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Diachrone Migrationslinguistik: Mehrsprachigkeit in historischen Sprachkontaktsituationen

Akten des XXXV. Romanistentages in Zürich (08. bis 12. Oktober 2017)

von Roger Schöntag (Band-Herausgeber:in) Stephanie Massicot (Band-Herausgeber:in)
©2019 Sammelband 418 Seiten

Zusammenfassung

Der Band vereinigt Beiträge der Sektion Diachrone Migrationslinguistik: Mehrsprachigkeit in historischen Sprachkontaktsituationen des XXXV. Romanistentages zum Thema Dynamik, Begegnung, Migration. Der Fokus liegt dabei auf der Herausarbeitung von pluridimensionalen Sprachkontaktsituationen im Migrationskontext. Die bearbeiteten Zeiträume reichen dabei vom Frühmittelalter bis in die Gegenwart. Insbesondere historisch weiter zurückliegende migrationsbedingte Sprachkontaktszenarien bedürfen zu ihrer adäquaten Erfassung einer spezifischen Herangehensweise. Kernanliegen des Buches ist es deshalb, die prinzipielle Breite vielschichtiger Migrations- und Kontaktszenarien in allen Epochen der Geschichte darzustellen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Title Page
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • Roger Schöntag/Stephanie Massicot: Einleitung
  • Roger Schöntag: Diachrone Migrationslinguistik: Eine Standortbestimmung
  • Roger Schöntag: Vom Altnordischen zum Altfranzösischen: Der Sprachwechsel als Teil einer Akkulturationspolitik normannischer Expansion in Europa?
  • Michael Percillier: Dynamic modelling of medieval language contact
  • Johannes Kramer: Die Abwanderung eines Teils der Bourgeoisie Flanderns in den Norden und die Französisierung der verbliebenen Intellektuellen
  • Anja Mitschke: Die tradierte Kommunikationsgemeinschaft um den Mont Blanc
  • Linda Gennies: Frühneuzeitliche Fremdsprachenlehrwerke und ihr Potential für die Diachrone Migrationslinguistik
  • Thomas Scharinger: Migrationslinguistische Überlegungen zur France italienne des 17. Jahrhunderts im Spiegel zeitgenössischer Memoiren und Reiseberichte
  • Corina Petersilka: Die Familie Meynier als Fallbeispiel hugenottischer Integration in Erlangen
  • Stephanie Massicot: Gallizismen in Heines Spätwerk
  • Gualtiero Boaglio: Sprachideologie und Sprachkonflikte im istrianischen Landtag (1880–1910)
  • Jessica Stefanie Barzen: Samaná English und Samaná-Kreyòl – die migrationsbedingte Entstehungsgeschichte zweier Diasporavarietäten auf der Halbinsel Samaná (Dominikanische Republik)1
  • Sabine Heinemann: Italienisch und Dialekt im Migrationskontext – zum linguistischen Status des italo-americano bzw. italo-australiano
  • Sara Ingrosso: Da Gastarbeiter a expat: Micro-diacronia linguistica nello spazio urbano di Monaco di Baviera
  • Index

←8 | 9→

Roger Schöntag/Stephanie Massicot
(Erlangen)

Einleitung

Die im Rahmen des XXXV. Romanistentages (Zürich 2017) entstandene Publikation vereint Beiträge zur Diachronen Migrationslinguistik, die sich mit historischen Sprachkontaktsituationen sowie der damit zusammenhängenden Migration und Mehrsprachigkeit verschiedenster Epochen auseinandersetzen. Dabei reicht der präsentierte Betrachtungszeitraum vom frühen Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert, so dass auch die Untersuchungsmethoden entsprechend der Verfügbarkeit von Quellenmaterial variieren. Die einzelnen Kontaktszenarien sind sowohl auf der Mikro- als auch auf der Makroebene angesiedelt und umfassen pluridimensionale Dynamiken unter der Beteiligung verschiedener romanischer Sprachen und Varietäten untereinander und/oder mit benachbarten germanischen und slawischen Idiomen.

Das Ziel des vorliegenden Sammelbandes ist die Schärfung des Bewusstseins für die Vielfältigkeit und Vielschichtigkeit von plurilingualen Sprachkontaktsituationen, inklusive zugehöriger Varietäten, unter Einbeziehung des Aspektes der Migration und der dadurch ausgelösten Dynamiken sowie für die spezifischen Anforderungen in Bezug auf die Untersuchung einer historischen Konstellation.

Im Folgenden sollen nun die hier versammelten Beiträge für einen ersten Überblick in einer Synthese, weitgehend der Chronologie der jeweiligen historischen Thematik folgend, einzeln vorgestellt werden:

In seinem Beitrag zum Sprachwechsel der Normannen geht Roger Schöntag der Fragestellung nach, welche Ursachen für die relativ rasche sprachliche Assimilation der normannischen Eroberer, die vom Altnordischen zum Altfranzösischen wechselten, ausgemacht werden können. Einer aktuellen These aus der Geschichtswissenschaft folgend, gemäß derer ein Grundzug der Normanitas die Anpassungsfähigkeit ist, die auch gezielt zur Herrschaftskonsolidierung eingesetzt wird, wird in vorliegendem Artikel der Bereitschaft zur Aufgabe der eigenen Sprache unter diesem Aspekt einer möglichen sprachpolitischen Haltung nachgegangen. Um dem Phänomen auf den Grund zu gehen, werden toponomastische, anthroponomastische und archäologische Erkenntnisse herangezogen sowie zeitgenössische Quellen ausgewertet. Bei einer genaueren Betrachtung der einzelnen Faktoren offenbart sich eine vielschichtige migrationsbedingte Sprachkontaktsituation mit unterschiedlichen Sprachen und ←9 | 10→Varietäten, insbesondere wenn neben der Mündlichkeit auch die schriftsprachlichen Verhältnisse mitberücksichtigt werden. Dem Prozess und Resultat des Sprachwechsels ist dabei eine gewisse Pluridimensionalität immanent, indem er eine Vielzahl regionale und schichtenspezifisch unterschiedlicher Vorgänge vereinigt.

Chronologisch und thematisch schließt hier der Beitrag von Michael Percillier an, der die Sprachkontaktsituation seit den Zeiten der normannischen Vorherrschaft in England betrachtet und sowohl die Besonderheiten des dort entstehenden Anglonormannischen als auch den Einfluss des Altfranzösischen auf das Mittelenglische untersucht (1066 bis ca. 1500). Methodische Grundlage stellt dabei das ursprünglich für (post)koloniale Sprachkontakte des Englischen entwickelte Dynamic Model dar, welches in vorliegender Analyse auf die mittelalterliche Konstellation übertragen wird. Exemplarisch wird die Anwendung der dem Modell zugrundeliegenden Methode für die Präfixe a-, en-, es- dargestellt. Dabei lässt sich zeigen, wie ab einem bestimmten Zeitpunkt das prestigereiche kontinentale Französisch mit seiner Ausrichtung auf die Varietät der Île-de-France das Anglonormannische beeinflusst bzw. ganz allgemein das Französische als eine high variety das Mittelenglische. Der hier dargestellte funktionale Selektionsprozess bezüglich der Präfixe in Kontaktszenarien veranschaulicht mögliche Interferenzmechanismen zwischen Varietäten und Sprachen vor einem migrationslinguistischen Hintergrund.

In seinem Artikel zur Sprachenverteilung in der historischen Region Flandern liefert Johannes Kramer zunächst einen Abriss zur Geschichte seit der römischen Eroberung und zeigt detailliert die Genese der romanisch-germanischen Sprachgrenze auf sowie darauf folgend im Wechselspiel der politischen Mächte (Frankreich, Burgund, Heiliges Römisches Reich deutscher Nation) die weitere Entwicklung dieser Sprachkontaktzone. Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt dabei auf den politischen und kulturellen Bedingungen, aus denen sich im 14.-17. Jh. das Verhältnis von Französisch, Niederländisch und Deutsch ergab, im Mündlichen wie im Schriftlichen. Dabei wird deutlich, wie es vor allem zwischen Französisch und Niederländisch (bzw. Flämisch) von einem zunächst relativ gleichberechtigten Prestigestatus im Mittelalter zu einer Verschiebung in Gebrauch und jeweiligem Ansehen kam, abhängig von den neu entstehenden politischen Gebilden in dieser Region (Generalstaaten, habsburgische Niederlande, spanische Niederlande, später dann Belgien und Niederlande) sowie der damit verbundenen wirtschaftlichen und religiösen Entwicklung. In diese Zeit fallen auch der Ausbauprozess dieser beiden Sprachen und ihre Emanzipation vom Lateinischen als dominante Schriftsprache. Die zahlreichen politischen Auseinandersetzungen und Umbildungen in dieser Region hatten auch oft ←10 | 11→migratorische Auswirkungen, die sich wiederum auf die Sprache niederschlugen.

Einer anderen grenzüberschreitenden Sprachkontaktzone widmet sich Anja Mitschke in ihrer Untersuchung zum Frankoprovenzalischen (arpitan) rund um den Mont Blanc. Entgegen der häufigen Herausstellung der Berge, die in diesem Teil der Alpen besonders hoch sind, als trennendes Element, wird in diesem Beitrag gezeigt, dass im Laufe der Geschichte (9.-21. Jh.) die Paßübergänge einen regen Austausch bedingen und einen kulturellen Zusammenhalt ermöglichen, der zu einem identitätsstiftenden Merkmal wird. Neben den frankoprovenzalischen Varietäten treffen hier am heutigen Länderdreieck Italien, Frankreich, Schweiz auch die beiden Dachsprachen Französisch und Italienisch aufeinander. In diesem Kulturraum, der lange Zeit auch ein Herrschaftsraum war (Savoyen), lassen sich über die Jahrhunderte unterschiedliche Arten von Migration erfassen, vor allem saisonaler bzw. temporärer Art. Diese reicht von Arbeitsmobilität im Sinne von Personenbegleitung oder Säumen (marronage, viérie) bzw. Handel im Allgemeinen über Transhumanz, Wanderarbeit sowie Reisen aufgrund administrativer Einheiten (Lehen, Diözesen) bis hin zum modernen Tourismus. Dabei ist zusätzlich zu unterscheiden zwischen überregionalem Transit und lokalem Austausch.

Linda Gennies widmet sich mit frühneuzeitlichen Sprachlehrbüchern einem in der bisherigen (historischen) migrationslinguistischen Forschung kaum beachteten, aber vielversprechenden Quellentypus. Diese Lehrbücher werden von ihr – anhand ausgewählter Beispiele – hinsichtlich Sprecherbewegungen und sprachlichen Wissensdynamiken sowohl auf der Makro- und Meso- als auch auf der Mikroebene auf den Prüfstand gestellt. Hierfür nimmt sie dieses tendenziell präskriptive Schriftgut nicht nur hinsichtlich ihres Entstehungszusammenhangs, ihrer Verfasser- und Leserschaft, sondern auch im Hinblick auf die Publikationsorte der Bücher in den Blick und zeigt auf dieser Grundlage, dass eine systematische Bearbeitung jener Werke in der diachronen Migrationslinguistik als unzweifelhaftes Desideratum auszumachen ist.

Der Beitrag von Thomas Scharinger untersucht die Vitalität der France italienne im 17. Jh. anhand von zeitgenössischen Memoiren und Reiseberichten. Seit dem 16. Jh. ist eine verstärkte Einwanderung aus Italien in den französischsprachigen Raum festzustellen, im Zuge derer sich bestimmte Zentren herausbilden (Paris, Genf, Lyon), wo u.a. zu jener Zeit die prestigereiche Kultursprache Italienisch weiter gepflegt wird, sowohl von den Migranten, als auch von der französischen Bildungsschicht. Dieses Phänomen setzt sich bis ins frühe 17. Jh. fort, wobei festzuhalten ist, daß die Gemeinschaft der Immigranten zwar durchaus Vernetzungen, aber keine geschlossenen Siedlungsgebiete aufweist. Prominente ←11 | 12→Vertreter dieser sogenannten France italienne sind u.a. die Königin Marie de Médicis (1575–1642) und Kardinal Jules Mazarin (1602–1661), die aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung samt ihrer Entourage einen nicht zu unterschätzenden Einfluss ausübten. Es sind aber auch insgesamt im 17. Jh. immer noch ca. 20% aller eingebürgerten Ausländer in Frankreich Italiener, darunter auffallend viele Kleriker, Händler, Bankiers und Künstler. Wie die Auswertungen der benutzten Primärquellen zeigt, wird das Italienische nicht nur weiterhin von den Migranten benutzt, deren Erwerb von Französischkompetenzen dadurch nicht unerheblich verzögert wird, sondern auch von den französischen Adligen und z.T. Bürgern, was nicht zuletzt auf die Präsenz eines théâtre italien und einer église italienne zurückzuführen ist, Institutionen, die das Italienische in Frankreich lebendig halten und verbreiten.

In ihrer Forschung zu den emigrierten Hugenotten und ihrer Sprache widmet sich Corina Petersilka mit der Erlanger Familie Meynier einem regionalen Fallbeispiel, das sie vom 18. bis zum 19. Jahrhundert skizziert. Ihr Beitrag ist insofern als innovativ zu klassifizieren, als das bisher vornehmlich das handwerkliche Geschick der Hugenotten in Erlangen untersucht wurde (Stichwort: Handschuhmacher, Strumpfwirker etc.), die Meyniers allerdings als Universitätslektoren, Kantoren, Maler und Lehrer der Bürgerschicht angehörten und mit ihren Publikationen einen wertvollen Beitrag zum regionalen und überregionalen Geistesleben leisteten. Betroffen waren in ihren Veröffentlichungen zunächst der akademische Sprach- und Literaturunterricht des Französischen, in der jüngeren Generation auch die Historiographie und Naturkunde, um schließlich in einen pädagogischen und künstlerischen Bereich zu münden, bei dem die französische Sprache keine tragende Rolle mehr spielte. Dieses Faktum deutet auf den generellen Prestigeverlust des Französischen in der Erlanger Kolonie hin und zeigt zugleich exemplarisch die enge Verwobenheit des Wirkens der hugenottischen Familien mit der Erlanger Geschichte.

Stephanie Massicot beschäftigt sich mit den sprachlichen Interferenzen und der Sprachreflexion des deutschen Dichters Heinrich Heine, der von 1831 bis zu seinem Tod im Jahr 1856 in Frankreich lebte. Der Beitrag befasst sich folglich mit einer Sprachkontaktsituation auf Mikroebene und fragt dabei nach der Sprachloyalität bzw. etwaigen Attritionsprozessen im Werk des Dichters. Die Autorin zeigt auf, dass die migrationsbedingte steigende Intensität der Sprachkontaktsituation zu einer vermehrten Aufnahme von Gallizismen im Spätwerk des Dichters führt, wobei dies nicht nur generell gebräuchliches französisches Lehngut, sondern auch das Einstreuen von Lexemen, die im allgemeinen Sprachgebrauch weniger frequent waren, betrifft. Heine kommt als ←12 | 13→viel rezipierter Autor seiner Zeit, der sich selbst als interkultureller Mittler sah, eine Sonderrolle in der französisch-deutschen Sprachkontaktsituation zu, was ihn von einem „normalen“ Migranten abhebt und zu einem wichtigen Baustein in diesem Sprach- und Kulturtransferprozess macht.

Gualtiero Boaglio setzt sich mit den Diskussionen zwischen italienischen und slawischen Abgeordneten im istrianischen Landtag zum Thema der Verhandlungssprache auseinander, die es zur Zeit des Habsburgerreichs in den Jahren 1880 bis 1910 gab. Er zeigt dabei auf Basis der kritischen Analyse der sogenannten Resoconti stenografici, stenographischen Mitschriften des Landtagsgeschehens, auf, dass aufgrund der ausgeprägten Migrationsbewegungen, der Multiethnizität und der Sprachkonflikte, der Sprachpolitik der Habsburger eine außerordentliche Bedeutung im Kontext der diachronen Migrationslinguistik zukommt. Wenngleich man sich nämlich bis zum Jahr 1883 ausschließlich des Italienischen bediente, wurde diese Praxis – wegen eines Gleichstellungsgesetzes aller Sprachen von 1867 (Italienisch, Deutsch, Slowenisch, Serbokroatisch) – sowohl von kroatischen wie auch von slowenischen Abgeordneten vehement kritisiert. Auf übergeordneter Ebene reflektiert dieser Sprachkonflikt die sozial und politisch motivierten Konflikte zweier ethnischer Gruppen: Auf der einen Seite die Italiener, die ihren starken Einfluss beizubehalten suchten; auf der anderen Seite die Slawen, die ihren Einflussbereich ausweiten wollten.

Einer bisher in der linguistischen Forschung noch kaum beachteten Region widmet sich der Beitrag von Jessica Stefanie Barzen. Sie untersucht die sprachlichen Verhältnisse auf der Halbinsel Samaná in der Dominikanischen Republik in Bezug auf ihre historische Genese. Auf Samaná haben sich eine Varietät des African American Vernacular English (Samaná English) und ein französischbasiertes Kreol (Samaná-Kreyòl) erhalten. Nach der durch die Haitianische Revolution (1791) ausgelösten Unabhängigkeit Haitis (1804) ergaben sich wechselnde Machtverhältnisse zwischen den ehemaligen Kolonien Saint-Domingue (frz.) und Santo-Domingo (span.). Im Zuge der Abschaffung der Sklaverei und verschiedener Neubesiedlungsmaßnahmen fanden Migrationen innerhalb Hispaniolas sowie von außen statt, so dass im 19. Jh. auf Samaná schließlich Kolonisten dreier sprachlicher Gruppen siedelten: die aus Haiti zugewanderten französischen Kreolsprecher, die aus den USA angeworbenen ehemaligen afrikanischen Sklaven, die Samaná English sprachen, sowie die spanischsprechenden Einwohner, die sich u.a. aus angeworbenen Siedlern von den Kanarischen Inseln zusammensetzten. Im Laufe des weiteren 19. und dann 20. Jh. wurden Samaná English und Samaná-Kreyòl in dem hispanophonen Staat, dessen Identität sich bis heute durch die Bewahrung des Erbes spanischer Eroberer konstituiert, ideologisch unterdrückt oder zumindest marginalisiert, so dass ←13 | 14→die Sprachen im 21. Jh. nur noch von wenigen gesprochen werden und vor der unmittelbaren Aufgabe stehen.

Der Beitrag von Sabine Heinemann ist diachron angelegt: Im Zentrum stehen das italo-americano und seine Entwicklung ab der ersten (Massen-)Emigrationswelle süditalienischer Dialektsprecher, die geprägt war von einer auf die überregionale Kommunikation abzielenden Dialektnivellierung zur Verständigung mit der anglo- und italophonen Sprechergemeinschaft. Es entstand folglich eine Art immigrant koine, die als lingua franca fungierte. Heinemann verweist dabei auf das spezifische sprachliche Kontinuum und die jeweilige Sprachkompetenz der einzelnen Generationen von Migranten. Wenngleich die entstandenen Varietäten strukturell am ehesten als interlanguage zu klassifizieren sind, herrscht eine große interindividuelle Variation, besonders deshalb, weil das italo-americano durch ein Kommunikationsbedürfnis nicht nur durch den Kontakt mit der englischsprachigen Bevölkerung bedingt wurde. Insbesondere stellt der Beitrag – in einem kontrastiven Schlaglicht mit dem entsprechenden Idiom in Australien – die Problematik der schweren Beschreibbarkeit von Idiomen wie dem italo-americano oder auch dem strukturell ähnlichen italo-australiano heraus.

In der folgenden (mikro-)diachronen Untersuchung von Sara Ingrosso zu italienischen Emigranten in München, das aufgrund seiner geographischen Nähe zu Italien und der langen Tradition kulturellen Austausches von besonderem Interesse ist, wird die These vertreten, dass sich die Sprachkompetenz der ersten Generation italienischer Migranten, die zwischen 1955 und 1973 als sogenannte Gastarbeiter kamen, sich aufgrund des unterschiedlichen sozio-historischen Hintergrunds maßgeblich von derjenigen rezenter Expats der 2010er Jahre unterscheidet. Diese Unterschiede, deren empirische Basis in zwei mündlichen Korpora gründet, liegen vor allen Dingen in den unterschiedlichen sprachlichen Voraussetzungen begründet – während die ersten Migranten vornehmlich Dialektsprecher waren, sind bei den heutigen Migranten das Standarditalienische sowie insbesondere auch das Englische dominant.

Im Folgenden schließt sich zunächst noch ein theoretischer Abriss zur Diachronen Migrationslinguistik von Roger Schöntag an, bevor dann die einzelnen Beiträge in weitgehend chronologischer Ordnung folgen.

←14 | 15→

Roger Schöntag
(Erlangen)

Diachrone Migrationslinguistik: Eine Standortbestimmung

This article serves as a theoretical introduction to the present volume while also providing an overview to current research concerning the Diachronic Migration Linguistics (DML). First of all, a general definition of migration will be given to provide the basis of further linguistic aspects. By combining different kinds of migration types and their relevance for language contact, a basic model of scenarios of linguistic assimilation and integration of migration groups can be deducted. Furthermore, a list of factors determining the migration process and their linguistic consequences can be established, such as reasons for migration (e.g. work, refuge, deportation), size and linguistic heterogenity of the migration group, duration of the migration process, type of settlement, assimilation process, etc. A model of language contact with parameters will be used to predict the plausibility of interferences between the involved languages and varieties. At least it will be possible to isolate some factors which illustrate the autonomy of the DML as a distinguished linguistic subdiscipline. It is mainly the historic dimension that demands the use of special theories and methods that allow the adequate analyzation of a particular diachronic contact constellation due to migration processes.

Die für die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes als theoretische Klammer fungierende Migrationslinguistik ist eine relativ junge Disziplin, die am Schnittpunkt anderer Teilbereiche der Sprachwissenschaft wie Soziolinguistik, Variationslinguistik, Sprachkontaktforschung und Mehrsprachigkeitsforschung sowie der historischen und soziologischen Migrationsforschung zu verorten ist.1 Man könnte sie als ein rezentes Mitglied der seit den 1970er Jahren entstehenden ←15 | 16→sogenannten Bindestrich-Disziplinen innerhalb der Linguistik apostrophieren (z.B. Psycho-Linguistik, Sozio-Linguistik, Pragma-Linguistik, etc.) und damit auch die Frage stellen, inwieweit eine solche Proliferation von Subdisziplinen sinnvoll ist. Es bleibt bei derartigen Neukonstituierungen von Fachbereichen sicherlich das Problem der Abgrenzung untereinander, da mit zunehmender Zahl an Teilwissenschaften die Überschneidungsbereiche zu anderen Abspaltungsdisziplinen wachsen und dies letztlich auf Kosten der Schärfung und Konturierung eines Faches sowie seiner Methoden beitragen kann. Dennoch erscheint es unter bestimmten Voraussetzungen nützlich, neue Perspektiven und Methoden durch die Konstituierung einer neuen Disziplin innerhalb der Linguistik bzw. an ihrer Grenze zu anderen Fachbereichen in den Fokus der Betrachtung zu rücken. In diesem Sinne kann auch der Migrationslinguistik, die den Aspekt der Mobilität von Individuen, gesellschaftlichen Gruppen und Gemeinschaften im Raum, in den Vordergrund rückt, eine Daseinsberechtigung zugesprochen werden.2 Warum nun im Rahmen der Migrationslinguistik noch einmal eine Subdisziplin einer dezidiert Diachronen Migrationslinguistik (DML) abgegrenzt werden sollte,3 soll hier im Verlaufe dieser theoretischen Einordnung erörtert werden. Zunächst einmal seien jedoch einige Charakteristika der Migrationslinguistik im Allgemeinen dargelegt, woraus sich dann spezifische Probleme einer historischen Betrachtung ergeben.

Wie bereits in einem ersten Abriss für die hier zugrundeliegende gleichnamige Sektion des Romanistentages ausgeführt (cf. Schöntag/Massicot 2017), steht die durch die Migration ausgelöste Dynamik in einer historischen Sprachkontaktsituation im Zentrum des Interesses. Dabei sei hervorgehoben, dass hier sowohl die Mehrdimensionalität des Migrationsprozesses als auch die Pluridimensionalität der damit einhergehenden Sprach- und Varietätenkontakte eine besondere Berücksichtigung finden soll.4 Migration, die in der einen oder anderen Form fester Bestandteil von Sprachkulturen und -gemeinschaften ist, verändert ←16 | 17→mehr oder weniger stark das Gefüge der sich in Gebrauch befindlichen Sprachen und Varietäten.5

Um einzelnen Prozessen des Sprachkontaktes in einer solchen Situation nachgehen zu können, ist es zunächst nötig, die verschiedenen Arten der Migration aufzuschlüsseln. Dabei kann Migration, welche grundsätzlich als Bewegung im Raum und durch die Zeit begriffen werden kann, folgendermaßen definiert werden:

Wanderung ist Bewegung durch den Raum und damit zugleich durch die Zeit, wie sie von Lebewesen mit selbständiger Bewegungsmöglichkeit aufgrund ihres Bewegungsapparates bewerkstelligt werden kann. Wanderung hat mit der Distribution dieser Lebewesen auf einem von ihnen spezifisch in Anspruch genommenen Raum zu tun, einem Territorium. Die Distribution von Gruppen und Individuen auf einem Territorium erlaubt unterschiedliche Organisationformen. Diese können beziehungslos, komplementär oder konkurrentiell sein. Der jeweilige territoriale Radius ergibt sich aus den Reproduktionserfordernissen. Er ist von der Form der Produktion abhängig. (Ehlich 2007:177)

Diese sehr allgemein gehaltene Definition von Wanderung bzw. Migration von Lebewesen hebt wichtige Aspekte dieses Phänomens hervor, die auch im engeren Blickwinkel eines sprachlichen Interesses von Bedeutung sind: Neben der Mobilität von Individuen oder Gruppen sind diese der Bezug zu einem bestimmten Territorium, die Beziehungen, die in diesem im Fokus stehenden Raum zwischen den beteiligten Gemeinschaften oder Einzelnen entstehen sowie die dort gegebenen Möglichkeiten des Überlebens.

Migrationsbewegungen erzeugen in jedem Fall Dynamiken, die nicht nur die in Bewegung befindliche (Sprach-)Gemeinschaft betreffen, sondern auch diejenige, die bereits ein bestimmtes Territorium für sich beansprucht. Aus dem Aufeinandertreffen ergeben sich neue gesellschaftliche Distributionen und eine Neu- bzw. Umverteilung der Ressourcen und Kulturgüter. Die dadurch entstehenden Sprachkontaktszenarien gehören ebenfalls zu den durch die Migration erzeugten Effekten.6

Man kann grundsätzlich verschiedene Arten von Migration unterscheiden, die auf unterschiedliche kulturelle Traditionen und Gepflogenheiten zurückgehen. Die folgende Kategorisierung, die mit gewissen Modifikationen und ←17 | 18→Ergänzungen im Wesentlichen auf Ehlich (2007:181–187) basiert, ist als ein offenes Inventar zu verstehen, wobei die isolierten Phänomene durchaus Überschneidungsbereiche bieten:

Transmigration (Nomadentum)

traditionell (z.B. Viehnomadentum, Transhumanz)

modern (z.B. Pendlertum, Expats, Studierende)

Saisonale (zyklische) Migration

traditionell (z.B. Wanderarbeit, Säumertum)

modern (z.B. Tourismus)

Kommerzielle/Ökonomische Migration

traditionell (z.B. Handel, Industrialisierung, Neubesiedlung)

modern (z.B. Shopping-Tourismus, Geschäftsreisen)

Details

Seiten
418
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631798584
ISBN (ePUB)
9783631798591
ISBN (MOBI)
9783631798607
ISBN (Hardcover)
9783631797716
DOI
10.3726/b16009
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (September)
Schlagworte
Sprachkontakt Interferenz Migration Mehrsprachigkeit Sprachgeschichte Bilingualismus Polyglossie Varietäten
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 418 S., 4 farb. Abb., 24 Tab.

Biographische Angaben

Roger Schöntag (Band-Herausgeber:in) Stephanie Massicot (Band-Herausgeber:in)

Roger Schöntag studierte Romanische Philologie und Alte Geschichte an der LMU München mit dem Abschluss Magister Artium und einer Arbeit zur französischen Lexikographie. Sein Promotionsstudium mit abschließendem Rigorosum war einer Arbeit zum englisch-französischen Sprachkontakt gewidmet. Anschließend arbeitete er am IT-Zentrum Sprach- und Literaturwissenschaften der LMU. Seit 2009 ist er am Institut für Romanistik der FAU Erlangen tätig, wo er seit 2013 als Assistent zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateinischen im Rahmen der questione della lingua habilitiert. Ein weiterer Forschungsschwerpunkt bildet die spanisch-portugiesische Sprachgeschichte. Stephanie Massicot studierte Französisch und Geschichte auf Lehramt Gymnasium an der FAU Erlangen. Nach dem Staatsexamen und einer Zulassungsarbeit zur Unterschichtenkriminalität in der Frühen Neuzeit erwarb sie einen Master of Education mit einer Arbeit zur Problematik von Nähe und Distanz in französischen Online-Foren. Von 2015 bis 2019 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Romanistik der FAU und promovierte zu französischen semicolti-Texten des 19. Jahrhunderts.

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