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Rumäniendeutsche Seinszusammenhänge und weitläufigere Bezüge

Literarische Kommunikation in der deutschsprachigen Literatur Rumäniens - das Fallbeispiel Joachim Wittstock

von Maria Sass (Band-Herausgeber:in) Olivia Spiridon (Band-Herausgeber:in) Stefan Sienerth (Band-Herausgeber:in)
©2019 Andere 298 Seiten

Zusammenfassung

Dieser Band beleuchtet am Einzelbeispiel des in Hermannstadt/Sibiu lebenden Schriftstellers Joachim Wittstock größere Zusammenhänge der deutschen Minderheitenliteratur in Rumänien. Einblicke in biografische Episoden, persönliche Erinnerungen an den Autor und Analysen seines Werkes wie des sozio-kulturellen Umfeldes bestimmen die thematische Breite dieser Veröffentlichung. Literaturwissenschaftler aus Deutschland und Rumänien, darunter viele Weggefährten und Freunde Joachim Wittstocks, nehmen den 80. Geburtstag des Schriftstellers und Literaturhistorikers zum Anlass, ein erhellendes Licht auf sein Werk und auf den deutschen Literaturbetrieb in Rumänien in den 1970er und 1980er Jahren zu werfen. Sie zeigen Möglichkeiten und Mechanismen auf, wie eine Minderheitenliteratur in einer der repressivsten kommunistischen Diktaturen Osteuropas unter schweren Bedingungen fortbestehen und grenzübergreifende literarische Netzwerke aufrechterhalten konnte. Und nicht zuletzt schildern sie, unter welchen Bedingungen ihre Akteure lebten, schrieben, miteinander kommunizierten und dem Druck der Zensur Widerstand leisteten.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Title Page
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • INHALTSVERZEICHNIS
  • Vorwort
  • I: Zur Person – Porträts und Erinnerungen
  • Nora Iuga (Bukarest): Bleib so, wie Du bist
  • Wulf Kirsten (Weimar): Transsilvanische Reminiszenzen
  • Walter Engel (Düsseldorf): Ein „poeta doctus“ mit feinem Taktgefühl: Joachim Wittstock. Erinnerung an Begegnungen in Siebenbürgen und in Deutschland
  • Alexander Ritter (Itzehoe): Nachrichten aus Rumänien Juni 1989: Der Flaneur im exotischen Land, ein gesichtsloser Diktator und das einsame rumänische Ei. Miniaturen aus Bukarest und anderswo in Transsilvanien
  • Horst Samson (Neuberg/Hessen): Unterwegs zu Joachim: Die Reise eines jungen Schwaben aus dem Banat nach Siebenbürgen und zurück
  • Hellmut Seiler (Backnang): Begegnungen mit Joachim Wittstock
  • Carmen Elisabeth Puchianu (Kronstadt/Braşov): Im Zeichen der Zeitgenossenschaft
  • II: Zum Werk – Literarhistorische Darstellungen und Analysen
  • Matthias Bauer (Flensburg): „… dezent magisch, das heißt literarisch …“: Joachim Wittstocks Prosa
  • Jürgen Lehmann (Freiburg): Regionalliteratur als Welt- und Selbsterkundung: Anmerkungen zur Dichtung Joachim Wittstocks
  • Olivia Spiridon (Tübingen): Bäume, Wurzeln, Luftwurzeln: Joachim Wittstock als Chronist des ‚Chaosmos‘
  • Maria Sass (Hermannstadt/Sibiu): „… im Schellengeläut und Peitschenschlag …“: Joachim Wittstocks Erzählung Karussellpolka. Eine kulturwissenschaftliche Herangehensweise
  • Markus Fischer (Bukarest): Barockfiktion als Gegenwartskommentar – Joachim Wittstocks Erzählung Herr Gryphius und der gefangene Dichter. Phantasie über den geringen Beistand
  • Sunhild Galter (Hermannstadt/Sibiu): Erinnerungsorte in Joachim Wittstocks Erzählband Die blaue Kugel
  • Grazziella Predoiu (Temeswar/Timişoara): Joachim Wittstocks Roman Bestätigt und besiegelt: Chronik einer „aus den Fugen geratenen Welt“
  • Ioana Crăciun (Bukarest): „Die bildnerischen Möglichkeiten der Sprache [sind] unbegrenzt“: Sprachkritische und sprachphilosophische Reflexionen in Joachim Wittstocks Roman Die uns angebotene Welt. Jahre in Klausenburg
  • Dumitru Chioaru (Hermannstadt/Sibiu): Auf der Suche nach verlorenen Schatten
  • III: Zum Umfeld – Biografische und andere Zusammenhänge
  • Stefan Sienerth (Pfaffenhofen a. d. Ilm): Erzwungene Einfügung in gewandelte Verhältnisse: Ein Beitrag zur Familien- und Jugendgeschichte Joachim Wittstocks (I. Teil)
  • Peter Motzan (Augsburg): Brüder in Geist, Gemüt und Vaterlandskunde: Laudatio auf Michael Markel und Horst Schuller Für Joachim Wittstock, den Dritten im Bunde
  • Horst Schuller (Eppelheim): Kronstädter Übersetzer. Literarische Treuhänder durch die Zeit (Teil IV)
  • Sigurd Paul Scheichl (Innsbruck): Drei Aphorismen von Franz Hodjak
  • Volker Hoffmann (München): Die „Türkengefahr“ als Kindheitstrauma und als Plädoyer für affektgeladene Kasualpredigten in der Autobiografie Adam Bernds (1738)
  • Verzeichnis der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

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Vorwort

Eine Annäherung an Joachim Wittstock, den in Hermannstadt/Sibiu lebenden Schriftsteller, ist mit Robert Musils Metapher der „Mulde“ denkbar. Eine in Grenzräumen und Zonen der kulturellen Berührung geformte Persönlichkeit als eine von „vielen Rinnsalen ausgewaschene Mulde, in die sie hineinsickern und aus der sie austreten“1, zu beschreiben, bietet sich im Falle dieses Autors regelrecht an. Mit dem emblematischen Bild der fließenden, von Zuflüssen stets neu geformten und im Grunde schwer bestimmbaren Identität lässt sich der Dichter, Literaturhistoriker, Schriftstellerkollege und Freund wohl leichter erfassen und verstehen. Auch wird hierdurch ein Gefüge von Zusammenhängen sichtbar, das der Welt der kleinen Minderheitenliteratur der Deutschen in und aus Rumänien Eigenart und Einmaligkeit verleiht. Darüber hinaus wird der 80. Geburtstag von Joachim Wittstock zum Anlass genommen, Spezifika dieser Literatur an der Biografie und dem Werk eines ihrer herausragenden Vertreters zu erörtern und in den Fokus der germanistischen Forschung zu rücken.

Das Bild der von zahlreichen Rinnsalen gespeisten Mulde verweist zunächst auf siebenbürgisch-sächsische Traditionen, die in der Familie Joachim Wittstocks über Jahrhunderte präsent und in seiner Generation noch recht lebendig waren. Der Autor entstammte einer Intellektuellenfamilie, in der das Schreiben, nach eigner Bekundung, „zu den gewohnten, vielfach geübten Beschäftigungen von Jung und Alt“2 gehörte. Zwar hätten sich nicht „sämtliche Anverwandten mit dem Abfassen schöngeistiger Literatur abgegeben, indes jene, die am Schreibtisch saßen und publizistische, wissenschaftliche oder künstlerische Beiträge anfertigten“3, seien relativ zahlreich gewesen. Aus der langen Traditionskette, deren schriftstellerische Aktivität sich bis zu den Urgroßeltern zurückverfolgen lässt, ragt die Person des Vaters, Erwin Wittstock (1899–1962), heraus, des wohl bedeutendsten siebenbürgisch-deutschen Prosaschriftstellers, der dem Sohn, wie dieser betont, auch den „Zugang zum Wort“4 eröffnete. Biografische Veranlagungen und Prägungen wirkten sich zweifelsohne auf den in den 1960er ←9 | 10→Jahren im damaligen recht lebendigen rumäniendeutschen Literaturbetrieb sozialisierten Schriftsteller aus und bestimmten sein komplexes Verhältnis zur literarischen Tradition der Region. Auch waren es die von Joachim Wittstock selbst gemachten Erfahrungen im oft skurrilen Alltag eines von einer kommunistischen Diktatur regierten Landes sowie sein solides Wissen über Geschichte, Kultur und die Befindlichkeiten der rumäniendeutschen Minderheit während der Zwischenkriegszeit, des Zweiten Weltkriegs und in den Nachkriegsjahren, die sich in seinen literarisch-fiktionalen Texten, aber auch in seinem breit angelegten literarhistorischen Werk niederschlugen.

Widersprüchliche Entwicklungen prägten den deutschen Kulturbetrieb in den 1970er Jahren in Rumänien, als Joachim Wittstock die literarische Bühne betrat: Auf der einen Seite waren die Errungenschaften der um 1965 angestoßenen Liberalisierungszeit wirksam, die sich sowohl in der Rehabilitierung der literarischen Tradition der Region als auch in der Lockerung der staatlichen Vorgaben für die Literatur äußerten. Die relative Liberalisierung intensivierte die literarische Kommunikation innerhalb des rumäniendeutschen Literaturbetriebs und ermöglichte Blicke auf die Literatur jenseits des Eisernen Vorhangs. Inspiration und sogar eingeschränkter Austausch wurden dadurch ermöglicht. Auf der anderen Seite dauerten diese Lockerungen bloß nur etwa ein halbes Jahrzehnt, doch konnten die errungenen Freiheiten auch nach der einsetzenden Eiszeit ab Mitte der 1970er Jahre nicht mehr gänzlich zurückgenommen werden. Zu diesem Zeitpunkt erschien Joachim Wittstock mit einem ungewöhnlichen literarischen Angebot, das regionale Stoffe und Belange und ein modernes narratives Instrumentarium auf verblüffende Weise vereinte. Als Kenner traditioneller Erzählformen und als Schriftsteller thematisch an der ihm vertrauten Region interessiert, ließ Joachim Wittstock in seinen Narrationen moderne Dissonanzen ertönen, Misstrauen gegenüber der „realistischen“ Abbildung der Welt verlauten, die, wie der vorliegende Band an Fallbeispielen illustriert, zu einer beachtlichen literarischen Durchleuchtung der Region beitragen sollten.

Dieser Band beleuchtet am Einzelbeispiel größere Zusammenhänge der deutschen Minderheitenliteratur in Rumänien. Einblicke in biografische Episoden sowie persönliche Erinnerungen an Joachim Wittstock sind Gegenstand des ersten Teils. Analysen seiner Werke bilden den zweiten Abschnitt dieser Veröffentlichung. Weggefährten Joachim Wittstocks bereichern in Freundschaft, Verehrung und Anerkennung seiner Lebensleistung mit weiteren Beiträgen, die in den dritten Teil aufgenommen wurden, die thematische Breite dieses Buches. Allen Mitarbeitern sei hierfür herzlich gedankt. Ihre Auseinandersetzungen mit der Person und den Schriften des Hermannstädter Schriftstellers werfen ein erhellendes Licht auf sein Werk und gleichzeitig auch in die Kulissen des ←10 | 11→deutschen Literaturbetriebs in Rumänien. Sie zeigen Möglichkeiten und Mechanismen auf, wie eine Minderheitenliteratur in einer der repressivsten kommunistischen Diktaturen Osteuropas unter schweren Bedingungen fortbestehen und grenzübergreifende literarische Netzwerke aufrechterhalten konnte. Und nicht zuletzt schildern sie, unter welchen Bedingungen ihre Akteure lebten, schrieben, miteinander kommunizierten und dem Druck der Zensur Widerstand leisteten.

Das langsame Schrumpfen der deutschsprachigen literarischen Landschaft im kommunistischen Rumänien und der leise, jedoch gewaltige Zusammenbruch der Infrastruktur dieses inselartigen Literaturbetriebs nach der politischen Wende 1989 wie auch die Umstellung auf eine gewandelte Verlagslandschaft und Leserschaft werden in mehreren Abhandlungen dieses Sammelbandes verdeutlicht.

Joachim Wittstock, dem dieser Band gewidmet ist, stellt durch Biografie und Werk eine emblematische Figur der vielgestaltigen rumäniendeutschen Literaturszene dar. In seinem Werk, das zu den herausragenden Leistungen dieser Literatur gehört, löst sich der vermeintliche Widerspruch zwischen dem regionalen Universum und dem Universellen auf.

Die Herausgeber

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1 Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Hg. v. Adolf Frisé. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1987, S. 3.

2 Wittstock, Joachim: Scherenschnitt. Beschreibungen, Phantasien, Aufsätze. hora: Hermannstadt/Sibiu 2002, S. 6.

3 Ebenda.

4 Ebenda, S. 3.

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Nora Iuga (Bukarest)

Bleib so, wie Du bist

Abstract: The material is entitled “Remain as you are” and it consists of very subjective impressions that Joachim Wittstock has made on the author, she herself being an important Romanian poet, essayist and translator. The world of J. W. is an academic one, but Nora Iuga also names him a “dancing philosopher”, a player with words and a street musician in a very personal way. The article concludes that J. W. is eagerly interested in discovering his roots and the past of the minority he belongs to. N. Iuga considers him to be the most original and interesting German academic poet and writer living in Romania and she reveals the height and at the same time the depth of his ideas wishing him all the best for the successful future he deserves, in spite of his famous modesty.

Keywords: subjective impressions about Joachim Wittstock, academic world, minority, German poet

Wer ist dieser große Mann, dieser schlanke, vornehme, blasse, immer frisch rasierte Mann, der so nobel die Suppe mit dem Schöpflöffel in die Teller der Damen, die an seinem Tisch sitzen, einschenkt? Wer ist dieser flinke Läufer, dieser weißhaarige Windhund, der gerade den Großen Ring mit der Geschwindigkeit eines TGV überquert? Wer ist dieser Dr. Faustus, der sogar den Mephistopheles belehrt, wie ein richtiger Lord sich beim Golf, auf dem Markt, in der U-Bahn, beim Zahnarzt oder im Schwimmbad zu benehmen hat. Ja, manchmal habe ich den Eindruck, dass er als außergewöhnlicher … welches Wort würde hier passen? unzählige Rollen interpretieren könnte, nur leider ist ständig ein Wächter in seinem Oberstübchen, der ihn nicht lässt, seine Tarnkappe vom Kopf abzulegen.

Ja, sicher sind Sie jetzt neugierig, wen diese eigenartige, sonderbare, einmalige Erscheinung auf der Bühne unserer Pitecanthropen-Welt vertreten könnte? Ein Germanist sondergleichen ist er, von der Art „Vivat Academia, vivant professores…“, von Kopf bis Fuß auf Bücher eingestellt, denn das ist seine Welt, doch zugleich dürfte er auch ein Vagant sein, ein wandernder Student in den wunderschönen Jahren des Mittelalters, Straßenmusikant in meinen Träumen, der im Nu „Morgenlieder“ für Kinder und Erwachsene anstimmt. Ich habe sowieso vergessen, wer die zärtlichste Liebesgeschichte des letzten Millenniums Floire und Blancheflour hätte erdichten können außer ihm. Wie Sie sehen, weiß ich alles über sein „Sein und Haben“, weil ich „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die beste Wahrsagerin in diesem Land?“, den Schwanenritter fragte, und er ←15 | 16→antwortete: „Nie sollst Du mich befragen!“ Alle Wahrsager sind Gauner! So, und jetzt Schluss damit, und „zurück zur Natur“.

Joachim Wittstock wurde am 28. August im Hause der Jungfrau geboren, deshalb war das Kind so morgenschön …, und als es die Augen öffnete, war der erste große Fleck, den es auf dieser Erde erblickte, der Himmel. Anfassen wollte das Kind dieses blaue Ding, aber es rutschte aus dem warmen Schoß der Mutter und fiel auf den Boden …, die erste Begegnung mit dem Grund war vollzogen! Wie viele Bedeutungen kann das Wort „Grund“ haben? Grund als Ursache, Grund als Basis, Grund als Fundament, worauf man sich stützt oder hinfällt, je nachdem. Jedenfalls war das der Anfang, was auch besagte, dass aus diesem Kind ein Dichter werden wird. Jeder waschechte Dichter ist ein tanzender Philosoph, der kein Sitzfleisch hat, er ist in ständiger Bewegung, wie eine Pendeluhr! Man sieht ja wohl, dort in der Ferne eine Schaukel, die einen Turner in die Höhe schnellen lässt; er schaukelt also nicht von einer Seite zur anderen, sondern von oben nach unten und umgekehrt. Das hat der Betreffende sich ausgewählt. Ebenfalls auf ihren eignen Wunsch stehen andere als Betreuer daneben und sorgen dafür, dass der Springer nicht verunglückt. Einer fragte: Und der springt immerfort in die Luft, vielleicht einen ganzen Tag lang?

Der Beamte sah ihn eine Weile prüfend und auch in nachsichtiger Überlegenheit an und antwortete: Einen Tag? Nein, länger, viel länger, möglicherweise immer. Immer bedeutet hier allerdings etwas Anderes als drüben. So wie ja auch ein Tag eine ganz andere Dauer hat als jenseits der Mauer!

Ich komme zurück zu dem, was ich vor dem Zitat behauptet habe. À propos, das Zitat stammt aus dem Prosaband Ascheregen, dessen Erstausgabe 1985 erschien. Eine zweite, durchgesehene Ausgabe, wurde im Verlag Hora im vorigen Jahr herausgebracht. Und jetzt kehren wir wieder „zurück zur Natur!“ Die Familie der Literaten ist ein großer Tiergarten. In diesem Heim wohnen mehrere Tierfamilien. Manche leben nach der Devise: „Morgen, morgen, nur nicht heute!“ Diese sind die Faulenzer, andere sind die Hüpfer, diejenigen, die bis in den Tod hüpfen und stolpern. Ich gehöre zur zweiten Gruppe. Joachim Wittstock ist auch ein Tanztier, was manchmal Lasttier bedeutet. Der Tanz, ich erwähne jetzt wieder diese Kunstgattung. Ich bestehe darauf, dass der Dichter ein tanzender Philosoph ist! Wenn ich diese Definition ausspreche, muss ich an Nietzsche denken. Vor allem an Zarathustra! Ich mache immer wieder Seitensprünge, das ist meine Natur. Ich bemühe mich, wenigstens jetzt ernst zu bleiben. Ja, wenigstens jetzt, weil mir das Thema oder die Person imponiert! Manchmal erkenne ich den Dichter an seinem Gang. Die Bewegung Joachim Wittstocks ist die eines Tänzers. Wenn ich in seinen Büchern die Bewegung des Textes verfolge, wird diese irgendwie langsamer … die Gedanken wehren sich davor, laut zu sprechen. ←16 | 17→Seine Gedanken sprechen nicht viel und nicht laut, wie schon gesagt, sie machen uns aber immer aufmerksam auf Sachen, die uns entfallen sind … und trotzdem kann man in seinen Texten manchmal ein leichtes, doch ständiges Hüpfen vernehmen, ein „Perpetum Mobile des Geistes“ kann den Denker letzten Endes bis zur Versagung seiner Denk-Kraft bringen. Vielleicht ist das, was ich da über J. W. und sein Werk sage, eher mir bestimmt. Wie gesagt, ich bemühe mich, hier wenigstens ernst zu sein, weil seine Auftritte mir immer imponieren. Aber leider bin ich ihm nicht gewachsen. Wir beide sind viel zu inkompatibel, um nicht extrem kompatibel zu sein!

Sie werden wohl bemerkt haben, dass ich in diesem Text meist das Wort „Dichter“, in der alten Bedeutung „Schriftsteller“, gebrauche, weil J. W. tatsächlich ein Dichter bleibt, der immer tiefer in die Innereien der Vergangenheit dringt, um dort die Erklärung seiner Herkunft, seiner Identität und seiner zukünftigen Programmierung zu finden. Im Mittelalter wurde höchstwahrscheinlich oft die große Pforte erwähnt, die zur Unterwelt führte (Hades), wo sich auch ein Galgen befand, der pausenlos funktionierte. Es könnte sein, dass dieser Galgen heute noch in Betrieb ist, aber dank der neuen Technologie wurde er unsichtbar gemacht. Nur die Dichter sehen ihn manchmal, wenn sie die Stimme der Vergangenheit hören.

Details

Seiten
298
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631803684
ISBN (ePUB)
9783631803691
ISBN (MOBI)
9783631803707
ISBN (Hardcover)
9783631798829
DOI
10.3726/b16218
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Dezember)
Schlagworte
rumäniendeutsche Literatur Joachim Wittstock Minderheitenliteratur Diktatur Faktualität Fiktion narratologische Strategie
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 298 S., 1 farb. Abb.

Biographische Angaben

Maria Sass (Band-Herausgeber:in) Olivia Spiridon (Band-Herausgeber:in) Stefan Sienerth (Band-Herausgeber:in)

Maria Sass ist Professorin für Neuere deutsche und rumäniendeutsche Literatur an der Lucian-Blaga-Universität Sibiu-Hermannstadt. Olivia Spiridon arbeitet am Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde, Forschungsbereich Literaturwissenschaft. Sie ist Lehrbeauftragte am Deutschen Seminar der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Stefan Sienerth, Prof.em. h.c., Dr.h.c., ist Literaturhistoriker und -kritiker.

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Titel: Rumäniendeutsche Seinszusammenhänge und weitläufigere Bezüge
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