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Wann ist Design Kunst im Sinne des Urheberrechts?

Das Erfordernis der künstlerischen Leistung als Schutzvoraussetzung bei Produktgestaltungen nach der „Geburtstagszug“-Entscheidung

von Aline Schmidt (Autor:in)
©2019 Dissertation 234 Seiten

Zusammenfassung

In der «Geburtstagszug»-Entscheidung gab der BGH die besondere Gestaltungshöhe für Werke angewandter Kunst auf, hielt jedoch an dem Erfordernis der künstlerischen Leistung fest. Diese Publikation untersucht, ob die Neupositionierung der Schutzschwelle eine Erweiterung des Anwendungsbereichs des Urheberrechts für Designleistungen bedeutet. Die Autorin nähert sich der inhaltlichen Konkretisierung des Kriteriums der künstlerischen Leistung insbesondere anhand einer Auseinandersetzung mit der Design- und Kunstwissenschaft an. Sie gelangt zu dem Ergebnis, dass der BGH durch die Beibehaltung des Erfordernisses der künstlerischen Leistung allenfalls eine minimale Erweiterung des Anwendungsbereichs bewirkte. Die neue Schutzschwelle steht in Einklang mit den unionsrechtlichen Vorgaben.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • A. Einleitung
  • I. Problemstellung und Arbeitshypothese
  • 1. Problemstellung
  • 2. Arbeitshypothese
  • II. Stand von Rechtsprechung und Forschung
  • 1. Rechtsprechung nach der „Geburtstagszug“-Entscheidung
  • 2. Forschung
  • III. Gang der Darstellung
  • B. Das Erfordernis der künstlerischen Leistung in der Kunst- und Designwissenschaft
  • I. Angewandte Kunst und der Wandel des Gestaltungsverständnisses
  • II. Die Abgrenzung zwischen angewandter Kunst und Design
  • III. Das Erfordernis der künstlerischen Leistung aus Branchensicht – Interviewergebnisse
  • 1. Vorbemerkung
  • 2. Zusammenfassende Darstellung der Kernthesen der Interviews
  • 3. Auswertung der Kernthesen der Interviews
  • IV. Zusammenfassung
  • C. Das Erfordernis der künstlerischen Leistung als urheberrechtliche Schutzvoraussetzung vor und nach der „Geburtstagszug“-Entscheidung – Anforderungen an Produktgestaltungen
  • I. Produktgestaltung als urheberrechtlich geschütztes Werk
  • 1. Werk der angewandten Kunst
  • 2. Werkqualität im Urheberrecht gemäß § 2 Abs. 2 UrhG
  • 3. Individualität bei Werken der angewandten Kunst
  • II. Die rechtliche Relevanz des Erfordernisses der künstlerischen Leistung vor der „Geburtstagszug“-Entscheidung
  • 1. Schutz von Produktgestaltungen durch das Geschmacksmustergesetz a.F. und durch das Urheberrechtsgesetz
  • 2. Das Erfordernis der künstlerischen Leistung vor der „Geburtstagszug“-Entscheidung
  • 3. Besondere Gestaltungshöhe für Werke der angewandten Kunst
  • 4. Verhältnis zwischen dem Erfordernis der künstlerischen Leistung und der besonderen Gestaltungshöhe
  • 5. Zwischenergebnis
  • III. Die rechtliche Relevanz des Erfordernisses der künstlerischen Leistung nach der „Geburtstagszug“-Entscheidung
  • IV. Bestandsaufnahme nach der „Geburtstagszug“-Entscheidung: Das Erfordernis der künstlerischen Leistung als neues Abgrenzungskriterium von Design- und Urheberrecht
  • 1. Intention des Bundesgerichtshofs
  • 2. Neue Anforderungen an Werke der angewandten Kunst
  • V. Das Bestehen eines Gestaltungsspielraums als Voraussetzung für eine künstlerische Leistung
  • 1. Der Gestaltungsspielraum
  • 2. Beschränkungen des Gestaltungsspielraums durch den Gebrauchszweck
  • 3. Weitere den Gestaltungsspielraum beschränkende Merkmale im Bereich der Produktgestaltungen
  • 4. Bedeutung der Einschränkung des Gestaltungsspielraums für die Urheberrechtsschutzfähigkeit von angewandter Kunst
  • VI. Das Erfordernis der künstlerischen Leistung nach Auffassung der maßgeblichen Verkehrskreise
  • 1. Überblick
  • 2. Künstlerische Leistung als Rechtsbegriff
  • 3. Beurteilungsmaßstab
  • 4. Beurteilungsgrundlage und Rolle von Sachverständigen
  • 5. Das Merkmal „künstlerische Leistung“ in der Designpraxis und der jüngeren Rechtsprechung
  • 6. Relevanz des Kriteriums der Neuheit außerhalb des Bereichs der angewandten Kunst
  • VII. Zwischenergebnis
  • D. Das Erfordernis der künstlerischen Leistung in Anbetracht des Unionsrechts
  • I. Unionsrechtliche Vorgaben für Werke der angewandten Kunst
  • 1. Vorgaben des Sekundärrechts
  • 2. Einheitlicher europäischer Werkbegriff durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs
  • II. Eigene geistige Schöpfung
  • 1. Überblick
  • 2. Präzisierung des Werkbegriffs
  • 3. Zusammenfassung der unionsrechtlichen Anforderungen an den Werkbegriff
  • III. Vereinbarkeit des Erfordernisses der künstlerischen Leistung mit den unionsrechtlichen Vorgaben
  • IV. Zwischenergebnis
  • E. Gesamtergebnis
  • I. Zusammenfassung
  • II. Fazit
  • Anhang I: Gesprächsablauf inklusive Fragenkatalog
  • Anhang II: Darstellung der Kernthesen
  • Literaturverzeichnis
  • Verzeichnis der interviewten Personen
  • Abbildungsverzeichnis

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Abkürzungsverzeichnis

Abb. Abbildung
BLJ Bucerius Law Journal
bzgl. bezüglich
bzw. beziehungsweise
DAMS Discipline delle arti, della musica e dello spettacolo, Universität in Bolgna, Italien
DesignR Designrecht
DesignG, Designgesetz Gesetz über den rechtlichen Schutz von Design
ders. derselbe
dies. dieselbe(n)
dt. deutsch
ff. fortfolgende
GeschmMR Geschmacksmusterrecht
GeschmMG Geschmacksmustergesetz Gesetz betreffend das Urheberrecht an Mustern und Modellen in der Fassung vom 11. Januar 1876
ggf. gegebenenfalls
GRUR-RS Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, redaktionell bearbeitete Rechtsprechung
i.H.v. in Höhe von
i.S.d. im Sinne des
i.S.v. im Sinne von
jurisPR-WettbR juris PraxisReport Wettbewerbs- und Immaterialgüterrecht
KG Kammergericht
KUG-E Entwurf eines Gesetzes betreffend das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste und der Photographie
Leg.-Periode Legislatur-Periode
Frankfurt a.M. Frankfurt am Main
Pers. Gespräch Persönliches Gespräch
Preuß. UrhG, Preußisches Urhebergesetz Königlich Preußische Gesetz zum Schutz des Eigentums an Werken der Wissenschaft und Kunst gegen Nachdruck und Nachbildung
sog. sogenannt
Telef. Gespräch Telefonisches Gespräch
u.a. unter anderem
UrhG-E Entwurf eines Gesetzes über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte
UrhG-Ref-E Referentenentwurf eines Gesetzes über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte
v. vom
VO Verordnung
ZGE Zeitschrift für Geistiges Eigentum
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Im Übrigen wird auf Kirchner, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache verwiesen.

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A. Einleitung

I. Problemstellung und Arbeitshypothese

1. Problemstellung

Produktgestaltungen können sowohl durch das den Schutz von gewerblichen Gestaltungsleistungen erfassende Designgesetz1 als auch durch das Urheberrechtsgesetz geschützt werden.

Bis vor kurzem spielte das Urheberrecht beim Schutz von Produktgestaltungen aufgrund seiner hohen Schutzanforderungen lediglich eine untergeordnete Rolle.2 Der Anwendungsbereich des Urheberrechts war nach ständiger Rechtsprechung erst eröffnet, wenn es sich bei dem Gebrauchsgegenstand um „eine Schöpfung individueller Prägung [handelte], deren ästhetischer Gehalt einen solchen Grad erreicht[e];, dass nach Auffassung der für Kunst empfänglichen und mit Kunstanschauungen einigermaßen vertrauten Kreise von einer ‚künstlerischen‘ Leistung gesprochen werden [konnte]“.3 Zusätzlich wurde für die Urheberrechtsschutzfähigkeit der Gestaltung im Gegensatz zu Werken der zweckfreien bildenden Kunst, der Literatur und der Musik „ein deutliches Überragen der Durchschnittsgestaltung“4 gefordert. Urheberrechtsschutz wurde vor diesem Hintergrund in der Regel lediglich Designklassikern wie dem Sessel des Programms RZ62 von Dieter Rams,5 der Tischleuchte WG24 von Wilhelm Wagenfeld,6 dem USM-Haller Möbelprogramm7 oder dem Sessel LC2 sowie der Liege LC4 von Le Corbusier, Pierre Jeanneret und Charlotte Perriand8 ←19 | 20→zugesprochen. Nicht vom Schutz erfasst war dagegen die sog. „kleine Münze“, also einfache Gestaltungen.9

Mit Urteil vom 13. November 2013 gab der BGH diese ständige Rechtsprechung in der „Geburtstagszug“-Entscheidung10 auf, indem er ausführte, an den Urheberrechtsschutz von Werken angewandter Kunst seien keine anderen Anforderungen als an den Urheberrechtsschutz von Werken der zweckfreien Kunst oder des literarischen und musikalischen Schaffens zu stellen. Es genüge, wenn sie eine Gestaltungshöhe erreichten, die es nach Auffassung der für Kunst empfänglichen und mit Kunstanschauungen einigermaßen vertrauten Kreise rechtfertige, von einer künstlerischen Leistung zu sprechen. Es sei nicht mehr erforderlich, dass sie die Durchschnittsgestaltung deutlich überragten.11 Mithin werden nach dieser Entscheidung die den Durchschnitt nicht deutlich überragenden Design-Leistungen nicht mehr per se vom Urheberrechtsschutz ausgeschlossen. Vielmehr ist nun für die Schutzfähigkeit eines Werkes der angewandten Kunst entscheidend, ob eine künstlerische Leistung vorliegt. Was genau unter einer künstlerischen Leistung zu verstehen ist, definierte der BGH nicht. Er führte lediglich an, dass bei Gebrauchsgegenständen, die durch den Gebrauchszweck bedingte Gestaltungsmerkmale aufweisen, der Spielraum für eine künstlerische Gestaltung regelmäßig eingeschränkt sei.12

Damit vollzog sich scheinbar ein großer Wandel zugunsten eines umfassenderen Urheberrechtsschutzes von Design-Leistungen, weil es keines deutlichen Überragens der Durchschnittsgestaltung mehr bedarf. Bei näherem Hinsehen kommen allerdings Zweifel auf: Eine Design-Leistung muss immer noch eine künstlerische Leistung darstellen. Die dem Gebrauchszweck geschuldeten Elemente können bei Design-Leistungen die künstlerische Leistung nicht begründen.

Die vorliegende Arbeit untersucht, ob und ggf. inwiefern durch die Beibehaltung des Erfordernisses einer künstlerischen Leistung tatsächlich eine Absenkung der Anforderungen an Werke der angewandten Kunst erfolgt ist. Hiermit geht die Frage einher, ob mit dem Rechtsprechungswandel der Anwendungsbereich des Urheberrechtschutzes auf eine nennenswerte Zahl von Design-Leistungen erweitert wurde. Dabei befasst sich die Arbeit primär mit dem Schutz von Produktgestaltungen, das Grafikdesign wird ausgeklammert. Produktgestaltungen ←20 | 21→werden hier als dreidimensionale, funktional und ästhetisch ansprechend gestaltete und industriell hergestellte Gebrauchsgegenstände verstanden.

2. Arbeitshypothese

Die Arbeit geht davon aus, dass der BGH zwar beabsichtigte, die Anforderungen an die Schutzfähigkeit von Werken der angewandten Kunst auf das Schutzniveau der zweckfreien Kunst zu senken, dies jedoch nur bedingt gelang. Indem das Gericht einerseits judizierte, dass ein deutliches Überragen der Durchschnittsgestaltung für Werke der angewandten Kunst nicht mehr notwendig sei, andererseits aber daran festhielt, dass ein Werk der angewandten Kunst eine Gestaltungshöhe erreichen müsse, die es aus dem Blickwinkel der mit den Kunstanschauungen einigermaßen vertrauten Kreisen rechtfertige, von einer künstlerischen Leistung zu sprechen, gibt es allenfalls eine minimale Erweiterung des Anwendungsbereichs des Urheberrechts. Das liegt bereits daran, dass die reine bildende Kunst aufgrund ihrer Zweckfreiheit über einen größeren Gestaltungsspielraum verfügt als die angewandte Kunst. Zudem erfüllen – jedenfalls nach Ansicht der Fachkreise – den Durchschnitt gerade so überragende Gestaltungen das Erfordernis einer künstlerischen Leistung nicht. Obwohl die Fachkreise aufgrund der Unschärfe und Ambiguität des Begriffs der künstlerischen Leistung nicht endgültig zu bestimmen vermögen, was konkret darunter zu verstehen ist, besteht eine Tendenz nicht allzu geringe Anforderungen zu verlangen.

II. Stand von Rechtsprechung und Forschung

1. Rechtsprechung nach der „Geburtstagszug“-Entscheidung

Seit dem „Geburtstagszug“-Judikat ergingen weitere Entscheidungen, deren Gegenstand die urheberrechtliche Schutzfähigkeit von Werken angewandter Kunst war. Davon betrafen manche das Grafikdesign und andere das Produktdesign.13 Unabhängig von der Art der verfahrensgegenständlichen Design-Leistung ←21 | 22→wurde eine Erweiterung des Anwendungsbereichs des Urheberrechts durch die „Geburtstagszug“-Entscheidung auf jene Gebrauchsgestaltungen angenommen, die das Durchschnittsschaffen nicht deutlich überragen.14

Die Gerichte problematisieren die Frage, ob die den Durchschnitt nicht deutlich überragende Gestaltung eine künstlerische Leistung darstellt, nicht in jedem Einzelfall. So bejahten einige Gerichte etwa ohne ausführliche Begründung die Schutzfähigkeit von Design-Leistungen als Werke der angewandten Kunst.15 Andere prüften hingegen dezidiert, ob ein Gestaltungsspielraum für eine künstlerische Leistung ausgenutzt wurde, die Gestaltung also nicht in ihren wesentlichen Elementen einem Gebrauchszweck geschuldet war und eine künstlerische Leistung vorlag.16 Mithin können nach Auffassung der Oberlandes- und Landgerichte auch Gestaltungen, die das Durchschnittsschaffen nicht deutlich überragen, grundsätzlich künstlerische Leistungen darstellen. Das Festhalten am ←22 | 23→Erfordernis der künstlerischen Leistung hindert die Erweiterung des Anwendungsbereichs des Urheberrechts hiernach offensichtlich nicht.

Doch selbst wenn die Gerichte in vielen Fällen den Anwendungsbereich des Urheberrechts nach dem Rechtsprechungswechsel eröffneten, ließen sie die Ansprüche häufig an anderen Hürden scheitern:17 Sie schränkten beispielsweise den Umfang des Schutzbereichs in den Grenzfällen so stark ein, dass eine Urheberrechtsverletzung mit der Begründung verneint wurde, bei der jeweils zu vergleichenden Gestaltung handele es sich um ein selbständiges Werk im Sinne des § 24 UrhG.18 Oder die Gerichte ließen einen Anspruch aufgrund einer Doppelschöpfung,19 der Verjährung,20 des Fehlens einer Erstbegehungsgefahr21 oder des Eingreifens eines Rechtfertigungsgrundes22 scheitern.

2. Forschung

a) Einzelne Auffassungen
aa) Erweiterung des Anwendungsbereichs des Urheberrechts

Eine beachtliche Zahl der Stimmen in der Literatur vertritt die Position, der Anwendungsbereich des Urheberrechts habe sich durch die formale Absenkung ←23 | 24→der Anforderungen durch die „Geburtstagszug“-Entscheidung – ungeachtet des vom BGH geforderten Vorliegens einer künstlerischen Leistung – erweitert.23

Ludwig und Suhr nehmen sogar an, durch die Rechtsprechungsänderung verkehre sich das „zuvor bestehende Regel-Ausnahme-Verhältnis“ betreffend die fehlende Schutzfähigkeit von Produktgestaltungen in ihr Gegenteil.24 Andere sind zurückhaltender und erklären beispielsweise: Trotz der Erweiterung des Anwendungsbereichs werde nicht jede banale Gestaltung geschützt.25 Es bedürfe einer genauen Prüfung, ob die erforderliche Gestaltungshöhe erreicht sei.26 Hartmann zufolge liegt eingedenk der vom BGH aufgezeigten Tatbestandeinschränkung, wonach die ästhetische Leistung auf einer künstlerischen Leistung und nicht dem Gebrauchszweck geschuldeten Elementen beruhen müsse, lediglich im Bereich der dekorativen Grafik eine Absenkung der Schutzanforderungen vor, da dieser Bereich der reinen bildenden Kunst am nächsten komme.27

Manche erkennen in dem Erfordernis der künstlerischen Leistung zwar die Möglichkeit, die im Vergleich zu anderen Werkarten erhöhten Anforderungen beizubehalten, verwerfen ein solches Verständnis der Entscheidung aber alsdann mit der Begründung, dies könne der BGH kaum gewollt haben.28

Daneben wird teilweise hervorgehoben, der Schutzbereich bei Werken nur geringer Schöpfungshöhe sei so eng, dass schon kleine Veränderungen der ←24 | 25→Gestaltung den Ausschluss von urheberrechtlichen Ansprüchen bewirken29 oder jedenfalls bezweifelt werden könne, ob in einem solchen Fall der Schutzbereich betroffen sei.30 Außerdem wird eine Zunahme an Doppelschöpfungen, die keine urheberrechtliche Verletzung darstellen, prognostiziert.31

bb) Keine Erweiterung des Anwendungsbereichs des Urheberrechts

Nach Schack ist die Entscheidung des BGH widersprüchlich: Einerseits senke der BGH die Anforderungen an Werke der angewandten Kunst, indem er eine besondere Gestaltungshöhe nicht mehr einfordere. Andererseits hebe er hervor, die Gestaltungshöhe müsse Urheberrechtsschutz rechtfertigen. Nähme man das Erfordernis der Rechtfertigung des Urheberrechtsschutzes ernst, würde die Aufgabe der besonderen Gestaltungshöhe indes keine erhebliche Erweiterung des Anwendungsbereichs bedingen. Eine Monopolisierung von gewöhnlichen Gebrauchsgegenständen müsse verhindert werden; für eine Ausdehnung des Schutzes bestehe keine Notwendigkeit.32 In diese Richtung argumentiert auch Mezger, der der Untersuchung der Schutzschwelle bei Werken angewandter Kunst nach der „Geburtstagszug“-Entscheidung eine Dissertation widmet. Seiner Ansicht nach liegt die Schutzschwelle angesichts der Interessenlage, insbesondere des Freihaltebedürfnisses, weiterhin auf dem ursprünglichen Niveau.33

A. Nordemann und Peifer sind im Ergebnis ebenfalls der Ansicht, dass das „Geburtstagszug“-Urteil keine Erweiterung des Anwendungsbereichs bewirke, stützen dies jedoch auf das Festhalten des BGH am Erfordernis einer künstlerischen Leistung.34 Denn die „kleine Münze“35 bzw. die durchschnittliche ←25 | 26→Design-Leistung36 stelle keine künstlerische Leistung dar. Nach Peifer behauptet die Entscheidung folglich etwas, namentlich den Schutz der kleinen Münze im Bereich von Gebrauchsgegenständen, „was ihre Begründung nicht trägt“.37

b) Zwischenergebnis

Die „Geburtstagszug“-Entscheidung wird in der Literatur unterschiedlich aufgenommen.38 Die überwiegende Anzahl der Stimmen vertritt, der Anwendungsbereich des Urheberrechts erstrecke sich nunmehr auf Design-Leistungen, die Durchschnittsgestaltungen nicht deutlich überragen. Dementsprechend können diese Gestaltungen künstlerische Leistungen darstellen. Andere vertreten, dass sich der Anwendungsbereich nicht erweitert habe. Hierbei stützen sie sich teilweise auf die Notwendigkeit der Rechtfertigung des Urheberrechtsschutzes und teilweise auf das Festhalten am Erfordernis der künstlerischen Leistung.

III. Gang der Darstellung

Der erste Teil dieser Arbeit (B) befasst sich damit, ob bzw. welche Erkenntnisse sich zur Ausfüllung des vom BGH aufgestellten Erfordernisses einer künstlerischen Leistung aus der Kunst- und Designwissenschaft gewinnen lassen. Die Sicht der Kunst- und Designwissenschaft wird anhand einschlägiger Literatur sowie geführten Interviews mit Designexperten aufgezeigt. Dazu wird vorab die Begrifflichkeit „angewandte Kunst“ – insbesondere angesichts eines geänderten Gestaltungsverständnisses sowie einer geänderten Terminologie – genauer betrachtet (I). Anschließend erfolgt eine Annäherung an das Erfordernis der künstlerischen Leistung (II, III). Der zweite Teil (C) untersucht das Erfordernis ←26 | 27→der künstlerischen Leistung als nationale urheberrechtliche Schutzvoraussetzung vor und nach der „Geburtstagszug“-Entscheidung. Dazu erfolgt eingangs eine Einordnung des Erfordernisses in die Urheberrechtsschutzprüfung (I). Anschließend wird die Bedeutung des Kriteriums der künstlerischen Leistung innerhalb der Prüfung der Urheberrechtsschutzfähigkeit vor (II) und nach der „Geburtstagszug“-Entscheidung (III) ermittelt. Sodann folgt eine Bestandsaufnahme der Anforderungen an Werke der angewandten Kunst nach der „Geburtstagszug“-Entscheidung (IV). Dieser Teil schließt ab mit dem Versuch einer inhaltlichen Konkretisierung des Erfordernisses der künstlerischen Leistung, indem Ausführungen zum Gestaltungsspielraum als Voraussetzung für eine künstlerische Leistung (V) und zur künstlerischen Leistung nach Auffassung der maßgeblichen Verkehrskreise (VI) getroffen werden. Der dritte Teil (D) geht auf die unionsrechtlichen Vorgaben an die urheberrechtliche Schutzfähigkeit von Produktformen ein und untersucht, ob der nationale Werkbegriff, insbesondere das Erfordernis der künstlerischen Leistung, mit diesen vereinbar ist. Hierzu wird kurz dargestellt, welche Anforderungen aus europäischer Sicht für Werke der angewandten Kunst bestehen (I.). Anschließend werden diese im Einzelnen betrachtet (II). Danach wird die Vereinbarkeit mit dem Erfordernis der künstlerischen Leistung untersucht (III). Der letzte Teil (E) beantwortet die Arbeitshypothese, fasst die Ergebnisse der vorbenannten Teile zusammen und schließt mit einem Fazit.

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1 Am 10.10.2013 wurde das „Gesetz betreffend das Urheberrecht an Mustern und Modellen“, auch Geschmacksmustergesetz genannt, durch das „Gesetz zur Modernisierung des Geschmacksmustergesetzes sowie zur Änderung der Regelungen über die Bekanntmachungen zum Ausstellungsschutz“ mit Wirkung zum 1.1.2014 in „Designgesetz“ umbenannt.

2 Siehe dazu ausführlich A. Nordemann/Heise, ZUM 2001, 128, 135–136.

Details

Seiten
234
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631788141
ISBN (ePUB)
9783631788158
ISBN (MOBI)
9783631788165
ISBN (Paperback)
9783631785294
DOI
10.3726/b15555
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (April)
Schlagworte
Angewandte Kunst Europäischer Werkbegriff Neue Schutzschwelle Schutzerweiterung Reine Kunst Kleine Münze
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 233 S., 2 s/w Abb, 1 farb. Abb.

Biographische Angaben

Aline Schmidt (Autor:in)

Aline Schmidt studierte Rechtswissenschaften an der Rheinischen Friedrich Wilhelm Universität Bonn sowie an der Universität zu Köln. Seit 2018 ist sie Referendarin im Bezirk des OLG Köln.

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