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Sängerliebe – Sängerkrieg

Lyrische Narrative im ästhetischen Gedächtnis des Mittelalters und der Neuzeit

von Nikolas Immer (Band-Herausgeber:in) Cordula Kropik (Band-Herausgeber:in)
©2019 Konferenzband 314 Seiten

Zusammenfassung

Geschichten über die Liebe und den Streit mittelalterlicher Sänger haben eine lange Tradition. So berichten Dichter vom Mittelalter bis in die Gegenwart vom Tannhäuser im Venusberg, von Meistersängern in- und außerhalb Nürnbergs oder vom Sängerkrieg auf der Wartburg. Imaginationen lyrischer Handlungs- und Lebensweisen verdichten sich dabei zu einer spezifisch selbstbezogenen Reflexion über Kunst. Die Frage, inwiefern darin zugleich ein Phänomen ästhetischer Gedächtnisbildung vorliegt, bildet den Gegenstand des Sammelbandes. Er spannt den Bogen von den mittelalterlichen Textzeugen hin zu neuzeitlichen Adaptionen von der Romantik bis in die Postmoderne.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Title
  • Copyright
  • Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Sängergeschichten als ästhetisches Gedächtnis: Konzeptueller Ansatz und historische Perspektiven. Zur Einführung (Cordula Kropik)
  • Minne und Sang in lyrischen und narrativen Texten: Minnesängerballaden – Neithart Fuchs – Wartburgkrieg (Katharina Philipowski)
  • Bruch, Lücke, Klitterung. Zur paradigmatisch organisierten Erinnerung an den ‚Sängerkrieg‘ in der thüringischen Elisabeth-Hagiographie und Landesgeschichtsschreibung (Jens Haustein)
  • Meistersängergeschichte. Cyriacus Spangenberg und der Ursprung des Meistergesangs (Cordula Kropik)
  • Die „Zauber-Gewalt“ des Tannenhäusers. Ludwig Tiecks Der getreue Eckart und der Tannenhäuser als innovative Adaption volkspoetischer Prätexte mit geschmackserzieherischer Absicht (Jesko Reiling)
  • Fouqués Sängerkrieg auf der Wartburg – eine „genialische Composition“? (Alexander Quack)
  • Gender und Gedächtnis in der Sängerkrieg-Dichtung von Ida Hahn-Hahn (Elisa Müller-Adams)
  • Ästhetische Gedächtnisbildung. Legende und Mythos in Richard Wagners Tannhäuser (Yvonne Nilges)
  • Travestierter Sängerkrieg. Wagners Meistersinger und die agonale Moderne (Cord-Friedrich Berghahn)
  • Tannhäuser-Motive in Theodor Fontanes Cécile (Ariane Ludwig)
  • Sängerkrieg und völkische Ästhetik um 1900. Friedrich Lienhards Drama Heinrich von Ofterdingen (Anja Oesterhelt)
  • Die ‚alten‘ und die ‚neuen‘ Lieder der Beatriz de Dia. Poetische Faktur und ästhetisches Gedächtnis bei Irmtraud Morgner (Markus Greulich)
  • Luther, Tod und Teufel. Ironischer Mediävalismus in Robert Löhrs Krieg der Sänger (2012) (Nikolas Immer)
  • Auswahlbibliographie (Nikolas Immer)
  • Beiträgerinnen und Beiträger
  • Register

Nikolas Immer / Cordula Kropik (Hrsg.)

Sängerliebe – Sängerkrieg

Lyrische Narrative im ästhetischen Gedächtnis
des Mittelalters und der Neuzeit

image

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der
Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG-Projekt KR 3916/2-1)

Coverbild: Hugo L. Braune, Umschlagabbildung zu Alexander von Gleichen
Rußwurm, Die Wartburg und ihr Sänger, Stuttgart 1871.

ISBN 978-3-631-77211-9 (Print)

E-ISBN 978-3-631-79558-3 (E-PDF)

E-ISBN 978-3-631-79559-0 (EPUB)

E-ISBN 978-3-631-79560-6 (MOBI)

DOI 10.3726/b15869

© Peter Lang GmbH

Internationaler Verlag der Wissenschaften

Berlin 2019

Alle Rechte vorbehalten.

Peter Lang – Berlin · Bern · Bruxelles · New York ·
Oxford · Warszawa · Wien

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Diese Publikation wurde begutachtet.

www.peterlang.com

Herausgeberangaben

Nikolas Immer ist Neugermanist und derzeit Vertretungsprofessor an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte: Literatur der Goethezeit, Erinnerungs- und Reiselyrik, Heroismusforschung, Intermedialität, Editionsphilologie.

Cordula Kropik ist germanistische Mediävistin und derzeit im Rahmen einer Heisenberg-Förderung an der Universität Leipzig tätig. Forschungsschwerpunkte: Deutsche Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Poetik und Ästhetik, Narratologie, Kultur- und Literaturtheorie, Philologie.

Über das Buch

Geschichten über die Liebe und den Streit mittelalterlicher Sänger haben eine lange Tradition. So berichten Dichter vom Mittelalter bis in die Gegenwart vom Tannhäuser im Venusberg, von Meistersängern in- und außerhalb Nürnbergs oder vom Sängerkrieg auf der Wartburg. Imaginationen lyrischer Handlungs- und Lebensweisen verdichten sich dabei zu einer spezifisch selbstbezogenen Reflexion über Kunst. Die Frage, inwiefern darin zugleich ein Phänomen ästhetischer Gedächtnisbildung vorliegt, bildet den Gegenstand des Sammelbandes. Er spannt den Bogen von den mittelalterlichen Textzeugen hin zu neuzeitlichen Adaptionen von der Romantik bis in die Postmoderne.

Zitierfähigkeit des eBooks

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Vorwort

Der vorliegende Band geht auf eine Tagung zurück, die im Lutherjahr 2017 in Eisenach, am Fuß der Wartburg, stattgefunden hat. Unser herzlichster Dank gilt den Beiträgerinnen und Beiträgern für ihre intensive Auseinandersetzung mit dem Tagungsthema. Für ihre Teilnahme und Unterstützung danken wir außerdem Hartmut Bleumer, Jennifer Koch, Matthias Löwe und Andreas Volkert. Dank gebührt weiterhin der Ernst-Abbe-Stiftung, der Graduierten-Akademie der Friedrich-Schiller Universität Jena sowie der Wartburg-Stiftung Eisenach für die finanzielle und ideelle Förderung der Tagung. Nicht zuletzt sei Robert Marschall für seine Hilfe bei der redaktionellen Arbeit sowie Michael Rücker vom Peter Lang-Verlag für seine engagierte Betreuung dieses Bandes gedankt.

Leipzig und Kiel, im März 2019,

Nikolas Immer und Cordula Kropik←5 | 6→ ←6 | 7→

Inhaltsverzeichnis

Cordula Kropik

Sängergeschichten als ästhetisches Gedächtnis: Konzeptueller Ansatz und historische Perspektiven. Zur Einführung

Katharina Philipowski

Minne und Sang in lyrischen und narrativen Texten: Minnesängerballaden – Neithart Fuchs Wartburgkrieg

Jens Haustein

Bruch, Lücke, Klitterung. Zur paradigmatisch organisierten Erinnerung an den ‚Sängerkrieg‘ in der thüringischen Elisabeth-Hagiographie und Landesgeschichtsschreibung

Cordula Kropik

Meistersängergeschichte. Cyriacus Spangenberg und der Ursprung des Meistergesangs

Jesko Reiling

Die „Zauber-Gewalt“ des Tannenhäusers. Ludwig Tiecks Der getreue Eckart und der Tannenhäuser als innovative Adaption volkspoetischer Prätexte mit geschmackserzieherischer Absicht

Alexander Quack

Fouqués Sängerkrieg auf der Wartburg – eine „genialische Composition“?

Elisa Müller-Adams

Gender und Gedächtnis in der Sängerkrieg-Dichtung von Ida Hahn-Hahn

Yvonne Nilges

Ästhetische Gedächtnisbildung. Legende und Mythos in Richard Wagners Tannhäuser

Cord-Friedrich Berghahn

Travestierter Sängerkrieg. Wagners Meistersinger und die agonale Moderne←7 | 8→

Ariane Ludwig

Tannhäuser-Motive in Theodor Fontanes Cécile

Anja Oesterhelt

Sängerkrieg und völkische Ästhetik um 1900. Friedrich Lienhards Drama Heinrich von Ofterdingen

Markus Greulich

Die ‚alten‘ und die ‚neuen‘ Lieder der Beatriz de Dia. Poetische Faktur und ästhetisches Gedächtnis bei Irmtraud Morgner

Nikolas Immer

Luther, Tod und Teufel. Ironischer Mediävalismus in Robert Löhrs Krieg der Sänger (2012)

Nikolas Immer

Auswahlbibliographie

Beiträgerinnen und Beiträger

Register←8 | 9→

Cordula Kropik

Sängergeschichten als ästhetisches Gedächtnis

Konzeptueller Ansatz und historische Perspektiven. Zur Einführung

1. Thema und These

Am Anfang unserer Überlegungen stand eine Beobachtung, die sich rasch zu einer Idee und weiter zu einer These verdichtete. Beobachtet hatten wir, dass die vielfältigen Darstellungen, die das Leben, Lieben und Streiten mittelalterlicher Sänger bis in die jüngste Gegenwart hinein präsent halten, sich in Text, Ton und Bild um einen bestimmten thematischen Kern gruppieren. Je mehr wir uns mit literarischen und historiographischen Adaptionen, mit Opernlibretti und Gemälden beschäftigten, desto deutlicher zeichnete sich für uns ab, dass das Erzählen von Sängerliebe und Sängerkrieg von seinen Anfängen an und in all seinen generischen und medialen Erscheinungsformen1 ein Erzählen von Kunst ist. In mittelalterlichen, frühneuzeitlichen, romantischen und modernen, in kanonisierten, randständigen und populären Sängergeschichten – überall zeigte sich derselbe Befund: Wo es um die Sänger des Mittelalters geht, da geht es zumeist auch um Kunst. Es geht um Fragen nach dem Wesen der Kunst, nach dem Verhältnis zwischen Kunst und Macht oder nach dem Ort des Künstlers in der Gesellschaft.

Allerdings zielt der Diskurs über verschiedene Aspekte der Kunst kaum je auf das historische Mittelalter und die realen Hintergründe der dargestellten Sänger-Leben. Stattdessen wird die Schilderung regelmäßig auf ästhetische Selbstvergewisserungen und Positionierungen im Kunstverständnis der eigenen Gegenwart hin durchsichtig gemacht. Weil man darum sagen kann,←9 | 10→ dass hier Vergangenheiten konstruiert werden, „deren Beschaffenheit sich aus den Sinnbedürfnissen und Bezugsrahmen der jeweiligen Gegenwarten her ergibt“,2 kam uns die Idee, das Erzählen von den Minne-, Meister- und anderen Sängern des Mittelalters als gedächtnishaft zu qualifizieren: Es handelt sich um eine Form des Erzählens, die sich hinsichtlich der Merkmale ‚Identitätskonkretheit‘ und ‚Rekonstruktivität‘ jener Form des Erinnerns annähert, die Jan Assmann – mit Bezug auf Maurice Halbwachs und andere Theoretiker der mémoire collective – als ‚kulturelles Gedächtnis‘ bezeichnet.3 Freilich mussten wir dem Umstand Rechnung tragen, dass sie sich in einem entscheidenden Punkt auch davon abhebt. Daraus folgte die Notwendigkeit einer Präzisierung, die wiederum zur Basis unserer These wurde. Denn, so unsere Annahme: Da die von uns fokussierten Sängergeschichten ihren identitätsstiftenden Impetus weniger auf die sozialpolitische Stabilisierung einer Gruppenidentität als auf eine selbstbezogene Reflexion von Kunst und Künstlertum richten, verschieben sie den Schwerpunkt des Erinnerns vom Allgemein-Historischen ins Künstlerisch-Ästhetische.

Die These, die wir auf der Eisenacher Tagung, deren Beiträge der vorliegende Band versammelt, zur Diskussion stellten, lautete hieran anschließend wie folgt: Die Narrative von Sängerliebe und Sängerkrieg beziehen sich in einer Weise auf das literarische Leben des Mittelalters, die vor dem Hintergrund verschiedener gedächtnistheoretischer Konzepte als ‚ästhetisches Gedächtnis‘ bezeichnet werden kann. In dieser Bestimmung zeichnen sie sich durch die Konstituierung eines Erinnerns aus, das im Medium der aneignenden Konstruktion von Vergangenheit sowohl Kunstauffassungen der Gegenwart reflektiert als auch in spezifisch ästhetischer Weise identitätsstiftend wirksam wird. Die Beiträger_innen des vorliegenden Sammelbandes beschreiben repräsentative epochen- und gattungsspezifische Ausprägungen dieses Erinnerns, indem sie vor allem Fragen nach den Gesetzmäßigkeiten und Darstellungsqualitäten des Sänger-Erzählens in den Vordergrund rücken. Daneben werden die Bedingungen und Möglichkeiten seiner anhaltend selbstreflexiven Valenz in den Blick genommen.←10 | 11→

2. Was ist ästhetisches Gedächtnis? Zur konzeptuellen Verortung

Um die Besonderheit des so umrissenen Vorhabens verständlich zu machen, ist es vor allem zu gängigen Ansätzen der Rezeptionsgeschichte bzw. der Mittelalterrezeption ins Verhältnis zu setzen. Denn dass die von uns fokussierten Phänomene auch eine Form der Rezeption darstellen, liegt auf der Hand: Viele von ihnen lassen den charakteristischen „Rückgang oder Rückgriff“ erkennen, in dem Vergangenes „über eine Distanz hinweg […] bewusst in die eigene Gegenwart hineingestellt“ wird.4 Da die Sängergeschichten der Neuzeit zumeist auf literarische Texte des Mittelalters rekurrieren, kann der Begriff der Rezeption in ihrem Fall sogar enger gefasst werden als in der jüngeren Rezeptionsgeschichte üblich. In ihrer Eigenschaft als „Aufnahme und Verarbeitung [von] Kunstwerk[en]“, wie sie vornehmlich vom mittelhochdeutschen Komplex der Wartburgkrieg-Dichtungen, der Tannhäuserballade und angrenzenden Texten repräsentiert werden, sind sie eindeutig als Rezeptionszeugnisse im literaturwissenschaftlichen Sinn des Wortes anzusprechen.5 Sie in einem hauptsächlich literaturwissenschaftlich ausgerichteten Projekt auch als solche zu behandeln, läge folglich zumindest nahe.

Warum also ‚ästhetisches Gedächtnis‘ und nicht – was wohl auch möglich gewesen wäre – ‚selbstreflexive Rezeption‘? Worin liegt der Mehrwert eines gedächtnistheoretischen Zugangs? Unserer Antwort auf diese Fragen vorausgeschickt sei, dass wir ‚Gedächtnis‘ und ‚Rezeption‘ nicht als Gegensätze begreifen. Die Entscheidung für ersteres versteht sich vielmehr als Vorschlag, bekannte Erscheinungen von stofflicher Wiederaufnahme und literarischer Traditionsbildung in eine Perspektive zu stellen, die andere, neue und z. T. auch ungewohnte Einsichten ermöglicht. Der Wechsel der Blickrichtung basiert dabei im Wesentlichen auf einer Umkehrung des die Untersuchung leitenden Interesses: Anstatt die Momente von Andersartigkeit und Diskontinuität zu fokussieren, werden Ähnlichkeit und Kontinuität ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Dahinter steht die Überlegung, dass die Begriffe von Gedächtnis und Rezeption zwar gleichermaßen Vermittlungsprozesse zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem bezeichnen,←11 | 12→ dem damit verbundenen Vorgang der Überbrückung jedoch ganz unterschiedliche Werte zumessen. Während ‚Rezeption‘ einen Rückgriff meint, der zwar auch aktualisierende Anverwandlung des ergriffenen Gegenstandes, daneben aber stets Darstellung seiner historischen und kulturellen Differenz ist, benennt ‚Gedächtnis‘ eine Aneignung, die im Kern auf die Aufhebung dieser Differenz zielt. Gedächtnishaft ‚erinnert‘ wird, was für die Gegenwart von sinn- und identitätsstiftender Bedeutung ist. Damit in Verbindung steht die Tendenz, Vergangenheit als eine ‚Vorgeschichte‘ darzustellen, die Wandel ausschaltet und Veränderungen ‚vergisst‘.6 Wo ‚Rezeption‘ immer einen Vergleich zwischen rezipiertem und rezipierendem Gegenstand impliziert, der nicht zuletzt nach der Angemessenheit des Transfers fragt und die Möglichkeit einer missverständlichen oder falschen Übertragung bis zu einem gewissen Grad zulässt, da blendet ‚Gedächtnis‘ den Gedanken an Umgestaltung weitgehend aus: nicht, weil es sie nicht gäbe, sondern weil sie aus Sicht des Erinnernden nicht wichtig ist. Was dieser hervorbringt, ist folglich weder – wie es ein rezeptionsgeschichtlicher Ansatz implizieren würde – ‚gedeutete Vergangenheit‘, noch eigentlich ein ‚Bild‘ der Vergangenheit. Stattdessen gestaltet er ein in die Vergangenheit projiziertes Bild seiner selbst.

Dass das so beschaffene Selbstbild schon aufgrund seiner historischen ‚Kostümierung‘ immer auch gewisse Vorstellungen von der Vergangenheit mitklingen lässt, liegt freilich auf der Hand, und selbstverständlich macht jede Aneignung in irgendeiner Weise das vormals Nicht-Eigene sichtbar, das sie aufhebt. Aus diesem Grund sind fast alle der von uns fokussierten Sängergeschichten auch als Formen der Rezeption zu begreifen – ähnlich wie jede Form von Gedächtnis ein geschichtliches Moment enthält und umgekehrt ‚Geschichte‘ auch noch in der scheinbar objektivsten Historiographie gedächtnishaft wirkt.7 Genau das ist jedoch gemeint, wenn wir ‚selbstreflexive Rezeption‘ und ‚ästhetisches Gedächtnis‘ als (komplementäre) Perspektiven auf ein und dasselbe Phänomen bezeichnen. Der Gewinn des von uns gewählten Zugangs lässt sich hieran anschließend dergestalt näher bestimmen, dass er zum einen die Aufmerksamkeit auf die zurückgreifend-‚erinnernde‘ Instanz lenkt und es so erlaubt, die Aspekte von Selbstreferenz und Selbstreflexion, um die es uns vornehmlich geht, in ihrer doppelten zeitlichen Codierung – also hinsichtlich ihrer Vergangenheitsimagination ebenso wie ihres Gegenwartsbezugs – präzise zu greifen. Hinzu kommt zum andern, dass über das Gedächtniskonzept bestimmte Darstellungsweisen sowie Prozesse der stofflichen Wiederaufnahme und des Wei←12 | 13→tererzählens von Sängergeschichten genauer eingeordnet und beschrieben werden können bzw. überhaupt erst wahrnehmbar werden. Unsere Vorüberlegungen haben hier eine ganze Reihe von Aspekten als potentiell wichtig für das konzeptuelle Verständnis des ästhetischen Gedächtnisses herausgestellt; von ihnen sind im Verlauf des Tagungsgesprächs drei besonders hervorgetreten.

2.1. Retrospektive Identitätskonstruktion. Im Blickwinkel der Gedächtnisbildung bedeutet Vergangenheitsdarstellung in erster Linie die Konstitution fundierender Identität. Als Vergangenheit, „die fortwährend von den sich wandelnden Bezugsrahmen der fortschreitenden Gegenwart her reorganisiert wird“, tritt sie aus dem Bezirk der faktischen Geschichte heraus und begibt sich in die Nähe von Mythos und Fiktion, ohne dadurch ihren Anspruch auf die Vermittlung historischer Wahrheit aufzugeben.8 Gestützt wird dieser Anspruch auf die Verknüpfung mit bestimmten Zeiten und Räumen, wobei der Rekurs auf besonders erinnerungsträchtige Ereignisse, Orte und Personen eine wichtige Rolle spielt: Die Anreicherung konkreter Entitäten mit bestimmten sinnhaften Gehalten lässt jene „Erinnerungsfiguren“ entstehen, in denen sich die Bedeutung der Vergangenheit für das Selbstbild der erinnernden Gruppe verdichtet.9 Die Affinität des Erzählens von mittelalterlichen Sängern zu den Mechanismen kollektiven Erinnerns ist an dieser Stelle evident. Wenn es den Gruppenbezug auch tendenziell – wiewohl in verschiedener Abstufung – zugunsten der ästhetischen Reflexion zurücktreten lässt, so wird die dargestellte Vergangenheit doch darum nicht minder deutlich als eine gedächtnishaft verdichtete erkennbar. Historische Gegebenheiten fungieren hier in vergleichbarer Weise als Spielmaterial identitätsstiftender Vergangenheitskonstruktionen; zudem werden bestimmte Personen – allen voran natürlich die Sänger selbst –, aber auch Orte und ereignishafte Konfliktkonstellationen – die Wartburg und der Venusberg, Tannhäusers Abschied, der Streit der Sänger usw. – zu ebenso bedeutungsgeladenen wie in ihrem Status zwischen Dichtung und historischer Wahrheit oszillierenden Symbolen künstlerischer Identität.10 Dass←13 | 14→ die dergestalt begründete Identität zumeist als eine problematische erscheint, fügt dieser allgemeinen Konstellation noch einen Aspekt hinzu, der für die ästhetische Spezifikation des Erinnerns von besonderer Relevanz ist. Denn sofern das Dichten von Sängerliebe und Sängerkrieg nicht nur als ein Bedeutsam-Werden von als historisch Verstandenem, sondern darüber hinaus auch als eine kontinuierliche und stets neu ansetzende Reflexion der Frage nach den Gründen und Bestimmungen der Kunst gelesen werden kann, ist es ohne weiteres mit jener Form des ‚problembewältigenden‘ Erzählens in Verbindung zu bringen, die Hans Blumenberg als ‚Arbeit am Mythos‘ bezeichnet.11 Man kann in diesem Sinne sagen, dass das Konzept des Mythischen den Übergang vom kulturellen zum ästhetischen Gedächtnis markiert, indem es das Moment der begründenden Vergangenheitskonstruktion um das der thematischen Problemverhandlung ergänzt.

2.2. Ästhetische Verfahren der Gedächtnisbildung. Vor dem Hintergrund von Blumenbergs Vorstellung der ‚Arbeit am Mythos‘ kann auch die charakteristische Spannung von Wieder-, Weiter-, Neu- und Anders-Erzählen beschrieben werden, die die Sängergeschichten in ihrem Verhältnis sowohl zu ihren Gegenständen als auch untereinander grundlegend prägt. Wie Blumenbergs Mythen sind sie „von hochgradiger Beständigkeit ihres narrativen Kerns und ebenso ausgeprägter marginaler Variationsfähigkeit“,12 und wie bei diesen sind diese Eigenschaften in hohem Maß mit thematischer Konstanz, gestalterischer Flexibilität und gedanklicher Sprunghaftigkeit verbunden. Auf den ersten Blick kann hier leicht der Eindruck einer wirren (und darin ahistorischen) Gemengelage von aneinander anschließenden und einander kreuzenden, jedoch immer wieder reißenden, neu ansetzenden und sogar in sich selbst inkonsistenten Erzählfäden entstehen – ein Eindruck, der dadurch noch befördert wird, dass historische Gegebenheiten und literarische Versatzstücke verschiedenster Art sich anscheinend willkürlich mischen, dass Zeit- und Realitätsebenen verschwimmen und Gattungsgrenzen regelmäßig überschritten werden. Bei näherem Hinsehen zeichnet sich jedoch nicht allein der je eigene und von vorangehenden Darstellungen oftmals unabhängige Rückgriff auf einen gemeinsamen ‚Grundmythos‘ als das verbindende Glied der einzelnen Sängergeschichten ab;13 vielmehr weisen sie darüber hinaus auch Regelmäßigkeiten in der Darstellung und Gestaltung auf, die erneut in den Bereich des Gedächtnishaften zurückführen. Zu diesen Regelmäßigkeiten gehören insbesondere all jene Formen der Anspielung, des Verweises, der Collage←14 | 15→ und des Zitats, deren Funktion darin besteht, Vergangenheit und Gegenwart, Dichtung und Geschichte so aufeinander abzubilden, dass sie in einen reflexiv zu verstehenden – d. h. identifizierenden, differenzierenden oder abgrenzenden – und darin ‚historischen‘ Bezug zueinander gesetzt werden. In diesem Zusammenhang ist narrative Kohärenz bisweilen nicht nur entbehrlich, sondern kann in ihrer Abwesenheit im Gegenteil sogar sinnstiftend wirken. Das gilt insbesondere, wenn Brüche im narrativen Gefüge auf Vorgängerversionen verweisen, Figuren und Ereignisse aufeinander durchsichtig machen oder ineinander überblenden etc.: Sie lassen Kopräsenzen entstehen, die je nach Art und Anlage temporale Tiefe suggerieren oder Zeitverläufe aufheben können, in jedem Fall aber insofern gedächtnishaft wirken, als sie Erinnerung sowohl evozieren als auch bedeutungshaft determinieren bzw. semantisch aufladen.14 Auf einer etwas anderen Ebene sind dagegen generisch-formale Phänomene zu verorten, wie sie in den Sängergeschichten vor allem im Neben-, In und Miteinander von lyrischer und narrativer Rede begegnen. Auch die Interferenz von Lyrik und Narration kann dabei in ihrer gedächtnishaften Wirkung unterschiedlich begründet sein.15 So ist der Übergang ins Narrative unabdingbare Voraussetzung dafür, den lyrischen Diskurs der mittelalterlichen Sänger überhaupt ereignishaft fassbar zu machen; umgekehrt evoziert der Rückgriff auf die lyrische Form den ‚Ton‘ des Gesangs und vermittelt auf diese Weise z. B. die Aura der dargestellten Vergangenheit oder die Traditionalität der Überlieferung.

Details

Seiten
314
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631795583
ISBN (ePUB)
9783631795590
ISBN (MOBI)
9783631795606
ISBN (Hardcover)
9783631772119
DOI
10.3726/b15869
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (August)
Schlagworte
Tannhäuser Wartburgkrieg Meistersänger Mittelalterrezeption (kulturelles) Gedächtnis Gedächtnistheorie
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 314 S., 2 farb. Abb

Biographische Angaben

Nikolas Immer (Band-Herausgeber:in) Cordula Kropik (Band-Herausgeber:in)

Nikolas Immer ist Neugermanist und derzeit Vertretungsprofessor an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte: Literatur der Goethezeit, Erinnerungs- und Reiselyrik, Heroismusforschung, Intermedialität, Editionsphilologie. Cordula Kropik ist germanistische Mediävistin und derzeit im Rahmen einer Heisenberg-Förderung an der Universität Leipzig tätig. Forschungsschwerpunkte: Deutsche Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Poetik und Ästhetik, Narratologie, Kultur- und Literaturtheorie, Philologie.

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