nach geltendem Recht
  • bb) Die zivilrechtliche Unterbringung unter rechtshistorischen Gesichtspunkten
  • b) Der Krankheitsbegriff
  • c) „Gemeingefährlichkeit“
  • d) Volljährigkeit
  • 2) Zeitlicher Rahmen
  • 3) Gesetzlicher Rahmen
  • 4) Quellen und gegenwärtiger Forschungsstand
  • II) Methode und Gang der weiteren Untersuchung
  • B) Die Unterbringung im langen 19. Jahrhundert
  • I) Vom Ausgang der frühen Neuzeit bis zum Kaiserreich
  • 1) Allgemeinhistorische Einbettung
  • 2) Wahrnehmung von „Geisteskrankheit“
  • 3) Psychiatrische Einrichtungen
  • 4) Überblick über die Gesetzeslage
  • a) Preußisches Allgemeines Landrecht
  • b) Allgemeine Gerichtsordnung
  • c) Gesetze zum Schutz der persönlichen Freiheit und über die Polizeiverwaltung
  • d) Einzelregelungen
  • aa) Gesetzesvorbehalt des Art. 5 PrVU
  • bb) Regelungen auf Erlassebene
  • cc) Regelungen auf Anstaltsebene
  • 5) Unterbringungsrechtlicher Fürsorgebegriff
  • 6) Ablauf der Unterbringung
  • a) Vorverfahren
  • aa) „Wahn- und Blödsinnigkeitserklärung“
  • bb) Unterbringung durch Angehörige
  • cc) Unterbringung durch den Vormund
  • dd) Polizeiliche Unterbringung
  • ee) Differenzierung nach Unterbringungsgrund
  • b) Vollzug der Unterbringung
  • aa) Transport und Aufnahme in die Anstalt
  • bb) Regeln innerhalb der Anstalt
  • cc) Staatliche Revision der Anstalten
  • c) Entlassung und Nachsorge
  • 7) Rechtsschutzmöglichkeiten
  • a) Unterbringung durch zivilgerichtliches Urteil
  • b) Unterbringung durch Polizei
  • c) Freiwillige Pensionäre
  • 8) Fazit
  • II) Das Kaiserreich
  • 1) Allgemeinhistorische Einbettung
  • 2) Wahrnehmung von „Geisteskrankheit“
  • 3) Missstände und „Irrenrechtsreformbewegung“
  • a) Zeitgenössische Kritikpunkte am „Irrenwesen“
  • b) Entstehung einer Reformbewegung
  • c) Diskussion auf parlamentarischer Ebene
  • d) Bewertung der „Irrenrechtsreformbewegung“
  • 4) Psychiatrische Einrichtungen
  • 5) Überblick über die Gesetzeslage
  • a) Zivilprozessordnung
  • b) Vormundschaftsordnung
  • c) BGB
  • d) Einzelne Erlasse
  • e) Regelungen auf Anstaltsebene
  • f) Exkurs: Gesetzgebung in den übrigen deutschen Ländern
  • 6) Unterbringungsrechtlicher Fürsorgebegriff
  • 7) Ablauf der Unterbringung
  • a) Vorverfahren
  • aa) Unterbringung durch den gesetzlichen Vertreter
  • (1) Tätigwerden des Vormundes
  • (a) Entmündigungsverfahren
  • (b) Vorläufige Vormundschaft
  • (c) Bestellung und Rechtsposition des Vormundes
  • (d) Unterbringung durch den Vormund
  • (2) Tätigwerden des Pflegers
  • (a) Bestellung und Rechtsposition des Pflegers
  • (b) Unterbringung durch den Pfleger
  • bb) Sonderformen der Unterbringung
  • cc) Hoheitliche Unterbringung
  • dd) Differenzierung nach Unterbringungsgrund
  • b) Vollzug der Unterbringung
  • aa) Transport und Aufnahme
  • bb) Regeln innerhalb der Anstalt
  • (1) Datenschutz
  • (2) Zwangsmaßnahmen
  • c) Entlassung
  • 8) Rolle der Gutachter
  • 9) Rechtsschutzmöglichkeiten
  • a) Vertreterseits initiierte Unterbringung
  • b) Polizeiliche Unterbringung
  • c) Freiwillige Pensionäre
  • 10) Fazit
  • C) Die Unterbringung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
  • I) Die Weimarer Republik
  • 1) Allgemeinhistorische Einbettung
  • 2) Wahrnehmung von „Geisteskrankheit“
  • 3) Psychiatrische Einrichtungen
  • 4) Überblick über die Gesetzeslage
  • a) Polizeiverwaltungsgesetz
  • b) Einzelregelungen
  • c) Gesetzesentwürfe
  • aa) „Irrengesetz“
  • bb) Bewahrungsgesetz
  • 5) Unterbringungsrechtlicher Fürsorgebegriff
  • 6) Ablauf der Unterbringung
  • a) Vorverfahren
  • b) Vollzug der Unterbringung
  • c) Entlassung
  • d) Rechtsschutzmöglichkeiten
  • 7) Fazit
  • II) Das Dritte Reich
  • 1) Allgemeinhistorische Einbettung
  • 2) Neuorganisation des Gesundheitswesens
  • 3) Wahrnehmung von „Geisteskrankheit“
  • 4) Sterilisation
  • 5) Krankenmord
  • 6) Exkurs: Umgang mit psychisch Kranken im nationalsozialistischen Mainz und Umgebung
  • 7) Psychiatrische Einrichtungen
  • 8) Unterbringungsrechtlicher Fürsorgebegriff
  • 9) Ablauf der Unterbringung
  • a) Vorverfahren
  • b) Vollzug der Unterbringung
  • c) Entlassung
  • d) Rechtsschutzmöglichkeiten
  • 10) Fazit
  • D) Die Unterbringung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
  • I) Die Nachkriegszeit
  • 1) Allgemeinhistorische Einbettung
  • 2) Wahrnehmung von „Geisteskrankheit“
  • 3) NS-Ärzte-Prozesse
  • 4) Psychiatrieskandale in der frühen BRD
  • 5) Psychiatrische Einrichtungen
  • 6) Überblick über die Rechtslage
  • a) Art. 104 II S. 1 GG
  • aa) Der Beschluss des BGH vom 30. März 1955
  • bb) Der Beschluss des BVerfG vom 10. Februar 1960
  • b) § 1800 II BGB
  • c) § 55a III FGG
  • d) Landesunterbringungsgesetze
  • e) FEVG-Entwurf
  • 7) Unterbringungsrechtlicher Fürsorgebegriff
  • 8) Ablauf der Unterbringung
  • a) Vorverfahren
  • aa) Unterbringung durch den gesetzlichen Vertreter
  • (1) Tätigwerden des Vormundes
  • (2) Tätigwerden des Pflegers
  • (3) Verfahrensrechtliche Besonderheiten
  • bb) Sonderformen der Unterbringung
  • cc) Hoheitliche Unterbringung
  • dd) Differenzierung nach Unterbringungsgrund
  • b) Vollzug der Unterbringung
  • c) Entlassung
  • 9) Rechtsschutzmöglichkeiten
  • 10) Fazit
  • II) Der Ausbau des Sozialstaats
  • 1) Allgemeinhistorische Einbettung
  • 2) Wahrnehmung von „Geisteskrankheit“
  • a) In Gesellschaft und Medizin
  • b) Politische Reformbemühungen: Von der Psychiatrie-Enquete zum Betreuungsgesetz
  • 3) Psychiatrische Einrichtungen
  • 4) Überblick über die Rechtslage
  • a) Bis zum 1. Januar 1992
  • b) Ab dem 1. Januar 1992
  • c) Rechtsprechung
  • 5) Unterbringungsrechtlicher Fürsorgebegriff
  • 6) Ablauf der Unterbringung
  • a) Vorverfahren
  • aa) Unterbringung durch den gesetzlichen Vertreter
  • (1) Bis 1992
  • (2) Ab 1992
  • (a) Bestellung und Rechtsposition des Betreuers
  • (b) Unterbringung durch den Betreuer
  • (c) Sonderformen der Unterbringung
  • (d) Verfahrensrechtliche Besonderheiten
  • bb) Hoheitliche Unterbringung
  • cc) Differenzierung nach Unterbringungsgrund
  • b) Vollzug der Unterbringung
  • c) Entlassung
  • 7) Rolle der Gutachter
  • 8) Rechtsschutzmöglichkeiten
  • 9) Fazit
  • E) Weitere Entwicklung
  • I) Unterbringung durch den Bevollmächtigten
  • II) Zwangsbehandlung
  • III) Genehmigungsbedürftigkeit freiheitsbeschränkender Maßnahmen im häuslichen Bereich
  • IV) Vereinbarkeit des § 1906 BGB mit der UN-Behindertenrechtskonvention
  • V) Reformierung des Verfahrensrechts
  • F) Abschlussbetrachtung
  • G) Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

a.A. anderer Ansicht

a.F. alte Fassung

abgedr. abgedruckt

ABKH Archiv des Bezirkskrankenhauses

ABl. Amtsblatt

Abs. Absatz

Abt. Abteilung

ADHGB Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch

AG Amtsgericht

AGO Allgemeine Gerichtsordnung für die Preußischen Staaten

allg. allgemein

ALR Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten

Anh. Anhang (zu)

arg. ex argumentum ex (folgt aus)

Art. Artikel

BAföG Berufsausbildungsförderungsgesetz

BAH Bundesamt für das Heimatwesen

betr. betreffend

BGB Bürgerliches Gesetzbuch

BGBl. Bundesgesetzblatt

BGBl. I Bundesgesetzblatt Teil I

BGH Bundesgerichtshof

Bl. Blatt

BRD Bundesrepublik Deutschland

BSHG Bundessozialhilfegesetz

Bsp. Beispiel

bspw. beispielsweise

BVerfG Bundesverfassugsgericht

BW Baden-Württemberg

bzw. beziehungsweise

DDR Deutsche Demokratische Republik

dt. deutsche(n)

f. bzw. ff. folgende

←15 | 16→

FamFG Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit

FEVG Gesetz über das gerichtliche Verfahren bei Freiheitsentziehungen

FGG Gesetz über die freiwillige Gerichtsbarkeit

Fn. Fußnote

GBl. Gesetzesblatt

GBlB Gesetzblatt der Freien Hansestadt Bremen

gem. gemäß

GewO Gewerbeordnung

GG Grundgesetz

GS Gesetzessammlung

GVBl. Gesetzes- und Verordnungsblatt

GVeN Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses

h.M. herrschende Meinung

HansGZ Hanseatische Rechts- und Gerichts-Zeitschrift

HessRegBl. Hessisches Regierungsblatt

i.d.F. in der Fassung (vom)

i.E. im Ergebnis

i.R.d. im Rahmen der/des

i.V.m in Verbindung mit

IrrenG Irrengesetz

Jh. Jahrhundert

JMBl. Justizministerialblatt

LG Landgericht

Lit. Literatur

lt. laut

LVR Landschaftsverband Rheinland

LWV Landeswohlfahrtsverband Hessen

m.M. Mindermeinung

m.w.N. mit weiteren Nachweisen

MABl. Ministerialamtsblatt (Bayern)

MBl f. MedAng. Ministerialblatt für Medizinal-Angelegenheiten

MBliV Ministerialblatt für die preußische innere Verwaltung

MedicinalO Medicinalordnung (Bremen)

MinBl. f. d. inn. Verw. Ministerialblatt für die innere Verwaltung

Nr. Nummer

NS Nationalsozialismus/nationalsozialistisch

←16 | 17→

NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei

o. oben

OLG Oberlandesgericht

OVG Oberverwaltungsgericht

OVGE Entscheidungssammlung des Oberverwaltungsgerichts

PrGS Preußische Gesetzessammlung

PrVU Verfassungsurkunde für den preußischen Staat

PsychKG Psychisch-Kranken-Gesetz

PVG Polizeiverwaltungsgesetz

RAF Rote Armee Fraktion

RBz. Regierungsbezirk

Reg. Regierung

RegBl. Regierungsblatt, Regierungsblatt

RFV Reichsfürsorgepflichtverordnung

RG Reichsgericht

RGBl. Reichsgesetzblatt, Reichsgesetzblatt

RLP Rheinland-Pfalz

Rspr. Rechtsprechung

RStGB Reichsstrafgesetzbuch

RV Verfassung des Deutschen Reichs

S. Seite

sog. sogenannte

SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands

StGB Strafgesetzbuch

StPO Strafprozessordnung

Tit. Titel

u. a. unter anderem

UAHUB Universitätsarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin

UN-BRK UN-Behindertenrechtskonvention

UnterbrG Unterbringungsgesetz

UWohnG Unterstützungswohnsitzgesetz

v. vom

vgl. vergleiche

VO Vormundschaftsordnung

WRV Weimarer Reichsverfassung

z.B. zum Beispiel

Ziff. Ziffer

ZPO Zivilprozessordnung

A) Einleitung

Der Fall „Gustl Mollath“ lenkte nicht allein das rechtswissenschaftliche, sondern vielmehr das Interesse einer breiten Öffentlichkeit auf die Unterbringung im Allgemeinen und den § 63 des Strafgesetzbuches im Speziellen. Was jedoch in der medialen Berichterstattung1 allzu oft undifferenziert als die Unterbringung psychisch Kranker beschrieben wird, ist rechtlich betrachtet ungemein facettenreicher. So dürfen für ein Verständnis der Thematik die materiell- und verfahrensrechtlichen Komponenten nicht außer Acht gelassen werden. Unser heutiges Recht kennt neben der eingangs erwähnten strafrechtlichen auch die öffentlich-rechtliche und schließlich die zivilrechtliche Unterbringung psychisch Kranker. Es leuchtet ein, dass diese Trias nicht seit Anbeginn existierte, sondern einhergehend mit der Differenzierung der einzelnen Teilrechtsgebiete das Resultat einer Rechtsentwicklung darstellt.

Mit der fortgeschrittenen Aufklärung im 19. Jahrhundert galten die sogenannten Irren2 nicht länger als teufels- oder dämonenbesessen,3 sondern ihrem psychischen Leiden wurde zunehmend der Status einer Krankheit attestiert. Durch den somit einsetzenden empirisch-rationalen Umgang mit dem Thema „Geisteskrankheit“ besserte sich auch die Versorgung von derlei Betroffenen in den deutschen Territorien schrittweise.4 Für den sich allzuständig fühlenden Obrigkeitsstaat war die „Irren“- (wie auch Armen-) Fürsorge ein besonderes Anliegen: Galt es doch, die Untertanen gemäß den herrschenden vernunftrechtlichen ←19 | 20→Staatszwecklehren, zur Glückseligkeit5 zu führen und dabei „gute Policey“6 zu gewährleisten. „Geisteskranke“ gerieten durch ihre mangelnde soziale Anpassung in den Fokus der Obrigkeit und sollten, sofern sie nicht unauffällig im Kreise ihrer Verwandten betreut werden konnten, (zwangs-)erzogen oder aber weggesperrt werden.7 Hierfür standen sogenannte Tollhäuser zur Verfügung, die aus Gründen der Effizienz und Produktivität meist einem Zucht- und/oder Arbeitshaus angegliedert waren. Unverkennbar zeigt sich, dass die geschaffenen Einrichtungen mehr eine sozialdisziplinierende denn eine kurative beziehungsweise eine therapeutische Funktion besaßen.8

Den rechtlichen Rahmen für die Unterbringung von Menschen des oben beschriebenen Personenkreises schufen in den neu entstandenen Gebieten des zersplitterten Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation die jeweiligen Partikulargesetze.9 Auch wenn sich das „Irrenwesen“ in den einzelnen Territorien sehr unterschiedlich entwickelte, lässt sich als Gemeinsamkeit konstatieren, dass neben den Policeyordnungen stets eine Fülle von Einzelverordnungen existierte, was zwar für Einzelfallgerechtigkeit und Aktualität der entsprechenden Normen sorgte, aber andererseits, nicht zuletzt aufgrund ihrer variierenden Bezeichnungen (Erlass, Verfügung, Edikt, (General-) Reskript etc.), zu einer unübersichtlichen Rechtslage führte.10 An der Regelung der Unterbringung ←20 | 21→auf dem Verordnungswege änderte sich im deutschsprachigen Raum auch im 19. Jahrhundert – abgesehen etwa von dem sächsisch-weimarer „Irrengesetz“ vom 23. November 1821 – nur wenig.11 Dies gilt auch und gerade für Preußen, dessen Medicinalwesen eine hohe Regelungsdichte aufwies und in Unterbringungsangelegenheiten überwiegend von Ministerialerlassen geprägt war. Allein diese Tatsache lässt Rückschlüsse auf den hohen Stellenwert der „Irrenfrage“ im 19. Jahrhundert in den deutschen Gebieten zu, der sich nicht nur im Rechtswesen, sondern auch im medizinisch-psychiatrischen Bereich manifestierte. Dort avancierte die Psychiatrie im frühen 19. Jahrhundert zu einem eigenständigen Lehrfach an den medizinischen Fakultäten12 und wurde ab 1850 auch in entsprechenden Universitätskliniken praktisch angewandt13. Letztere Entwicklung lässt sich für den deutschsprachigen Raum maßgeblich auf Wilhelm Griesinger (1817–1868) zurückführen, dem nicht zuletzt auch die Zurückdrängung der Zwangsmaßnahmen (das sogenannte non-restraint-Prinzip) aus dem Anstaltsalltag zu verdanken ist.14 Neben die Zunahme kurativer Ansätze trat im Kaiserreich auch das zahlenmäßige Wachstum privater Anstalten, die sich bereits in wirtschaftlicher und rechtlicher Sicht von ihrem öffentlichen Pendant unterschieden. Insgesamt ist für die Zeit zwischen 1880–1910 ein wahrhafter „Anstaltsboom“ belegt.15 Parallel zu den emporschnellenden Patientenzahlen wuchs jedoch auch das Misstrauen einer breiten Bevölkerungsschicht gegen die psychiatrische Deutungshoheit, was gegen Ende des 19. Jahrhunderts in eine gut organisierte Protestbewegung, der sogenannten Irrenrechtsreformbewegung, mündete, deren Hauptaugenmerk auf einer einheitlichen gesetzlichen Unterbringungsregelung lag.16 Trotz einer bis dato unbekannten medialen und ←21 | 22→gesellschaftlichen Präsenz der „Irrenfrage“, scheiterten die parlamentarischen Reformvorschläge oder blieben angesichts der Kriegswirren 1914–1918 stecken und verliefen letztlich in der noch jungen Weimarer Republik im Sande. So hatten die landesspezifischen Normierungen trotz Gesetzgebungskompetenz des Reiches weiterhin Bestand.17 Die anschließende zunehmende Entrechtlichung psychisch Kranker und der aufkeimende „Rassenhygiene“-Gedanke18 fanden ihren schrecklichen Höhepunkt in der nationalsozialistischen Erbgesundheitspolitik, insbesondere der als „Aktion T4“, bekannt gewordenen planmäßigen und massenhaften Ermordung „Geisteskranker“.19 Das Inkrafttreten des Grundgesetzes am 24. Mai 1949 machte, sofern vorhanden, eine Novelle der einzelnen Landesunterbringungsgesetze notwendig, die nunmehr vor allem den Vorgaben des Art. 104 GG über Freiheitsentziehungen Rechnung tragen mussten und in Ermangelung einer bundeseinheitlichen Regelung eigene verfahrensrechtliche Normierungen vorsahen.20

In der Psychiatrie kamen um 1950 neue Therapiemethoden, wie etwa der Einsatz von Psychotherapien und Psychopharmaka, neben den althergebrachten zur Anwendung.21 Verbunden war diese Entwicklung mit einem lebhaften Diskurs innerhalb der Ärzteschaft über den Zustand der Anstaltspsychiatrie,22 der als Katalysator für die Psychiatrie-Enquete von 1975 und die darauffolgende zweite Generation der Unterbringungsgesetze diente.23

Die eingangs skizzierte Entwicklung über die Anstaltsunterbringung wurde von bedeutenden wissenschaftlichen Publikationen begleitet, wenn nicht gar durch sie bedingt. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an den Anstaltsdirektor, Autor und Herausgeber der „Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie und ←22 | 23→psychisch-gerichtliche Medizin“ Heinrich Damerow (1798–1866)24 sowie an dessen Schüler Heinrich Laehr (1820–1905)25. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Unterbringungspraxis lieferte der Begründer und Leiter der damaligen badischen Musteranstalt Illenau, Christian Friedrich Wilhelm Roller (1802–1878)26, in seinem Werk „Die Irrenanstalt nach allen ihren Beziehungen“27. Hinzu tritt mit den am Ende des 19. Jahrhunderts einsetzenden Reformbestrebungen des „Irrenwesens“ eine Fülle von Schriften, deren Autoren vor allem eine einheitliche gesetzliche Regelung der Unterbringung psychisch Kranker forderten, um die vermeintliche Machtvollkommenheit der Ärzte zu begrenzen.28 Auch im darauffolgenden Jahrhundert reißt das wissenschaftliche Interesse an psychisch Kranken nicht ab. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts scheint jedoch die (sozial-)historische Beleuchtung29 dieses Themas neben der strafrechtlichen30 – jüngst befeuert durch den eingangs erwähnten Fall „Gustl Mollath“ – dominierend zu sein. Eine speziell auf die zivilrechtliche Unterbringung gestützte rechtshistorische Abhandlung findet sich bisher vergebens. Diese Lücke soll die vorliegende Arbeit füllen, indem sie die Genese der zivilrechtlichen Unterbringung, beginnend vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart, nachzeichnet. Vorwegzunehmen ist, dass zu Beginn des Untersuchungszeitraumes eine rein zivilrechtliche ←23 | 24→Unterbringung, ja sogar ein Zivilrecht nach heutigen Maßstäben, als eine in sich geschlossene und eigenständige Materie, noch nicht existierte. Gleichwohl finden sich auch hier Indizien31, anhand derer mögliche zivilrechtliche Charakterzüge einer Unterbringung herausgearbeitet werden können.

I) Untersuchungsgegenstand

Die Entwicklung der zivilrechtlichen Unterbringung als Gegenstand der vorliegenden Untersuchung bedarf aufgrund der Weite der Thematik einer Einschränkung sowohl in gesetzlicher- als auch zeitlicher Hinsicht. Ausgangspunkt der Arbeit bildet stets der Gesetzestext mit den dazu gehörigen Materialen. Dabei liegt der Fokus auf all denjenigen Normen innerhalb eines festgelegten Geltungsbereichs, die zunächst Schnittpunkte mit der Unterbringung aufweisen. Sodann werden die konkret interessierenden Regelungen herausgegriffen, die Auskunft über die Anstaltseinweisung und Entlassung aus derselben geben, die Rolle der Akteure im Verfahren thematisieren und Rückschlüsse auf die praktische Umsetzung zulassen. Insbesondere in letzterer Hinsicht beschränkt sich der Untersuchungsgegenstand nicht allein auf die normative Ebene, sondern versucht, die Praxis der Zeit nachzuzeichnen, soweit dies anhand von Literatur und Material in den Anstalten möglich ist.

1) Thematischer Rahmen

In der folgenden Arbeit steht die Entwicklung der zivilrechtlichen Unterbringung über mehr als zwei Jahrhunderte im Fokus. Die mit der Größe der Zeitspanne einhergehenden unterschiedlichen Sichtweisen des Themas erfordern zunächst eine genauere Definition der zivilrechtlichen Unterbringung. Weitere, immer wiederkehrende Begriffe sollen ebenfalls nach dem „Klammerprinzip“ isoliert erörtert werden.

a) Die zivilrechtliche Unterbringung

Der Versuch, die zivilrechtliche Unterbringung rechtshistorisch näher zu umreißen, begegnet der bereits angesprochenen Schwierigkeit, dass im 19. Jahrhundert, zu Beginn des Untersuchungszeitraumes, eine Gesetzestrennung in die Teilrechtsbereiche Zivilrecht, Strafrecht und öffentliches Recht noch nicht existierte. Zwar war schon in der frühen Neuzeit die aus dem römischen Recht übernommene Zweiteilung zwischen ius privatum und ius publicum ←24 | 25→wissenschaftsintern anerkannt, doch hatte diese weder methodische Folgen, noch fand sie Niederschlag in der Gesetzgebungspraxis.32 Erst der aufkeimende Liberalismus um 1800 verstand das Privatrecht als „Reich der Freiheit33 gegenüber staatlicher Bevormundung und begünstigte somit die Dichotomie der Rechtsmaterien.34 Mithilfe verschiedener Abgrenzungstheorien35 bemühte sich fortan die Rechtswissenschaft, eine Trennschärfe herauszuarbeiten, was jedoch – wie der gegenwärtige Diskussionsstand hierzu belegt36 – bis heute noch nicht gänzlich gelungen ist.

Somit wird bei der Analyse von Normen und deren Vollzug nicht die jeweilige Gesetzesbezeichnung ausschlaggebend sein, sondern nur ein Indiz unter mehreren Kriterien darstellen, die im Folgenden zu entwickeln sind, um schließlich – wenigstens rückwirkend – eine zuverlässige Klassifizierung von Unterbringungen vornehmen zu können. Hierzu soll die geltende Rechtslage den Ausgangspunkt bilden.

aa) Die zivilrechtliche Unterbringung nach geltendem Recht

Eine Unterbringung setzt zunächst eine freiheitsentziehende Maßnahme voraus. Freiheitsentzug meint dabei jedes – nicht nur kurzfristiges – Festhalten in einem räumlich begrenzten Bereich einer hierfür geschaffenen Einrichtung gegen oder ohne den Willen des Betroffenen, indem er durch besondere Sicherungsvorkehrungen an einem potentiellen freien Ortswechsel und in der Kontaktaufnahme mit Personen außerhalb der Einrichtung eingeschränkt wird.37

←25 | 26→

Im Einzelnen unterscheidet das Erwachsenunterbringungsrecht38 zwischen dreierlei Unterbringungsarten: Der strafrechtlichen nach § 63 StGB sowie der öffentlich- rechtlichen nach den Psychisch-Kranken-Gesetzen der Länder und schließlich der zivilrechtlichen Unterbringung bei einer Selbstgefährdung des Betroffenen gemäß § 1906 BGB. Die Maßregel der freiheitsentziehenden Unterbringung psychisch kranker Straftäter nach § 63 StGB knüpft an eine ohne beziehungsweise mit verminderter Schuldfähigkeit begangene Straftat an und erfordert zudem eine Fremdgefährdung durch den Täter.39 Insgesamt lässt sich also die strafrechtliche Unterbringung, schon aufgrund ihrer zumindest teilweise repressiven Zielsetzung, leicht von ihren öffentlich- und zivilrechtlichen Pendants unterscheiden. Während bei Letzteren die verfahrensrechtlichen Regelungen in den §§ 312 ff. FamFG weitgehend einheitlich sind,40 können sie auf materiellrechtlicher Ebene in Konkurrenz zueinander treten, was eine genaue Abgrenzung erforderlich werden lässt. Taugliche Unterscheidungskriterien sind dabei erstens der Kreis der Antragssteller und zweitens der durch die Gefährdungsrichtung bedingte Unterbringungsgrund. Charakteristisch für die zivilrechtliche Unterbringung ist ihre Veranlassung durch den Betreuer des Betroffenen gemäß § 1906 BGB. Nur wenn der Betreuer entweder nicht erreichbar oder noch nicht bestellt ist, kann das Gericht selbst die Unterbringung im Wege der einstweiligen Maßregel initiieren, § 334 FamFG i.V.m. §§ 1908i I S. 1, 1846 BGB.41 Dabei darf jedoch die Einordnung der Unterbringung als zivilrechtlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch diese von öffentlich-rechtlichen Elementen ←26 | 27→durchzogen ist: So stellte das BVerfG in einer Grundsatzentscheidung aus dem Jahre 1960 fest, dass die Unterbringung des Volljährigen durch den privaten Vormund Ausdruck einer historisch verwurzelten staatlichen Fürsorge sei und damit unabhängig von der materiellrechtlichen Normierung in die Grundrechte des Betroffenen eingreife.42 Diese „Doppelgleisigkeit43 liefert die rechtsdogmatische Erklärung für das Genehmigungserfordernis des § 1906 II BGB und die Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips gemäß § 1906 I BGB, erfordert jedoch hinsichtlich der allgemein anerkannten Bindung an die Betreutengrundrechte einen gesteigerten Begründungsaufwand44: So übt der Betreuer mangels Beleihung keine öffentliche Gewalt im Sinne des Art. 19 IV GG aus,45 sodass er – schematisch betrachtet – allenfalls als Privater mittelbar den Grundrechten unterworfen sein könnte.46 Damit bliebe indes seine herausgehobene Stellung als hoheitlich bestellter Treuhänder47 weitgehend unberücksichtigt. Vermittelnd ist daher, gestützt auf diese Sondereigenschaft, eine Grundrechtsbindung sui generis anzunehmen.48

Die öffentlich-rechtliche Überlagerung setzt sich nach umstrittener Auffassung des BGH fort in der Beurteilung des geschlossenen Vertrages zwischen Einrichtung und Untergebrachtem, Letzterer vertreten durch seinen Betreuer:49 ←27 | 28→Demnach ist selbst der auf einer freiwilligen zivilrechtlichen Unterbringung basierende Vertrag mit einem (Landes-) Krankenhaus50 nicht privatrechtlicher, sondern öffentlich-rechtlicher Natur. Mit dieser – insbesondere haftungsrechtlich relevanten – Entscheidung bestätigt der BGH ausdrücklich seine frühere Rechtsprechung51, die 1962 jedoch noch zum alten Vormundschafts- und Pflegschaftsrecht erging und alle Untergebrachten gleichermaßen der Hausordnung unterwarf, um somit ein Über-/Unterordnungs- und damit ein öffentlich-rechtliches Verhältnis zu statuieren. Nicht nur die Nähe dieser Argumentation zur Figur des besonderen Gewaltverhältnisses, dem das Bundesverfassungsgericht in der sogenannten Strafgefangenenentscheidung52 1972 eine Absage erteilt hat, lässt an der Auffassung des BGH zweifeln. Sie ist überdies nicht mit dem heutigen Rechtsinstitut der Betreuung in Einklang zu bringen, das den Betreuer als Herrn des zivilrechtlichen Unterbringungsverfahrens begreift. Dessen Kompetenzen beziehen sich gemäß § 1902 BGB auf den jeweiligen Aufgabenkreis in seiner Gänze und enden nicht an der Krankenhauspforte.53 Richtigerweise ist daher das Rechtsverhältnis zwischen zivilrechtlich Untergebrachtem und Krankenhaus, ungeachtet der oben erwähnten „Doppelgleisigkeit“, als privatrechtlicher Behandlungsvertrag (§§ 630a ff. BGB) zu klassifizieren.

Weiterhin kann eine Abgrenzung zwischen zivil- und öffentlich-rechtlicher Unterbringung nach dem Unterbringungsgrund vorgenommen werden. Hier gilt es, zwischen Selbst- und Fremdgefährdung zu differenzieren. Hinsichtlich Ersterer bestehen, je nachdem, ob es sich um eine Unterbringung nach dem BGB oder dem Landesrecht handelt, leichte Unterschiede. Im zivilrechtlichen Sinne ist hiermit die Gefahr einer schweren Selbstschädigung durch den Betroffenen gemeint, gleich, ob diese unmittelbar (§ 1906 I Nr. 1 BGB) oder mittelbar ←28 | 29→krankheitsbedingt (§ 1906 I Nr. 2 BGB) indiziert ist. Erforderlich ist nach der Rechtsprechung lediglich eine „ernstliche und konkrete Gefahr für Leib oder Leben des Betreuten54, während bei einer landesgesetzlichen Unterbringung eine „akute und unmittelbar bevorstehende Gefahr55 für den Betroffenen verlangt wird. Der Grad der Gefahr bemisst sich in beiden Fällen an dem möglichen Schaden bei Nichtvornahme der freiheitsentziehenden Maßnahme; zudem erfordert innerhalb gewisser Grenzen die vom BVerfG entwickelte „Freiheit zur Krankheit“ Beachtung.56

Im Gegensatz zur Eigengefährdung ist die Fremdgefährdung einzig mit dem öffentlichen Unterbringungsrecht verknüpft. Wie genau sie dabei beschrieben wird, ist von dem jeweiligen Psychisch-Kranken-Gesetz (PsychKG) abhängig. So spricht etwa § 11 I S. 1 des rheinland-pfälzischen PsychKG von einer gegenwärtigen erheblichen Gefährdung „besonders bedeutende[r]; Rechtsgüter anderer57, wohingegen in Bayern gemäß Art. 1 I S. 1 UnterbrG noch traditionell die „öffentliche Sicherheit oder Ordnung“ als Schutzgut genannt wird und somit eine Nähe zum Polizeirecht erkennbar ist.

Wie bereits oben gesehen, sind Konkurrenzen zwischen der zivil- und der öffentlich-rechtlichen Unterbringung nur im Bereich der Selbstgefährdung denkbar: Liegt einzig Selbstgefährdung vor und ist ein Betreuer bereits bestellt oder sind die Voraussetzungen einer einstweiligen Anordnung nach §§ 300 ff. FamFG gegeben, so ist ein Vorrang der zivilrechtlichen Unterbringung anerkannt, da sie aufgrund der betreuerseits vermittelten Sachnähe das mildere Mittel darstellt.58 Erfolgt eine Einweisung jedoch als Maßnahme der (kurzfristigen) Krisenintervention, ohne dass eine Betreuerbestellung erforderlich wäre, ←29 | 30→ist die öffentlich-rechtliche Unterbringung spezieller.59 Im Übrigen enthalten die Psychisch-Kranken-Gesetze der Länder Subsidiaritätsklauseln zugunsten der zivilrechtlichen Unterbringung, wenn neben Selbstgefährdung auch zugleich Fremdgefährdung vorliegt und dem Grunde nach die eine wie die andere Unterbringungsvariante einschlägig ist.60 Fallen diese Gefährdungslagen weg, ist die Unterbringung durch den Betreuer gemäß § 1906 II S. 2, 3 BGB beziehungsweise – bei dessen Untätigbleiben – durch das Betreuungsgericht (§ 330 FamFG) zu beenden.

In Abgrenzung zum vorliegenden Thema, sei noch auf die sogenannten unterbringungsähnlichen Maßnahmen hingewiesen, für die über § 1906 IV BGB die Regeln der Unterbringung entsprechend gelten.61 Zu denken ist hier insbesondere an mechanische Vorrichtungen (Schlösser, Bettgitter) und sedierende Medikamente.62 Die mitunter auftretenden Konkurrenzen zwischen Absatz eins und vier lassen sich faustformelartig mit der Frage, ob die Maßnahme sämtliche (dann § 1906 I BGB) oder nur einzelne Personen (dann § 1906 IV BGB) betrifft, lösen.63

bb) Die zivilrechtliche Unterbringung unter rechtshistorischen Gesichtspunkten

Nach der vorangegangenen Darstellung des aktuellen Unterbringungsrechts stellt sich im Folgenden die Frage, wie eine rechtsgeschichtliche Erforschung dieses Themas erfolgen kann. Dass eine entwicklungsgeschichtliche Untersuchung der zivilrechtlichen Unterbringung nicht von dem geschilderten modernen Begriffsverständnis ausgehen kann, leuchtet ein. Auch die in Abgrenzungsfragen häufig bemühten Theorien64, die entweder auf ein Über-/Unterordnungsverhältnis, das ←30 | 31→öffentliche Interesse an der Maßnahme oder aber auf die Person des Verpflichteten abstellen, liefern aufgrund ihrer Pauschalität keine brauchbaren Kriterien, zumal einer zivilrechtlichen Unterbringung, wie oben zu § 1906 BGB aufgeführt, stets auch ein öffentlich-rechtliches Element innewohnt. Aus diesem Grund kann ferner bei der Begutachtung von Gesetzen und deren Vollzug (insbesondere für das 19. Jahrhundert) die jeweilige Gesetzesbezeichnung lediglich ein Indiz darstellen, nicht aber die Grundlage zur systematischen Einordnung der Unterbringung als zivilrechtlich bilden.65 Entscheidend sind vielmehr die folgenden Aspekte:

1. Es muss sich zunächst überhaupt um eine freiheitsentziehende Maßnahme in einer Facheinrichtung handeln,

2. die auf Betreiben des gesetzlichen Vertreters eingeleitet wird

3. und die auf Abwehr einer gegenwärtigen Selbstgefährdung gestützt ist, sodass der Gesichtspunkt der Fremdgefährdung in den Hintergrund tritt. In den Kategorien des 19. Jahrhunderts wird ersterer Zweck oft als Fürsorge und Letzterer als Gefahrenabwehr verstanden.

4. Schließlich muss diese Unterbringung einen eigenständigen Platz neben der Einweisung aus öffentlich-rechtlichen Erwägungen einnehmen.

Ein Vorliegen dieser Punkte indiziert zivilrechtliche Tendenzen bei der Unterbringung. Soweit die vorgenannten Elemente nicht kumulativ gegeben sind, soll der dominierende Faktor ausschlaggebend sein.

Details

Seiten
316
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631780626
ISBN (ePUB)
9783631780633
ISBN (MOBI)
9783631780640
ISBN (Hardcover)
9783631780619
DOI
10.3726/b15252
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (April)
Schlagworte
Unterbringungsrecht Betreuungsrecht Sozialgeschichte Rechtsgeschichte Psychische Krankheit Vormundschaft Psychisch-Kranken-Gesetze Unterbringungsverfahren
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien. 2019. 316 S.

Biographische Angaben

Tillmann M. Gimm (Autor:in)

Tillmann M. Gimm wurde am 15. Januar 1986 in Tübingen geboren. Er studierte zunächst Englisch und Geschichte für das Gymnasiallehramt an der Universität Siegen. Im Anschluss folgte das Studium der Rechtswissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz mit den Schwerpunkten Methodik und Geschichte des Rechts sowie Familien- und Erbrecht. Die erste juristische Staatsprüfung absolvierte er im Jahr 2013. Von 2013 bis 2018 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Deutsche Rechtsgeschichte und Bürgerliches Recht von Professor Dr. Andreas Roth. Seit 2017 ist Tillmann M. Gimm Rechtsreferendar im Gerichtsbezirk des Oberlandesgerichts Koblenz. 2018 wurde er an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz promoviert.

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Titel: Die Entwicklung der zivilrechtlichen Unterbringung volljähriger psychisch Kranker
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