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Convivencia: Dialogische Studien von Fachdidaktik und Fachwissenschaft zu ambivalenten Deutungsmustern gesellschaftlichen Zusammenlebens in Spanien

von Corinna Koch (Band-Herausgeber:in) Sabine Schmitz (Band-Herausgeber:in)
©2020 Sammelband 330 Seiten

Zusammenfassung

Der Begriff „convivencia" ist in der Gegenwart zu einem vielfach verwendeten Schlagwort geworden. Er verweist auf die Konstruktion einer historischen Bezugsfolie, die sich durch das (vermeintlich) friedliche Zusammenleben der drei abrahamitischen Religionen im mittelalterlichen al-Andalus auszeichnet. Ziel des Bandes ist es, mediale Verhandlungen in Comic, Erzähltext, Film und Schulbuch sowie Tradierungen dieses kulturellen und religiösen Deutungsmusters in Spanien zu beleuchten. Die Autoren leisten dies in einer vielschichtigen Auseinandersetzung aus einer fachwissenschaftlichen-fachdidaktischen Perspektive. Hierbei wird deutlich, dass das Konzept „convivencia" einen idealen Gegenstand zur Schulung von Reflexivität und Urteilsvermögen in Hochschule und Schule darstellt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Title Page
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Sabine Schmitz & Corinna Koch: Vorwort
  • Susanne Zepp & Daniela Caspari: Convivencia als Thema und Herausforderung der Literaturwissenschaft und der Fachdidaktik
  • Christian von Tschilschke & Dagmar Abendroth-Timmer: „Derribar“ oder „reconstruir“? Die Verhandlung identitärer Entwürfe und das maurische Erbe in Pedro Antonio de Alarcóns Erzählung „Una conversación en la Alhambra“ (1859)
  • Frank Leinen & Corinna Koch: Vom Süden und Norden: aktuelle Herausforderungen und Möglichkeiten der convivencia in der novela gráfica Calle del Norte und ihre Einbettung in den fortgeführten Spanischunterricht der Qualifizierungsphase
  • Sabine Schmitz & Lutz Küster: Narrationen der reziproken Interdependenz des Stereotyps „moro“ und des politischen Konzepts „convivencia“ in dem Dokumentarfilm Los Perdedores von Driss Deiback und der Erzählung „Fátima de los naufragios“ von Lourdes Ortíz: Wege zu fremdsprachlicher Diskursbewusstheit
  • Mara Büter & Resul Karaca: Darstellung der convivencia in aktuellen spanischen und deutschen Schulbüchern im Vergleich
  • Kadir Sancı: House of One – gelebte convivencia oder eine Utopie?
  • Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Vorwort

Als der Philologe und Historiker Américo Castro im US-amerikanischen Exil erstmals in seinem Werk España en su historia. Cristianos, moros y judíos (Buenos Aires, 1948) das Konzept der convivencia zur Beschreibung des spezifischen friedlichen, toleranten und fruchtbaren Zusammenlebens der drei monotheistischen Weltreligionen im mittelalterlichen al-Andalus lancierte,1 erfuhr es nicht umgehend eine breite internationale Rezeption. Gleichwohl löste es in Spanien einen viel beachteten Historikerstreit zwischen Américo Castro und Sánchez-Albornoz aus. Einer der Hauptgründe für diesen Streit war Castros Verknüpfung der besonderen Konfiguration der spanischen Identität mit der Erfahrung des friedlichen Zusammenlebens von Muslimen, Christen und Juden im Mittelalter in al-Andalus, die aufgrund der besonderen Toleranz der Muslime möglich gewesen sei. Nach Castro bildet diese Erfahrung der convivencia der drei Religionsgemeinschaften, für die er die Bezeichnung castas wählte, ein fundierendes Element der spanischen Identität.2

In den letzten Jahrzehnten hat sich der Begriff „convivenica“ auf beiden Seiten des Atlantiks einerseits zu einer viel adressierten Bezugsfolie zur Darlegung gesellschaftlicher Prozesse im mittelalterlichen al-Andalus entwickelt: Wie Manzano Moreno aufzeigt ist dies im US-amerikanischen Kontext u. a. der starken Ausbildung der Kulturwissenschaften geschuldet, die sich des Konzepts bedienten, um einen Diskurs über Multikulturalität und Identitätskonzepte anzustoßen bzw. in einen historisch weiten Kontext zu stellen. Im europäischen Kontext sind es auch historische Studien, die sich mit dem Begriff und dem Modell der convivencia auseinandersetzten. Andererseits wird das Konzept seit Beginn des neuen Jahrtausends zunehmend als mögliches Modell für die Diskussion um die kulturelle und religiöse Pluralisierung Spaniens sowie um Migration und ←7 | 8→Identitätsdebatten aktualisiert, insbesondere vor dem Hintergrund der Attentate durch islamistische Terrororganisationen. Auch in der arabischen Welt gibt es bereits ab dem 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart eine Verklärung von al-Andalus. Ferner belegen Studien wie die Histoire des Juifs sépharades, De Tolède à Saonique (2002) von Esther Benbassa und Aron Rodrigue3 sowie der Sammelband Judíos y musulmanes en al-Andalus (2002), herausgegeben von Maribel Fierro,4 das wissenschaftliche Interesse an der Erforschung des Judentums sowie seine Beziehung zum Islam in al-Andalus. Zugleich findet sich im heutigen Judentum eine Nostalgie für diese Epoche, die zum Teil im Zeichen der convivencia steht. Dies ergaben Umfragen anlässlich des 2015 vom spanischen Parlament erlassenen Gesetzes Ley de nacionalidad española para sefardíes, das nach der Vertreibung der Juden 1492 nach über 500 Jahren die Einbürgerung für die Nachfahren sephardischer Juden in Spanien regelt.

Somit wird von Politikern oder Wissenschaftlern5 – sowohl außerhalb Spaniens als auch zunehmend im Land selbst – vielfach auf das paradigmatische Zusammenleben in Form einer mittelalterlichen convivencia, eines goldenen Zeitalters des friedlichen Miteinanders der drei abrahamitischen Religionen in al-Andalus verwiesen. An der Stilisierung von al-Andalus zu einem Kulturraum in dem ein anzustrebendes Modell interreligiösen gemeinschaftlichen Lebens gelungen ist, haben spanische Historiker jedoch in der Gegenwart kaum Anteil. Vielmehr haben sie, unter Verweis auf die konkrete Quellenlage, die eine derartige Konstruktion nicht zulässt,6 sehr kritisch vor der Etablierung von „falsos ←8 | 9→paralelismos históricos“ sowie eines „concepto político“ namens ‚convivencia‘ gewarnt7 und auf die bereits seit dem Mittelalter existierende Konfrontation zwischen Muslimen und Christen, insbesondere in al-Andalus, aufmerksam gemacht, die sich bis ins 21. Jahrhundert fortsetzt.8

Zudem gibt es sowohl in Spanien als auch in der US-amerikanischen Forschung wichtige Anstöße zu einem Neuverständnis der gesellschaftlichen Prozesse im mittelalterlichen al-Andalus, in dem es – in geographisch und zeitlich sehr eng umgrenzten Räumen – zu einer Art convivencia kommen konnte, die aber kein Dauerzustand war. Am Ausgang dieser Überlegungen steht die Tatsache, dass es im Mittelalter auf der iberischen Halbinsel eine arabische sowie eine islamische Gesellschaft gab, die mit der Eroberung des Westgotenreichs 711 auf Geheiß des Kalifats von Damaskus einsetzte und 1492 endete, als nach Jahrhunderten des Kampfes, der sogenannten „Reconquista“, die iberische Halbinsel wieder unter christlicher Herrschaft stand. Im Verlauf dieser acht Jahrhunderte trat eine große Zahl von Soldaten der arabischen Halbinsel sowie Nordafrikas mit der indigenen Bevölkerung, zu der eine große jüdische Gemeinde zählte, in vielfältiger Weise in engen Kontakt und es kam, besonders in der Zeit des Kalifats von Córdoba, zu einer herausragenden kulturellen und wirtschaftlichen Blütezeit auf der iberischen Halbinsel.9 Deren Fundament war jedoch nicht ein Jahrhunderte währendes ←9 | 10→harmonisches Zusammenleben, sondern eine muslimische Herrschaft, die einen deutlichen Abstand und nur in Teilen eine Annäherung zu den beherrschten Kulturen und Religionen suchte und die bei Teilen der Bevölkerung zu einer Konvertierung zum Islam und einer Annahme der arabischen Kultur führte. Das damalige Zusammenleben war, so zeigen die wenigen historischen Quellen, kein irenisches, sondern vielmehr eines von gewaltbereiten und auch gewalttätigen Gesellschaften.10 Neben friedlicher convivencia gab es somit Verfolgung und Konfrontationen, die unter Berufung sowohl auf religiöse als auch kulturelle Vergemeinschaftung erfolgten.11 Zahlreiche Wissenschaftler verweisen in diesem Zusammenhang auf eine profunde Arabisierung der christlichen und jüdischen Gesellschaften, die aber dennoch den wohlhabenden Schichten die Beibehaltung des Lateinischen bzw. Hebräischen sowie der christlichen und jüdischen Kultur erlaubte.12 Somit kam es zu einer kulturellen Vielfalt, die unterschiedliche Grade der Transkulturalität aufweist und komplexe identitäre und kulturelle Prozesse in Gang setzte. Die hieraus konsultierenden Formen der Transkulturalität, der Aushandlungsprozesse eines konfliktiven oder auch zeitweilig friedlichen Miteinanders der Kulturen, sind auch für die Gegenwart von Interesse, allerdings nur, wenn die damit verbundenen historischen Voraussetzungen als fundamental andere und damit als nicht übertragbar erkannt werden.

Die Beschäftigung und Dekonstruktion des Modells, im Grunde des Mythos, „convivencia“ erlaubt somit den Blick auf seine Verwendung in verschiedenen Medien und Epochen. Ein wichtiges Fundament hierfür ist die Verhältnisbestimmung der Stereotypen moro, judío und cristiano sowie ihre positive bzw. negative Aufladung. Wie das Konzept der convivencia bilden sie einen idealen Gegenstand zur Schulung von Reflexivität und Urteilsvermögen in Schule und Hochschule.

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So betrachtet wird convivencia zu einem Gesellschaftsmodell, das insofern zur Lösung von Konflikten hilfreich sein kann, als es Strukturen des Dialogs, deren Etablierung und Einübung in Situationen von Gewalt und Auseinandersetzung in einer multikulturellen bzw. multiethnischen sowie multireligiösen Gesellschaft liefert. In einer dialogischen Perspektive über den für diesen Band gewählten Gegenstand nachzudenken, ist letzterem somit genuin eigen, denn das Zusammenleben in den auch gegenwärtig durch kulturelle und religiöse Vielfalt geprägten Gesellschaften in Europa impliziert ohne Frage die Notwendigkeit eines Austausches. Ziel ist es, ein kulturelles und religiöses Deutungsmuster sowie ein heute weltweit etabliertes und diskutiertes Erinnerungsmuster der spanischen Kultur zu beleuchten, seinen besonders in Spanien kontrovers diskutierten Stellenwert für die spanische Erinnerungskultur der Gegenwart einzubeziehen und nach der sich hieraus ergebenden Relevanz einer kritischen Distanznahme im schulischen wie hochschulischen Unterricht im Fach Spanisch zu fragen.

Darüber hinaus handelt es sich bei der convivencia um ein Konzept, mit dem Lehrkräfte und Lernende auch in einem deutschen Kontext zunehmend konfrontiert werden, da es ob seiner vermeintlich überzeitlichen Allgemeingültigkeit als Paradigma eines multikulturellen und interreligiösen Zusammenlebens immer wieder aufgerufen wird. In dieser Situation gilt es, von Seiten der Fachwissenschaft und der Fachdidaktik angemessen zu reagieren, indem die Dynamik und Unabschließbarkeit des Wissens über die convivencia explizit einbezogen und fundierte aktuelle Standpunkte kritisch diskutiert werden. Das Ziel des Bandes ist daher, einen Beitrag für das Fundament reflexiver Umsicht und eines fundierten Urteilsvermögens in einem komplexen und hochaktuellen Themengebiet zu leisten, das durch den Dialog mit der Vergangenheit einen interessanten Blick auf die Gegenwart erlaubt, unter Verzicht auf falsche Parallelen oder Essentialismus. Trans- und Multikulturalität sind wichtige Themen der Vergangenheit und der Gegenwart, die in dem Konzept der convivencia in Spanien, aber eben auch weltweit, in Zeiten von großen Migrationsströmen und Identitätsdebatten und -polemiken verhandelt werden. Diesen medialen Verhandlungen, Reproduzenten und Tradierungen des Modells convivencia gilt das Interesse dieses Bandes.

Nach dem ersten ertragreichen Austausch von Fachdidaktik und Fachwissenschaft über aktuelle Repräsentationsformen des französischen Krimis13 wurde zu diesem Zweck erneut im Dialog ein Gegenstand aus fachdidaktischer und fachwissenschaftlicher Perspektive beleuchtet. Die Herausforderung dabei bestand ←11 | 12→darin, nicht nur die convivencia hinreichend vielfältig zu beleuchten, sondern zudem der Tatsache Rechnung zu tragen, dass er explizit oder implizit bereits in Lehrplänen und/oder Abiturvorgaben verschiedener Bundesländer auf der Agenda steht.14 Zudem wurde der Blick der Beiträge geweitet, da nun neben schulischen auch hochschuldidaktische Überlegungen zur Debatte standen. Der Lehralltag sowie didaktische Überlegungen aller Beitragenden fanden somit Eingang in die Beiträge, um eine Bewusstmachung und Reflexion der politischen bzw. ideologischen Gründe für eine mythische Überhöhung der convivencia in al-Andalus im Sinne eines sozio-historischen Vorbilds anzustoßen. Dieses Zusammenleben, so die implizite Argumentation, gelte es ‚nur‘ nachzuahmen, um aktuelle interreligiöse Konflikte zu vermeiden bzw. friedlich beizulegen. Zur Anschauung bringe diese Option z. B. eine Reise nach Andalusien, wo die Zeugnisse eines solchen interreligiösen Zusammenlebens bewundert werden könnten. Klassenfahrten oder aber Studienaufenthalte in Spanien können und sollten aber eben eher Anlass sein, mit diesen zum Allgemeingut gewordenen Inhalten auch kritisch umzugehen.

Der vorliegende Tagungsband dokumentiert die wissenschaftlichen Beiträge des im Januar 2018 abgehaltenen Kolloquiums zu Herausforderungen, vor die das Thema convivencia Fachwissenschaft und Fachdidaktik stellt, zu möglichen Texten bzw. Erzählungen, mit denen im Unterricht gearbeitet werden kann, zu narrativen Konstruktionen von Identität und zur Darstellung der convivencia in deutschen und spanischen Schulbüchern sowie einer Analyse der möglichen Bedeutung des Modells der convivencia für das House of One, ein Berliner Projekt, in dem Juden, Christen und Muslime ein Konzept für einen gemeinsamen Ort als Bet- und Arbeitshaus entwickelt haben. Alle Tandembeiträge schließen mit einem kurzen Dialog, in dem die beiden Wissenschaftler noch einmal miteinander diskutieren, welchen Mehrwert die intensive und gegenstandsbezogene interdisziplinäre Zusammenarbeit für beide Seiten hervorgebracht hat.

Der erste Beitrag, von Susanne Zepp und Daniela Caspari15, beschäftigt sich mit grundlegenden Fragen zum Thema convivencia und den damit verbundenen ←12 | 13→Herausforderungen für Literaturwissenschaft und Fachdidaktik. Zunächst führt Susanne Zepp in die Komplexität der mittelalter- und frühneuzeitlichen jüdischen Geschichte auf der Iberischen Halbinsel ein und plädiert für den Einsatz konkreter literarischer Texte in hochschulischen wie schulischen Kontexten, die sich besonders anbieten, um bei den Lernenden ein kritisches Geschichtsverständnis zu fördern. Daniela Caspari diskutiert daran anschließend das fachdidaktische Spannungsfeld zwischen Inhalts- und Kompetenzorientierung, im Rahmen dessen es im bildenden Fremdsprachenunterricht Themen wie convivencia zu verhandeln gilt.

Der zweite Beitrag, von Christian von Tschilschke und Dagmar Abendroth-Timmer, stellt eine fünfseitige Erzählung von Pedro Antonio de Alarcón ins Zentrum, „Una conversación en la Alhambra“ (1859), und zeigt auf, wie in letzterer identitäre Entwürfe und das maurische Erbe verhandelt werden. Die Erzählung gibt einen verdichteten Einblick in die Komplexität der spanischen Identitätsproblematik vor dem Hintergrund der trikulturellen Vergangenheit und ist daher besonders geeignet, die Frage nach dem Umgang mit der maurischen Vergangenheit bezogen auf Geschichte und Gegenwart gerade auch im schulischen Spanischunterricht zu diskutieren. Der Beitrag schlägt dazu drei verschiedene unterrichtliche Zugriffe vor, die literaturbezogen-ästhetisches und kulturell-historisches Lernen sowie emanzipatorisch-handlungsorientierte Bildungsprozesse anregen sollen, und präsentiert abschließend ein – in Teilen mit Schülern des zweiten Lernjahres erprobtes – Schulprojekt zu Alarcóns Erzählung.

Der dritte Beitrag, von Frank Leinen und Corinna Koch, widmet sich ebenfalls einem konkreten Text in Form des grafischen Romans Calle del Norte (2010) von Miquel Àngel Bergés Saura und Josep Maria Cazares. Nach einer Einführung in die medialen, strukturellen und inhaltlichen Charakteristika der novela gráfica werden – vor dem Hintergrund von Kurt Singers (1949) vier idealtypischen Möglichkeiten einer Regelung von Konflikten – Fremdheit und Migration als epochenübergreifende Grundkonstanten analysiert. Dabei wird mit den Konzepten „Transkulturalität“ und „kultureller Hybridität“ gearbeitet und der Schwerpunkt auf das Lernen aus der Vergangenheit für die Zukunft gelegt. Im Rahmen von vier „Fallstudien“ schließt sich an die literaturwissenschaftliche Analyse konkreter Textauszüge jeweils eine fachdidaktische Aufarbeitung an, die anhand ausformulierter Arbeitsaufträge eine Einbindung des grafischen Romans in den fortgeschrittenen Spanischunterricht exemplifiziert.

Der vierte Beitrag, von Sabine Schmitz und Lutz Küster, untersucht die Konfigurationen des Stereotypen „moro“ bzw. „mora“ in dem Film Los Perdedores (2006) von Driss Deiback und der Erzählung „Fátima de los naufrágios“ (1998) von Lourdes Ortiz und ihre Relevanz für die in beiden Medien entworfenen ←13 | 14→Modelle der convivencia. Im Anschluss an eine kurze historische Herleitung des Stereotyps „moro“ wird zunächst aufgezeigt, dass die den Dokumentarfilm kennzeichnende chorische Struktur sowohl der Rezeptionslenkung wie auch der Handlungsaufforderung dient. Das angeleitete Erkennen dieser Struktur schult, wie im fachdidaktischen Teil deutlich wird, ebenso die Diskursbewusstheit der Lernenden wie die Fähigkeit das Dispositiv „mora“ und dessen christliche Anverwandlung als wichtiges Element der Erzählung von Lourdes Ortiz zu erfassen. Der abschließend thematisierte Transfer dieses Wissens in konkrete lebensweltliche Zusammenhänge von Lehrenden wie Lernenden hat die Reflexion dieser Sachverhalte im Rahmen des Selbstdenkens zum Ziel.

Der fünfte Beitrag, von Resul Karaca und Mara Büter, eröffnet eine vergleichende Betrachtung der Darstellung des Modells „convivencia“ in spanischen Schulbüchern für das Fach Geschichte und in deutschen Schulbüchern für den fremdsprachlichen Spanischunterricht. Nach einer kurzen Darstellung der vielschichtigen Vereinnahmungen und Bedeutungen des Begriffs „convivencia“ im 20. Jahrhunderts in Spanien wird nach seinem aktuellen Stellenwert und den ihm zugewiesenen Inhalten in schulischen Vorgaben in Deutschland und Spanien gefragt. Hieran schließt sich eine umfassende Lehrwerkanalyse ausgewählter spanischer und deutscher Schulbücher verschiedener Jahrgangsstufen auf der Grundlage eines differenzierten sozio-historischen Analyserasters an. Die Ergebnisse der Studie werden abschließend für einen kritischen Ausblick auf konkrete Gestaltungsmöglichkeiten zur Behandlung des Themas der convivencia im fremdsprachlichen Spanischunterricht in Deutschland fruchtbar gemacht.

Der sechste Beitrag von Kadir Sancı diskutiert die Option das einflussreiche Deutungsmuster der convivencia im historischen al-Andalus, demzufolge in diesem Kulturraum die drei abrahamitischen Religionen in vorbildlicher Weise friedvoll zusammenlebten, auf die Gegenwart zu übertragen. Konkret wird danach gefragt, ob dieses Modell der convivencia eine Bezugsfolie für das Projekt des Berliner House of One sein kann, in dem die genannten drei Religionen unter einem Dach in vier Räumen vereint werden sollen. Ausgehend von einer umfassenden kritischen Analyse des Mythos von al-Andalus und der dort vermeintlich gelebten convivencia, wird deutlich, dass eine Differenzierung der Begriffe „Konvivenz“ und „Koexistenz“ hilfreich ist, um das vielschichtige Miteinander der dort lebenden Religionen und Kulturen zu beschreiben. Im Anschluss wird anhand eines virtuellen Rundgangs die Geschichte und das Potential des House of One als Bet- und Lehrhaus aus muslimischer Sicht beleuchtet. Hierbei wird deutlich, dass der Dialog der Religionen ein zentraler Baustein des Projektes ist und somit dieser Beitrag sowohl auf inhaltlicher wie auch systematischer Ebene die Thematik des Bandes in die unmittelbare Gegenwart zu heben weiß.

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Der vielschichtige Blick auf die convivencia sowie das wechselseitige Lernen in den Tandems und beim Austausch im Rahmen des Kolloquiums lassen uns auch nach dem zweiten Kolloquium und Sammelband an der Notwendigkeit und der Fruchtbarkeit des engen Dialoges zwischen Fachwissenschaft und Fachdidaktik festhalten. Eine Fortsetzung des Formats wird daher in naher Zukunft folgen.

Paderborn und Münster, im Juni 2019
Sabine Schmitz und Corinna Koch

Literatur

Benbassa, Esther/Rodrigue, Aron: Histoire des Juifs sépharades, De Tolède à Saonique, Paris: Points, 2002.

Castro, Américo: España en su historia. Cristianos, moros y judíos, Buenos Aires: Losada, 1948.

Fierro, Maribel (ed.): Judíos y musulmanes en al-Andalus y el Maghreb. Contactos intelectuales, Madrid: Casa de Velázquez, 2002.

Fierro, Maribel: „Idealización de al-Andalus“, in: Revista de Libros, segunda época, 94 (2004), pp. 3–5.

Fierro, Maribel: „Violencia, política y religión en al-Andalus durante el s. IV/X: el reinado de Abd-al-Rahman III“, in: Maribel Fierro (ed.), De muerte violenta. Política, religión y violencia en al-Andalus, Madrid: Consejo Superior de Investigaciones Científicas, 2004, pp. 37–102.

Koch, Corinna/Lang, Sandra/Schmitz, Sabine (ed.): Dialogische Krimianalysen: Fachdidaktik und Literaturwissenschaft untersuchen aktuelle Repräsentationsformen des französischen Krimis, Frankfurt a. M.: Lang, 2017.

Manzano Moreno, Eduardo: „El islam en la Península Ibérica“, in: Olivia Orozco de la Torre/Gabriel Alonso García (ed.), El islam y los musulmanes hoy. Dimensión internacional y relaciones con España, Madrid: Ministerio de Asuntos Exteriores, 2014, http://www.exteriores.gob.es/Portal/es/Ministerio/EscuelaDiplomatica/Documents/el_islam_y_los_musulmanes_hoy%2048.pdf (14.09.2018), p. 213.

Manzano Moreno, Eduardo: „Qurtuba: Algunas reflexiones críticas sobre el califato de Córdoba y el mito de la convivencia“, in: Awraq. Estudios sobre el mundo árabe e islámico contemporáneo 7 (2013), pp. 225–246.

Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen: Zentralabitur 2019 – Spanisch (2016), https://www.standardsicherung. schulministerium.nrw.de/cms/zentralabitur-gost/faecher/getfile.php?file= 4183 (02.06.2019).

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Nirenberg, David: Neighboring Faiths: Christianity, Islam, and Judaism in the Middle Ages and Today, Chicago: University of Chicago Press, 2014.

Details

Seiten
330
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631807972
ISBN (ePUB)
9783631807989
ISBN (MOBI)
9783631807996
ISBN (Hardcover)
9783631764701
DOI
10.3726/b16396
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (November)
Schlagworte
Al-Andalus religiöse Deutungsmuster Spanien Islam Christentum Judentum Schulunterricht Hochschulunterricht Kulturwissenschaft Romanistik
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 330 S., 11 farb. Abb., 9 s/w Abb., 4 Tab.

Biographische Angaben

Corinna Koch (Band-Herausgeber:in) Sabine Schmitz (Band-Herausgeber:in)

Corinna Koch ist Professorin für Romanistische Fachdidaktik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Sabine Schmitz ist Professorin für Romanische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Paderborn.

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