Lade Inhalt...

Opfer – TäterInnen – Theaterpublikum

Szenarien von Zeugenschaft in Theaterstücken zum NSU

von Anna Brod (Autor:in)
©2020 Dissertation 398 Seiten

Zusammenfassung

Die Untersuchung bietet die erste Bestandsaufnahme eines bemerkenswerten Phänomens des politischen Gegenwartstheaters: In den Spielzeiten 2012/13 bis 2017/18 wurden 25 Theatertexte uraufgeführt, die sich mit der Verbrechensserie der Terrorgruppe ‚Nationalsozialistischer Untergrund‘ (NSU) befassen. Sie reagieren damit auf Leerstellen der politischen, gesellschaftlichen sowie juristischen Aufarbeitung des NSU. Die Studie untersucht ausgewählte prototypische Theatertexte von Elfriede Jelinek bis Nuran David Calis und deren Inszenierungen. Der Fokus auf Zeugenschaft als Analyseperspektive verbindet Fragen der Darstellung, wie jene von Angehörigen der Opfer oder von TäterInnenfiguren, mit Fragen der Rezeption von TheaterzuschauerInnen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • I Einleitung: Leerstellen nach der Selbstenttarnung des NSU
  • 1 Von der Selbstinszenierung im Bekennervideo zum NSU-Prozess: kurzer Überblick
  • 2 Leerstellen und Zeugenschaft im Zusammenhang mit dem NSU
  • 3 Theaterstücke zum NSU: Forschungsstand und Aufbau der Studie
  • 3.1 Forschung zum NSU: Überblick über die Disziplinen
  • 3.2 Forschungsdesiderata, Gegenstand und Methoden
  • II Theaterstücke zum NSU: eine Bestandsaufnahme
  • 1 Quantitative Auswertungen
  • 1.1 Uraufführungen, Theaterstücke und szenische Projekte zum NSU
  • 1.2 Exkurs: Filme, Lesungen, Radio-Hörspiele und Performances zum NSU7
  • 1.2.1 Fernsehspielfilme
  • 1.2.2 Kinofilme
  • 1.2.3 Lesungen von Prozessprotokollen
  • 1.2.4 Hörspiele
  • 1.2.5 Performances im öffentlichen Raum
  • 1.3 Inszenierungs-, Aufführungs- und BesucherInnenzahlen59
  • 1.4 Geografische Verteilung
  • 2 Qualitative Auswertungen
  • 2.1 Thematische Schwerpunkte und formale Charakteristika (Typen): Übersicht
  • 2.2 Abgrenzung der Typen in Äußerungen von Theaterschaffenden
  • 2.2.1 Typ 1: Perspektiven von Angehörigen der Mordopfer und von Betroffenen der NSU-Verbrechen
  • 2.2.2 Typ 2: Perspektiven auf TäterInnen(diskurse)
  • 2.2.3 Typ 3: Perspektiven auf Institutionen
  • 2.2.4 Typ 4: Kombination der Perspektiven
  • 2.3 Verteilung der Typen über die Spielzeiten
  • III Zeugenschaft: Forschungsüberblick und Analyseperspektiven
  • 1 Theoretische Dimensionen von Zeugenschaft: im Kontinuum zwischen Episteme und Ethik
  • 1.1 Zeugenschaft und Episteme
  • 1.1.1 Zeuge bzw. Zeugin eines Ereignisses werden und es bezeugen: Augenzeugenschaft
  • 1.1.2 Ein Ereignis vor Gericht bezeugen: Gerichtszeugenschaft
  • 1.2 Zeugenschaft und Ethik
  • 1.2.1 Die Erfahrung des eigenen Überlebens(kampfs) bezeugen: Überlebenszeugenschaft bzw. Opferzeugenschaft
  • 1.2.2 Die Erfahrung eigener (Gewalt-)Taten bezeugen: TäterInnenzeugenschaft
  • 1.2.3 Die Erfahrung einer historischen Epoche bezeugen: Zeitzeugenschaft
  • 1.2.4 Die eigene religiöse Überzeugung bezeugen: Glaubenszeugenschaft
  • 1.2.5 Ein Zeugnis als RezipientIn annehmen: sekundäre Zeugenschaft
  • 1.3 Zwischenfazit: Grundstruktur von Zeugenschaft
  • 2 Literatur- und theaterwissenschaftliche Perspektiven auf Zeugenschaft
  • 2.1 Zeugnisliteratur: Themen, Formen, Fiktionalität
  • 2.2 Szenarien von Zeugenschaft in dramatischen Texten und im Theater
  • 2.2.1 Zeugenschaft von TheaterzuschauerInnen
  • 2.2.2 Zeugenschaft in Szene gesetzt: dramatische Texte und Inszenierungen
  • 2.2.3 Zeugenschaft von Theaterschaffenden: Zeitstücke
  • 3 Modellierungen für die Analyse der Theaterstücke zum NSU: Szenografie und Szenarien von Zeugenschaft
  • IV Szenarien von Zeugenschaft in Theaterstücken zum NSU
  • 1 Zeugenschaft und Stellvertretung: Perspektiven von Angehörigen der Mordopfer und von Betroffenen der NSU-Verbrechen
  • 1.1 Christine Umpfenbach und Azar Mortazavi: Urteile. Ein dokumentarisches Theaterstück über die Opfer des NSU in München (2014)20
  • 1.1.1 Inhalt, Struktur und dokumentarischer Charakter
  • 1.1.2 Szenarien von Zeugenschaft
  • 1.1.2.1 Theaterschaffende als verantwortungsbewusste RezipientInnen der ZeugInnen: Sekundäre Zeugenschaft bei der Recherche und ihre Spuren in Theatertext und Inszenierung
  • 1.1.2.2 Bezeugen und das Zeugnis annehmen: auf der Bühne und im ZuschauerInnenraum
  • 1.1.2.3 TäterInnenzeugenschaft zweiter Ordnung: Medienschaffende und PolizistInnen
  • 1.1.2.4 Zusammenfassung
  • 1.2 Nuran David Calis: Die Lücke. Ein Stück Keupstraße (2014)
  • 1.2.1 Inhalt, Struktur und dokumentarischer Charakter
  • 1.2.2 Szenarien von Zeugenschaft
  • 1.2.2.1 Stellvertretende Zeugenschaft: Stellvertretung durch SchauspielerInnen
  • 1.2.2.2 Videografierte Zeugenschaft: Mediale Stellvertretung
  • 1.2.2.3 Überwindung stellvertretender Zeugenschaft durch Kontakt: Stellvertretender Konflikt
  • 1.2.2.4 Zusammenfassung
  • 1.2.3 Zwischenfazit: Zeugenschaft und Stellvertretung in Urteile und Die Lücke
  • 2 Verweigerungen und Illusionen von Zeugenschaft: Perspektiven auf TäterInnen(diskurse)
  • 2.1 Lothar Kittstein: Der weiße Wolf (2014)135
  • 2.1.1 Inhalt, Struktur und die Rolle der Fiktion(alität)
  • 2.1.2 Szenarien von Zeugenschaft
  • 2.1.2.1 Voyeurismus und die Störung von ZuschauerInnenzeugenschaft: Illusionsbrüche
  • 2.1.2.2 TäterInnenzeugenschaft: Verweigerung, Ersatz und Fiktion
  • 2.1.2.3 Zusammenfassung
  • 2.2 Gerhild Steinbuch: Welthauptstrand Europa (2016)
  • 2.2.1 Inhalt, Struktur und Umgang mit dem dokumentarischen Material
  • 2.2.2 Szenarien von Zeugenschaft
  • 2.2.2.1 Verhinderung von Zeugenschaft: Zurückweisung von BotInnen
  • 2.2.2.2 Illusion von TäterInnenzeugenschaft: Kritik an medialen Vermittlungsformen
  • 2.2.2.3 Ablehnung von ZuschauerInnenzeugenschaft: Darstellung abweisender Reaktionen und eine Gegenposition
  • 2.2.2.4 Zusammenfassung
  • 2.3 Zwischenfazit: Verweigerungen und Illusionen von Zeugenschaft in Der weiße Wolf und Welthauptstrand Europa
  • 3 Möglichkeiten und Grenzen von rezeptiver und diskursiver Zeugenschaft: Perspektiven auf Institutionen
  • 3.1 Tuğsal Moğul: Auch Deutsche unter den Opfern. Ein Rechercheprojekt zum NSU (2015)
  • 3.1.1 Inhalt, Struktur und Umgang mit dem dokumentarischen Material
  • 3.1.2 Szenarien von Zeugenschaft
  • 3.1.2.1 Apostrophierung und reflektierte ZuschauerInnenzeugenschaft im Theater
  • 3.1.2.2 Travestie und unmündige Zeugenschaft
  • 3.1.2.3 Enumeratio/Accumulatio und gelenkte Zeugenschaft
  • 3.1.2.4 Ambivalenz und urteilende Zeugenschaft
  • 3.1.2.5 Zusammenfassung
  • 3.2 Elfriede Jelinek: Das schweigende Mädchen (2014)299
  • 3.2.1 Inhalt, Struktur und Bezüge zum NSU-Prozess
  • 3.2.2 Szenarien von Zeugenschaft
  • 3.2.2.1 Die (vergeblichen) Akte des Zur-Sprache-Bringens der Figur ‚Der Richter‘: Grenzen der Performativität von Sprache
  • 3.2.2.2 Die Aussagen der Figuren ‚Der Engel‘ und ‚Der Prophet‘: unzureichende Gerichts- und Glaubenszeugenschaft
  • 3.2.2.3 Das Gerede der Figur ‚Ich‘ und das Schweigen der Figur ‚Das Mädchen‘: Möglichkeiten nicht-diskursiver Erkenntnis
  • 3.2.2.4 Zusammenfassung
  • 3.3 Zwischenfazit: Möglichkeiten und Grenzen von rezeptiver und diskursiver Zeugenschaft in Auch Deutsche unter den Opfern und Das schweigende Mädchen
  • V Rückblicke und Ausblicke
  • 1 Erster Rückblick: Szenarien von Zeugenschaft in Theaterstücken zum NSU und ‚Urszenen‘ von Zeugenschaft
  • 2 Zweiter Rückblick: Theaterstücke zum NSU als Form theatraler Aufarbeitung
  • 3 Dritter Rückblick und erster Ausblick: Methodologisches Fazit und weiterführende Forschungsfragen
  • 4 Zweiter Ausblick: Ambivalenzen ‚vernünftig‘ reflektieren statt eindeutig urteilen? (Deutsch-)Didaktische Implikationen jenseits von reiner Kompetenzorientierung
  • 5 Dritter Ausblick: Abschluss trotz Unabgeschlossenheit
  • Danksagung
  • VI Anhang
  • 1 Übersicht über die Theaterstücke zum NSU
  • 2 Übersicht über die szenischen Projekte zum NSU
  • VII Abbildungsverzeichnis
  • VIII Literaturverzeichnis
  • Zitierte Theatertexte zum NSU
  • Sekundärliteratur

I Einleitung: Leerstellen nach der Selbstenttarnung des NSU

Die Theaterstücke zum NSU zeugen von einer beispiellosen Verbrechensserie und werfen gleichzeitig einen sezierenden Blick auf die Gesellschaft, in der diese Verbrechen nicht nur möglich waren, sondern über lange Zeit hinweg nicht als das erkannt wurden, was sie sind: eine extreme Form rechter Gewalt. Die Selbstenttarnung des NSU hat für Viele erstmals offensichtlich gemacht, in welchem Ausmaß Rassismus eine gewaltvolle gesellschaftliche Realität ist. Für die Betroffenen hat sich seitdem jedoch wenig verändert. Zuletzt ist vielmehr eine gewisse Normalisierung rechten Gedankenguts und rassistischer Gewalt zu beobachten, die sich nicht nur im Erfolg politischer Strömungen und Parteien wie Pegida und AfD, sondern auch in der Häufigkeit von rassistischen Gewalttaten manifestiert. Als Beispiele aus dem Jahr 2018 können die Ausschreitungen in Chemnitz und die Amokfahrt gegen als AusländerInnen1 wahrgenommene Personen im Ruhrgebiet dienen. Mehr denn je ist danach zu fragen, welche Mittel eine Gesellschaft, die Heterogenität als Chance versteht, besitzt, um eine nachhaltige Auseinandersetzung mit rechter Gewalt, ihren Wurzeln und gesellschaftlichen, politischen und individuellen Konsequenzen anzustoßen und zu führen. Welche Rolle Theater dabei spielen kann, wird in dieser Studie am Beispiel der Theaterstücke zum NSU erkundet.

1 Von der Selbstinszenierung im Bekennervideo zum NSU-Prozess: kurzer Überblick

Mit einer Selbstinszenierung in einem fünfzehnminütigen Video trat 2011 eine bis dahin unbekannte neonazistische Terrorgruppe ins gesellschaftliche Bewusstsein. Sie stellt sich darin als ‚Nationalsozialistischer Untergrund‘ (NSU) vor, bekennt sich zu zehn Morden und zwei Sprengstoffanschlägen, inszeniert ←11 | 12→ihre Überlegenheit und verhöhnt ihre Opfer wie auch die ermittelnden Behörden und die Medien.

Wenn ich mich in dieser Studie auf diese Gruppierung beziehe, verwende ich deren Selbstbezeichnungen ‚Nationalsozialistischer Untergrund‘ und ‚NSU‘ (im Folgenden ohne Anführungszeichen). Inzwischen steht das Akronym NSU aber in einem weiteren Sinne darüber hinaus auch für die Auseinandersetzung mit den durch das gleichnamige Netzwerk begangenen Verbrechen und den persönlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen der begangenen Gewalttaten. Auch in dieser Bedeutung verwende ich den Begriff, etwa in der Formulierung ‚Theaterstücke zum NSU‘.2

Das Bekennervideo, das im Brandschutt eines explodierten Hauses in Zwickau und in der Eingangspost mehrerer politischer, kultureller und religiöser ←12 | 13→Einrichtungen sowie verschiedener Presseorgane aufgefunden wurde, beginnt mit einer Schrifttafel: „Der nationalsozialistische Untergrund ist ein Netzwerk von Kameraden mit dem Grundsatz – Taten statt Worte –“.3 Danach folgen Szenen, in denen beispielsweise die Trickfilmfigur Paulchen Panther zur Musik des Der Rosarote Panther-Themas auf einer mit ‚Deutschlandtour NSU‘ überschriebenen Stellwand im schnellen Wechsel Zeitungsausschnitte mit Überschriften wie ‚Mord im Gemüseladen‘ oder ‚Rätsel um Morde‘ präsentiert. Daneben sind Porträt-Fotos der Ermordeten zu erkennen:

Enver Şimşek († 09.09.2000 in Nürnberg),

Abdurrahim Özüdoğru († 13.06.2001 in Nürnberg),

Süleyman Taşköprü († 27.06.2001 in Hamburg),

Habil Kılıç († 29.08.2001 in München),

Mehmet Turgut († 25.02.2004 in Rostock),

İsmail Yaşar († 09.06.2005 in Nürnberg),

Theodoros Boulgarides († 15.06.2005 in München),

Mehmet Kubaşık († 04.04.2006 in Dortmund)

und Halit Yozgat († 06.04.2006 in Kassel).

Vermutlich von den TäterInnen gemachte Tatortfotos zeigen tote Körper, die in ihrem Blut liegen, zwingen den RezipientInnen des Films kurzzeitig die Perspektive der TäterInnen auf und erinnern an die unmittelbare Wiederholung der tödlichen Pistolenschüsse im ‚Schießen‘ der Fotos. In Dokumentarfilmaufnahmen von Polizisten und Feuerwehrwagen an einem Tatort ist Paulchens Hand montiert, die einem der Uniformierten in den Kopf schießt. Zeitungsschnipsel mit Schlagzeilen zu Dönermorden überlagern nach und nach das Bild einer Nachrichtensendung.

Mit dem Bekanntwerden dieses Videos wurde schlagartig deutlich, dass die jahrelang unaufgeklärten Morde an neun türkei-4 und griechischstämmigen ←13 | 14→Männern sowie weitere Verbrechen, nämlich der Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn sowie zwei Sprengstoffanschläge in Köln,5 nicht – wie von den Ermittlungsbehörden und Medien über die Bundesländer hinweg angenommen – auf eine ‚geheimnisvolle kriminelle Vereinigung‘ innerhalb des sogenannten migrantischen Milieus oder auf eine Phantom-Täterin, von der nur DNA-Spuren bekannt waren, zurückgingen, sondern als rassistisch motivierte rechte Gewalt zu verstehen sind. Die Hinweise von Angehörigen der Mordopfer bzw. von Betroffenen der Anschläge, dass die Verantwortlichen der rechten Szene angehören müssten, waren systematisch nicht gehört worden; von zwei Schweigemärschen in Kassel und Dortmund unter dem Motto ‚Kein 10. Opfer‘ im Jahr 2006, bei denen u.a. die Familien Kubaşık und Yozgat auf einen Zusammenhang mit der rechten Szene hingewiesen hatten, war in den Medien nur vereinzelt berichtet worden.6

Im Kontext der Aufarbeitung des NSU spielt das Bekennervideo auch insofern eine wichtige Rolle, als es sich dabei um das einzige von den TäterInnen selbst inszenierte (Er-)Zeugnis handelt, das Rückschlüsse auf deren Motive für die Verbrechen zulässt. Das Fehlen von Bekenntnisschreiben als Selbstzeugnisse der TäterInnen im Anschluss an die Taten galt in Ermittlungskreisen lange auch als Argument dafür, einen rechtsterroristischen Hintergrund schnell ausgeschlossen zu haben.7 Keine Hinweise werden im Video jedoch in Hinblick auf die Frage gegeben, wie viele und welche Personen hinter dem NSU stehen. Als dessen Mitglieder – und somit als UrheberInnen des Bekennervideos sowie als Verantwortliche für die darin gezeigten Verbrechen – wurden schließlich Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt identifiziert, obwohl die Existenz ←14 | 15→eines größeren Netzwerks von UnterstützerInnen naheliegt.8 Ab dem 06.05.2013 stand Zschäpe als einzige Überlebende des Trios – Mundlos und Böhnhardt starben am 04.11.2011 nach einem Banküberfall unter nicht vollkommen geklärten Umständen in einem Wohnmobil in Eisenach – gemeinsam mit weiteren Angeklagten u.a. wegen Mittäterschaft an zehn Mordfällen sowie der Gründung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung in München vor Gericht. Nach über fünf Jahren Verhandlungsdauer im sogenannten NSU-Prozess, der vor dem 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts München geführt wurde, wurde Zschäpe am 11.07.2018 schuldig gesprochen und zu lebenslanger Haft verurteilt. Den Mitangeklagten wurden wegen Beihilfe mehrjährige Haftstrafen auferlegt. Wegen der Länge des Verfahrens, der Menge der verhandelten Verbrechen und der Komplexität der Hintergründe gilt der NSU-Prozess als einer der größten und wichtigsten deutschen Strafprozesse seit der Wiedervereinigung. Offene Fragen, etwa nach der Auswahl der Opfer durch den NSU, nach Verantwortlichen für die Vernichtung von Beweismaterial oder nach Gründen für die Anwesenheit des Verfassungsschutzmitarbeiters Andreas T. am Tatort in Kassel konnten im Verlauf des Prozesses jedoch genauso wenig abschließend geklärt werden wie in mehreren parlamentarischen Untersuchungsausschüssen, die in verschiedenen Bundesländern sowie auf Bundesebene eingerichtet worden waren.

In der öffentlichen Wahrnehmung des Prozesses standen häufig Aspekte einer Selbstinszenierung Zschäpes im Vordergrund, etwa wenn wie v.a. zum Prozessauftakt ihre Kleidung und Frisur zum Gegenstand der Presseberichterstattung wurden,9 wenn gemutmaßt wurde, die Wahl eines Teams von VerteidigerInnen mit den Namen Sturm, Stahl und Heer sei nicht zufällig erfolgt, sondern verweise auf Zschäpes ungebrochene rechte Ideologie10 oder wenn ihre eigene Darstellung, abhängig von Mundlos und Böhnhardt gewesen zu sein, infrage gestellt ←15 | 16→und mit Aussagen von ZeugInnen kontrastiert wurde, die Zschäpe ein dominantes und selbstbewusstes Verhalten attestieren.11

2 Leerstellen und Zeugenschaft im Zusammenhang mit dem NSU

Von Personen, die sich wissenschaftlich, aktivistisch, pädagogisch oder künstlerisch mit dem NSU bzw. den persönlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen der von seinen Mitgliedern begangenen Gewalttaten auseinandersetzen, wird dessen Selbstenttarnung häufig als Zäsur12 beschrieben. Im Gegensatz zu anderen historischen Zäsuren steht die Selbstenttarnung des NSU jedoch nicht für einen Einschnitt, der zukünftige Veränderungen ankündigt, sondern vielmehr für ein Innehalten und die rückblickende, oft als schmerzhaft empfundene Erkenntnis, die gesellschaftliche Realität jahrelang falsch wahrgenommen zu haben: Die Selbstenttarnung des NSU stellt insofern einen Wendepunkt im Nachdenken über das gesellschaftliche Zusammenleben in Deutschland dar, als die verbreitete Vorstellung, organisierte rechte Gewalt gebe es in Deutschland nicht und xenophobe Einstellungen beschränkten sich auf eine bildungsferne geringe Minderheit,13 erschüttert worden ist. Mit dem Erstarken rechtspopulistischer Positionen in Organisationen wie Pegida, in Parteiprogrammen wie dem der AfD sowie in der zunehmenden Gewalt gegenüber als AusländerInnen wahrgenommenen Personen, z.B. Geflüchteten, zeigt sich heute hingegen deutlich, auf welcher breiten Basis die Idee einer pluralistischen und postmigrantischen Gesellschaft in Frage gestellt wird. Daneben wurden weitere fundamentale ←16 | 17→gesellschaftliche Fragen, etwa nach der Arbeit von Ermittlungsbehörden und Verfassungsschutzämtern, der Rolle der Medien sowie nach Möglichkeiten und Grenzen juristischer Aufarbeitung durch die Erfahrungen nach den Ermittlungen zum NSU aufgeworfen.

Das Theater wird ab 2011 zu dem gesellschaftlichen Ort, an dem solche Fragen verhandelt werden – am Beispiel des NSU, den persönlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen der vom NSU begangenen Verbrechen sowie deren medialer, politischer und juristischer Aufarbeitung. Die Vielfalt künstlerischer, insbesondere theatraler Auseinandersetzungen mit dem NSU beschreibt beispielsweise die Schriftstellerin Kathrin Röggla in der Zeitschrift Theater der Zeit:

Und es gab tatsächlich viel im Theater. Aktionen und Festivals, von den Autorentheatertagen des Deutschen Theaters bis zu den „Unentdeckten Nachbarn“ in Chemnitz im vergangenen Jahr [d.h. 2016, A.B.], zahlreiche dramatische Produktionen zum NSU, von Elfriede Jelinek bis zu den Blogprojekten wie zuletzt „Nazis & Goldmund“ mit Jörg Albrecht, Thomas Köck, Gerhild Steinbuch, Thomas Arzt und Sandra Gugić. Hat das Auffliegen des NSU auch noch immer keine nachhaltige gesellschaftliche Verstörung ausgelöst, in der Kunst hat es hohe Wellen geschlagen, ja, man könnte von einer NSU-Kultur sprechen, wäre dies nicht so verdammt missverständlich.14

In dieser Studie, die die dramatischen und theatralen Auseinandersetzungen mit dem NSU in den Blick nimmt, gehe ich von der Hypothese aus, dass diese am Punkt der beschriebenen Zäsur ansetzen. Bezüglich des Themas sahen und sehen sich Theaterschaffende wie auch viele andere Mitglieder der Einwanderungsgesellschaft Deutschland mit verschiedenen Leerstellen konfrontiert: Während einige mit dem NSU in Verbindung stehende Fragen trotz Aufarbeitungsbemühungen, beispielsweise in Untersuchungsausschüssen, bis heute nicht beantwortet werden konnten, rücken andere Perspektiven erst nach und nach in den Fokus derjenigen Institutionen, die die Aufarbeitung des NSU betreiben. Häufig wird in diesem Zusammenhang deshalb von ‚blinden Flecken‘ oder ‚blind spots‘ gesprochen15 und eine Auseinandersetzung mit diesen Leerstellen gefordert. Auch in ihrem Eintrag zu den NSU-Morden für die dritte, überarbeitete und erweiterte Auflage des Lexikons der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland von 2015 weisen Imke Schmincke und Jasmin Siri auf die ←17 | 18→vielen ungeklärten Fragen im Zusammenhang mit dem NSU hin und konstatieren abschließend: „Die gesamte Geschichte des NSU und der Gesellschaft, die ihn ermöglicht hat, ist erst noch zu schreiben.“16

In dieser Studie greife ich die Vorstellung der Leerstellen zum NSU als Heuristik auf und gehe davon aus, dass sich diese drei Bereichen zuordnen lassen: Auf der Seite der (mutmaßlichen)17 TäterInnen fehlen – aufgrund des Todes von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, der langen Verweigerung einer Aussage Beate Zschäpes im Ermittlungs- und Gerichtsverfahren und anderer Angeklagten sowie fehlender Aussagen von ZeugInnen bzw. Zweifeln an der Glaubwürdigkeit der gemachten Aussagen – Informationen bezüglich der Motive für die Morde aus erster Hand und somit Einblicke in eine TäterInnenperspektive. So halten auch die HerausgeberInnen des Themenhefts NSU. Die Folgen der Zeitschrift Demokratie gegen Menschenfeindlichkeit noch Ende 2016 fest, „dass vor allem die gesellschaftlichen Ursprünge der rassistischen Mordtaten, ‚Sinn‘ und ‚Funktion‘ dieses Terrorismus ebenso weiterer Aufhellung bedürfen wie die Mechanismen der Radikalisierung der Gewaltgruppe“.18 Aufgrund des fehlenden Wissens spreche ich hier im Folgenden von ‚epistemischen Leerstellen‘.

Ich nehme an, dass dazu komplementäre Leerstellen darin bestehen, dass überlebende Opfer (z.B. der beiden Bombenanschläge des NSU in Köln) und Angehörige der vom NSU Ermordeten lange Zeit nicht als Opfer wahrgenommen, sondern als Tatverdächtige befragt wurden und somit in der Öffentlichkeit kein Raum für deren Perspektive als Opfer existierte. Obwohl die Täterschaft der Morde seit 2011 weitgehend geklärt und die Verdächtigung der Angehörigen als falsch entlarvt ist, wurde die Marginalisierung der Betroffenen nach der Aufdeckung des NSU medial und gesellschaftlich fortgesetzt, indem sich das Interesse der Öffentlichkeit beispielsweise auf Zschäpes Äußeres oder das Zusammenleben des ‚Trios‘ konzentrierte. Das Bewusstsein der von den Anschlägen Betroffenen ←18 | 19→und der Hinterbliebenen der Ermordeten, dass ihre Angehörigen oder sie selbst Opfer rechter Gewalt geworden waren, wurde missachtet und sie wurden nicht als Betroffene bzw. Opfer anerkannt.19 Entsprechend stellen auch die HerausgeberInnen von NSU. Die Folgen „Klärungs- und Handlungsbedarf […] für das Verständnis und das Einfühlen in das Erleben der Opfer und ihres erweiterten Umfeldes, die Unterstützung und das Empowerment der betroffenen Familien und Communitys“20 fest. Aufgrund der inhärenten Handlungsaufforderung und der Bewertung früheren Handelns spreche ich hier im Folgenden von ‚ethischen Leerstellen‘.

Im Verlauf der Ermittlungen nach der Selbstenttarnung, dem Beginn des Gerichtsprozesses und ersten von Untersuchungsausschüssen beförderten Erkenntnissen wurden weitere Leerstellen deutlich: das Unwissen über interne Strukturen von staatlichen Institutionen, die – wie im Falle von Ermittlungsbehörden – institutionellen Rassismus hervorzurufen scheinen, oder die – wie im Falle der Landesämter und des Bundesamts für Verfassungsschutz – bei der Überwachung der rechten Szene den Fokus teilweise von der Verhinderung von Straftaten auf die finanzielle Unterstützung über V-Personen bis hin zur Verschleierung von Straftaten verschoben zu haben scheinen. Auch die HerausgeberInnen von NSU. Die Folgen halten fest, es gebe „viele offene Fragen […] zur Arbeit von Sicherheitsbehörden und Geheimdiensten bzw. von einzelnen Mitarbeiter_innen.“21 Auch am von Mai 2013 bis Juni 2018 laufenden Gerichtsverfahrens wurde häufig Kritik geübt, die sich nicht nur am langsamen Voranschreiten des Prozesses und den damit verbundenen hohen Kosten,22 sondern beispielsweise auch am angeblichen Ausblenden einer politischen Perspektive, etwa durch das Festhalten der Bundesanwaltschaft an der Drei-TäterInnen-Theorie, entzündet hatte.23 Da das fehlende Wissen über die Arbeit der staatlichen Strukturen nicht ←19 | 20→nur bei den von den Verbrechen des NSU Betroffenen, sondern auch bei BeobachterInnen zum Misstrauen bezüglich deren Funktionierens führen kann, spreche ich hier im Folgenden von ‚epistemisch-politischen Leerstellen‘.

In dieser Studie frage ich u.a. danach, wie Theaterschaffende sich mit ihren Theatertexten und deren Inszenierungen in Bezug auf diese (mehrfachen) Leerstellen positionieren. Dabei verstehe ich die Theaterstücke als Form theatraler Aufarbeitung,24 mit denen Theaterschaffende die Aufarbeitung des NSU durch Ermittlungsbehörden, Medien und Justiz (ggf. korrigierend) ergänzen wollen: Auf welche Weise leisten „die Theaterkünstler etwas […], das die Richter in München nicht leisten können und auch nicht die Journalisten quer durch die Republik“?25

Folgt man Jürgen Habermas, der die Aufarbeitung der Vergangenheit als „mehrdimensionales und arbeitsteiliges Unternehmen“26 bezeichnet, können ←20 | 21→theatrale, politische und juristische Aufarbeitung nebeneinander stehen, da sie auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind. Habermas unterscheidet zwischen, erstens, einer „öffentlich ausgetragene[n]; ethisch-politische[n] Selbstverständigung […] [, die sich] in Kanäle von Publizistik und Massenmedien, von Volks- und Schulpädagogik, von wissenschaftlichen und literarischer Öffentlichkeit, von Bürgerforen und staatlichen Enquetekommissionen verzweigen“27 kann, zweitens „der existentiellen Aufarbeitung persönlicher Schuld und [drittens] der juristischen Verfolgung strafbarer Handlungen“.28 Aufgabe von Theater als Ort literarischer Öffentlichkeit wäre demzufolge die ‚ethisch-politische Selbstverständigung‘. Nicht unbedeutend als Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung einzelner Theaterschaffender mit dem NSU mag jedoch zwar weniger die ‚Aufarbeitung persönlicher Schuld‘, wohl aber – als Form einer persönlichen Zäsur – das Eingeständnis der eigenen falschen Wahrnehmung gesellschaftlicher Realitäten und ein damit verbundenes Gefühl der Verantwortung gewesen sein.29

Ayşe Güleç und Lee Hielscher halten zum Schluss ihrer Überlegungen zu Suchbewegungen einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem NSU als mögliche Haltung für eine Aufarbeitung dieses Aspekts der Vergangenheit fest: „Wir sind alle Zeug_innen des NSU Terrors [sic] und können somit auch alle eine differente Handlungsmacht aus unserer Zeug_innenschaft heraus entwickeln.“30 Mit ‚Zeugenschaft‘31 ist hier ein Begriff angesprochen, der unmittelbar an die Situation der mehrfachen epistemischen und ethischen Leerstellen, ←21 | 22→die ich im Zusammenhang mit dem NSU beschrieben habe, anschließt, wie die Philosophin Sibylle Schmidt verdeutlicht:

Konstitutiv für das Zeugnis ist eine Situation der Unwissenheit beziehungsweise Ungewissheit seitens der Hörerschaft. Diese Ungewissheit ist ein epistemischer Zustand, der jedoch eine praktisch-ethische Dimension hat: Ein Urteil muss getroffen, eine Handlung vollführt werden.32

Im Kontext einer Gesellschaft nach der Selbstenttarnung des NSU ist der epistemische Zustand der mehrfachen Ungewissheit allgegenwärtig. Die damit verbundene praktisch-ethische Dimension setzt bereits beim Bewusstsein an, dass dieser Aspekt unmittelbarer deutscher Geschichte aufgearbeitet werden muss, da er für das gesellschaftliche Zusammenleben relevant ist.

Mit dem Bild der hier als voneinander getrennt beschriebenen, aber miteinander in Wechselwirkung stehenden Leerstellen im Kontext des NSU ist mit Aurélia Kalisky die ‚Szenografie‘ beschrieben, innerhalb derer verschiedene Szenarien von Zeugenschaft wirksam werden können.33 Diese komplexe Denkfigur soll im Folgenden weiter verfolgt und anhand von verschiedenen Theatertexten zum NSU und deren Inszenierungen gefüllt werden. In Kapitel III dieser Studie wird sie mit Blick auf den Forschungsstand in verschiedenen Disziplinen genauer konturiert – an dieser Stelle soll nur ein kursorischer Blick auf die stellenweise ambivalenten Assoziationen, die der Begriff ‚Zeugenschaft‘ aufwirft, sowie auf eine mögliche Anbindung an den Kontext der Auseinandersetzung mit dem NSU und dessen Auswirkungen auf Drama und Theater geworfen werden. Meine Überlegungen basieren dabei zunächst auf der „Vorstellung vom Zeugen als einem Menschen, der eine direkte Erfahrung von extremer politischer Gewalt durchlebt hat und sie in einer medialen Form weitergibt […] und damit das Unrecht, das ihm und dem Kollektiv, dem er angehört, bekannt macht und reflektiert.“34 Damit verbunden, aber nicht damit gleichzusetzen ist auch ←22 | 23→Zeugenschaft vor Gericht, wenn Formen politischer Gewalt durch die Justiz aufgearbeitet werden und dazu ZeugInnen gehört werden.35

In einer epochenübergreifenden Perspektive wird heute mit Zeugenschaft die Ambivalenz von Wissen bzw. Wahrheit und Zweifel genauso verbunden wie die Frage nach Anerkennung und Autorisierung; in einem dialogischen und performativen (Aushandlungs-)Prozess zwischen ProduzentInnen des Zeugnisses und dessen RezipientInnen wird – und hier liegt eine potenzielle strukturelle Gemeinsamkeit von Theater und Zeugenschaft – gemeinsam Wahrheit hergestellt und (politische) Verantwortung weitergegeben. Im Kontext einer Aufarbeitung des NSU im und durch Theater können Theaterschaffende die Haltung von ZeugInnen einnehmen, indem sie beispielsweise einen Raum für die marginalisierte Zeugenschaft von Betroffenen und Angehörigen der Opfer des NSU eröffnen und deren Opferzeugenschaft mit Ansprüchen an Gerichtszeugenschaft konfrontieren oder indem sie Fragen nach einer möglichen TäterInnenzeugenschaft stellen und dabei das Theaterpublikum als (potenzielle) ZeugInnen eines performativen Prozesses einbinden. Die verschiedenen theatralen Inszenierungen als Realisierungen einer Kunstform können dabei auch als Gegenentwürfe zu den Selbstinszenierungen der TäterInnen im Bekennervideo und der Angeklagten Zschäpe im NSU-Prozess verstanden werden.

3 Theaterstücke zum NSU: Forschungsstand und Aufbau der Studie

3.1 Forschung zum NSU: Überblick über die Disziplinen

Die Vielfalt künstlerischer Auseinandersetzungen mit dem NSU findet bisher keine Entsprechung in deren wissenschaftlicher Reflexion. Nicht nur in der Kultur-, Literatur- und Theaterwissenschaft, sondern auch in anderen Disziplinen steht die akademische Beschäftigung mit dem Thema NSU noch am Anfang. So betonten die OrganisatorInnen der Tagung 5 Jahre nach dem Öffentlichwerden des NSU. Tagung zur interdisziplinären Standortbestimmung und Perspektiventwicklung, die am 22.10.2016 an der Frankfurt University of Applied Sciences stattfand, im Call for Papers:

Gegenüber der zivilgesellschaftlichen, journalistischen und parlamentarischen Aufklärungsarbeit ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem NSU bislang als defizitär zu bezeichnen. Obschon die NSU-Mordserie als eine Zäsur der ←23 | 24→bundesrepublikanischen Geschichte gedeutet werden kann, beschäftigen sich nur wenige Forschungsprojekte mit dem Gegenstand NSU. Auch in den akademischen Fachdisziplinen gibt es kaum wissenschaftliche Resonanz und noch weniger werden Konsequenzen für Forschungsperspektiven gezogen.36

Als mögliche Gründe für die Verzögerung, mit der das Thema NSU Gegenstand der Forschung wird, benennt der Sozialwissenschaftler Samuel Salzborn, Keynote-Sprecher bei der Frankfurter Tagung, neben mangelndem Interesse anderer WissenschaftlerInnen auch Finanzierungsprobleme, da notwendige Fördergelder nicht der Wissenschaft, sondern dem Ausbau der Verfassungsschutzbehörden zugute kämen.37 Die Organisation der genannten Tagung und weiterer interdisziplinärer Konferenzen zum NSU, aus deren Beiträgen bereits mehrere Sammelbände hervorgegangen sind,38 belegt jedoch, dass das Thema sich im akademischen Diskurs zu etablieren beginnt. Forschung wird dabei nicht allein um der Forschung willen betrieben, sondern mit dem Anspruch, Einfluss auf ←24 | 25→pädagogische Arbeit,39 politische Strukturen40 und/oder die politische, mediale und juristische Aufarbeitung des NSU zu nehmen.41 Dabei können auch performative Formate angenommen werden, wie zuletzt beim ‚Tribunal NSU-Komplex auflösen‘ (17. – 21.05.2017 am Schauspiel Köln), das sich zwar explizit weder als Theaterstück noch als Konferenz verstand,42 aber trotzdem Ähnlichkeiten mit einem Kongress aufwies.43

Details

Seiten
398
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631805084
ISBN (ePUB)
9783631805091
ISBN (MOBI)
9783631805107
ISBN (Hardcover)
9783631805077
DOI
10.3726/b16271
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (November)
Schlagworte
rechte Gewalt Inszenierungsanalyse zeitgenössische Dramatik Zeugnis Theaterpublikum Rassismus Bühnendarstellung Justizkritik
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 398 S., 2 S/W-Abb., 15 Tab., 8 Graf.

Biographische Angaben

Anna Brod (Autor:in)

Anna Brod studierte Germanistik, Theaterwissenschaft und Italianistik in Leipzig und Paris sowie die Fächer Deutsch, Italienisch und Philosophie für das Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen in Bochum. Sie arbeitete als Akademische Mitarbeiterin am Institut für deutsche Sprache und Literatur der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Dort erfolge auch ihre Promotion. Derzeit ist sie Studienreferendarin am Zentrum für schulische Lehrerbildung Essen.

Zurück

Titel: Opfer – TäterInnen – Theaterpublikum
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
book preview page numper 31
book preview page numper 32
book preview page numper 33
book preview page numper 34
book preview page numper 35
book preview page numper 36
book preview page numper 37
book preview page numper 38
book preview page numper 39
book preview page numper 40
400 Seiten