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Perspektivenvielfalt im Literaturunterricht

Theoretische und qualitativ-empirische Untersuchungen zu einem didaktischen Prinzip

von Katja Siepmann (Autor:in)
©2019 Dissertation 652 Seiten

Zusammenfassung

Die Vielfalt der Welt muss im zeitgemäßen Unterricht widergespiegelt und reflektiert werden. Derjenige, der sich auf die Komplexität postmoderner Gesellschaften einlässt, macht Erfahrungen, die produktiv auszuhalten sind. Hier setzt die qualitativ-empirische Studie zu dem allgemeindidaktischen Prinzip der Perspektivenvielfalt an und untersucht sowohl dessen theoretische als auch empirische Relevanz. Die Untersuchung der Bedeutung für die Lehrkräfte und die Umsetzung in der Unterrichtsgestaltung stehen im Mittelpunkt der Arbeit. Der exemplarisch gewählte Literaturunterricht im Fach Deutsch bietet eine geeignete Gelegenheit für den Umgang mit Ambivalenz, Kontingenz und Vielfalt im Kontext eines Bildungsverständnisses, das Perspektivenwechsel, Diskursivität und Identitätsbildung betont.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • Zielsetzung und Fragestellungen der Arbeit
  • Forschungsmethodisches Vorgehen
  • Aufbau der Arbeit
  • I. Theoretische Begründungszusammenhänge
  • 1.1 Zum Verständnis eines ‚bildenden Unterrichts‘
  • 1.2 Begriffliche Annäherungen an didaktische Prinzipien und den Terminus Perspektive
  • 1.3 Erziehungswissenschaftliche Zugänge zur Mehrperspektivität
  • 1.3.1 Das Konzept des Mehrperspektivischen Unterrichts (MPU)
  • 1.3.2 Der Begriff der Perspektivenvielfalt in der Allgemeinen Didaktik
  • 1.4 Multiperspektivität in ausgewählten fachdidaktischen Diskursen
  • 1.4.1 Perspektivenvielfalt in der Fachdidaktik Geschichte
  • 1.4.2 Perspektivenvielfalt in der Fachdidaktik Politische Bildung
  • 1.4.3 Perspektivenvielfalt in der Fachdidaktik Religion
  • 1.4.4 Perspektivenvielfalt in der Fachdidaktik Geographie
  • 1.4.5 Perspektivenvielfalt in der Fachdidaktik Sport
  • 1.4.6 Perspektivenvielfalt in der Didaktik des Fremdsprachenunterrichts
  • 1.5 Bildungs- und sozialwissenschaftliche Argumentationen
  • 1.5.1 Die bildungstheoretische Bedeutung von Perspektivenvielfalt
  • 1.5.2 Erkenntnistheoretische Aspekte
  • 1.5.3 Entwicklungs- und kognitionspsychologische Argumentationen
  • 1.5.4 Die soziokulturelle Bedeutung
  • 1.5.5 Zur unterrichtstheoretischen Bedeutung
  • II. Perspektivenvielfalt in der Fachdidaktik Deutsch
  • 2.1 Begründung für die Untersuchung in dem Fach Deutsch
  • 2.2 Der Begriff der Perspektivenvielfalt in der deutschdidaktischen Diskussion
  • 2.3 Didaktische Dimensionen des Literaturunterrichts
  • 2.3.1 Die Dimension der Textauswahl
  • 2.3.2 Die Dimension des Gesprächs im Unterricht
  • 2.3.3 Die Dimension der Medienauswahl
  • 2.3.4 Die Dimension der Unterrichtsmethoden
  • 2.3.5 Die Dimension der Aufgabenstellungen
  • 2.4 Begründung für die Erhebung in der neunten Jahrgangsstufe
  • 2.5 Zwischenfazit
  • III. Forschungsdesign
  • 3.1 Forschungsfragen
  • 3.2 Forschungsmethoden
  • 3.2.1 Der methodologische Rahmen
  • 3.2.2 Erhebungsverfahren
  • 3.2.2.1 Teilnehmende Beobachtung
  • 3.2.2.2 Leitfadeninterview
  • 3.2.3 Auswertungsverfahren
  • 3.2.3.1 Die Dichte Beschreibung und die ethnographische Fallanalyse
  • 3.2.3.2 Qualitative Inhaltsanalyse nach Kuckartz
  • 3.3 Sample
  • 3.4 Zusammenfassung des Forschungsdesigns
  • IV. Ergebnisse
  • 4.1 Ergebnisse der qualitativen Inhaltsanalyse der Leitfadeninterviews
  • 4.1.1 Darstellung der Codes
  • 4.1.1.1 Zum Code „Kenntnis von PV“
  • 4.1.1.2 Zum Code „Verständnis von PV“
  • 4.1.1.3 Zum Code „PV als Anregung für Bildungsprozesse“
  • 4.1.1.4 Zum Code „PV als ästhetische Kategorie“
  • 4.1.1.5 Zum Code „PV als affektiv-emotionale Kategorie“
  • 4.1.1.6 Zum Code „PV als biographische Kategorie/Identitätsarbeit“
  • 4.1.1.7 Zum Code „PV als soziale Kategorie“
  • 4.1.1.8 Zum Code „PV als rhetorische Kategorie“
  • 4.1.1.9 Zum Code „Gesprächskultur und die Rolle von PV dafür“
  • 4.1.1.10 Zum Code „Urteilsbildung und die Rolle von PV dafür“
  • 4.1.1.11 Zum Code „Positionalität“
  • 4.1.1.12 Zum Code „Pluralität“
  • 4.1.1.13 Zum Code „Kontroversität und Diskursivität“
  • 4.1.1.14 Zum Code „Eindeutigkeit vs. Offenheit“
  • 4.1.1.15 Zum Code „Akzeptanz von PV“
  • 4.1.1.16 Zum Code „Schwierigkeiten im Umgang mit PV“
  • 4.1.1.17 Zum Code „Methoden zur Förderung von PV“
  • 4.1.1.18 „HPLU“ vs. „Analytische Aufgaben“
  • 4.1.1.19 Zum Code „Textformen zur Förderung von PV“
  • 4.1.1.20 Zum Code „Verwandte Konzepte“
  • 4.1.1.21 Zum Code „Faktoren der Auswahl des Textes“
  • 4.1.1.22 Zum Code „Didaktische Prinzipien“
  • 4.1.1.23 Zum Code „Textbegriff“
  • 4.1.1.24 Zum Code „Spaß“
  • 4.1.1.25 Zu den Codes „Werke und Themen in der 9. Jahrgangsstufe“
  • 4.1.2 Fallzusammenfassungen der Lehrkräfte
  • 4.1.2.1 Fallzusammenfassung Lehrperson 1 – „Der Oldie“
  • 4.1.2.2 Fallzusammenfassung Lehrperson 2 – „Die Sachliche“
  • 4.1.2.3 Fallzusammenfassung Lehrperson 3 – „Die Passive“
  • 4.1.2.4 Fallzusammenfassung Lehrperson 4 – „Die Dialogische“
  • 4.1.2.5 Fallzusammenfassung Lehrperson 5 – „Der Einfach-Machen-Typ“
  • 4.1.2.6 Fallzusammenfassung Lehrperson 6 – „Der Pragmatische“
  • 4.1.2.7 Fallzusammenfassung Lehrperson 7 – „Die Emotionale“
  • 4.1.2.8 Fallzusammenfassung Lehrperson 8 – „Der Bildungsbetonte“
  • 4.1.2.9 Fallzusammenfassung Lehrperson 9 – „Die Methodische“
  • 4.1.2.10 Fallzusammenfassung Lehrperson 10 – „Die Konzeptionelle“
  • 4.1.2.11 Fallzusammenfassung Lehrperson 11 – „Der Unauffällige“
  • 4.1.2.12 Fallzusammenfassung Lehrperson 12 – „Die Berufsanfängerin“
  • 4.1.2.13 Fallzusammenfassung Lehrperson 13 – „Der Persönliche“
  • 4.1.2.14 Fallzusammenfassung Lehrperson 14 – „Die Unaufgeregte“
  • 4.1.2.15 Fallzusammenfassung Lehrperson 15 – „Der Traditionelle“
  • 4.2 Zwischenfazit: Darstellung der Ergebnisse der Leitfadeninterviews
  • 4.3 Ergebnisse der Unterrichtsbeobachtungen
  • 4.3.1 Erwartungshorizonte von Perspektivenvielfalt – ein Raster
  • 4.3.2 Erste subsumierende Auswertung der Unterrichtsstunden
  • 4.3.3 Auswertung hinsichtlich der Themen
  • 4.3.4 Auswertung hinsichtlich der Methoden
  • 4.3.5 Auswertung hinsichtlich der Fragen und Aufgaben
  • 4.3.6 Auswertung hinsichtlich der Operatoren
  • 4.3.7 Auswertung hinsichtlich des Materials
  • 4.4 Drei Fallanalysen mittels „Dichter Beschreibung“
  • 4.4.1 Begründung für die Auswahl der drei Unterrichtsstunden für eine ethnographische Fallanalyse mittels Dichter Beschreibung
  • 4.4.2 Fallanalyse I – „Perspektivenvielfalt im literarischen Gespräch“
  • 4.4.2.1 Kommentierende Einordnung
  • 4.4.2.2 Unterrichtssequenzen
  • 4.4.2.3 Dichte Beschreibung zur Unterrichtsstunde
  • 4.4.3 Fallanalyse II – „Perspektivenvielfalt mittels einer Karikatur – Grundlage für eine mehrperspektivische Erörterung“
  • 4.4.3.1 Kommentierende Einordnung
  • 4.4.3.2 Unterrichtssequenzen
  • 4.4.3.3 Dichte Beschreibung zur Unterrichtsstunde
  • 4.4.4 Fallanalyse III – „Das Drama und der Perspektivenwechsel“
  • 4.4.4.1 Kommentierende Einordnung
  • 4.4.4.2 Unterrichtssequenzen
  • 4.4.4.3 Dichte Beschreibung zur Unterrichtsstunde
  • 4.4.5 Vergleich der drei Fallanalysen
  • 4.5 Zwischenfazit: Zusammenfassende Darstellung der Ergebnisse aus den Interviews und Beobachtungen
  • V. Diskussion
  • 5.1 Interpretation der Ergebnisse
  • 5.1.1 Grundsätze des didaktischen Handelns
  • 5.1.2 Unterricht als ein Ort des Gesprächs
  • 5.1.3 Perspektivenvielfalt und literarische Texte
  • 5.1.4 Perspektivenvielfalt als didaktisches Handlungsmuster
  • 5.1.5 Perspektivenvielfalt als Haltung
  • 5.1.6 Perspektivenvielfalt in Unterrichtsplanung und -durchführung
  • 5.1.7 Perspektivenvielfalt in Bezug auf Methoden und Material
  • 5.1.8 Eine Didaktik des Perspektivenwechsels
  • 5.1.9 Perspektivenvielfalt und Bildung
  • 5.1.10 Perspektivenvielfalt und Kompetenz
  • 5.1.11 Perspektivenvielfalt im problemorientierten Unterricht
  • 5.1.12 Perspektivenvielfalt und die Identitätsentwicklung
  • 5.1.13 Aktuelle Herausforderungen in (fach)didaktischen Diskursen
  • 5.2 Schlussfolgerungen und Ausblick
  • Literatur
  • Abbildungsverzeichnis
  • Tabellenverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Anhangsverzeichnis
  • Anhang

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Einleitung

Betrachtet man neuere Beschreibungen [post]moderner Gesellschaften als Netzwerkgesellschaft, Wissensgesellschaft […], dann ist all diesen Diagnosen gemeinsam, dass von einem die Gesellschaften normativ integrierenden Konsens nicht länger fraglos ausgegangen werden kann. Vielmehr scheinen die zeitgenössischen Gesellschaften von unterschiedlichen – mitunter auch ganz gegenläufigen – Prozessen geprägt, wie beispielsweise die Prozesse der Globalisierung versus der Fragmentierung oder Pluralisierung versus Re-ethnisierung etc., die es ihren Mitgliedern zunehmend schwer machen, eine [Hervorhebung im Original] eindeutige, konzise und dauerhaft gültige Perspektive auf die Welt zu entwickeln (Besand 2005, S. 189).

In dieser Äußerung von Anja Besand rückt das Thema der Perspektivenvielfalt in das Spannungsfeld der aktuellen gesellschaftlichen Prozesse einer postmodernen Gesellschaft. Nach Dederich (2002, S. 2) ist der Begriff ‚Postmoderne‘ eine „Chiffre für vielfältige Veränderungsprozesse, die zu einer Freisetzung […] von Möglichkeiten und Entwicklungstendenzen führen, die in der Moderne selbst angelegt sind.“ Postmoderne meint einen „Zugewinn an Freiheiten“, die „Öffnung spezifischer Verengungen […] der Moderne“ (Dederich 2002, S. 1) und die Auflösung alter Sicherheiten. Lyotard (2009, S. 99) zufolge ist die postmoderne Kultur durch das Ende der vereinheitlichenden Tendenzen der Moderne gekennzeichnet, in welcher zentrale Perspektiven einen sinnstiftenden Blick auf das Ganze ermöglichten und damit eine politische wie gesellschaftliche Richtung vorgaben. Die herkömmlichen Legitimationswege seien nicht mehr gebräuchlich und ein universeller Konsens im Sinne einer „große[n]; Erzählung“ (Lyotard 2009, S. 99) sei in der Postmoderne nicht mehr vorhanden (siehe auch Reichenbach 2007, S. 218ff.; Ferchhoff 2011, S. 81).1

Der „Logik des einen Maßstabs [Hervorhebung im Original]“ (Maihofer 1995, S. 167) werde eine plurale Logik entgegengesetzt, was bedeutet, dass bei aller kulturellen Verschiedenheit der Menschen nicht mehr nur eine Rationalität, eine Moralität etc. existiert und alle anderen Formen unterdrückt werden, sondern dass „verschiedene Maßstäbe und damit verschiedene menschliche Lebensweisen ←17 | 18→in ihrer jeweiligen ‚Wahrheit‘ gleichberechtigt nebeneinander bestehen [Hervorhebung im Original]“ (Maihofer 1995, S. 167) können.

Pluralität, Heterogenität und Vielfalt stellen somit Charakteristika der Postmoderne dar und haben eine „Freisetzung von Differenz“ (Dederich 2002, S. 3) zur Folge. Einerseits sei die Pluralisierung als Chance zu begreifen, andererseits stelle die Gefahr des Relativismus’, ein ‚Anything goes‘2, eine Beliebigkeit die Schattenseite der Pluralisierung dar. Eine reine Potenzierung beliebiger Optionen führe das Risiko der Produzierung von Indifferenz mit sich (vgl. Dederich 2002, S. 3). Bauman (1995, S. 222) betont, „institutionalisierter Pluralismus, Vielfalt, Kontingenz und Ambivalenz3“ seien prägende Begriffe für die Postmoderne. So entwickele sich das moderne Streben nach Eindeutigkeit in der Postmoderne zu einer Vieldeutigkeit und Kontingenz (vgl. Dederich 2002, S. 5).4

Aus soziologischer Perspektive ist die Postmoderne durch die Vielfalt nebeneinander bestehender Lebensstile und Lebensformen bestimmt, durch Differenzierung und Individualisierung sowie durch eine Vervielfachung von (Teil-)Kulturen, Wertorientierungen und kulturellen Praktiken. Kennzeichnend dafür sind die Auflösung traditioneller Familienformen, Veränderungen im (Selbst-)Verständnis der Geschlechter, die Ausbildung vielfältiger Subkulturen, die transkulturelle Mobilität, die Globalisierung von Politik und Wirtschaft wie auch ←18 | 19→die Individualisierung von Lebenswegen und die Verschärfung biographischer Risiken. Infolgedessen stellt die Gesellschaft kaum noch ein relativ homogenes Gebilde dar, sondern ein facettenreiches, differenziertes Gefüge, da es zu einer Verinselung verschiedener Lebensformen, Moral- und Sprachsysteme kommt (vgl. Dederich 2002, S. 5).

Pluralität und kulturelle Differenz konfrontieren das Individuum mit der Relativität seiner eigenen Weltsicht, Instanzen, die verbindliche Wahrheiten festlegen können, gibt es nicht mehr, politische Entscheidungen sind unter Bedingungen unvollständigen und unsicheren Wissens zu treffen. Aber Differenz bedeutet eben auch Unsicherheit, und wo der Mut fehlt, sie zu ertragen, kann die Gegenmoderne Fuß fassen (Sander 2005a, S. 29).

So macht derjenige, der sich auf die Komplexität postmoderner Gesellschaften einlässt, Erfahrungen, die es produktiv auszuhalten gilt. Dieses ist zu lernen und es bedarf an verschiedenen Fähigkeiten und auch, im Sinne Immanuel Kants, an Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen (vgl. Sander 2005a, S. 29; Kant 1784, S. 20). Durch die gesellschaftlichen Veränderungen wird es schwieriger, eine eindeutige und dauerhaft gültige Perspektive auf die Welt auszubilden, da die Welt unübersichtlicher wird und die Vielfalt an Betrachtungs- und Handlungsmöglichkeiten, Sichtweisen und Weltdeutungen wächst. In einer Zeit der „zunehmende[n]; inhaltliche[n] Unübersichtlichkeit“ (Reich 2002, S. 71), in einer „Kultur, die ihre Mitglieder mit klischeehaften Rekonstruktionen überschwemmt“ (Reich 2002, S. 87), sind eine Vielfalt an Perspektiven, ein ‚Rechts-und-Links-Denken‘, ein Übernehmen von neuen Sichtweisen und Dekonstruktionen von vermeintlich feststehenden Standpunkten unabdingbar. Dabei existiert nicht die eine Wahrheit, sondern es müssen Grenzen definiert werden. In der heutigen „Wissensgesellschaft“ (Willke 1998) mit ihren „Kontinuitätsbrüche[n] [,] […] der Heterogenität [und] Ausdifferenzierung von Wissen“ (Kösel 2007b, S. 53) ist nicht mehr das Reproduzieren oder Deklarieren von Wissen, sondern das Identifizieren, das Rekonstruieren, das Neu- sowie Dekonstruieren entscheidend (vgl. Kösel 2007a, S. 37).

Zudem wird durch die gesellschaftlichen Veränderungen die Normalbiographie zur „Wahlbiographie“ (Ley 1984, S. 257), zur „reflexiven Biographie“ (Giddens 1991, S. 14), zur „Bastelexistenz“ (Hitzler/Honer 2012, S. 311), eine reflexive Form des individualisierten Lebensvollzugs. Die Bastelbiographie ist immer auch eine „Risikobiographie“ (Beck/Ziegler 1997, S. 12; Beck/Beck-Gernsheim 2012, S. 13) bzw. eine „Bruch- oder Zusammenbruchsbiographie“ (Beck/Ziegler 1997, S. 12).

[D];ie Biographie der Menschen [wird] aus vorgegebenen Fixierungen herausgelöst, offen, entscheidungsabhängig und als Aufgabe in das Handeln jedes einzelnen gelegt ←19 | 20→[…]. Individualisierung von Lebenslagen und -verläufen heißt also: Biographien werden ‚selbstreflexiv‘ [Hervorhebung im Original]; sozial vorgegebene wird in selbst hergestellte und herzustellende Biographie transformiert (Beck 1986, S. 216).

Individualisierungsvorgänge weisen nach Beck (1986, S. 206) die Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen im Sinne traditionaler Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge und den Verlust von traditionalen Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen und leitende Normen auf. Anstelle bindender Traditionen und vorgegebener Muster der Lebenslaufgestaltung ist nun die Vorgabe getreten ein eigenes Leben zu entwerfen; die „Selbstorganisation des Lebenslaufes“ und die „Selbstthematisierung der Biographie“ sind ein Muss (vgl. Beck/Ziegler 1997, S. 11). Das „schwer Vorhersehbare und eine beschleunigte Veränderungsdynamik“ (Dederich 2002, S. 8) erzeugen einen Druck beim Individuum und eine Forderung nach Flexibilität. Daraus erwachse auf individueller Ebene „Unsicherheit“ (Bauman 2000, S. 12). Das Panorama, welches Beck in seinem Buch „Risikogesellschaft“ (1986) entwirft, entfaltet er in „Weltrisikogesellschaft“ (2007) neu und erweitert es. Die Risiken, das Unbekannte und Neue vervielfältigen sich mit der Globalisierung. Unsicherheitsfaktoren wie der Klimawandel und der internationale Terrorismus wirken als großes Ganzes auf das individuelle Leben des Einzelnen ein.

Prozesse wie Differenzierung, Pluralisierung und Individualisierung von Lebensstilen und -lagen, d.h. die Herauslösung aus traditionell-vertrauten Einbindungen, Enttraditionalisierung und Entstrukturierung der Lebensführung, Globalisierung mit wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Umbruchsprozessen und eine Milieu- und Lebensstildifferenzierung (vgl. Ferchhoff 2011, S. 72ff.) führen u.a. dazu, dass sich die biographischen Handlungshorizonte diversifiziert haben (vgl. Ferchhoff 2011, S. 85).

„Wenn vieles oder gar alles offen und nicht mehr eindeutig geregelt ist und zur Disposition steht; [wenn man] immer aufs Neue entscheiden [muss], dann können solche Lebenssituationen als wenig verlässlich und instabil erlebt werden“ (Ferchhoff 2011, S. 85f.). Verunsicherungen und Ängste stehen der Freiheit gegenüber. Globalisierung und Individualisierung fordern eine hohe biographische Selbststeuerung und eine biographische Flexibilität, mit welcher man zurechtkommen muss. Globalisierungs-, Individualisierung- bzw. Modernisierungsverlierer werden diejenigen sein, die keine individuellen Wahlmöglichkeiten und Entscheidungsfreiheiten haben und nach verbindlichen und stabilen Orientierungen für ihr Handeln suchen. Das Nicht-Wählen-Können sowie die Überforderung können zu Zweifel und Unsicherheit sowie zur Flucht vor Komplexität und Differenzierung in Richtung Intoleranz, Fundamentalismus und ←20 | 21→Ideologien und Vereinfachungen führen (vgl. Ferchhoff 2011, S. 86f.). So liegen Chancen und Grenzen von Globalisierung und Individualisierung eng beieinander, je nach soziokulturellem Milieu (vgl. Ferchhoff 2011, S. 88).

In diesem Kontext ist die Zunahme der Pluralität kindlicher und jugendlicher Lebenswelten anzusiedeln, infolgedessen sich durch den gesellschaftlichen Wandel in den Bereichen Familie, Beruf und Medien die Rahmenbedingungen, unter denen Kinder und Jugendliche in Deutschland heute aufwachsen, stark verändert haben5 (vgl. Robert Koch-Institut 2004, S. 24f.; Oswald 2006, S. 23). Der Wandel der Lebensformen und des Geschlechterverhältnisses (vgl. Zander 2004, S. 103) und der familiale Strukturwandel (vgl. Meyer 2004, S. 58ff; Beck-Gernsheim 2012, S. 116) führen u.a. zu der veränderten Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen (vgl. Alt 2004, S. 75ff.). Im wissenschaftlichen Diskurs werden Begriffe wie „Medienkindheit“ (Oswald 2006, S. 64f.), „multikulturelle Kindheit“ (Oswald 2006, S. 75) oder auch „verinselte Kindheit“ (Oswald 2006, S. 105) aufgegriffen.

Die Globalisierungs-, Pluralisierungs-, Differenzierungs- und Individualisierungsprozesse sowie die Merkmale der Unübersichtlichkeit machen sich auch innerhalb der Lebenssituation der Jugendlichen6 bemerkbar. Sie bergen Risiken, aber auch Chancen (vgl. Ferchhoff 2011, S. 88f.). Die postindustrielle Gesellschaft als Erlebnis-, Wissens-, Multioptionsgesellschaft (Ferchhoff 2011, S. 71), Selbstgestaltungsgesellschaft (Ferchhoff 2011, S. 330) und globale Informations- und Mediengesellschaft (Ferchhoff 2011, S. 413) offenbaren Unübersichtlichkeit und Zukunftsungewissheit (vgl. Ferchhoff 2011, S. 72). Jugendliche müssen ihre Biographien mehr denn je jenseits von traditionellen Herkunftsmilieubindungen, verbindlichen Orientierungsmustern und normativen Selbstverständlichkeiten gestalten (vgl. Ferchhoff 2011, S. 330). Die eigene Lebensführung wird thematisiert, da heutzutage Lebensform und -planung nicht mehr wie früher feststehen, ←21 | 22→sondern wählbar, beeinflussbar und selbstbestimmt sind. Diese Zunahme an Wahlmöglichkeiten bedeutet zum einen Selbstverwirklichung und Freiheit, zum anderen Belastung und Bedrohung (vgl. Ferchhoff 2011, S. 85).

Die Verlaufsformen der Jugendentwicklung sind kontingent (vgl. Ferchhoff 2011, S. 104) und es gilt Ambivalenzen, Paradoxien und Ambiguitäten auszubalancieren. Die Anforderungen der Leistungsgesellschaft können die Suche nach (vermeintlicher) Sicherheit und Orientierung zur Folge haben. Die Frage ist, welcher Zusammenhang zwischen der Optionenvielfalt und der Suche nach kohärenten Weltbildern und der Entwicklung von Fundamentalismus besteht (vgl. Ferchhoff 2011, S. 331f.).

„Schematische Lebenslauf-Zuordnungen“ nehmen zugunsten eines „subjektiv verantworteten Experimentierraums“ ab. Eine Optionenvielfalt prägt die Jugendlichen (vgl. Baacke 2007, S. 40f., 274; Ferchhoff 2011, S. 89). Offenheit und gleichzeitig Unsicherheit und Ungewissheit prägen die Sozialisations- und Qualifizierungsprozesse der Jugendlichen – ein „nüchterner Pragmatismus“ (vgl. Scherr 2009, S. 213f.) bzw. eine „pragmatische Haltung gegenüber den Herausforderungen […] des Alltags“ (Albert et al. 2015, S. 13) ist dabei vorherrschend. Jugendliche im Alter von 14 und 17 Jahren suchen Halt und Orientierung und ein ‚Aufgehobensein‘ in einer zunehmend unübersichtlichen, globalisierten Welt. ‚Mainstream‘ gilt bei der Mehrheit der Jugendlichen nicht mehr als Schimpfwort; er ist ein Schlüsselbegriff in der Selbstbeschreibung. In ihm drückt sich eine Sehnsucht nach Normalität, der Wunsch nach Sicherheit, auch in sozialen Beziehungen, aus. Dem entspricht eine generelle Anpassungsbereitschaft der Mehrheit der Jugendlichen und ihre Akzeptanz von Leistungsnormen und sozialen Werten (vgl. Calmbach et al. 2016, S. 475; Albert et al. 2015, S. 13). Werte wie die Akzeptanz der Vielfalt der Menschen sind ihnen wichtig (vgl. Calmbach et al. 2016, S. 469; Albert et al. 2015, S. 13). Dies gewinnt in einer pluralen Gesellschaft, in welcher verschiedene gesellschaftliche Gruppen leben, an Bedeutung (vgl. Albert et al. 2015, S. 183), gerade in Zeiten, in denen Fragen von Zuwanderungen und Interkulturalität hochaktuell sind. Zudem stehen sie vor der Aufgabe, in einer sich wandelnden und ausdifferenzierten Gesellschaft mit deren Individualisierungsprozessen und ihrer Vielfalt an Handlungsanforderungen und -alternativen und ohne eindeutige Vorgaben eine stabile und eigenständige Persönlichkeit auszubilden (vgl. Albert et al. 2015, S. 377). Dabei zeigen sie einen Optimismus und eine überwiegend positive persönliche Grundhaltung trotz der schwierigen globalen Lage (vgl. Albert et al. 2015, S. 13). Angesichts der Optionenvielfalt und eines Anspruchs der Flexibilität leben viele Jugendliche gegenwartsbezogen, um auf ungewisse Lebenssituationen reagieren zu können – die Zukunft ist ungewiss, der Augenblick zählt (vgl. Ferchhoff 2011, S. 363).

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Vor diesem Hintergrund gewinnt das didaktische Prinzip der Perspektivenvielfalt seine gesellschaftliche und pädagogische Relevanz, aber auch durch die Bezüge zu den „epochaltypischen Schlüsselproblemen“ (Klafki 2007, S. 56ff.), deren Bedeutung nichts hinsichtlich ihrer Aktualität verloren haben und welche Bildung im Sinne einer Frage- und Problemhaltung akzentuieren. Zu diesen Problemen zählen erstens die Friedensfrage mit dem aktuellen Bezug zum Terrorismus, zweitens die Umweltfrage mit dem Bezug zum Klimawandel, drittens die gesellschaftlich produzierte Ungleichheit u.a. zwischen sozialen Schichten und zwischen Männern und Frauen, viertens die Möglichkeiten und Gefahren neuer, digitaler Medien sowie fünftens die zwischenmenschlichen Beziehungen in dem Spannungsfeld Individuum und Gesellschaft mit dem aktuellen Bezug zu Sex und Gender. Hinzu kommen Herausforderungen, die sich aus den Bereichen Interkulturalität (z.B. Földes 2007; Yousefi/Braun 2011) bzw. Transkulturalität (z.B. Welsch 1994; Langenohl/Poole/Weinberg 2015), Migration (z.B. Kolb 2004), Gender Studies (z.B. Connell 2013; Fleig 2014) und des demografischen Wandels (z.B. Frevel 2004; Antz et al. 2009) mit den Prozessen Alterung und Schrumpfung der Bevölkerung (z.B. Hullen 2004) und den damit einhergehenden Verschiebungen im Generationenverhältnis (z.B. Zander 2004) ergeben.

Die „kulturelle, […] ökonomische […] und politische […] Internationalisierung, Europäisierung und Globalisierung“ (Sander 2005a, S. 25) sowie die „Unübersichtlichkeit [post]moderner Gesellschaften [mit ihrer] Pluralität, religiösen Toleranz und weltanschaulichen Offenheit“ (Sander 2005a, S. 26) lassen Perspektivenvielfalt und Perspektivenwechsel in der Auseinandersetzung mit der heutigen Welt als unerlässlich erscheinen. Folglich wird es zunehmend wichtiger, die Vielfalt der Realität auch im Zusammenhang des Lehrens und Lernens in der Schule zu thematisieren. In den deutschsprachigen schulpädagogischen und fachdidaktischen Diskursen der letzten Jahre wird dem Thema Multiperspektivität zunehmend Beachtung geschenkt (vgl. z.B. Besand 2005, S. 189). So zählt das Prinzip der Perspektivenvielfalt „zu den modernen, interdisziplinär beachteten Prinzipien der Didaktik“ (Duncker/Sander/Surkamp 2005, S. 7). Es ist als Bildungsprinzip zu verstehen und stellt mehr als einen methodischen Zugang dar.7

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Dieses allgemeindidaktische Prinzip verdeutlicht, dass es notwendig ist, einen Gegenstand oder Sachverhalt von verschiedenen Seiten zu betrachten, um ihn adäquat verstehen zu können. Die Suche nach neuen Perspektiven wird dabei zu einem offenen Prozess. Zwischen teilweise heterogenen oder gegensätzlichen Aspekten einer Sache gilt es, Übergänge herzustellen. Hinsichtlich des Prinzips der Perspektivenvielfalt zeigt sich ein philosophischer Gedanke: Erkenntnis ist ein „konstruktiver Akt des Suchens, Findens und Herstellens von Bedeutungszusammenhängen“ (Duncker/Sander/Surkamp 2005, S. 7). Dies bietet die Chance, das Lernen zu einer fruchtbaren Auseinandersetzung mit der Realität zu machen. Eine der wichtigen Aufgaben von Schule und Unterricht ist, diese Handlung anzustoßen, damit Schule und Unterricht für Kinder und Jugendliche zu einem „reizvollen Feld der Erprobung und Erkundung des eigenen Vorstellens und Erkennens der Welt werden“ (Duncker/Sander/Surkamp 2005, S. 7). Das Erkennen der Vielfalt, die Reflexion eigener und fremder Denk- und Handlungsmuster mithilfe von Perspektivenwechsel8 und Empathie spielen dabei eine Rolle (vgl. Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung 2013).

Das Prinzip der Perspektivenvielfalt schließt zudem an die politische Philosophie Karl Poppers an. Er stellt in seinem Hauptwerk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ (1958) u.a. mit Bezug auf Heraklit, Platon, Hegel und Marx den Zusammenhang von Demokratie und politischer Offenheit her. Offene Gesellschaften zeichneten sich durch Pluralität, Meinungsfreiheit und Diskurs- und Diskussionsfähigkeit aus: Eine offene Gesellschaft sei durch eine „Herrschaft der Vernunft, […] Gerechtigkeit, Freiheit [und] Gleichheit“ (Popper 1958/2003, S. 326) charakterisiert. Enge, dogmatische und fundamentalistische Standpunkte bärgen eine Gefahr.

Die Didaktik und die Pädagogik tun gut daran, diesem Sachverhalt heutzutage Rechnung zu tragen, d.h. sie müssen der Pluralität von Sinndeutungen und dem weiten Spektrum von Kontingenzerfahrungen und Risiken, die Heranwachsende erfahren, gerecht werden. Eine Weltanschauung als die einzig richtige und mögliche darzustellen, ist in der heutigen Gesellschaft nicht mehr möglich. In der Schule und im Unterricht müssen vielmehr das „argumentative ←24 | 25→Spiel mit Perspektiven und Positionen geübt [sowie die] Uneindeutigkeit und Relativität von Standpunkten“ (Duncker 2005, S. 13) deutlich gemacht werden. Eine Pädagogik in der heutigen, offenen Gesellschaft ist dafür verantwortlich, dass eine Kultur der Vielfalt entsteht und keine „normierte[…] Einfalt“ (Duncker 2005, S. 14).

Somit hat das Prinzip der Perspektivenvielfalt nicht ‚nur‘ die Entfaltung der Anschauungskraft als Ziel, sondern auch ganz zentral ein bildungstheoretisches Anliegen, in dessen Rahmen die Pluralität kindlicher und jugendlicher Lebenswelten didaktisch behandelt werden muss (vgl. Duncker/Sander/Surkamp 2005, S. 8).

Doch wie sieht die konkrete Unterrichtsgestaltung aus? Wie gehen Lehrende mit den soeben formulierten Anforderungen an Unterricht und Herausforderungen im Unterricht um? Wird Unterricht so gestaltet bzw. werden Unterrichtsmaterial und Unterrichtsmedien so genutzt, dass sie die Perspektivenvielfalt der heutigen Welt widerspiegeln? Oder geben sie den Schüler*innen eine Welt der Eindeutigkeit und der festen Ordnung vor? Diese Fragen zu beantworten ist Ziel der vorliegenden Arbeit.

Zielsetzung und Fragestellungen der Arbeit

Das Prinzip der Perspektivenvielfalt ist theoretisch und konzeptionell vielfältig begründet, auch wenn eine interdisziplinäre Zusammenarbeit bisher fehlt. Zur Perspektivenvielfalt existieren zahlreiche theoretische und konzeptionelle Schriften der Allgemeinen Didaktik und einzelner Fachdidaktiken sowie Unterrichtsbeispiele und Curricula. Es fehlen bislang jedoch empirische Untersuchungen im Bereich Perspektivenvielfalt. Diese sind notwendig, da es nicht ausreicht, ein didaktisches Prinzip nur theoretisch zu begründen und Unterrichtsmodelle auszuarbeiten. Seine Bedeutung für die Lehrkräfte und die Umsetzung in der Unterrichtsgestaltung müssen untersucht werden. Einen Beitrag zur Schließung dieser empirischen Lücke sowie einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Theorie der Perspektivenvielfalt zu leisten, soll mit dieser Arbeit vollzogen werden. Zentrales Anliegen dieser Arbeit ist demzufolge die theoretische und empirische Analyse der Bedeutung des didaktischen Prinzips der Perspektivenvielfalt im Unterricht am Beispiel des Faches Deutsch. Ziel ist u.a. die Entwicklung eines forschungsmethodischen Ansatzes zur empirischen Analyse von Perspektivenvielfalt exemplifiziert für den Literaturunterricht des Faches Deutsch.

Es ergibt sich folgende übergeordnete Forschungsfrage: Wie wird das didaktische Prinzip der Perspektivenvielfalt im Literaturunterricht des Faches Deutsch in der gymnasialen neunten Jahrgangsstufe umgesetzt? Folgende ←25 | 26→Teilforschungsfragen sind zu klären. Forschungsfrage 1: Welche didaktischen Schemata der Anregung zur Perspektivenvielfalt sind im beobachteten Unterricht vorhanden? Forschungsfrage 1a: Welche Impulse (Fragen, Aufgabenstellungen) geben Lehrkräfte, um das gewählte Thema aus verschiedenen Perspektiven zu behandeln? Forschungsfrage 1b: Ist das Thema des Unterrichts geeignet, die Sache aus unterschiedlichen Perspektiven zu bearbeiten? (Anregungspotenzial des Themas) Forschungsfrage 1c: Wie setzt die Lehrkraft das Potenzial des Themas im Unterricht um? Forschungsfrage 1d: Sind die in den Unterricht einbezogenen Lehrmaterialien geeignet, ein Thema aus unterschiedlichen Perspektiven zu bearbeiten? (Anregungspotenzial des Materials) Forschungsfrage 1e: Wie setzt die Lehrkraft das Potenzial des Materials im Unterricht um? Forschungsfrage 1f: Gelingt es dem Unterricht insgesamt zu irritieren und ein Thema unterschiedlichen Betrachtungsweisen auszusetzen? Forschungsfrage 2: Welche Bedeutung, welchen Stellenwert nimmt das didaktische Prinzip der Perspektivenvielfalt für die untersuchten Lehrkräfte ein, d.h. welche subjektiven Vorstellungen existieren diesbezüglich? Forschungsfrage 2a: Welches Wissen bezüglich des didaktischen Prinzips besitzen die befragten Lehrkräfte? Forschungsfrage 2b: Welche Einstellung/Haltung bezüglich des didaktischen Prinzips besitzen die befragten Lehrkräfte? Forschungsfrage 3: Ist eine Differenz zwischen theoretischem Anspruch, dargelegt in den Leitfadeninterviews, und beobachteter Unterrichtsrealität, dokumentiert in den Beobachtungsprotokollen, festzustellen?

Forschungsmethodisches Vorgehen

Bei der hier vorliegenden Arbeit handelt es sich forschungsmethodisch um eine qualitativ-empirische Studie unter der Perspektive eines ethnographischen Zugangs in der didaktisch orientierten Unterrichtsforschung. Die Datenauswertung des qualitativen Materials, der Unterrichtsbeobachtungen und Leitfadeninterviews verfolgt in dieser Arbeit zwei Stränge qualitativ-empirischer Forschung: Zunächst erfolgt ein inhaltsanalytischer Querschnitt durch das gesamte Material; mittels der Dichten Beschreibung im Sinne einer Fallanalyse kommt das Exemplarische in den Blick. Die Untersuchung ist im gymnasialen Deutschunterricht der neunten Jahrgangsstufe angelegt und stellt einen beschreibend-verstehend-erklärenden Zugang dar. Ziel in dem nicht-experimentellen Forschungsdesign ist das Beschreiben, Interpretieren und Verstehen von Zusammenhängen, die Aufstellung von Klassifikationen und Typen sowie die Generierung von Hypothesen. Das untersuchte Geschehen soll gleichsam von innen heraus verstanden werden. Die Fallstudie geht explorativ-deskriptiv vor, ist als Feldforschung angelegt und trianguliert die rekonstruktiven ←26 | 27→Erhebungsmethoden der teilnehmenden Beobachtung und des Leitfadeninterviews. Die erhobenen Daten werden mittels der inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse nach Kuckartz (2016) sowie der ethnographischen Methode der Dichten Beschreibung und der ethnographischen Fallanalyse vergleichend und nach dem interpretativen Paradigma ausgewertet. Als methodologischer Rahmen wird die hypothesen- und theoriegenerierende Grounded Theory nach Glaser/Strauss (1967/2010) ausgewählt.

Aufbau der Arbeit

In der Einleitung wird der Kontext für die theoretische und empirische Untersuchung des didaktischen Prinzips der Perspektivenvielfalt aufgefächert, um die Relevanz der Fragestellung begreiflich zu machen und um das Ausgangsproblem zu schildern und einzuordnen. Es werden die Zielsetzung und die Fragestellungen der Arbeit sowie das forschungsmethodische Vorgehen vorgestellt.

Kapitel I stellt die theoretischen Begründungszusammenhänge des Prinzips der Perspektivenvielfalt her: Zunächst werden in Kapitel 1.1 die Vorannahmen zu einem ‚bildenden Unterricht‘ näher erläutert, d.h. der Unterrichtsbegriff, der dieser Arbeit zugrunde liegt. Es existiert eine Vielzahl an Unterrichtsdefinitionen, die zur Einordnung der theoretischen Untersuchung und der empirischen Studie analysiert werden und im Hinblick auf das didaktische Prinzip der Perspektivenvielfalt geschärft werden.

Kapitel 1.2 greift die begriffliche Annäherung an den Ausdruck ‚didaktische Prinzipien‘ und den Terminus ‚Perspektive‘ auf. In einem nächsten Schritt wird die Tradition einer erziehungswissenschaftlichen Begründung von Mehrperspektivität dargelegt (Kapitel 1.3). Hier werden das Konzept des Mehrperspektivischen Unterrichts (MPU) im Sachkundeunterricht expliziert sowie der Begriff der Perspektivenvielfalt in der Allgemeinen Didaktik, d.h. wie er dort aufgenommen und interpretiert wird, analysiert.

In Kapitel 1.4 erfolgt die Vorstellung der Rolle von Multiperspektivität in ausgewählten Fachdidaktiken. Die Frage, die sich stellt, ist, wie das didaktische Prinzip der Perspektivenvielfalt, welches ja interdisziplinär und fächerübergreifend gelten soll, in den einzelnen Fachdidaktiken rezipiert wird. Exemplarisch werden die Fachdidaktik Geschichte, Politische Bildung, Religion, Geographie, Sport und die Didaktik des Fremdsprachenunterrichts beleuchtet.

In Kapitel 1.5 werden bildungs- und sozialwissenschaftliche Argumentationen für Perspektivenvielfalt im Unterricht vorgestellt, um die Relevanz davon aufzuzeigen. Die bildungstheoretische Bedeutung von Perspektivenvielfalt sticht hervor, aber auch erkenntnistheoretische Aspekte, entwicklungs- und ←27 | 28→kognitionspsychologische Argumentationen, soziokulturelle sowie unterrichtstheoretische Bedeutungen spielen eine große Rolle.

In Kapitel II wird die Frage nach der Bedeutung des Begriffs der Perspektivenvielfalt in der Fachdidaktik Deutsch gestellt. Die Untersuchung in dem Fach Deutsch, respektive im Literaturunterricht, wird begründet (Kapitel 2.1). Zudem findet eine Analyse von Darstellungen des Begriffs der Perspektivenvielfalt in der Fachdidaktik Deutsch statt (Kapitel 2.2). In Kapitel 2.3 werden die didaktischen Dimensionen des Literaturunterrichts näher bestimmt, die als theoretische Fokussierungen für die empirische Untersuchung dienen. Die Dimension der Textauswahl, des Gesprächs im Unterricht, der Medienauswahl, der Unterrichtsmethoden und der Aufgabenstellungen stellen für die Einordnung der Untersuchung von Perspektivenvielfalt in dem Literaturunterricht des Faches Deutsch wichtige Größen dar. Kapitel 2.4 zeichnet die Begründung für die Erhebung in der neunten Jahrgangsstufe nach. Das Aufzeigen des Stands der Forschung wird mit einem Zwischenfazit abgeschlossen (Kapitel 2.5).

In Kapitel III wird das Forschungsdesign erläutert: Das Erkenntnisinteresse und die Forschungsfragen werden erklärt (Kapitel 3.1). Kapitel 3.2 behandelt die Vorgehensweise bzw. die verwendeten Forschungsmethoden. Der methodologische Rahmen sowie die Erhebungs- und Auswertungsverfahren werden präzisiert sowie das Sample der empirischen Untersuchung vorgestellt (Kapitel 3.3). Eine Zusammenfassung des Forschungsdesigns rundet es ab (Kapitel 3.4).

In Kapitel IV werden die Ergebnisse der empirischen Untersuchung, sowohl die der qualitativen Inhaltsanalyse der Leitfadeninterviews (Kapitel 4.1.1 und 4.1.2) als auch die Ergebnisse der Unterrichtsbeobachtungen (Kapitel 4.3) sowie ausgewählte Fallanalysen (Kapitel 4.4), präsentiert und ihre Interpretation vorgestellt.

In Kapitel V erfolgen die Diskussion und Interpretation der Ergebnisse im Zusammenhang mit dem Stand der Forschung (Kapitel 5.1). Schlussfolgerungen und Ausblick (Kapitel 5.2) beschließen diese Arbeit.


1 Lyotards Konzeption der Postmoderne kann nach Koller (2002, S. 95) als Theorie gegenwärtiger Gesellschaften aufgefasst werden, die die wachsende Vielfalt an Lebensstilen und Wertorientierungen erklärt. Die radikale Pluralität sowie die Differenzerfahrungen durch die zunehmende Pluralisierung können nach Koller für Bildungsprozesse potentielle Konflikte bedeuten, denn Pluralität kann zwar Erweiterung, aber auch Transformation des eigenen Welt- und Selbstverhältnisses notwendig machen.

2 Nida-Rümelin (2013, S. 40) stellt dazu fest, dass es trotz der Toleranz gegenüber unterschiedlichen Wertungen und Meinungen in einer modernen Demokratie in jeder Gesellschaft einen Kern gemeinsamer anthropologischer Werte geben muss; einen Konsens einer Art höheren Ordnung, der mit den Differenzen vereinbar ist. Nach Reichenbach (2007, S. 237) meint Relativismus hinsichtlich der Anerkennung von Heterogenität und Pluralität nicht das Hinnehmen von allem oder keine Wertsetzung, keine Beliebigkeit oder Gleichgültigkeit, sondern dass man sensibel für Zentrierungen und für egozentrische Perspektiven ist und dass man die Dinge in ihrer Relation zu anderen Gegebenheiten sieht.

3 Der Begriff der Ambivalenz (lat. Doppelwertigkeit) meint die gleichzeitige Anwesenheit entgegengesetzter Willensakte, Meinungen, Haltungen oder Gefühle in einem Subjekt. Bezogen auf Literatur bezeichnet der Begriff einmal das Schwanken von Figuren in fiktionalen Texten und zum anderen die Unsicherheit, die literarische Texte bei Lesern auslösen, beispielsweise Faszination und Ekel, die mit gewohnten Normen provokant brechen (vgl. Schweikle et al. 2010, S. 18).

4 Keupp (2012, S. 336) weist auf die „Ambivalenzen postmoderner Identität“ hin, die sich im Spannungsfeld der Enttraditionalisierung der Lebensformen mit den Möglichkeiten der Selbstorganisation und dem Wunsch nach Klarheit und Orientierung bewegt. Die Offenheit der Lebensführung und freie Entfaltungsmöglichkeiten stehen neuen Zwängen und Verunsicherung gegenüber.

5 Fölling-Albers (1992, 1997) prägte den Begriff der ‚veränderten Kindheit‘.

Details

Seiten
652
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631798188
ISBN (ePUB)
9783631798195
ISBN (MOBI)
9783631798201
ISBN (Hardcover)
9783631794395
DOI
10.3726/b15995
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (August)
Schlagworte
Multiperspektivität Bildung Fallstudie Perspektivenwechsel diskursiver Unterricht Schulpädagogik Allgemeine Didaktik Literaturdidaktik Deutschdidaktik Unterrichtsforschung
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 652 S., 5 s/w Abb., 35 Tab.

Biographische Angaben

Katja Siepmann (Autor:in)

Katja Siepmann studierte Lehramt an Gymnasien an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Sie war als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Schulpädagogik mit dem Schwerpunkt Pädagogik des Primar- und Sekundarbereichs der Universität Gießen tätig, wo auch ihre Promotion erfolgte.

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Titel: Perspektivenvielfalt im Literaturunterricht
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